A. Schopenhauer

Die Welt als Wille und Forstellung

이윤진이카루스 2015. 1. 21. 14:34

 

Full text of "Die Welt als Wille und Vorstellung"

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LIBRARY OF 
WELLESLEY COLLEGE 
From the Library of 
Henry F. Schwarz 
BIBLIOTHEK DER PHILOSOPHEN 
GELEITET VON FRITZ MAUTHNER 
ZEHNTER BAND 
iA~Aiitni'tlf 
SCHOPENHAUERS WERKE HI 
SCHOPENHAUER 
DIE WELT ALS WILLE 
UND VORSTELLUNG 
HERAUSGEGEBEN VON 
LUDWIG BERNDE 
ZWEITER BAND 
I • 9 • 1.3 
MÜNCHEN BEI GEORG MÜLLER 
6 
3/3? 
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INHALTSVERZEICHNIS DES ZWEITEN 
BANDES 
ERGÄNZUNGEN ZUM ERSTEN BUCH 
ERSTE HÄLFTE: DIE LEHRE VON DER ANSCHAULICHEN 
VORSTELLUNG 
Seite 
Kap. I . Zur idealistischen Grundansicht .... 5 
„ 2. Zur Lehre von der anschauenden oder Ver- 
standes-Erkenntniss 2 5 
„ 3. Ueber die Sinne 34 
,, 4- Von der Erkenntniss a priori 4' 
ZWEITE HÄLFTE: DIE LEHRE VON DER 
ABSTRAKTEN VORSTELLUNG, ODER DEM DENKEN 
Kap. 5. Vom vernunftlosen Intellekt yi 
„ 6. Zur Lehre von der ahstiakten, oder Vernunft- 
Erkenntniss y6 
„ 7. Vom Verhältniss der anschauenden zur ab- 
strakten Erkenntniss 86 
„ 8. Zur Theorie des Lächerlichen i i i 
„ 9. Zur Logik überhaupt 126 
„ 10. Zur Syllogistik . . i32 
„ II. Zur Rhetorik i45 
„ 12. Zur Wissenschaftslehre 147 
„ i3. Zur Metliodenlehre der Mathematik . . . iSg 
„ i4- Ueber die Gedankenassociation .... 162 
„ i5. Von den wesentlichen Unvollkommenheiten 
des Intellekts 168 
V 
Seite 
Kap. i6. Ueber den praktischen Gebrauch der Ver- 
nunft und den Stoicismus 182 
„ 17. Ueber das metaphysische ßedürfniss des Men- 
schen 196 
ERGÄNZUNGEN ZUM ZWEllTEN BUCH 
Kap. 18. Von der Erkennbarkeit des Dinjjes an sich 289 
19. Vom Primat desWillens im .Scll)stbe\vusslseyn 2.')i 
20. (Ibjektivatiun des Willens im tliicrischen Or- 
ganismus 3 I o 
21. Rückblick und allgemcincic Hotraclitun{} . 34o 
22. Objektive Ansicht des Intellekts .... 344 
23. Ueber die Objektivation des Willens in der 
erkenntnisslosen Natur 371 
24. Von der Materie 387 
25. Transscendente I5etrachtun{jen über den Wil- 
len als Din{j an sich 4t>5 
26. Zur Teleolü{;ie 4 '7 
27. Vom Instinkt und Kuiisttricb 436 
28. Cliarakteristik des Willens zum Leben . . 44^ 
ERGÄNZUNGEN ZUM DRITTEN BUCH 
Kap. 29. Von dei- Erkenntniss der Ideen .... ^G3 
3u. Vom reinen Subjekt des Krkcnnens . . . 4^7 
3i. Vom Genie 479 
32. Ueber den Wahnsinn 508 
33. Vereinzelte Bemerkun{jen über Naturschöidieit .'114 
34. Ueber das innere Wesen der Kunst . . . 5 16 
35. Zur Aesthetik der Architektur 52 2 
36. Vereinzelte Bemerkungen zur Aesthetik der 
bildenden Künste 533 
37. Zur Aestiietik der Diclitkuiisl 540 
38. Ueber Geschichte 56o 
39. Zur Metaphysik der Musik 571 
ERGÄNZUNGEN ZUM VIERTELN BUCH 
Kap. 4"- Vorwort 591 
„ 4'- Ueber den Tod und sein Verhältniss zur Un- 
zerstöibarkeit unsers Weseiis an sich . . 5q3 
„ ^2. Leben dei' Gattung 654 
„ ^3. Erblichkeit der Eigenschaltcn 663 
„ 44' Metaphysik der Geschlechtsliebf . . 681 
„ ^5. Von der ik-Jahung des Willens zum Leben 730 
VI 
Seite 
Kap. 46. Von dej Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens 786 
„ 47. Zur Ethik ^56 
„ 48. Zur Lehre von der Verneinung des Willens 
zum Leben __/ 
,, 49- Die Heilsordnung 8,5 
„ 5o. Epiphilosophie gaS 
VII 
ERGÄNZUNGEN 
ZUM 
ERSTEN BUCH 
„Warum willst du dich von uns Allen 
Cnd unsrer Meinung entfernen?" — 
Ich schreibe nicht eucli zu gefallen, 
Ihr sollt was lernen. 
Goethe. 
ZUM ERSTEN BUCH. 
ERSTE HÄLFTE 
DIE 
LEHRE VON DER ANSCHAU- 
LICHEN VORSTELLUNG 
(Zu §. I — 7 des ersten Bandes.*) 
*) S. 3 — 43 dieser Ausgabe. 
VWVIMMMVVVVVVVVIlV\«MVMIVVVVVMnMMVVWVVWMVVIMAM«MfVVVV^ 
KAPITEL I. 
ZUR IDEALISTISCHEN GRUNDANSICHT. 
IM unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, 
um jede von welchen etwan ein Dutzend kleine- 
rer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiss, mit 
erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein 
Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen er- 
zeugt hat; — dies ist die empirische Wahrheit, das 
Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen 
eine missliche Lage, auf einer jener zahllosen im grän- 
zenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehen, 
ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu 
seyn von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drän- 
gen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend 
und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit : dabei 
nichts Beharrliches, als allein die Materie und die 
Wiederkehr der selben, verschiedenen, organischen 
Formen, mittelst gewisser Wege und Kanäle, die nun 
ein Mal da sind. Alles was empirische Wissenschaft 
lehren kann, ist nur die genauere Beschaffenheit und 
Regel dieser Hergänge. — Da hat nun endlich die 
Philosophie der neueren Zeit, zumal durch Berkeley 
und Kant, sich darauf besonnen, dass Jenes alles zu- 
nächst doch nur ein Gehirnphänomen und mit so gros- 
sen, vielen und verschiedenen subjektwen Bedingun- 
gen behaftet sei, dass die gewähnte absolute Realität 
desselben verschwindet und für eine ganz andere Welt- 
ordnung Raum lässt, die das jenem Phänomen zum 
Grunde Liegende wäre, d. h. sich dazu verhielte, wie 
zur blossen Erscheinung das Ding an sich selbst. 
„Die Welt ist meine Vorstellung" — ist, gleich den 
Axiomen Euklids, ein Satz, den Jeder als wahr erken- 
nen muss, sobald er ihn versteht; wenn gleich nicht ein 
solcher, den Jeder versteht, sobald er ihn hört. — Die- 
sen Satz zum Bewusstseyn gebracht und an ihn das 
Problem vom Verhältniss des Idealen zum Realen, d. 
h. der Welt im Kopf zur Welt ausser dem Kopf, ge- 
knüpft zu haben, macht, neben dem Problem von der 
moralischen Freiheit, den auszeichnenden Charakter 
der Philosophie der Neueren aus. Denn erst nachdem 
man sich Jahrtausende lang im bloss objektiven Phi- 
losophieren versucht hatte, entdeckte man, dass unter 
dem Vielen, was die Welt so räthselhaft und bedenk- 
lich macht, das Nächste und Erste Dieses ist, dass, so 
unermesslich und massiv sie auch seyn mag, ihr Da- 
seyn dennoch an einem einzigen Fädchen hängt: und 
dieses ist das jedesmalige Bewusstseyn, in welchem sie 
dasteht. Diese Bedingung, mit welcher das Daseyn der 
Welt unwiderruflich behaftet ist, drückt ihr, trotz aller 
empirischen Realität, den Stempel der Idealität und so- 
mit der blossen Erscheinung auf; wodurch sie, wenig- 
stens von Einer Seite als dem Traume verwandt, ja 
als in die selbe Klasse mit ihm zu setzen, erkannt wer- 
den muss. Denn die selbe Gehirnfunktion, welche, 
während des Schlafes, eine vollkommen objektive, an- 
schauliche, ja handgreifliche Welt hervorzaubert, muss 
eben so viel Antheil an der Darstellung der objektiven 
Welt des Wachens haben. Beide Welten nämlich sind, 
wenn auch durch ihre Materie verschieden, doch offen- 
bar aus Einer Form gegossen. Diese Form ist der In- 
tellekt, die Gehirnfunktion. — Wahrscheinlich ist Car- 
tesius der Erste, welcher zu dem Grade von Besinnung 
gelangte, den jene Grundwahrheit erfordert und, in 
Folge hievon, dieselbe, wenn gleich vorläufig nur in 
der Gestalt skeptischer Bedenklichkeit, zum Ausgangs- 
punkt seiner Philosophie machte. Wirklich war da- 
durch, dass er das Cogito ergo sum als allein gewiss, 
das Daseyn der Welt aber vorläufig als problematisch 
Dahm, der wesentliche und allein richtige Ausgangs- 
punkt und zugleich der wahre Stützpunkt aller Philo- 
sophie gefunden. Dieser nämlich ist wesentlich und 
unumgänglich das Subjektive, das eigene Bewusstseyn. 
Denn dieses allein ist und bleibt das Unmittelbare: 
alles Andre, was immer es auch sei, ist durch dasselbe 
erst vermittelt und bedingt, sonach davon abhängig. 
Daher geschieht es mit Recht, dass man die Philosophie 
der Neueren, von Cartesius, als dem Vater derselben, 
ausgehn lässt. Auf diesem Wege weiter gehend gelangte, 
nicht lange darauf, Berkeley zum eigentlichen Idea- 
lismus, d. h. zu der Erkenntniss, dass das im Raum 
Ausgedehnte, also die objektive, materielle Welt über- 
haupt, als solche, schlechterdings nur in unserer Vor- 
stellung existirt, und dass es falsch, ja absurd ist, ihr, 
als solcher, ein Daseyn ausserhalb aller Vorstellung 
und unabhängig vom erkennenden Subjekt beizulegen, 
also eine schlechthin vorhandene an sich seiende Ma- 
terie anzunehmen. Diese sehr richtige und tiefe Ein- 
sicht macht aber auch eigentlich Berkeley' s ganze Phi- 
losophie aus: er hatte sich daran erschöpft. 
Deinnach muss die wahre Philosophie jedenfalls 
idealistisch seyn : ja, sie muss es, um nur redlich zu seyn. 
Denn nichts ist gewisser, als dass Keiner jemals aus 
sich herauskann, um sich mit den von ihm verschie- 
denen Dingen unmittelbar zu identifizieren : sondern 
Alles, wovon er sichere, mithin unmittelbare Kunde, 
hat, liegt innerhalb seines Rewusstseyns. Ueber dieses 
hinaus kann es daher keine unmittelbare Gewissheit 
geben : eine solche aber müssen die ersten Grundsätze 
einer Wissenschaft haben. Dem empirischen Stand- 
punkt der übrigen Wissenschaften ist es ganz ange- 
messen, die objektive Welt als schlechthin vorhanden 
anzunehmen : nicht so dem der Philosophie, als welche 
auf das Erste und Ursprüngliche zurückzugehn hat. 
Nur das Bewusstseyn ist unmittelbar gegeben, daher 
ist ihre Grundlage auf Thatsachen des Rewusstseyns 
beschränkt: d. h. sie ist wesentlich idealistisch. — Der 
Realismus, der sich dem rohen Verstandedadurch emp- 
fiehlt, dass er sich das Ansehn giebt thatsächlich zu 
7 
sevn, geht (>eracle von einer willkürlichen Annahme 
aus und ist mithin ein windiges Luftgehäude, indem 
er die allererstel'hatsache üherspringt oder verleugnet, 
diese, dass Alles was wir kennen innerhalb des Be- 
wusstseyns liegt. Denn, dass das objektive Daseyn der 
Dinge bedingt sei durch ein sie Vorstellendes, und folg- 
lich die objektive Welt nur als Voistellung existire, ist 
keine Hvpothese, noch weniger ein Machtspruch, oder 
gar ein Disputirens halber aufgestelltes Paradoxon; 
sondern es ist die gewisseste und einfachste Wahrheit, 
deren Erkenntniss nur dadurch erschwert wird, dass 
sie sogar zu einfach ist, und nicht Alle Besonnenheit 
genug haben, um auf die ersten Elemente ihres Be- 
wusstseyns von den Dingen zurückzugehen. Nimmer- 
mehr kann es ein absolut und an sich selbst objektives 
Daseyn geben ; ja, ein solches ist geradezu undenkbar; 
denn immer und wesentlich hat das Objektive, als 
solches, seine Existenz im Bewusstseyn eines Subjekts, 
ist also dessen Vorstellung, folglich bedingt durch das- 
selbe und dazu noch durch dessen Vorstellungsformen, 
als welche dem Subjekt, nicht dem Objekt anhängen. 
Dass die objektive Welt da wäre, auch wenn gar kein 
erkennendes Wesen existirte, scheint freilich auf den 
ersten Anlauf gewiss; weil es sich in abstracto denken 
lässt, ohne dass der Widerspruch zu Tage käme, den 
es im Innern trägt. — Allein wenn man diesen ab- 
strakten Gedanken reo /mre/i,d. h. ihn auf anschauliche 
Vorstellungen, von welchen allein er doch (wie alles 
Abstrakte) Gehalt und Wahrheit haben kann, zurück- 
führen will und demnat h versucht, eine objektive Welt 
ohne erkennendes Subjekt zu iniaginiren; so wird man 
inne, dass Das, was man da imaginirt, in Wahrheit 
das Gegen tbeil von Dem ist, was man beabsichtigte, 
nämlich nichts Anderes, als eben nur der Vorgang im 
Intellekt eines Erkennenden, der eine objektive Welt 
anschaut, also {^erade Das, was man ausschlicssen ge- 
wollt hatte. Denn diese anschauliche und reale Welt 
ist offenbar ein Gehirnphänomen: daher liegt ein Wi- 
derspruch in der Annahme, dass sie auch unabhängig 
von allen Gehirnen, als eine solche, daseyn sollte. 
Der Haupteinwand gegen die unumgängliche vmd 
8 
wesentliche Idealität alles Objekts, der Einwand, der 
sich in Jedem, deutlichoder undeuthch, regt, ist wohl 
dieser: Auch meine eigene Person ist Objekt für einen 
Andern, ist also dessen Vorstellung; und doch weiss 
ich gewiss, dass ich dawäre, auch ohne dass Jener mich 
vorstellte. In demselben Verhaltniss aber, in welchem 
ich zu seinem Intellekt stehe, stehen auch alle andern 
Objekte zu diesem: folglich wären auch sie da, ohne 
dass jener Andre sie vorstellte. — Hieraufist die iVnt- 
wort: Jener Andere, als dessen Objekt ich jetzt meine 
Person betrachte, ist nicht schlechthin das Subjekt, 
sondern zunächst ein erkennendes Individuum. Daher, 
wenn er auch nicht dawäre, ja sogar wenn überhaupt 
kein anderes erkennendes Wesen als ich selbst existirte; 
so wäre damit noch keineswegs das .S'ut/eÄ"/ aufgehoben, 
in dessen Vorstellung allein alle Objekte existiren. 
Denn dieses Subjekt bin ja eben auch ich selbst, wie 
jedes Erkennende es ist. Folglich wäre, im angenom- 
menen Fall, meine Person allerdings noch da, aber 
wieder als Vorstellung, nämlich in meiner eigenen 
Erkenntniss. Denn sie wird, auch von mir selbst, immer 
nur mittelbar nie unmittelbar erkannt : weil alles Vor- 
stellungseyn ein mittelbares ist. Nämlich als Objekt, 
d. h. als ausgedehnt, raumerfüllend und wirkend, er- 
kenne ich meinen Leib nur in der Anschauung meines 
Gehirns: diese ist vermittelt durch die Sinne, auf deren 
Data der anschauende Verstand seine Funktion, von 
der Wirkung auf die Ursache zu gehen, vollzieht, und 
dadurch, indem das Auge den Leib sieht oder die Hände 
ihn betasten, die räumliche Figur konstruirt, die im 
Räume als mein Leib sich darstellt. Keineswegs aber 
ist mir unmittelbar, etwan im Gemeingefühl des Lei- 
bes, oder im inneru Selbstbewusstseyn, irgend eine 
Ausdehnung,Gestalt und Wirksamkeitgegeben, welche 
dann zusammenfallen würde mit meinem Wesenselbst, 
das demnach, um so dazuseyn, keines Andern, in dessen 
Erkenntniss es sich darstellte, bedürfte. Vielmehr ist 
jenes Gemeingefühl, wie auch das Selbstbewusstseyn, 
unmittelbar nur in Bezug auf den Willen da, nämlich 
als behaglich oder unbehaglich, und als aktiv in den 
Willensakten, welche, für die äussere Anschauung, 
sich als Leibesaktionen darstellen. Hieraus nun folgt, 
dass das Daseyn meiner Person oder meines Leibes, 
als eines ausgedehnten und Wirkenden, allezeit ein da- 
von verschiedenes Erkennendes voraussetzt: weil es 
wesentlich ein Daseyn in der Apprehension, in der 
Vorstellunjf, also ein Daseyn für ein Anderes ist. In der 
That ist es ein Gehirnpbänomen, {gleichviel ob das Ge- 
hirn, in welchem es sich darstellt, der ei^^enen, oder 
einer fremden Person an^jehört. Im ersten Fall zerfällt 
dann die ei^jene Person in Erkennendes und Erkanntes, 
in Objekt und Subjekt, die sich hier, wie überall, unzer- 
trennlich und unvereinbar {jegenüberstehen. — Wenn 
nun also meine eifjene Person, um als solche dazuseyn, 
stets eines Erkennenden bedarf; so wird dies wenig- 
stens eben so sehr von den übrigen Objekten gelten, 
welchen ein von der Erkenntniss und deren Subjekt 
unabhängiges Daseyn zu vindiciren, der Zweck des 
obigen Einwandes war. 
Inzwischen versteht es sich, dass das Daseyn, welches 
durch ein Erkennendes bedingt ist, ganz allein das 
Daseyn im Raum und daher das eines Ausgedehnten 
und Wirkenden ist: dieses allein ist stets ein erkanntes, 
folglich ein Daseyn für ein Anderes. Hingegen mag 
jedes auf diese Weise Daseyende noch eiii Daseyn für 
sich selbst haben, zu welchem es keines Subjekts be- 
darf. Jedoch kann dieses Daseyn für sich selbst nicht 
Ausdehnung und Wirksamkeit (zusammen Raumer- 
füllung) seyn; sondern es ist noth wendig ein Sevn an- 
derer Art, nämlich das eines Dinges an sich selbst, 
welches, eben als solches, nie Objekt sevn kann. — 
Dies also wäre die Antwort auf den oben dargelegten 
Haupteinwand, der demnach die Grundwahrheit, dass 
die objektiv vorhandene Welt nur in der Vorstellung, 
also nur für ein Subjekt daseyn kann, nicht umstösst. 
Hier sei noch bemerkt, dass auch Kant unter seinen 
Dingen an sich, wenigstens so lange er konsequent blieb, 
keine O^i/fAYe gedacht haben kann. Denndiesgehtschon 
daraus hervor, dass er bewies, der Raum, wie auch 
die Zeit, sei eine blosse Form unserer xVnschauung, 
die fol{jlich nicht den Dingen an sich angehöre. Was 
nicht im Raum, noch in der Zeit ist, kann auch nicht 
10 
Objekt seyn: also kann das Seyn der Dinge an sich kein 
objektives mehr seyn, sondern nur ein (janz anderar- 
tiges, ein metaphysisches. Folghch he^jt in jenem Kan- 
tischen Satze auch schon dieser, dass die objektive 
Welt nur als Vorstellung existirt. 
Nichts wird so anhaltend, Allem was man sagen 
mag zum Trotz und stets wieder von Neuem missver- 
standen, wie der Idealismus, indem er dahin ausgelegt 
wird, dass man die empirische Realität der Aussenwelt 
leugne. Hierauf heruht die beständige Wiederkehr 
der Appellation an den gesunden Verstand, die in 
mancherlei Wendungen und Verkleidungen auftritt, 
z. B. ah„Grundiibe}'zeugung^^ in der Schottischen Schule, 
oder als Jacobischer Glaube an die Realität der Aussen- 
welt. Keineswegs giebt sich, wie Jacobi es darstellt, 
die Aussenwelt bloss auf Kredit und wird von uns 
auf Treu und Glauben angenommen: sie giebt sich 
als das was sie ist, und leistet unmittelbar was sie ver- 
spricht. Man muss sich erinnern, dass Jacobi, der ein 
solches Kreditsystem der Welt aufstellte und es glück- 
lich einigen Philosophieprofessoren aufband, die es 
dreissig Jahre lang ihm behaglich und breit nachphi- 
losophirt haben, der selbe war, der einst Lessingen als 
Spinozisten und später Schellingen als Atheisten de- 
nunzirte, von welchemLetzteren er die bekannte, wohl- 
verdiente Züchtigung erhielt. Solchem Eifer gemäss 
wollte er, indem er die Aussenwelt zur Glaubenssache 
herabsetzte, nur das Pförtchen für den Glauben über- 
haupt eröffnen und den Kredit vorbereiten für Das, 
was nachher wirklich auf Kredit an den Mann gebracht 
werden sollte: wie wenn man, um Papiergeld einzu- 
führen, sich darauf berufen wollte, dass der Werth 
der klingenden Münze doch auch nur auf dem Stempel 
beruhe, den der Staat darauf gesetzt hat. Jacobi, in 
seinem Philosophem über die auf Glauben angenom- 
mene Realität der Aussenwelt, ist ganz genau der von 
Kant (Kritik der reinen Vernunft, erste Auflage, S. 869) 
getadelte „transscendentale Realist, der den empiri- 
schen Idealisten spielt." — 
Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der 
empirische, sondern der transscendentale. Dieser lässt 
1 I 
die empirische Realität der Welt unangetastet, hält 
aber fest, dass alles Objekt^ also das empirisch Reale 
überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: 
erstlich inateriell, oder als Objekt überhaupt, weil ein 
objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und 
als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, 
indem die Art und Weise der Existenz des Objekts, 
d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), 
vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist. Also 
an den einfachen oder Berkeley sehen Idealismus, wel- 
cher das Objekt überhaupt betrifft, schliesst sich un- 
mittelbar der Kantische, welcher die speciell gegebene 
Jrt und Weise des Objektseyns betrifft. Dieser weist 
nach, dass die gesammte materielle Welt, mit ihren 
Körpern im Raum,welche ausgedehnt sind und, mittelst 
der Zeit, Kausalverhältnisse zu einander haben, und 
was dem anhängt, — dass dies Alles nicht ein unab- 
hängig von unserm Kopfe Vorhandenes sei; sondern 
seine Grundvoraussetzungen habe in unsern Gehirn- 
funktionen, mittelst welcher und in welchen allein eine 
solche objektive Ordnung der Dinge möglich ist ; weil 
Zeit, Raum und Kausalität, aufweichen alle jene rea- 
len und objektiven Vorgänge beruhen, selbst nichts 
weiter, als P'unktionen des Gehirnes sind; dass also 
jene unwandelbare Ordnung der Dinge, welche das 
Kriterium und den Leitfaden ihrer empirischen Rea- 
lität abgiebt, selbst erst vom Gehirn ausgeht und von 
diesem allein ihre Kreditive hat: dies hat Kant aus- 
führlich und gründlich dargethan; nur dass er nicht 
das Gehirn nennt, sondern sagt: „das Erkenntnissver- 
mögen". Sogar hat er zu beweisen versucht, dass jene 
objektive Ordnung in Zeit, Raum, Kausalität, Materie 
u. s. f., auf welcher alle Vorgänge der realen Welt 
zuletzt beruhen, sich als eine für sich bestehende, d. 
h. als Ordnung der Dinge an sich selbst, oder als et- 
was absolut Objektives und schlechthin Vorhandenes, 
genau betrachtet, nicht ein Mal denken lässt, indem 
sie, wenn man versucht sie zu Ende zu denken, auf 
W^idersprüche leitete. Dies darzuthun war die Absicht 
der Antinomien: jedoch habe ich, im Anhange zu 
meinem Werke, das Misslingen des Versuches nach- 
12 
gewiesen. — Hingegen leitet die Kantische Lehre, 
auch ohne die Antinomien, zu der Einsicht, dass die 
Dinge und die ganze Art und Weise ihres Daseyns 
mit unserm Bewusstseyn von ihnen unzertrennhch 
verknüpft sind ; daher wer Dies deuthch begriffen hat, 
bald zu der Ueberzeugung gelangt, dass die Annahme, 
die Dinge existirten als solche auch ausserhalb unsers 
Bewusstseyns und unabhängig davon, wirklich absurd 
ist. Dass wir nämlich so tief eingesenkt sind in Zeit, 
Raum, Kausalität und den ganzen darauf beruhenden 
gesetzmässigen Hergang der Erfahrung, dass wir (ja 
sogar die Thiere) darin so vollkommen zu Hause sind 
und uns von Anfang an darin zurecht zu finden wis- 
sen, — Dies wäre nicht möglich, wenn unser Intellekt 
Eines und die Dinge ein Anderes wären; sondern ist 
nur daraus erklärlich, dass Beide ein Ganzes ausma- 
chen, der Intellekt selbst jene Ordnung schafft und er 
nur für die Dinge, diese aber auch nur für ihn da sind. 
Allein selbst abgesehn von den tiefen Einsichten, 
welche nur die Kantische Philosophie eröffnet, lässt 
sich die UnStatthaftigkeit der so hartnäckig festgehal- 
tenen Annahme des absoluten Realismus auch wohl 
unmittelbar nachweisen, oder doch wenigstens fühl- 
bar machen, durch die blosse Verdeutlichung ihres 
Sinnes, mittelst Betrachtungen, wie etwan folgende. — 
Die Welt soll, dem Realismus zufolge, so wie wir sie 
erkennen, auch unabhängig von diesem Erkennen da- 
seyn. Jetzt wollen wir ein Mal alle erkennenden Wesen 
daraus wegnehmen, also bloss die unorganische und 
die vegetabilische Natur übrig lassen. Fels, Baum und 
Bach sei da und blauer Himmel: Sonne, Mond und 
Sterne erhellen diese Welt, wie zuvor; nur freilich ver- 
geblich, indem kein Auge da ist, solche zu sehn. Nun- 
mehr aber wollen wir, nachträglich, ein erkennendes 
Wesen hineinsetzen. Jetzt also stellt, in dessen Gehirne, 
jene Welt sich nochmals dar und wiederholt sich inner- 
halb desselben, genau eben so, wie sie vorher ausser- 
halb war. Zur ersten Welt ist also jetzt eine zweite ge- 
kommen, die, obwohl von jener völlig getrennt, ihr 
auf ein Haar gleicht. Wie im objektiven endlosen Raum 
die objektive Welt, genau so ist jetzt im subjektiven, 
i3 
erkannten Raum die 5uft/eÄ-f?W Welt dieser Anschauung 
beschaffen. Die letztere hat aber vor der erstem noch 
die Erkenntnis« voraus, dass jener Raum, da draussen, 
endlos ist, sojjar auch kann sie die {janze Gesetzmässig- 
keit aller in ihm möglichen und noch nicht wirklichen 
Verhältnisse haarklein und richtig angeben, zum vor- 
aus, und braucht nicht erst nachzusehen: eben so viel 
giebt sie über den Lauf der Zeit an, wie auch über 
das Verhältniss von Ursach und Wirkung, welches 
da draussen die Veränderungen leitet. Ich denke, dass 
dies Alles, bei näherer Retrachtung, absurd genug aus- 
fällt und dadiu'ch zu der Ueberzeugung führt, dass 
jene absolut objektive Welt, ausserhalb des Kopfes, 
unabhängig von ihm und vor aller Erkenntniss, wel- 
che wir zuerst gedacht zu haben wähnten, eben keine 
andere war, als schon die zweite, die subjektiv erkannte, 
die Welt der Vorstellung, als welche allein es ist, die 
wir wirklich zu denken vermögen. Demnach drängt 
sich von selbst die Annahme auf, dass die Welt, so 
wie wir sie erkennen, auch nur für unsere Erkenntniss 
da ist, mithin in der Vorstellung allein, und nicht noch 
ein Mal ausser derselben. Dieser Annahme entspre- 
chend ist sodann das Ding an sich, d. h. das von un- 
serer und jeder Erkenntniss unabhängig Daseyende, 
als ein von der Vorstellung und allen ihren Attributen, 
also von der Objektivität überhaupt, gänzlich Ver- 
schiedenes zu setzen: was dieses sei, wird nachher das 
Thema unsers zweiten Ruches. 
Hingegen auf der so eben kritisirten Annahme einer 
objektiven und einer subjektiven Welt, beideim Räume, 
und auf der bei dieser Voraussetzung entstehenden 
Unmöglichkeit eines Ueberganges, einer Rrücke, zwi- 
schen beiden, beruht der, §. 5 des ersten Randes*), in 
Retracht gezogene Streit über die Realität der Aussen- 
welt; hinsichtlich auf welchen ich noch Folgendes 
beizubringen habe. 
Das Subjektive und das Objektive bilden kein Kon- 
tinuum : das unmittelbar Rewusste ist abgegränzt durch 
die Haut, oder vielmehr durch die äussersten Enden 
der vom Cerebralsystem ausgehenden Nerven. Dar- 
•) S. i5 d. Ausg. 
■ 4 
über hinaus liegt eine Welt, von der wirkeine andere 
Kunde haben, als durch Bilder in unserm Kopfe. Ob 
nun und inwiefern diesen eine unabhängig von uns 
vorhandene Welt entspreche, ist die Frage. Die Be- 
ziehung zwischen Beiden könnte allein vermittelt wer- 
den durch das Gesetz der Kausalität: denn nur dieses 
führt von einem Gegebenen auf ein davon ganz Ver- 
schiedenes. Aber dieses Gesetz selbst hat zuvörderst 
seine Gültigkeit zu beglaubigen. Es muss nun entweder 
objektiven^ oder subjektiven Ursprungs seyn: in beiden 
Fällen aber liegt es auf dem einen oder dem andern 
Ufer, kann also nicht die Brücke abgeben. Ist es, wie 
Locke und Harne annahmen, a posteriori, also aus der 
Erfahrung abgezogen; so ist es objektiven Ursprungs, 
gehört dann selbst zu der in Frage stehenden Aussen- 
welt und kann daher ihre Realität nicht verbürgen: 
denn da würde, nach Locke's Methode, das Kausalitäts- 
gesetz aus der Erfahrung, und die Realität der Erfah- 
rung aus dem Kausalitätsgesetz bewiesen. Ist es hin- 
gegen, wie Kant uns richtiger belehrt hat, a priori 
gegeben; so ist es subjektiven Ursprungs, und dann 
ist klar, dass wir damit stets im Subjektiven bleiben. 
Denn das einzige wirklich ew^j'mcA Gegebene, bei der 
Anschauung, ist der Eintritt einer Empfindung im 
Sinnesorgan: die Voraussetzung, dass diese, auch 
nur überhaupt, eine Ursache haben müsse, beruht auf 
einem in der Form unsers Erkennens, d. h. in den 
Funktionen unsers Gehirns, wurzelnden Gesetz, dessen 
Ursprung daher eben so subjektiv ist, wie jene Sinnes- 
empfindung selbst. Die in Folge dieses Gesetzes zu der 
gegebenen Empfindung vorausgesetzte Ursache stellt 
sich alsbald in der Anschauung dar als Objekt, welches 
Raum und Zeit zur Form seines Erscheinens hat. Aber 
auch diese Formen selbst sind wieder ganz subjektiven 
Ursprungs: denn sie sind die Art und Weise unsers 
Anschauungsvermögens. Jener Übergang von der 
Sinnesempfindung zu ihrer Ursache, der, wieich wie- 
derholentlich dargethan habe, aller Sinnesanschauung 
zum Grunde liegt, ist zwar hinreichend, uns die empi- 
rische Gegenwart, in Raum und Zeit, eines empirischen 
Objekts anzuzeigen, also völlig genügend für das prak- 
i5 
tische Leben ; aber er reicht keineswe^js hin, uns Auf- 
schluss zu {^eben über das Daseyn und Wesen an sich 
der auf sobhe Weise Ir'ür uns entstehenden Erschei- 
nungen, oder vielmehr ihres inteUigibeln Substrats. 
Dass also auf Anlass gewisser, in meinen Sinnesorganen 
eintretender Empfindungen, in meinem Kopfe eine 
yinschamtng von räumlich ausgedehnten, zeitlich be- 
harrenden, und ursächlich wirkenden Dingen entsteht, 
berechtigt mich durchaus nicht zu der Annahme, dass 
auch an sich selbst, d. h. unabhängig von meinem 
Kopfe und ausser demselben dergleichen Dinge mit 
solchen ihnen schlechthin angehörigen Eigenscbaften 
existiren. - — Dies ist das richtige Ergebniss der Kanti- 
schen Philosophie. Dasselbe knüpft sich an ein früheres, 
eben so richtiges, aber sehr viel leichter fassliches Resul- 
tat Locke s. Wenn nämlich auch, wie Locke s Lehre es 
zulässt, zu den Sinnesempfindungen äussere Dinge als 
ihre Ursachen schlechthin angenommen werden; so 
kann doch zwischen der Empfindung^ in welcher die 
Wirkung besteht, und der objektiven Beschaffenheit 
der sie veranlassenden Ursache gar keine ^Ähnlichkeit 
seyn; weil die Empfindung, als organische Funktion, 
zunächst bestimmt ist durch die sehr künstliche und 
komplizirte Beschaffenheit unserer Sinneswerkzeuge, 
daher sie von der äussern Ursache bloss angeregt, dann 
aber ganz ihren eigenen Gesetzen gemäss vollzogen 
wird, also völlig subjektiv ist. — Locke's Philosophie 
war die Kritik der Sinnesfunktionen: Kant aber hat 
die Kritik der Gehirnfunktionen geliefeit. — Nun aber 
ist diesem Allen noch das Berkeley sehe, von mir er- 
neuerte Resultat unterzubreiten, dass nämlich alles 
Objekt, welchen Ursprung es auch haben möge, schon 
als Objekt durch das Subjekt bedingt, nämlich wesent- 
lich bloss dessen Vorstellung ist. Der Zielpunkt des 
Realismus ist eben das Objekt ohne Subjekt: aber ein 
solches auch nur klar zu denken ist unmöglich. 
Aus dieser ganzen Darstellung geht sicher und deut- 
lich hervor, das die Absicht, das JVesen an sich der 
Dinge zu erfassen, schlechthin unerreichbar ist auf 
dem Wege der blossen Erkenntniss und Forstellung; 
weil diese stets von aussen zu den Dingen kommt und 
l6 
daher ewig draussen bleiben muss. Jene Absicht könnte 
allein dadurch erreicht werden, dass wi?' selbst uns im 
Innern der Dinge befänden, wodurch es uns unmittel- 
bar bekannt würde. Inwiefern dies nun wirklich der 
Fall sei, betrachtet mein zweites Buch. So lange wir 
aber, wie in diesem ersten Buche, bei der objektiven 
Auffassung, also bei der Erkemitniss, stehen bleiben, 
ist und bleibt uns die Welt eine blosse Vorstellimg, 
weil hier kein Weg möglich ist, der darüber hinaus- 
führte. 
Ueberdies nun aber ist das Festhalten des ideali- 
Ä/iscAen Gesichtspunktes ein notwendiges Gegengewicht 
gegen den materialistischen. Die Kontroverse über das 
Reale und Ideale lässt sich nämlich auch ansehen als 
betreffend die Existenz der Materie. Denn die Realität, 
oder Idealität dieser ist es zuletzt, um die gestritten wird . 
Ist die Materie als solche bloss in unserer Vorstellung 
vorhanden; oder ist sie es auch unabhängig davon? 
Im letzteren Falle wäre sie das Ding an sich, und wer 
eine an sich existirende Materie annimmt, muss, kon- 
sequent, auch Materialist sein, d. h. sie zum Erklärungs- 
prinzip aller Dinge machen. Wer sie hingegen als Ding 
an sich leugnet, ist eo ipso Idealist. Geradezu und ohne 
Umweg die Realität der Materie behauptet hat, unter 
den Neueren, nnv Locke: daher hat seine Lehre, unter 
Condillacs Vermittelung, zum Sensualismus und 
Materialismus der Franzosen geführt. Geradezu und 
ohne Modifikationen geleugnet hat die Materie nur^er- 
keley. Der durchgeführte Gegensatz ist also Idealismus 
und Materialismus, in seinen Extremen repräsentirt 
durch Berkeley und die französischen Materialisten 
{Holbach). Fichte ist hier nicht zu erwähnen: er ver- 
dient keine Stelle unter den wirklichen Philosophen, 
unter diesen Auserwählten der Menschheit, die mit 
hohem Ernst nicht ihre Sache, sondern die Wahrheit 
suchen und daher nicht mit Solchen verwechselt wer- 
den dürfen, die unter diesem Vorgeben bloss ihr per- 
sönliches Fortkommen im Auge haben. Fichte ist der 
Vater der Schein-Philosophie, der unredlichen Methode, 
welche durch Zweideutigkeit im Gebrauch der Worte, 
durch unverständliche Reden und durch Sophismen 
2 Schopenhauer II ^ 7 
zu täuschen, dabei durch einen vornehmen Ton zu 
iniponiren, also den Lernbejjierigen zu übertölpeln 
sucht; ihren Gipfel hat diese, nachdem auch Schelling 
sie angewandt hatte, bekanntlich in Hegeln erreicht, 
als woselbst sie zur eigentlichen Scharlatanerie her- 
angereift war. Wer aber selbst niu' jenen Fichte ganz 
ernsthaft neben Kant nennt, beweist, dass er keine 
Ahndung davon hat, was Kant sei. — Hingegen hat 
auch der Materialismus seine Berechtigung. Es ist eben 
so wahr, dass das Erkennende ein Produkt der Materie 
sei, als dass die Materie eine blosse Vorstellung des 
Erkennenden sei : aber es ist auch eben so einseitig. 
Denn der Materialismus ist die Philosophie des bei 
seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts. 
Darum eben muss der Behauptung, dass ich eine blosse 
Modifikation der Materie sei, gegenüber, diese geltend 
gemacht werden, dass alle Materie bloss in meiner 
Vorstellung existire: und sie hat nicht minder Recht. 
Einenoch dunkle Erkenntnis dieserVerhältnissescheint 
den Platonischen Ausspruch uXt] aXrjdivov (j^suoo? (ma- 
tcria mendacium verax) hervorgerufen zu haben. 
Der Realismus führt, wie gesagt, notwendig zum 
Materialismus. Denn liefert die empirische Anschau- 
ung die Dinge an sich, wie sie unabhängig von unserm 
Erkennen da sind; so liefert auch die Erfahrung die 
Ordnung der Dinge an sich, d. h. die wahre und 
alleinige Weltordnunjf. Dieser W^eg aber führt zu der 
Annahme, dass es nur em Ding an sich gebe, die Ma- 
terie, deren Modifikation alles Uebrige sei; da hier der 
Naturlauf die absolute und alleinige Weltordnung: 
ist. Um diesen Konsequenzen auszuweichen, wurde, so 
lange der Realismus in unangefochtener Geltung war, 
dev Spiritualismus aufgestellt, also die Annahme einer 
zweiten Substanz, ausser und neben der Materie, einer 
immateriellen Substanz. Dieser von Erfahrung, Beweisen 
und Begreiflichkeit gleich sehr verlassene Dualismus 
und Spiritualismus wurde von Spinoza geleugnet und 
von Kant als falsch nachgewiesen, der dies durfte, 
weil er zugleich den Idealismus in seine Rechte ein- 
setzte. Denn mit dem Realismus fällt der Materialis- 
mus, als dessen Gegengewicht man den Spiritualismus 
i8 
ersonnen hatte, von selbst weg, indem alsdann die 
Materie, nebst dem Naturlauf, zur blossen Erscheinung 
wird, welche durch den Intellekt bedingt ist, indem 
sie in dessen Vorstellung allein ihr Dasein hat. Sonach 
ist gegen den Materialismus das scheinbare und falsche 
Rettungsmittel der Spiritualismus, das wirkliche und 
wahre aber der Idealismus, der dadurch, dass er die 
objektive Welt in Abhängigkeit von uns setzt, das 
nötige Gegengev^^icht gibt zu der Abhängigkeit, in 
welche der Naturlauf uns von ihr setzt. Die Welt, aus 
der ich durch den Tod scheide, war andrerseits nur 
meine Vorstellung. Der Schwerpunkt des Daseins fällt 
ins Subjekt zurück. Nicht, wie im Spiritualismus, die 
Unabhängigkeit des Erkennenden von der Materie, 
sondern die Abhängigkeit aller Materie von ihm wird 
nachgewiesen. P'reilich ist das nicht so leicht fasslich 
und bequem zu handhaben, wie der Spiritualismus mit 
seinen zwei Substanzen: aber yaksTza xa xaXa. 
Allerdings nämlich steht dem subjektiven Ausgangs- 
punkt ,,die W^elt ist meine Vorstellung" vorläuiig mit 
gleicher Berechtigung gegenüber der objektive „die 
Welt ist Materie", oder „die Materie allein ist schlecht- 
hin" (da sie allein dem Werden und Vergehen nicht 
unterworfen ist), oder „alles Existirende ist Materie". 
Dies ist der Ausgangspunkt des Demokritos,Leukippos 
und Epikuros. Näher betrachtet aber bleibt dem Aus- 
gehen vom Subjekt ein wirklicher Vorzug: es hat einen 
völlig berechtigten Schritt voraus. Nämlich das Be- 
wusstseyn allein ist das Unmittelbare : dieses aber über- 
springen wir, wenn wir gleich zur Materie gehen und 
sie zum Ausgangspunkt machen. Andererseits müsste 
es möglich seyn, aus der Materie und den richtig, voll- 
ständig und erschöpfend erkannten Eigenschaften der- 
selben (woran uns noch viel fehlt) die Welt zu kon- 
struiren. Denn alles Entstandene ist durch Ursachen 
wirklich geworden, welche nur vermöge der Grund- 
kräfte der Materie wirken und zusammenkommen 
konnten : diese aber müssen wenigstens objective voll- 
ständig nachweisbar seyn, wenn wir auch subjective 
nie dahin kommen werden, sie zu erkennen. Immer 
aber würde einer solchen Erklärung und Konstruktion 
19 
der Welt nicht nur die Voraussetzung^ eines Daseyns 
an sich der Materie (während es in Wahrheit durch 
das Subjekt l)edinfjt ist) zum Grunde liegen; sondern 
sie müsste auch noch an dieser Materie alle ihre ur- 
sprünglichen Eigenschaften als schlechthin unerklär- 
liche, also als qualitates occultae, gelten und stehen 
lassen. (Siehe §. 26, 27 des ersten Bandes*).) Denn die 
Materie ist nur der Träger dieser Kräfte, wie das Ge- 
setz der Kausalität nur der Ordner ihrer Erscheinun- 
gen. Mithin würde eine solche Erklärung der Welt 
doch immernur eine relative und bedingte seyn, eigent- 
lich das Werk einer Physik, die sich bei jedem Schritte 
nach einer Metaphysik sehnte. — Andererseits hat 
auch der subjektive Ausgangspunkt und Ursatz „die 
Welt ist meine Vorstellung" sein Inadäquates: theils 
sofern er einseitig ist, da die Welt doch ausserdem 
noch viel mehr ist (nämlich Ding an sich, Wille), ja, 
das V^orstellungseyn ihr gewissermaassen accidentell 
ist; theils aber auch, sofern er bloss das Bedingtseyn 
des Objekts durch das Subjekt ausspricht, ohne zu- 
gleich zu besagen, dass auch das Subjekt als solches 
durch das Objekt bedingt ist. Denn eben so falsch 
wie der Satz des rohen Verstandes, „die Welt, das 
Objekt, wäre doch da, auch wenn es kein Subjekt 
gäbe", ist dieser: „das Subjekt wäre doch ein Erken- 
nendes, wenn es auch kein Objekt, d. h. gar keine 
Vorstellung hätte". Ein Bewusstseyn ohne Gegenstand 
ist kein Bewusstseyn. Ein denkendes Subjekt hat Be- 
griffe zu seinem Objekt, ein sinnlich anschauendes 
hat Objekte mit den seiner Organisation entsprechen- 
den Qualitäten. Berauben wir nun das Subjekt aller 
näheren Bestimmungen und Formen seines Erkennens; 
so verschwinden auch am Objekt alle Eigenschaften, 
und nichts bleibt übrig, als die Materie ohne Form 
und Qualität, welche in der Erfahrung so wenig vor- 
kommen kann, wie das Subjekt ohne Formen seines 
Erkennens, jedoch dem nackten Subjekt als solchem 
gegenüber stehen bleibt, als sein Reflex, der nur mit 
ihm zu{;leich verschwinden kann. Wenn auch der 
Materialismus nichts weiter als diese Materie, etwan 
*) S. i6<j u. I 72 (1. Aiisp. 
20 
Atome, zu postuliren wähnt; so setzt er doch unbe- 
wusst nicht nur das Subjekt, sondern auch Raum, Zeit 
und KausaHtät hinzu, die auf speciellen Bestimmungen 
des Subjekts beruheu. 
Die Welt als Vorstellung, die objektive Welt, hat 
also gleichsam zwei Kugel-Pole: nämlich das erken- 
nende Subjekt schlechthin, ohne die Formen seines 
Erkennens, und dann die rohe Materie ohne Form 
und Qualität. Beide sind durchaus unerkennbar: das 
Subjekt, weil es das Erkennende ist; die Materie, weil 
sie ohne Form und Qualität nicht angeschaut werden 
kann. Dennoch sind beide die Grundbedingungen aller 
empirischen Anschauung. So steht der rohen, form- 
losen, ganz todten (d. i. willenslosen) Materie, die in 
keiner Erfahrung gegeben, aber in jeder vorausgesetzt 
wird, als reines Widerspiel gegenüber das erkennende 
Subjekt, bloss als solches, welches ebenfalls Voraus- 
setzung aller Erfahrung ist. Dieses Subjekt ist nicht 
in der Zeit: denn die Zeit ist erst die nähere Form 
alles seines Vorstellens; die ihm gegenüberstehende 
Materie ist, dem entsprechend, ewig unvergänglich, 
beharrt durch alle Zeit, ist aber eigentlich nicht ein- 
mal ausgedehnt, weil Ausdehnung Form giebt, also 
nicht räumlich. Alles Andere ist in beständigem Ent- 
stehen und Vergehen begriffen, während jene beiden 
die ruhenden Kugel-Pole der Welt als Vorstellung 
darstellen. Man kann daher die Beharrlichkeit der 
Materie betrachten als den Reflex der Zeitlosigkeit des 
reinen, schlechthin als Bedingung alles Objekts ange- 
nommenen Subjekts. Beide gehören der Erscheinung 
an, nicht dem Dinge an sich: aber sie sind das Grund- 
gerüst der Erscheinung. Beide werden nur durch Ab- 
straktion herausgefunden, sind nicht unmittelbar rein 
und für sich gegeben. 
Der Grundfehler aller Systeme ist das Verkennen 
dieser Wahrheit, dass der Intellekt und die Materie 
Korrelata sind, d. h. Eines nur für das Andere da ist, 
Beide mit einander stehen und fallen. Eines nur der 
Reflex des Andern ist, ja, dass sie eigentlich Eines und 
dasselbe sind, von zwei entgegengesetzten Seiten be- 
trachtet; welches Eine, was ich hier anticipire, — die 
2 I 
Erscheinxinjj des Willens, oder Dinges an sich ist; dass 
mithin beide sekundär sind: daher der Ursprung der 
Welt in keinem von Beiden zu suchen ist. A her in Folge 
jenes Verkennens suchten alle Systeme (den Spinozis- 
mus etwan ausgenonnnen) den Ursprung aller Dinge 
in einem jener lieiden. Sie setzen nämlich entweder 
einen Intellekt, vou?, als schlechthin Erstes und orj- 
jjLioup'j'o«;, lassen denmach in diesem eine Voistelliaig 
der Dinge imd der Welt vor der Wirklichkeit der- 
selben vorliergeben : mithin unterscheiden sie die reale 
Welt von der Welt als Vorstellung; welches falsch 
ist. Daher tritt jetzt als Das, wodurch Beide unter- 
schieden sind, die Mateiie auf, als ein Ding an sich. 
Hieraus entsteht die Verlegenheit, diese Materie, die 
uXt], herbeizuschaffen, damit sie zur blossen Vorstel- 
lung der Welt hinzukommend, dieser Realität ertheile. 
Da muss nun entweder jener ursprüngliche Intellekt 
sie vorfinden: dann ist sie, so gut wie er, ein absolut 
Erstes, und wir erhalten zwei absolut Erste, den or^- 
ijLioupYo; und die uXt]. Oder aber er bringt sie aus 
nichts hervor; eine Annahme, der unser Verstand sich 
widersetzt, da er nur Veränderungen an der Materie, 
nicht aber ein Entstehen oder Vergehen derselben zu 
fassen fähig ist; welches im Grunde gerade darauf be- 
ruht, dass die Materie sein wesentliches Korrelat ist. — 
Die diesen Systemen entgegengesetzten, welche das 
andere der beiden Korrelate, also die Materie, zum 
absolut Ersten machen, setzen eine Materie, die da- 
wäre, ohne vorgestellt zu werden, welches, wie aus 
allem oben Gesagten genugsam erhellt, ein gerader 
Widerspruch ist; da wir im Daseyn der Materie stets 
mu" ihr Vorgesfelltwerden denken. Danach aber ent- 
steht ihnen die Verlegenheit, zu dieser Materie, die 
allein ihr absolut Erstes ist, den Intellekt hinzuzu- 
bringen, der endlich von ibr erfahren soll. Diese Blosse 
des Materialismus habe ich §. 7 des ersten Bandes*) ge- 
schildert. — Bei mir hingegen sind Materie und In- 
tellekt unzertrennliche Korrelata, nur für einander, 
daber nur relativ, da: die Materie ist die Vorstellung 
des Intellekts; der Intellekt ist das, in dessen Vorstel- 
•) S. 3i d. A. 
22 
lung allein die Materie existirt. Beide zusammen ma- 
chen die Welt als Vorstellung aus, welche eben Kants 
Erscheinung^ mithin ein sekundäres ist. Das Primäre 
ist das Erscheinende, das Ding an sich selbst, als wel- 
ches wir nachher den Willen kennen lernen. Dieser 
ist an sich weder Vorstellendes, noch Vorgestelltes; 
sondern von seiner Erscheinungsweise völlig verschie- 
den. 
Zum nachdrücklichen Schluss dieser so wichtigen, 
wie schwierigen Betrachtung will ich jetzt jene beiden 
Abstrakta ein Mal personificirt und im Dialog auf- 
treten lassen, nach dem Vorgang des Prabodha Tschan- 
dro Daya: auch kann man damit einen ähnlichen 
Dialog der Materie mit der Form in des Raimund 
Lullius Duodecim principia philosophiae, c. i et 2, 
vergleichen. 
Das Subjekt. 
Ich bin, und ausser mir ist nichts. Denn die Welt 
ist meine Vorstelkmg. 
Die Materie. 
Vermessener Wahn ! Ich, ich bin : und ausser mir 
ist nichts. Denn die Welt ist meine vorübergehende 
Form. Du bist ein blosses Resultat eines Teiles dieser 
Form und durchaus zufällig. 
Das Subjekt. 
Welch thörichter Dünkel! Weder du noch deine 
Form wären vorhanden ohne mich: ihr seyd durch 
mich bedingt. Wer mich wegdenkt und dann glaubt 
euch noch denken zu können, ist in einer groben 
Täuschung begriffen: denn euer Daseyn ausserhalb 
meiner Vorstellung ist ein gerader Widerspruch, ein 
Sideroxylon. Ihr seyd heisst eben nur, ihr werdet von 
mir vorgestellt. Meine Vorstellung ist der Ort eures 
Daseyns: daher bin ich die erste Bedingung desselben. 
Die Materie. 
Zum Glück wird die Vermessenheit deiner Behaup- 
tung bald auf eine reale Weise widerlegt werden und 
nicht durch blosse Worte. Noch wenige Augenblicke, 
und du — bist wirklich nicht mehr, bist mit sammt 
23 
deiner Grosssprecherei ins Nichts versunken, hast, nach 
Schatten -Weise, vorüber{;eschwebt und das Schick- 
sal jeder meiner vergänglichen F'ormen erhtten. Ich 
aber, ich bleibe, unverletzt und unvermindert, von 
Jahrtausend zu Jahrtausend, die unendliche Zeit hin- 
durch, und schaue unerschüttert dem Spiel des Wech- 
sels meiner Formen zu. 
Das Subjekt. 
Diese unendliche Zeit, welche zu durchleben du 
dich rühmst, ist, wie der unendliche Raum, den du 
füllst, bloss in meiner Vorstellung vorhanden, ja, ist 
blosse Form meiner Vorstellung, die ich fertig in mir 
trage, und in der du dich darstellst, die dich aufnimmt, 
wodurch du allererst dabist. Die Vernichtung aber, 
mit der du mir drohest, trifft nicht tiiich; sonst wärst 
du tnit vernichtet: vielmehr trifft sie bloss das Indi- 
viduum, welches auf kurze Zeit mein Träger ist und 
von mir vorgestellt wird, wie alles Andere. 
Die Materie. 
Und wenn ich dir dies zugestehe und darauf ein- 
gehe, dein Daseyn, welches doch an das dieser vergäng- 
lichen Individuen unzertrennlich geknüpft ist, als ein 
für sich l)estehendes zu betrachten ; so bleibt es den- 
noch von dem nieinigen abhängig. Denn du bist Sub- 
jekt nur sofern du ein Objekt hast: und dieses Objekt 
bin ich. Ich bin dessen Kern und Gehalt, das Blei- 
bende darin, welches es zusammenhält und ohne wel- 
ches es so unzusammenhängend wäre und so wesen- 
los verschwebte, wie die Träume und Phantasien 
deiner Individuen, die selbst ihren Scheingehalt doch 
noch von mir geborgt haben. 
Das Subjekt. 
Du thust wohl, mein Daseyn mir deshalb, dass es 
an die Individuen geknüpft ist, nicht abstreiten zu 
wollen: denn so unzertrennlich, wie ich an diese, bist 
du an deine Schwester, die Form, gekettet, und bist 
noch nie ohne sie erschienen. Dich Avie mich, hat 
nackt und isolirt noch kein Auge gesehen: denn beide 
sind wir nur Abstraktionen. Ein Wesen ist es im 
24 
Grunde, das sich selbst anschaut und von sich selbst 
angeschaut wird, dessen Seyn an sich aber weder im 
Anschauen noch im Angeschautwerden bestehen kann, 
da diese zwischen uns Beide vertheilt sind. 
Beide. 
So sind wir denn unzertrennlich verknüpft, als notli- 
wendige Theile eines Ganzen, das uns Beide umfasst 
und durch uns besteht. Nur ein Missverständniss kann 
uns Beide einander feindlich gegenüber stellen und 
dahin verleiten, dass Eines des Andern Daseyn be- 
kämpft, mit welchem sein eigenes steht und fällt. 
Dieses Beide umfassende Ganze ist die Welt als Vor- 
stellung, oder die Erscheinung. Nach deren Weg- 
nahme bleibt nur noch das rein Metaphysische, das 
Ding an sich, welches wir im zweiten Buche als den 
Willen erkennen werden. 
KAPITEL 2. 
ZUR LEHRE VON DER ANSCHAUENDEN, ODER 
VERSTANDES-ERKENNTNISS. 
BEI aller transscendentalen Idealität behält die ob- 
jektive Welt emph'ische Realität: das Objekt ist 
zwar nicht Ding an sich; aber es ist als empirisches 
Objekt real. Zwar ist der Raum nur in meinem Kopf; 
aber empirisch ist mein Kopf im Raum. Das Kausali- 
tätsgesetz kann zwar nimmermehr dienen, den Idea- 
lismus zu beseitigen, indem es nämlich zwischen den 
Dingen an sich und unserer Erkenntniss von ihnen 
eine Brücke bildete und sonach der in Folge seiner 
Anwendung sich darstellenden Welt absolute Reali- 
tät zusicherte: allein Dies hebt keineswegs das Kau- 
salverhältniss der Objekte unter einander, also auch 
nicht das auf, welches zAvisclien dem eijjenen Leibe 
jedes Erkennenden und den ühii{jen materiellen Ob- 
jekten unstreiti{j Statt hat. Aber das Kausalitäts^jesetz 
verbindet bloss die Erscheinunjjen, führt hingegen 
nicht über sie hinaus. Wir sind und bleiben mit dem- 
selben in der Welt der Objekte, d. h. der Erschei- 
nungen, also eijjentlich der Vorstellungen. Jedoch 
bleibt das Ganze einer solchen Erfahrungswelt zu- 
nächst durch die Erkenntniss eines Subjekts über- 
haupt, als nothwendige Voraussetzung derselben, vmd 
sodann diu'ch die speciellen Formen unserer Anschau- 
inig und Apprehension bedingt, fallt also nothwendig 
der blossen Erscheiuunfj anheim und hat keinen An- 
spruch, für die Welt der Dinge an sich selbst zu gel- 
ten. Sogar das Subjekt selbst (sofern es bloss Erken- 
nendes ist) gehört der blossen Erscheinung an, deren 
ergänzende andere Hälfte es ausmacht. 
Ohne Anwendung desGesetzes der Kausalität könnte 
es inzwischen nie zur Anschauung einer objektiven 
Welt kommen: denn diese Anschauung ist, wie ich 
oft auseinandergesetzt habe, wesentlich inlelleldiial 
und nicht ])loss sensual. Die Sinne geben blosse Emp- 
findung, die noch lange keine Anschauung ist. Den 
Antheil der Sinnesempfindung an der Anschauung 
sonderte Locke aus, unter dem Namen der sekundären 
Qualitäten, welche er mit Recht den Dingen an sich 
selbst absprach. Aber Kant, Lockens Methode weiter 
führend, sonderte überdies aus und sprach den Dingen 
an sich ab was der Vei-arheitung jenes Stoffes (der 
Sinnesemj)findung) durch das Gehirn angehört, und 
da ergab sich, dass hierin alles Das begriffen war, was 
Locke, als primäre Qualitäten, den Dingen an sich ge- 
lassen hatte, nämlich Ausdehnung, Gestalt, Solidität 
u. s. w., wodurch bei Kant das Ding an sich zu einem 
völlig Unbekannten = x wird. Bei Locke ist demnach 
das Ding an sich zwar ein Farbloses, Klangloses, Ge- 
ruchloses, Geschmackloses, ein weder Warmes, noch 
Kaltes, weder Weiches noch Hartes , weder Glattes 
noch Rauhes; jedoch bleibt es ein Ausgedehntes, Ge- 
staltetes, Undurchdringliches, Ruhendes oder Beweg- 
tes, und Maass und Zahl Habendes. Hingegen bei Kant 
26 
hat es auch diese letzteren Eigenschaften sämmtHch 
abgelegt; weil sie nur mittelst Zeit, Raum und Kau- 
salität möglich sind, diese aber aus unserm Intellekt 
(Gehirn) eben so entspringen, wie Farben, Töne, Ge- 
rüche u. s. w. aus den Nerven der Sinnesorgane. Das 
Ding an sich ist bei7irt?i< eiuRaumloses, ünausgedehntes, 
Unkörperliches geworden. Was also zur Anschauung, 
in der die objektive Welt dasteht, die blossen Sinne 
liefern, verhält sich zu Dem, was dazu die Gehirn- 
funktion liefert (Raum, Zeit, Kausalität), wie die Masse 
der Sinnesnerven zur Masse des Gehirns, nach Abzug 
desjenigen Theiles von dieser, der überdies zum ei- 
gentlichen Denken, d. h. dem abstrakten Vorstellen, 
verwendet wird und daher den Thieren abgeht. Denn, 
verleihen die Nerven der Sinnesorgane den erschei- 
nenden Objekten Farbe, Klang, Geschmack, Geruch, 
Temperatur u. s. w.; so verleiht das Gehirn denselben 
Ausdehnung, Form, Undurchdringlichkeit, Beweglich- 
keit u. s. w., kurz Alles, was erst mittelst Zeit, Raum 
und Kausalität vorstellbar ist. Wie gering bei der An- 
schauung der Antheil der Sinne ist, gegen den des 
Intellekts, bezeugt also auch der Vergleich zwischen 
dem Nervenapparat zum Empfangen der Eindrücke 
mit dem zum Verarbeiten derselben; indem die Masse 
der Empfindungsnerven sämmtlicher Sinnesorgane 
sehr gering ist, gegen die des Gehirns, selbst noch bei 
den Thieren, deren Gehirn, da sie nicht eigentlich, 
d. h. abstrakt, denken, bloss zur Hervoi'bringung der 
Anschauung dient und doch, wo diese vollkommen 
ist, also bei den Säugethieren, eine bedeutende Masse 
hat; auch nach Abzug des kleinen Gehirns, dessen 
Funktion die geregelte Leitung der Bewegungen ist. 
Von der Unzulänglichkeit der Sinne zur Hervor- 
bringung der objektiven Anschauung der Dinge, wie 
auch vom nichtempirischen Ursprung der Anschauung 
des Raumes und der Zeit, erhält man, als Bestätigung 
der Kantischen Wahrheiten, ^n^ negativem Wege, eine 
sehr gründliche Überzeugung durch Thomas Reids\or- 
treffliches Buch; Inquiry into the human mind, first 
edition 1764, 6th edition 1810. Dieser widerlegt die 
Locke'sche Lehre, dass die Anschauung ein Produkt 
der Sinne sei, Indem er ^,rüiidlich und scharfsinnig 
darthut, dass sünimtliche Sinnesempfindungen niclit 
die mindeste Aehnlichkeit lialien mit der anschaulich 
erkannten Welt, besonders aber die fünf primären 
Qualitäten Locke s (Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Be- 
wegung, Zahl) durchaus von keiner Sinnesempfindung 
ims geliefert werden können. Er giebt sonach die Frage 
nach der Kntstehungsart und dem Ursprung der An- 
schauung als völlig unlösbar auf. So liefert er, obwohl 
nnlKanten völlig unbekannt, gleichsam nach der regula 
falsi, einen gründlichen Beweis für die (eigentlich von 
mir, in Folge der Kantischen Lehre, zuerst dargelegte) 
Intellektualität der Anschauung und für den von Kant 
entdeckten apriorischen Ursprung der Grundbestand- 
theile derselben, also des Raumes, der Zeit und der Kau- 
salität, aus welchen jene Locke'schen primären Eigen- 
schaften allererst hervorgehen, mittelst ihrer aber 
leicht zu konstruiren sind. Thotnas Beids Buch ist sehr 
lehrreich und lesenswerth, zehn Mal mehr, als Alles 
was seit Kant Philosophisches geschrieben worden zu- 
sammengenommen. Einen andern indirekten Beweis 
für die selbe Lehre liefern, wiewohl auf dem Wege 
des Irrthums, die französischen Sensualphilosophen, 
welche, seitdem Condillac in die Fussstapfen Locke s 
trat, sich abmühen, wirklich darzuthun, dass unser 
ganzes Vorstellen und Denken auf blosse Sinnesemp- 
ßndungen zurücklaufe (penser c'est sentir), welche 
sie, nach Locke's Vorgang, idees simples nennen, und 
durch deren blosses Zusammentreten und Vergbchen- 
werden die ganze objektive Welt sich in miserm Kopie 
aufbauen soll. Diese Herren haben wirklich des idees 
bien simples: es ist belustigend zu sehend, wie sie, 
denen sowohl die Tiefe des Deutschen, als die Red- 
lichkeit des luighschen Philosophen abging, jenen ärm- 
lichen Stoff der Sinnesem|)Hndung hin und her wenden 
und ihn wichtig zu machen suchen, um das so bedeu- 
tungsvolle Phänomen derVorstellungs-imd Gedanken- 
Welt daraus zusammenzusetzen. Aber der von ihnen 
konstruirte Mensch müsste, anatomisch zu reden, ein 
Anencephalus, eine Tete de crapaud sevn, mit blossen 
Sinneswerkzeugen, ohne Gehirn. Um aus unzähligen 
28 
nur ein Paar der besseren Versuclie dieser Art bei- 
spielsweise anzuführen, nenne ich Condorcet im An- 
fang seines Buches: Des progres de Tesprit hurnaia, 
und Tourtual über das Sehen, im zweiten Bande der 
Scriptores ophthahnologici minores; edidit Justus Ra- 
dius (1828). 
Das Gefühl der Unzulänglichkeit einer bloss sensua- 
listischen Erklärung der Anschauung zeigt sich gleich- 
falls in der, kurz vor dem Auftreten der Kantischen 
Philosophie ausgesprochenen Behauptung, dass wir 
nicht blosse, durch Sinnesempfindung erregte Vor- 
stellungen von den Dingen hätten, sondern unmittel- 
bar die Dinge selbst wahrnähmen, obwohl sie ausser 
uns lägen; welches freilich unbegreiflich sei. Und dies 
war nicht etwan idealistisch gemeint, sondern vom 
gewöhnlichen realistischen Standpunkt aus gesagt. 
Gut und bündig drückt jene Behauptung der berühmte 
Euler aus, in seinen „Briefen an eine Deutsche Prin- 
zessin", Bd. 2, S. 68. „Ich glaube daher, dass die Emp- 
findungen (der Sinne) noch etwas mehr enthalten, 
als die Philosophen sich einbilden. Sie sind nicht bloss 
leere Wahrnehmungen von gewissen im Gehirn ge- 
machten Eindrücken: sie geben der Seele nicht bloss 
Ideen von Dingen ; sondern sie stellen ihr auch wirklich 
Gegenstände vor, die ausser ihr existiren, ob man gleich 
nicht begreifen kann, wie dies eigentlich zugehe." 
Diese Meinung erklärt sich aus Folgendem. Obwohl, 
wie ich hinlänglich bewiesen habe, die Anwendung 
des uns a priori bewussten Kausalitätsgesetzes die An- 
schauung vermittelt; so tritt dennoch, beim Sehen, 
der Verstandesakt, mittelst dessen wir von der Wir- 
kung zur Ursache übergehen, keineswegs ins deutliche 
Bewusstseyn; daher sondert sich die Sinnesempfindung 
nicht von der aus ihr, als dem rohen Stoff, erst vom 
Verstände gebildeten Vorstellung. Noch weniger kann 
ein, überhaupt nicht Statt habender, Unterschied 
zwischen Gegenstand und Vorstellung ins Bewusstseyn 
treten ; sondern wir nehmen ganz unmittelbar die Dinge 
selbst wahr, und zwar als ausser uns gelegen ; obwohl 
gewiss ist, dass das Unmittelbare nur die Empfindung 
seyn kann, und diese auf das Gebiet unterhalb unserer 
29 
Haut beschränkt ist. Dies ist daraus erklärlich, dass 
das Aussei- uns eine ausschliesslich räumliche Bestim- 
mung, der Raum selbst aber eine Form unsers An- 
schauungsvermögens, d. h. eine Funktion unsers Ge- 
hirns ist: daher liegt das Ausser uns, wohin wir, auf 
Anlass der Gesichtsempfindung, Gegenstände ver- 
setzen, selbst innerhalb unsers Kopfes : denn da ist sein 
ganzer Schauplatz. Ungefähr wie wir im Theater Berge, 
Wald und Meer sehen, aber doch Alles im Hause 
bleibt. Hieraus wird begreiflich, dass wir die Dinge 
mit der Bestimmung Ausserhalb und doch ganz un- 
mittelbar anschauen, nicht aber eine von den Dingen, 
die ausserhalb lägen, verschiedene Vorstellung der- 
selben innerhalb. Denn im Räume und folglich auch 
ausser uns sind die Dinge nur sofern wir sie vorstellen : 
daher sind diese Dinge, die wir solchermaassen un- 
mittelbar selbst, und nicht etwan ihr blosses Abbild, 
anschauen, eben selbst auch nur unsere Vorstellungen^ 
imd als solche mu- in unserm Kopfe vorhanden. Also 
nicht sowohl, wie Euler sagt, schauen wir die ausser- 
halb gelegenen Dinge unmittelbar selbst an; als viel- 
mehr: die von uns als ausserhalb gelegen angeschauten 
Dinge sind nur unsere Vorstellungen und deshalb ein 
von uns unmittelbar Wahrgenommenes. Die ganze 
oben in Eulej'S Worten gegebene und richtige Bemer- 
kung liefert also eine neue Bestätigung der Kantischen 
transscendentalen Aesthetik und meiner darauf ge- 
stützten Theorie der Anschauung, wie auch des Idea- 
lismus überhaupt. Die oben erwähnte Unmittelbarkeit 
und Bewusstlosigkeit, mit der wir, bei der Anschau- 
ung, den Übergang von der Empfindung zu ihrer Ur- 
sache machen, lässt .sich erläutern durch einen ana- 
logen Hergang beim a^.s^?rtA/enVorstellen, oder Denken. 
Beim Lesen und Hören nämlich empfangen wir blosse 
Worte, gehen aber von diesen so unmittelbar zu den 
durch sie be/eichneten Begriflen über, dass es ist, als 
ob wir unmittelbar die Begriffe empfiengen : denn wir 
werden uns des Cber{;angs zu diesen gar nicht bewusst. 
Daher wissen wir bisweilen nicht, in welcher Sprache 
wir gestern etwas, dessen wir vms erinnern, gelesen 
haben. Dass ein solcher Übergang dennoch jedes Mal 
3o 
Statt hat, wird bemerklich, wenn er ein Mal ausbleibt, 
d. h. wenn wir, in der Zerstreuung, gedankenlos lesen 
und dann inne werden, dass wir zwar alle Worte, 
aber keinen Begriff empfangen haben. Bloss wenn 
wir von abstrakten Begriffen zu Bildern der Phantasie 
übergehen, werden wir uns der Umsetzung bewusst. 
Uebrigens findet, bei der empirischen Wahrneh- 
mung, die Bewusstlosigkeit, mit welcher der U eber- 
gang von der Empfindung zur Ursache derselben ge- 
schieht, eigentlich nur bei der Anschauung im engsten 
Sinn, also beim Sehen Statt; hingegen geschieht er bei 
allen übrigen sinnlichen Wahrnehmungen mit mehr 
oder minder deutlichem Bewusstseyn, daher, bei der 
Apprehension durch die gröberen vier Sinne seine 
Realität sich unmittelbar faktisch konstatiren lässt. 
Im Finstern betasten wir ein Ding so lange von allen 
Seiten, bis wir aus dessen verschiedenen Wirkungen 
auf die Hände die Ursache derselben als bestimmte 
Gestalt konstruiren können. Ferner, wenn etwas sich 
glatt anfühlt, so besinnen wir uns bisweilen, ob wir 
etwan Fett oder Oel an den Händen haben: auch 
wohl, wenn es uns kalt berührt, ob wir sehr warme 
Hände haben. Bei einem Ton zweifeln wir bisweilen, 
ob er eine bloss innere, oder wirklich eine von Aussen 
kommende Affektion des Gehörs war, sodann, ob er 
nah und schwach, oder fern und stark erscholl, dann, 
aus welcher Richtung er kam, endlich, ob er die 
Stimme eines Menschen, eines Thieres, oder eines In- 
struments war: wir forschen also, bei gegebener Wir- 
kung, nach der Ursache. Beim Geruch und Geschmack 
ist die Ungewissheit über die Art der objektiven Ur- 
sache der empfundenen Wirkung alltäglich: so deut- 
lich treten sie hier auseinander. Dass beim Sehen der 
Uebergang von der Wirkung zur Ursache ganz unbe- 
wusst geschieht, und dadurch der Schein entsteht, 
als wäre diese Art der Wahrnehmung eine völlig 
unmittelbare, in der sinnlichen Empfindung allein, 
ohne Verstandesoperation, bestehende, dies hat seinen 
Grund theils in der hohen Vollkommenheit des Or- 
gans, theils in der ausschliesslich geradlinigen Wir- 
kungsart des Lichts. Vermöge dieser letzteren leitet 
3i 
der Eindruck selbst schon auf den Ort der Ursache 
hin, und da das Auge alle Nuancen von Licht, Schat- 
ten, Farbe und Uinriss, wie auch die Data, nach wel- 
chen der Verstand die Entfernunfj schätzt, auf das 
Feinste und mit Einem IJlick zu empfinden die Fähig- 
keit hat; so {jeschieht, bei Eindrücken auf diesen Sinn, 
die Verstandesoperation mit einer Schnelligkeit und 
Sicherheit, welche sie so wenig zum Bewusstseyn kom- 
men lässt, wie das Buchstabiren beim Lesen; wodurch 
also der Schein entsteht, als ob schon die Emj)findung 
selbst unmittelbar die Gegenstände gäbe. Dennoch ist, 
gerade ])eim Sehen, die Operation des f^erstandes, be- 
stehend im Erkennen der Ursache aus der Wirkung, 
am bedeutendsten : vermöge ihrer wird das doppelt, 
mit zwei Augen, Em[)fundene einfach angeschaut; 
vermöge ihrer wird der Eindruck, welcher auf der 
Retina, in Folge der Kreuzung der Strahlen in der 
Pupille, verkehrt, das Oberste unten, eintrifft, bei Ver- 
folgung der Ursache desselben auf dem Rückwege in 
gleicher Richtung, wieder zurechtgestellt, oder, wie 
man sich ausdrückt, sehen wir die Dinge aufrecht, 
obgleich ihr Bild im Auge verkehrt steht; vermöge 
jener Verstandesoperation endlich werden, aus fünf 
verschiedenen Datis, die Th. Reid sehr deutlich und 
schön beschreibt, Grösse und Entfernung in unmittel- 
barer Anschauung von uns abgeschätzt. Ich habe dies 
Alles, wie auch die Beweise, welche die Intellektuali- 
tät der Anschauung unwiderleglich darthun, schon 1 8 1 6 
auseinandergesetzt in meiner Abhandlung „Ueljer das 
Sehn und die Farben" (in zweiter Auflage i854) mit 
bedeutenden Vermehrungen aber in der fünfzehn 
Jahre spätem und verbesserten Lateinischen Bear- 
beitung derselben, welche, unter dem Titel Theoria 
colorum physiologica eademque primaria, im dritten 
Bande der von Justus Badius i83o herausgegebenen 
Scriptores oplithalmologici minores steht, am aus- 
führlichsten und gründlichsten jedoch in der zweiten 
Auflage meiner Abhandlung „Ueber den Satz vom 
Grunde", §. 21. Dahin also verweise ich über diesen 
wichtigen Gegenstand, um gegenwärtige Erläute- 
rungen nicht noch mehr anzuschwellen. 
32 
Hinfjegen mag eine ins Aesthetische einschlagende 
Bemerkung hier ihre Stelle finden. Vermöge der be- 
wiesenen Intellektualität der Anschauung ist auch der 
Anblick schöner Gegenstände, z. B. einer schönen 
Aussicht, ein Gehirnphänomen. Die Reinheit und Voll- 
kommenheit desselben hängt daher nicht bloss vom 
Objekt ab, sondern auch von der Beschaffenheit des 
Gehirns, nämlich von der Forni und Grösse desselben, 
von der Feinheit seiner Textur vind von der Belebung 
seiner Thätigkeit durch die Energie des Pulses der 
Gehirnadern. Demnach fällt gewiss das Bild der selben 
Aussicht in verschiedenen Köpfen, auch bei gleicher 
Schärfe ihrer Augen, so verschieden aus, wie etwan 
der erste und letzte Abdruck einer stark gebrauchten 
Kupferplatte. Hierauf beruht die grosse Verschieden- 
heit der Fähigkeit zum Genüsse der schönen Natur 
und folglich auch zum Nachbilden derselben, d. h. 
zum Hervorbringen des gleichen Gehirnphänomens 
mittelst einer ganz anderartigen Ursache, nämlich der 
Farbenllecke auf einer Leinwand. 
Uebrigens hat die auf der gänzlichen Intellektuali- 
tät der Anschauung beruhende scheinbare Unmittel- 
barkeit derselben, vermöge welcher wir, wie Euler 
sagt, die Dinge selbst und als ausser uns gelegen 
apprehendiren, ein Analogen an der Art, wie wir die 
Theile unsers eigenen Leibes empfinden, zumal wenn 
sie schmerzen, welches, sobald wir sie empfinden, 
meistens der Fall ist. Wie wir nämlich wähnen, die 
Dinge unmittelbar dort wo sie sind, wahrzunehmen, 
während es doch wirklich im Gehirn geschieht; so 
glauben wir auch den Schmerz eines Gliedes in die- 
sem selbst zu empfinden, während dieser ebenfalls 
im Gehirn empfunden wird, wohin ihn der Nerv des 
affizirten Theiles leitet. Daher werden nur die Affek- 
tionen solcher Theile, deren Nerven zum Gehirn gehen, 
empfunden, nicht aber die, deren Nerven dem Gan- 
gliensystem angehören; es sei denn, dass eine überaus 
starke Aft'ektion derselben auf Umwegen bis ins Ge- 
hirn dringe, wo sie sich doch meistens nur als dumpfes 
Unbehagen und stets ohne genaue Bestimmimg ihres 
Ortes zu erkennen giebt. Daher auch werden die Ver- 
3 Schopenhauer II -^^ 
letzungen eines Gliedes, dessen Nervenstamm durch- 
schnitten oder unterbunden ist, nicht em{)funden. 
Daher endlich fühlt wer ein Glied verloren hat, doch 
noch bisweilen Schmerz in demselben, weil die zum 
Gehirn {gehenden Nerven noch dasind. — Also in bei- 
den hier veqjlichenen Phänomenen wird was im Ge- 
hirn vorgeht als ausser demselben apprehendirt: bei 
der Anschauung, durch Vermittelung des Verstandes, 
der seine Fühltäden in die Aussenwelt streckt; bei 
der Empfindung der Glieder, durch Vermittelung der 
Nerven. 
KAPITEL 3. 
UEBER DIE SINNE. 
\/0N Anderen Gesagtes zu wiederholen ist nicht 
T der Zweck meiner Schriften: daher gebe ich hier 
nur einzelne, eigene Betrachtungen über die Sinne. 
Die Sinne sind bloss die Ausläufe des Gehirns, durch 
welche es von aussen den Stoff empfängt (in Gestalt 
der Empfindung), den es zur anschaulichen Vorstel- 
lung verarbeitet. Diejenigen Empfindungen, welche 
hauptsächlich zur objektiven Auffassung der Aussen- 
welt dienen sollten, nnissten an sich selbst weder an- 
genehm noch unangenehm seyn; dies besagt eigent- 
lich, dass sie denWillen ganz unberührt lassen mussten. 
Ausserdem nämlich würde die Empfindung selbst un- 
sere Aufmerksamkeit fesseln und wir bei der Wirkung 
stehen bleiben, statt, wie hier bezweckt war, sogleich 
zur Ursach überzugehen: so nämlich bringt es der 
entschiedene Vorrang mit sich, den, für unsere Be- 
achtung, der fVille ül)erall vor der blossen Vorstellung 
hat, als welcher wir uns erst dann zuwenden, wann 
jener schweigt. Demgemäss sind Farben und Töne an 
sich selbst und so lange ihr Eindruck das normale 
Maass nicht übersi.hreitet, weder schmerzliche, noch 
angenehme Empfindungen; sondern treten mit der- 
34 
jenigen Gleichgültigkeit auf, die sie zum Stoff rein 
objektiver Anschauungen eignet. Dies ist nämlich so 
weit der Fall, als es an einem Leibe, der an sich selbst 
durch und durch Wille ist, überhaupt möglich seyn 
konnte, und ist eben in dieser Hinsicht bewunderungs- 
werth. Physiologisch beruht es darauf, dass in den 
Organen der edleren Sinne, also des Gesichts und 
Gehörs, diejenigen Nerven, welche den specifischen 
äussern Eindruck aufzunehmen haben, gar keiner 
Empfindung von Schmerz fähig sind, sondern keine 
andere Empfindung, als die ihnen specifisch eigen- 
tümliche, der blossen Wahrnehmung dienende, ken- 
nen. Demnach ist die Retina, wie auch der optische 
Nerv, gegen jede Verletzung unempfindlich, und eben 
so ist es der Gehörnerv: in beiden Organen wird 
Schmerz nur in den übrigen Theilen derselben, den 
Umgebungen des ihnen eigenthümlichen Sinnesner- 
ven, empfunden, nie in diesem selbst: beim Auge 
hauptsächlich in der conjunctiva; beim Ohr im meatus 
auditorius. Sogar mit dem Gehirn verhält es sich eben 
so, indem dasselbe, wenn unmittelbar selbst, also von 
oben, angeschnitten, keine Empfindung davon hat. 
Also nur vermöge dieser ihnen eigenen Gleichgültig- 
keit in Bezug auf den Willen werden die Empfindun- 
gen des Auges geschickt, dem Verstände die so man- 
nigfaltigen und so fein nuancierten Data zu liefern, 
aus denen er, mittelst Anwendung des Kausalitäts- 
gesetzes und auf Grundlage der reinen Anschauungen 
Raum und Zeit, die wundervolle objektive Welt in 
unserm Kopfe aufbaut. Eben jene Wirkungslosigkeit 
der Farbenempfindungen auf den Willen befähigt sie, 
wann ihre Energie durch Transparenz erhöht ist, wie 
beim Abendroth, gefärbten Fenstern u. dgl., uns sehr 
leicht in den Zustand der rein objektiven, willenslosen 
Anschauung zu versetzen, welche, wie ich im dritten 
Buche nachgewiesen habe, einen Hauptbestandtheil 
des ästhetischen Eindrucks ausmacht. Eben diese 
Gleichgültigkeit in Bezug auf den fVillen eignet die 
Laute, den Stoff der Bezeichnung für die endlose 
Mannigfaltigkeit der Begriffe der Vernunft abzugeben. 
Indem der missere Sinn, d, h. die Empfänglichkeit 
3* 35 
fiir äussere Eindrücke als reine Data für den Verstand, 
sich in fünf Sinne spaltete, richteten diese sich nach 
den vier Elementen, d. h. den vier Aggrejjationszu- 
ständen, nebst dem der Imponderabilität. So ist der 
Sinn für das Feste (Erde) das Getast, für das Flüssige 
(Wasser) der Geschmack, für das Dampfförmige, d. h. 
Verflüchtigte (Dunst, Duft) der Geruch, für das per- 
manent Elastische (Luft) das Gehör, für das Impon- 
derabile (Feuer, Licht) das Gesicht. Das zweite Im- 
ponderabile, Wärme, ist eigentlich kein Gegenstand 
der Sinne, sondern des Gemeingefühls, wirkt daher 
auch stets direkt auf den Willen, als angenehm oder 
unangenehm. Aus dieser Klassifikation ergiebt sich 
auch die relative Dignität der Sinne. Das Gesicht hat 
den ersten Rang, sofern seine Sphäre die am weitesten 
reichende, und seine Empfänglichkeit die feinste ist; 
was darauf beruht, dass sein Anregendes ein Impon- 
derabile, d, h. ein kaum noch Körperliches, ein quasi 
Geistiges, ist. Den zweiten Rang hat das Gehör, ent- 
sprechend der Luft. Inzwischen bleibt das Getast ein 
gründlicher und vielseitiger Gelehrter. Denn während 
die anderen Sinne uns jeder nur eine ganz einseitige 
Beziehung des Objekts, wie seinen Klang, oder .sein 
Verhältniss zum Licht, angeben, liefert das, mit dem 
Gemeingefühl und der Muskelkraft fest verwachsene 
Getast dem Verstände die Data zugleich für die Form, 
Grösse, Härte, Glätte, Textur, Festigkeit, Temperatur 
und Schwere der Körper, und dies Alles mit der ge- 
ringsten Möglichkeit des Scheines und der Täuschung, 
denen alle anderen Sinne weit mehr unterliegen. Die 
beiden niedrigsten Sinne, Geruch und Geschmack, 
sind schon nicht mehr frei von einer unmittelbaren 
Erregimg des Willens d. h. sie werden stets angenehm 
oder unangenehm affizirt, sind daher mehr subjektiv 
als objektiv. 
Die Wahrnehmungen des Gehörs sind ausschliess- 
lich in der Zeit: daher das ganze Wesen der Musik 
im Zeitmaa.ss besteht, als worauf .sowohl die Qualität 
oder Höhe der Töne, mittelst der Vibrationen, als die 
Quantität oder Dauer derselben, mittelst des Taktes, 
beruht. Die Wahrnehmungen des Gesichts hingegen 
36 
sind zunächst und vorwaltend im Baume., sekundär, 
mittelst ihrer Dauer, aber auch in der Zeit. 
Das Gesicht ist der Sinn des Verstandes, welcher 
anschaut, das Gehör der Sinn der Vernunft, welche 
denkt und vernimmt. Worte werden durch sichtbare 
Zeichen nur unvollkommen vertreten: daher zweifle 
ich, dass ein Taubstummer, der lesen kann, aber vom 
Laute der Worte keine Vorstellung hat, in seinem 
Denken mit den bloss sichtbaren Begriffszeichen so 
behende operirt, wie wir mit den wirklichen, d. h. 
hörbaren Worten. Wenn er nicht lesen kann, ist er 
bekanntlich fast dem unvernünftigen Thiere gleich; 
während der Blindgeborene, von Anfang an, ein ganz 
vernünftiges Wesen ist. 
Das Gesicht ist ein aktiver, das Gehör ein passiver 
Sinn. Daher wirken Töne störend und feindhch auf 
unsern Geist ein, und zwar mn so mehr, je thätiger 
und entwickelter dieser ist: sie zerreissen alle Gedan- 
ken, zerrütten momentan die Denkkraft. Hingegen 
giebt es keine analoge Störung durch das Auge, keine 
unmittelbare Einwirkung des Gesehenen, als solchen, 
auf die denkende Thätigkeit (denn natürlich ist hier 
nicht die Rede von dem Einfluss der erblickten Gegen- 
stände auf den Willen); sondern die bunteste Mannig- 
faltigkeit von Dingen, vor unseren Augen, lässt ein 
ganz ungehindertes, ruhiges Denken zu. Demzufolge 
lebt der denkende Geist mit dem Auge in ewigem 
Frieden, mit dem Ohr in ewigem Krieg. Dieser Gegen- 
satz der beiden Sinne bewährt sich auch darin, dass 
Taubstumme, wenn durch Galvanismus hergestellt, 
beim ersten Ton, den sie hören, vor Schrecken todten- 
blass werden (Gilberts „Annalen der Physik" Bd. lo, 
S. 382), operirte Blinde dagegen das erste Licht mit 
Entzücken erblicken, vmd nur ungern die Binde sich 
über die Augen legen lassen. Alles Angeführte aber 
ist daraus erklärlich, dass das Hören vermöge einer me- 
chanischen Erschütterung des Gehörnervens vor sich 
geht, die sich sogleich bis ins Gehirn fortpflanzt, wäh- 
rend hingegen das Sehn eine wirkliche Aktion der 
Retina ist, welche durch das Licht und seine Modifi- 
kationen bloss erregt und hervorgerufen wird: wie 
37 
ich dies in meiner pliysiolojjischen Farhentheorie aus- 
führlich {je/,oi{}t habe. Fin Widerstreit, hingegen steht 
dieser ganze Gegensatz mit der jetzt überall so unver- 
schämt aufgetischten kolorirten xAether- Trommel- 
schlag-Theorie, welche die Lichtemphndung des A uges 
zu einer mechanischen Erschütterung, wie die des Ge- 
hörs zunächst wirklich ist, erniedrigen will, während 
nichts heterogener seyn kann, als die stille, sanfte 
Wirkung des Lichts und die Allarmtrommel des Ge- 
hörs. Setzen wir hiemit noch den besondern Umstand 
in Verbindung, dass wir, obwohl mit zwei Ohren, 
deren EmpHndlichkeit oft sehr verschieden ist, hörend, 
doch nie einen Ton doppelt vernehmen, wie wir mit 
zwei Augen oft doppelt sehen; so werden wir zu der 
Vermuthung geführt, dass die Empfindung des Hörens 
nicht im Labyrinth, oder der Schnecke entsteht, son- 
dern erst da, wo, tief im Gehirn, beide Gehörnerven 
zusammentreffen, wodurch der Eindruck einfach wird : 
dies aber ist da, wo der pons Varolii die medulla ob- 
longata umfasst, also an der absolut letalen Stelle, 
durch deren Verletzung jedes Thier augenblicklich 
getödtet wird, und von wo der Gehörnerv nur einen 
kurzen Verlauf hat zum Labyrinth, dem Sitze der 
akustischen Erschütterung. Eben dieser sein Ur- 
sprung, an jener gefährlichen Stelle, von welcher 
auch alle Gliederbewegung ausgeht, ist Ursache, dass 
man bei einem plötzlichen Knall zusammenfährt; wel- 
ches bei einer plötzlichen Erleuchtung, z. B. einem 
Blitz, keineswegs Statt findet. Der Sehnerv hingegen 
tritt viel weiter nach vorn aus seinen thalamis (wenn 
auch vielleicht sein erster Ursprung hinter diesen liegt) 
hervor, ist in seinem Fortgang überall von den vor- 
deren Gehirn-lobis bedeckt, wiewohl stets von ihnen 
gesondert, bis er, ganz aus dem Gehirn hinausgelangt, 
sich in die Retina ausbreitet, auf welcher nun aller- 
erst die Empfindung, auf Anlass des Lichtreizes, ent- 
steht und daselbst wirklich ihren Sitz hat; wie dieses 
meine Abhandlung über das Sehn und die Farben be- 
weist. Aus jenem Ursprung des Gehörnervens erklärt 
sich denn auch die grosse Störung, welche die Denk- 
kraft durch Töne erleidet, wegen welcher denkende 
38 
Köpfe und überhaupt Leute von vielem Geist, ohne 
Ausnahme, durchaus kein Geräusch vertragen können. 
Denn es stört den beständigen Strom ihrer Gedanken, 
unterbricht und lähmt ihr Denken, eben weil die Er- 
schütterung des Gehörnervens sich so tief ins Gehirn 
fortpflanzt, dessen ganze Masse daher die durch den 
Gehörnerven erregten Schwingungen dröhnend mit 
empfindet, und weil das Gehirn solcher Leute viel 
leichter beweglich ist, als das der gewöhnlichen Köpfe. 
Auf der selben grossen Beweglichkeit und Leitungs- 
kraft ihres Gehirns beruht es gerade, dass bei ihnen 
jeder Gedanke alle ihm analogen, oder verwandten, 
so leicht hervorruft, wodurch eben ihnen die Aehn- 
lichkeiten, Analogien und Beziehungen der Dinge 
überhaupt, so schnell und leicht in den Sinn kommen, 
dass der selbe Anlass, den Millionen gewöhnlicher 
Köpfe vor ihnen gehabt, sie auf t/en Gedanken, auf <fje 
Entdeckung bringt, welche nicht gemacht zu haben 
die Anderen, weil sie wohl nach-, aber nicht vorden- 
ken können, sich nachher verwundern: so schien die 
Sonne auf alle Säulen ; aber nur Memnons Säule klang. 
Demgemäss waren Kant, Goethe, Jean Paul höchst 
empfindlich gegen jedes Geräusch, wie ihre Biogra- 
phien bezeugen. Goethe kaufte, in seinen letzten Jah- 
ren, ein in Verfall gerathenes Haus, neben dem seini- 
gen, bloss damit er nicht den Lerm bei dessen Aus- 
besserung anzuhören hätte. Vergebens also war er, 
schon in seiner Jugend, der Trommel nachgegangen, 
um sich gegen Geräusch abzuhärten. Es ist nicht Sache 
der Gewohnheit. Dagegen ist die wahrhaft stoische 
Gleichgültigkeit gewöhnlicher Köpfe gegen das Ge- 
räusch bewunderungswürdig: sie stört kein Lerm in 
ihrem Denken, oder beim Lesen, Schreiben u. dgl., 
während der vorzügliche Kopf dadurch völlig unfähig 
gemacht wird. Aber eben Das, was sie so unempfind- 
lich macht gegen Lerm jeder Art, macht sie auch un- 
empfindlich gegen das Schöne in den bildenden, und 
das tief Gedachte oder fein Ausgedrückte in den reden- 
den Künsten, kurz, gegen Alles, was nicht ihr per- 
sönliches Interesse angeht. Auf die paralysirende Wir- 
kung, welche hingegen das Geräusch auf die Geist- 
39 
reichen ausübt, findet fol(jende Bemerkung Lichten- 
hergs Anwendung} : ,,E.s ist alle Mal ein gutes Zeichen, 
wenn Künstler von Kleinigkeiten gehindert werden 
können, ihre Kunst gehörig auszuüben. F steckte 
seine Finger in Hexenmehl, wenn er Klavier spielen 
wollte. Den mittelmässigen Kopf hindern 
solche Sachen nicht: er führt gleichsam ein 
grobes Sieb." (Vermischte Schriften, Bd. I, S. 398.) 
Ich hege wirklich langst die Meinung, dass die (Quan- 
tität Lerm, die Jeder unbeschwert vertragen kann, in 
umgekehrtem Verhältniss zu seinen Geisteskräften 
steht, und daher als das ungefähre Maass derselben 
betrachtet werden kann. Wenn ich daher auf dem 
Hofeeines HausesdieHunde stundenlang unbeschwich- 
tigt bellen höre, so weiss ich schon, was ich von den 
Geisteskräften der Bewohner zu halten habe. Wer 
habituell die Stubenthüren, statt sie mit der Hand zu 
schliessen, zuwirft, oder es in seinem Hause gestattet, 
ist nicht bloss ein ungezogener, sondern auch ein roher 
und bornirter Mensch. Dass im Englischen sensible 
auch ,, verständig" bedeutet, beruht demnach auf 
einer richtigen und feinen Beobachtung. Ganz civili- 
sirt werden wir erst seyn, wann auch die Ohren nicht 
mehr vogelfrei seyn werden und nicht mehr Jedem 
das Recht zustehen wird, das Bewusstseyn jedes den- 
kenden Wesens, auf tausend Schritte in die Runde, 
zu durchschneiden mittelst Pfeifen, Heulen, Brüllen, 
Hämmern, Peitschenklatschen, Bellenlassen u. dgl. Die 
Sybariten hielten die lermenden Handwerke ausser- 
halb der Stadt gebannt: die ehrwürdige Sekte der 
Shakers in Nordamerika duldet kein unnöthiges Ge- 
räusch in ihren Dörfern: von den Herrnhutern wird 
das Gleiche berichtet. — Ein Mehreres über diesen 
Gegenstand findet man im dreissigsten Kapitel des 
zweiten FJandes der Parerga. 
Aus der dargelegten passive» Natur des Gehörs er- 
klärt sich auch die so eindringende, so unmittelbare, 
.so unfehlbare Wirkung der Musik auf den Geist, nebst 
der ihr bisweilen folgenden, in einer besondern Er- 
habenheit der Stimnumg bestehenden Nachwirkung. 
Die in kombinirten, rationalen Zahlenverhältnissen 
40 
erfolgenden Schwingungen der Töne versetzen näm- 
lich die Gehirnfibern selbst in gleiche Schwingungen. 
Hingegen wird aus der dem Hören ganz entgegenge- 
setzten aktiven Natur des Sehns begreiflich, warum 
es kein Analogen der Musik für das Auge geben kann 
und das Farbenklavier ein lächerlicher MissgritY war. 
Eben auch wegen der aktiven Natur des Gesichtssinnes 
ist er bei den verfolgenden Thieren, also den Raub- 
thieren, ausgezeichnet scharf, wie umgekehrt der pas- 
sive Sinn, das Gehör, bei den verfolgten, den fliehen- 
den, furchtsamen Thieren; damit es von selbst ihnen 
den herbeieilenden, oder heranschleichenden Verfolger 
zeitig verrate. 
Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör 
den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den 
Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen; weil er 
unmittelbarer, als irgend etwas Anderes, den speci- 
fischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Um- 
gebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns 
zurückruft. 
KAPITEL 4. 
VON DER ERKENNTNISS A PRIORI. 
AUS der Thatsache, dass wir die Gesetze der Ver- 
hältnisse im Räume, ohne hiezu der Erfahrung 
zu bedürfen, aus uns selbst angeben und bestimmen 
können, folgerte P/afo (Meno, p. 353. Bip.), dass alles 
Lernen bloss ein Erinnern sei; Kant hingegen, dass der 
Raum subjektiv bedingt und bloss eine Form des Er- 
kenntnissvermögens sei. Wie hoch steht in dieser Hin- 
sicht Kant über Plato! 
Cogito, ergo sum ist ein analytisches Urtheil: Par- 
menides hat es sogar für ein identisches gehalten: ro 
7ap auTO voetv eon re xai eivai (nam intelligere et esse 
idem est, Clem. Alex. Strom. VI 2, §. 23). Als ein 
4i 
solches aber, oder auch nur als analytisches, kann es 
keine besondere Weisheit enthalten; wie auch nicht, 
wenn man, noch {jrüud lieber, es, als einen Schluss, 
aus dem Übersatz non-cntis nulla sunt praedicata ab- 
leiten wollte. Ei{jentlich aber hat Kartesius damit die 
(jrosse Wahrheit ausdrücken wollen, dass nur dem 
Selbstbewusstsein, also dem Subjektiven, unmittelbare 
(Tewissheit zukommt; dem Objektiven, also allem 
Andern, hin^jegen, als dem durch jenes erst Vermittel- 
ten, bloss mittelbare; daher dieses, weil aus zweiter 
Hand, als problematisch zu betrachten ist. Hierauf be- 
ruht der Werth des so berühmten Satzes. Als seinen 
Gegensatz können wir, im Sinne der Kantischen Philo- 
sophie, aufstellen: cogito, ergo est, — d. h. wie ich 
gewisse Verhaltnisse (die mathematischen) an den 
Dingen denke, genau so müssen sie in aller irgend 
möglichen Erfahrung stets ausfallen, — dies war ein 
wichtiges, tiefes und spätes Appercu, welches im Ge- 
wände des Problems von der Möglichkeit synthetischer 
Urtheile a priori auftrat und wirklich den Weg zu tiefer 
Erkenntnis eröffnet hat. Dies Problem ist die Parole 
der Kantischen Philosophie, wie der erstere Satz die 
der Kartesischen, und zeigt, s; otwv et«; oia. 
Sehr passend stellt Kant seine Untersuchungen über 
Zeit und Raum an die Spitze aller anderen. Denn dem 
spekulativen Geiste drängen sich vor allen diese 
Fragen auf: was ist die Zeit? was ist dies Wesen, das 
aus lauter Bewegung besteht, ohne etwas, das sich be- 
wegt? — und was der Raum? dieses allgegenwärtige 
jNichts, aus welchem kein Ding herauskann, ohne auf- 
zuhören Etwas zu seyn? — 
Dass Zeit und Raum dem Subjekt anhängen, die 
Art und Weise sind, wie der Prozess objektiver Apper- 
ception im Gehirn vollzogen wird, hat schon einen 
genügenden Beweis an der gänzlichen Unmöglichkeit 
Zeit und Raum hinwegzudenken, während man Alles, 
was in ihnen sich darstellt, sehr leicht hinwegdenkt. 
Die Hand kann alles fahren lassen; nur sich selbst 
nicht. Indessen will ich die von Kant gegebenen nähe- 
ren Beweise jener Wahrheit hier durch einige Bei- 
spiele und Ausführungen erläutern, nicht zur Wider- 
42 
le^jung alberner Einwendungfen, sondern zumGebrauch 
Derer, die künftig Kants Lehren vorzutragen haben 
werden. 
„Ein rechtwinklichter gleichseitiger Triangel" ent- 
hält keinen logischen Widerspruch : den die Prädikate 
heben einzeln keineswegs das Subjekt auf, noch sind 
sie mit einander unvereinbar. Erst bei der Konstruk- 
tion ihres Gegenstandes in der reinen Anschauung tritt 
ihre Unvereinbarkeit an ihm hervor. Wollte man 
diese eben deshalb für einen Widerspruch halten; so 
wäre auch jede physische und erst nach Jahrhunder- 
ten entdeckte Unmöglichkeit ein solcher; z.B. die Zu- 
sammensetzung eines Metalles aus seinen Bestandthei- 
len, oder ein Säugethiermitmehr,odervveniger als sieben 
Halswirbeln*), oder Hörner und obere Schneidezähne 
am selben Tier. Allein bloss die logische Unmöglich- 
keit ist ein Widerspruch, nicht aber die physische, und 
eben so wenig die mathematische. Gleichseitig und 
rechtwinklicht widersprechen einander nicht (im 
Quadrat sind sie beisammen), noch widerspricht jedes 
von ihnen dem Dreieck. Daher kann die Unvereinbar- 
keit obiger Begriffe nie durch blosses Denken erkannt 
werden, sondern ergiebt sich erst aus der Anschau- 
ung, welche nun aber eine solche ist, zu der es keiner 
Erfahrung, keines realen Gegenstandes bedarf, eine 
bloss mentale. Auch gehört hieher der Satz des Jor- 
danus Brunu?., der wohl auch beim Aristoteles zu fin- 
den seya wird : „ein unendlich grosser Körper ist noth- 
wendig unbeweglich", — als welcher weder auf Er- 
fahrung, noch auf dem Satz des Widerspruchs beruhen 
kann; da er von Dingen redet, die in keiner Erfahrung 
vorkommen können, und die BegritTe, „unendlich 
gross" und ,, beweglich" einander nicht widersprechen ; 
sondern bloss die reine Anschauung ergiebt, dass die 
Bewegung einen Raum ausserhalb des Körpers, erfor- 
dert, seine unendliche Grösse aber keinen übrig lässt. 
— Wollte man nun gegen das erstere mathematische 
Beispiel einwenden: es käme nur darauf an, wie voll- 
') Dass das dreizehige Faullhier deren neun hätte, soll als Irr- 
tlmm erkannt worden seyn : jedoch führt Owen, Osteologie 
comp., p. 4o5, es noch an. 
43 
ständif; der Be(;riff sei, den der rrteilende vom Tri- 
arifjel habe; wenn es ein {janz vollständiger wäre, so 
enthielte er auch die Unniögli< hkeit, dass ein Triangel 
rechtwinklicht und doch gleichseitig sei; so ist die 
Antwort: angenommen, sein Begrift vom Dreieck sei 
nicht so vollständig; so kann er, ohne Hinzuziehimg 
der Erfahrung, durch die blosse Konstruktion dessel- 
ben in seiner Phantasie ihn erweitern und sich von 
der Unmöglichkeit jener BegrifFsverbindimg für alle 
Ewigkeit überzeugen : eben dieser Process aber ist ein 
synthetisches Urtheil a priori, d. h. ein solches, durch 
welches wir, ohne alle Erfahrung und doch mit Gül- 
tigkeit für alle Ertährunjf, unsere Begriffe bilden und 
vervollständigen. — - Denn überhaupt, ob ein gegebe- 
nes Urtheil analytisch oder synthetisch sei, wird, im 
einzelnen Fall, erst bestimmt werden können, je nach- 
dem im Kopfe des Urtheilenden der Begriff des Sub- 
jekts mehr oder weniger Vollständigkeit hat: der Be- 
griff ,, Katze" enthält im Kopfe Cüviers hundert Mal 
mehr, als in dem seines Bedienten: daher die selben 
Urtheile darüber für Diesen synthetisch, für Jenen 
bloss analytisch seyn werden. Nimmt man aber die 
Begriffe objektiv, und will nun entscheiden, ob ein 
gegebenes Urtheil analytisch, oder synthetisch sei; so 
verwandle man das Prädikat desselben in sein kontra- 
diktorisches Gegentheil imd lege dieses, ohne Kopula, 
dem Subjekt bei: giebt nun dies eine Contradictio in 
adjecto; so war das Urtheil analytisch, ausserdem aber 
synthetisch. 
Dass die Arithmetik auf der reinen Anschauung der 
Zeit beruhe, ist nicht so augenfällig, wie dass die Geo- 
metrie auf der des Raumes basirt sei*). Man kann es 
*) Dies entschuldigt jedoch nicht einen Professor der Philoso- 
phie, welclier, auf Kants Stuhle sitzend, sich also vernehmen 
lässt : „Dass die Mathematik als solche die Arithmetik und 
Geometrie enthält, ist richtig; unrichtig jedoch die Arithmetik 
als die Wissenschaft der Zeit zu fassen, in der That aus keinem 
andern Grunde, als um der Geometrie, als der Wissenschaft 
des Raumes, einen Pendanten (sie) zu geben." (Rosenkranz, 
im „Deutschen Museum", iSSy, 14 Mai, INr. 20). Dies sind die 
Früchte der Hegelei : ist durch deren sitmlosen Gallimathias der 
44 
aber auf folgende Art beweisen. Alles Zäblen besteht 
im wiederholten Setzen der Einheit: bloss um stets 
zu wissen, wie oft wir schon die Einheit gesetzt haben, 
markiren wir sie jedes Mal mit einem andern Wort: 
dies sind die Zahlworte. Nun ist Wiederholung nur 
möglich durch Succession : diese aber, also das Nach- 
einander, beruht unmittelbar auf der Anschauung der 
Zeit, ist ein nur mittelst dieser verständlicher Begriff: 
also ist auch das Zählen nur mittelst der Zeit möglich. 
— Dieses Beruhen alles Zählens auf der Zeit verräth 
sich auch dadurch, dass in allen Sprachen die Multi- 
plikation durch „Mal'''' bezeichnet wird, also durch 
einen Zeitbegriff: sexies, e^axi?, six fois, six tinies. Nun 
aber ist das einfache Zählen schon ein Multipliciren 
mit Eins, weshalb auch in Pestalozzi's Lehranstalt die 
Kinder stets so multipliciren mussten: ,,2 Mal 2 ist 
4 Mal Eins." — Auch Aristoteles hat schon die enge 
Verwandtschaft der Zahl mit der Zeit erkannt und 
dargelegt im vierzehnten Kapitel des vierten Buches 
der Physik. Die Zeit ist ihm „die Zahl der Bewegung" 
(6 j^povo? (xpi^[xo<; £0-1 xiV7]0£cu<;). Tiefsinnig wirft er die 
Frage auf, ob die Zeit seyn könnte, wenn die Seele 
nicht wäre, und verneint sie. 
Obwohl die Zeit, wie der Raum, die Erkenntniss- 
form des Subjekts ist; so stellt sie sich gleichwohl, 
eben wie auch der Raum, als von demselben unab- 
Kopf ein Mal {gründlich verdorben ; so geht ernsthafte Kantische 
Philosophie nicht mehr hinein; und von dem Meister hat man 
die Dreistigkeit ererbt, in den Tag hinein zu reden über Dinge, 
die man nicht versteht: so kommt man endhcli dahin, die 
Grundlehren eines grossen Geistes ohne Umstände im perem- 
torisch entsclieidenden Tone zu verurtheilen, als wären es eben 
Hegel'sche Narrenspossen. Wir dürfen es aber nicht hingehen 
lassen, dass die kleinen Leutchen da unten die Spur der grossen 
Denker auszutreten sich bemühen. Sie thäten daher besser, 
sich an Kant nicht zu reiben, sondern sich damit zu begnügen, 
ihrem Publike über Gott, die Seele, die thatsächliche Freiheit 
des Willens und was sonst dahin einschlägt, nähere Auskunft 
zu ertheilen und sodann in ihrer finstern Hinterboutique, dem 
philosophischen Journal, sich ein Privatvergnügen zu machen : 
da können sie ungenirt thun und treiben was sie wollen, kein 
Mensch sieht hin. 
45 
hän{ji{j und völli{; objektiv vorhanden dar. Wider 
imsern Willen, oder ohne unser Wissen, eilt oder 
zöfjert sie: man fragt nach der Uhr, man forscht nach 
der Zeit, als nach einem {janz Objektiven. Und was 
ist dieses Objektive? Nicht das Fortschreiten der Ge- 
stirne, oder der Uhren, als welche bloss dienen, den 
Lauf der Zeit selbst daran zu messen: sondern es ist 
etwas von allen Din^j^en Verschiedenes, doch aber wie 
diese, von unserm Wollen und Wissen Unabhängiges. 
Es existirt nur in den Köpfen der erkennenden Wesen ; 
aber die Gleichmässi{jkeit seines Ganges und seine Un- 
abhängigkeit vom Willen giebt ihm die Berechtigung 
der Objektivität. 
Die Zeit ist zunächst die Form des innern Sinnes. 
Das folgende Buch anticipirend, bemerkeich, dass der 
alleinige Gegenstand des innern Sinnes der eigene 
fTiUe des Erkennenden ist. Die Zeit ist daher die Form, 
mittelst welcher dem ursprünglich und an sich selbst 
erkenntnislosen individuellen Willen die Selbster- 
kenntniss möglich wird. In ihr nämlich erscheint sein 
an sich einfaches und identisches Wesen auseinander- 
gezogen zu einem Lebenslauf. Aber eben wegen jener 
ursprünglichen Einfachheit und Identität des sich so 
Darstellenden bleibt sein Charakter stets genau der- 
selbe; weshalb auch der Lebenslauf selbst durchweg 
denselben Griindton beibehält, ja, die mannigfaltigen 
Vorgänge und Scenen desselben sich im (irnnde doch 
nur wie Variationen zu einem und demselben Thema 
verhalten. — 
Die ^Priorität des Kausalitätsgesetzes ist von den 
Engländern und Franzosen teils noch gar nicht eifi- 
geselien, teils nicht recht begriffen: daher Einige von 
ihnen die früheren Versuche, für dasselbe einen em- 
pirischen Ursprung zu finden, fortsetzen. Maine de 
Biran setzt diesen in die Erfahrung, dass dem Willens- 
akt als Ursache die Bewegung des Leibes als Wirkung 
folge. Aber diese Thatsache selbst ist falsch. Keines- 
wegs erkennen wir den eigentlichen unmittelbaren 
Willensakt als ein von der Aktion des Leibes Ver- 
schiedenes und Beide als durch das Band der Kausa- 
lität verknüpft; sondern Beide sind Eins und untheil- 
46 
bar. Zwischen ihnen ist keine Succession: sie sind zu- 
gleich. Sie sind Eins und das Selbe, auf doppelte Weise 
wahrgenommen: was nämlich der innern Wahrneh- 
mung (demSelbstbewusstsein) sich als wirklicher Wil- 
lensakt kund giebt, das Selbe stellt sich in der äussern 
Anschauung, in welcher der Leib objektiv dasteht, 
sofort dA^ Aktion desselben dar. Das physiologisch die 
Aktion des Nerven der des Muskels vorhergeht, kommt 
hier nicht in Betracht; da es nicht ins Selbstbewusst- 
sein fallt, und hier nicht die Rede ist vom Verhältnis 
zwischen Muskel und Nerv, sondern von dem zwischen 
Willensakt imd Leibesaktion. Dieses nun giebt sich 
nichtals Kausalitätsverhältnis kund. Wenn diese beiden 
sich uns als Ursach und Wirkung darstellten ; so würde 
ihre Verbindung uns nicht so unbegreiflich sein, wie 
es wirklich der Fall ist: denn was wir aus seiner Ur- 
sache verstehen, das verstehen wir so weites überhaupt 
für uns ein Verständniss der Dinge giebt. Hingegen 
ist die Bewegung unserer Glieder vermöge blosser 
Willensakte zwar ein so alltägliches Wunder, dass wir 
es nicht mehr bemerken: richten wir aber ein Mal die 
Aufmerksamkeit darauf, so tritt das Unbegreifliche 
der Sache uns sehr lebhaft ins Bewusstseyn; eben weil 
wir hier etwas vor uns haben, was wir nicht als Wir- 
kung seiner Ursache verstehen. Nimmermehr also 
könnte diese Wahrnehmung uns auf die Vorstellung 
der Kausalität führen, als welche darin gar nicht vor- 
kommt. Maine de Biran selbst erkennt die völlige 
Gleichzeitigkeit des Willenakts und der Bewegung an. 
(Nouvelles considerations des rapports du physique au 
moral, p. 877, 78). In England hat schon Th. Reid 
(On the tirst principles of contingent truths. Ess. VI, 
c. 5) ausgesprochen, dass die Erkenntniss des Kausa- 
litätsverhältnisses in der Beschaffenheit unsers Erkennt- 
nissvermögens selbst ihren Grund habe. In neuester 
Zeit lehrt Tli. Brown in seinem höchst weitschweifig 
abgefassten Buch: Inquiry into the relation of cause 
and effect, 4th edit., i835, ziemlich das Selbe, nämlich 
dass jene Erkenntniss aus einer uns angeborenen, in- 
tuitiven und instinktiven Überzeugung entspringe: er 
ist also im Wesentlichen auf dem rechten Wege. Un- 
4/ 
verzeihlich jedoch ist die krasse Ignoranz, vermöge 
welcher, in diesem 476 Seiten starken Buche, davon 
l3t) der Widerlegung Humes gewidmet sind, Kanfs, 
der schon vor siebzig Jahren die Sache ins Reine ge- 
bracht hat, gar keine Erwähnung geschieht. Wäre 
das Lateinische die ausschliessliche Sprache der Wis- 
senschaft geblieben; so wiu'de dergleichen nicht vor- 
kommen. Trotz der im Ganzen richtigen Auseinander- 
setzung Browtis hat in England eine Modifikation jener 
von Maine de Biran aufgestellten Lehre vom empiri- 
schen Ursprung derGrunderkenntniss des Kausalver- 
hältnisses dennoch Eingang gefunden; da sie nicht 
ohne einige Scheinbarkeit ist. Es ist diese, dass wir 
das Gesetz der Kausalität abstrahirten aus der empi- 
risch wahrgenommenen Einwirkung unsers eigenen 
Leibes auf andere Körper. Schon Huine hatte sie wider- 
legt. Ich aber habe die UnStatthaftigkeit derselben in 
meinerSchrift„Ueberden Willen in der Natur" (S. jS 
der zweiten Auflage) dargethan, daraus dass, damit 
wir sowohl unsern eigenen, als die anderen Körper 
objektiv in räumlicher Anschauung wahrnehmen, die 
Erkenntniss der Kausalität, weil sie Bedingung solcher 
Anschauung ist, bereits daseyn muss. Wirklich liegt 
eben in der Nothwendigkeit eines von der, empirisch 
allein gegebenen, Sinnesempfindung zur Ui'sache der- 
selben zu machenden Ueherganges^ damit es zur An- 
schauung der Aussenwelt komme, der einzige ächte 
Beweisgrund davon, dass das Gesetz der Kausalität 
vor aller Erfahrung uns bewusst ist. Daher habe ich 
diesen Beweis dem Kantischen substituirt, dessen Un- 
richtigkeit ich dargethan hatte. Die ausführlichste und 
gründlichste Darstellung des ganzen hier nur berühr- 
ten, wichtigen Gegenstandes, also der Apriorität des 
Kausalitätsgesetzes und der Intellektualität der em- 
pirischen Anschauung, findet man in meiner Abhand- 
lung über den Satz vom Grunde, §. ai, wohin ich ver- 
weise, um nicht alles dort Gesagte hier zu wiederholen. 
Daselbst habe ich den mächtigen Unterschied nach- 
gewiesen zwischen der blossen Sinnesempfindung und 
der Anschauung einer objektiven Welt, und habe die 
weite Kluft, die zwischen beiden liegt, aufgedeckt: 
48 
über diese führt allein das Gesetz der Kausalität, wel- 
ches aber zu seiner Anwendung die beiden anderen 
ihm verwandten Formen, Raum und Zeit, voraussetzt. 
Allererst mittelst dieser drei im Verein kommt es zur 
objektiven Vorstellun{^. Ob nun die Empfindung, von 
welcher ausgehend wir zur Wahrnehmung gelangen, 
entsteht durch den Widerstand, den die Kraftäusse- 
rung unserer Muskeln erleidet, oder ob sie durch Licht- 
eindruck auf die Retina, oder Schalleindruck auf den 
Gehörnerven u. s. f. entsteht, ist im W^esentlichen 
einerlei: immer bleibt die Empfindung ein blosses Z)a- 
tum für den Verstand, welcher allein fähig ist, sie als 
Wirkung einer von ihr verschiedenen Ursache aufzu- 
fassen, die er nunmehr als ein Aeusserliches anschaut, 
d. h. in die ebenfalls vor aller Erfahrung dem Intellekt 
einwohnende Form, Raum versetzt, als ein diesen Ein- 
nehmendes und Ausfüllendes. Ohne diese intellektuelle 
Operation, zu welcher die Formen fertig in uns liegen 
müssen, könnte nimmermehr aus einer blossen Emp- 
findung innerhalb unserer Haut die Anschauung einer 
objektiven Aussemveit entstehen. Wie kann man sich 
nur denken, dass das blosse, bei einer gewollten Be- 
wegung, Sich-gehindert-fühlen, welche übrigens auch 
bei Lähmungen Statt hat, dazu hinreichte? Hiezu 
kommt noch, dass, damit ich auf äussere Dinge zu 
wirken versuche, diese nothwendig vorher auf mich 
gewirkt haben müssen, als Motive: dieses aber setzt 
schon die Apprehension der Aussen weit voraus. Nach 
der in Rede stehenden Theorie müsste (wie ich am 
oben angeführten Ort bereits bemerkt habe) ein ohne 
Arme und Beine geborener Mensch gar nicht zur Vor- 
stellung der Kausalität und folglich auch nicht zur 
Wahrnehmung der Aussenwelt gelangen können. Dass 
nun aber dem nicht so ist, belegt eine in Fjorieps Notizen, 
i838, Juli, Nr. i33, mitgetheilte Thatsache, nämlich 
der ausführliche und von einer Abbildung begleitete 
Bericht über eine Esthin, Eva Lauk, damals i4 Jahr 
alt, ganz ohne Arme und Beine geboren, welcher mit 
folgenden Worten schliesst: „Nach den Aussagen der 
Mutter hat sie sich geistig eben so schnell entwickelt, 
wie ihre Geschwister: namentlich ist sie eben sobald 
4 Schopenhauer II 49 
zu einem richti^jen Urtheil über Grösse und Entfer- 
nunf; siclitbarer Gegenstande jj.elan{Jt, ohne sich doch 
der llände bedienen zu können. — Dorpat den i . März 
i838. Dr. .-/. Hueck.'' 
Aucl) Ilunies Lehre, der Bej^riff der Kausalität ent- 
stehe bkiss aus der (ievvoluiheit, zwei Zustände kon- 
stant auf einander füllen zu sehen, findet eine fak- 
tische \Viderle{jun{j an der ähesten aller Successionen, 
nänihch der von Ta{f und Nacht, welche noch Nie- 
mand für Ursach und \Virkun{j von einander gehalten 
hat. Und eben diese Succession widerlegt auch Kants 
falsche Behauptung, dass die objektive Realität einer 
Succession allererst erkannt würde, indem man beide 
Succedentia in dem Verhältniss von Ursach und Wir- 
kung zu einander auffasste. Von dieser Lehre Kants 
ist sogar das Umgekehrte wahr: nämlich, welcher von 
zwei verknüpften Zuständen Ursach und welcher /F?r- 
kung sei, erkennen wir, empirisch, allein an ihrer Succes- 
sion. Andererseits wieder ist die absurde Behauptung 
mancher Philosophie-Professoren unserer Tage, dass 
Ursach imd Wirkung zugleich seien, daraus zu wider- 
legen, dass in Fällen, wo die Succession, wegen ihrer 
grossen Schnelligkeit, gar nicht wahrgenommen wer- 
den kann, wir sie dennoch, und mit ihr das Verstrei- 
chen einer gewissen Zeit, a priori sicher voraussetzen : 
so z. B. wissen wir, dass zwischen dem Abdrücken der 
Flinte und dem Herausfahren der Kugel eine gewisse 
Zeit verstreichen muss, obwohl wir sie nicht wahr- 
nehmen, und dass dieselbe wiederum vertheilt seyn 
muss unter mehrere in streng bestimmter Succession 
eintretende Zustände, nämlich das Abdrücken, das 
Funkenschla.gen, das Zünden, das Fortpflanzen des 
Feuers, die Fxplosion und den Austritt der Kugel. 
W^ahrgenommen hat (Hese Succession der Zustände 
noch kein Mensch: aber weil wir wissen, welcher den 
andern bewirkt, so wissen wir eben dadurch auch, wel- 
cher dem andern in der Zeit vorhei'gehen nuiss, folg- 
lich auch, dass während des Verlaufs der ganzen Reihe 
eine gewisse Zeit verstreicht, obwohl sie so kurz ist, 
dass sie unserer empirischen Wahrnehnuing entgeht: 
denn Niemand wird behaupten, dass das Herausflie- 
5o 
gen der Kugel mit dem Abdrücken wirklich gleich- 
zeitig sei. Also ist uns nicht bloss das Gesetz der Kau- 
salität, sondern auch dessen Beziehung auf die Zeit, 
und die Noth wendigkeit der Succession von Ursach und 
Wirkung a priori bekannt. Wenn wir wissen, welcher 
von zweien Zuständen Ursach und welcher W^irkung 
ist; so wissen wir auch, welcher dem andern in der 
Zeit vorhergeht: ist, im Gegeutheil, uns jenes yiicht 
bekannt, wohl aber ihr Kausal verhältniss überhaupt; 
so suchen wir die Succession empirisch auszumachen 
und bestimmen danach, welcher von beiden die Ur- 
sach und welcher die Wirkung sei. — Die Falschheit 
der Behauptung, dass Ursach imd Wirkmig gleich- 
zeitig wären, ergiebt zudem sich auch aus folgender 
Betrachtung. Eine ununterbrochene Kette von Ursa- 
chen und Wirkungen füllt die gesammte Zeit. (Denn 
wäre sie unterbrochen, so stände die Welt stille, oder 
es müsste, um sie wieder in Bewegung zu setzen, eine 
Wirkung ohne Ursache eintreten.) Wäre nun jede 
Wirkung mit ihrer Ursache zugleich, so würde jede 
W^irkung in die Zeit ihrer Ursache hinaufgerückt und 
eine noch so viel gliederige Kette von Ursachen und 
Wirkungen würde gar keine Zeit, viel weniger eine 
endlose, ausfüllen; sondern alle zusammen wären in 
Einem Augenblick. Also schrumpft, imter der An- 
nahme Ursache und Wirkung seien gleichzeitig, der 
Weltlauf zur Sache eines Augenblicks zusammen. Die- 
ser Beweis ist dem analog, dass jedes Blatt Papier eine 
Dicke haben muss, weil sonst das ganze Buch keine 
hätte. Anzugeben, wann die Ursache aufhört und die 
Wirkung anfängt, ist in fast allen Fällen schwer und 
oft unmöglich. Denn die Ferändei-untjen (d. h. die 
Succession der Zustände) sind ein Kontinuum, wie die 
Zeit, welche sie füllen, also auch, wie diese, ins Un- 
endliche theilbar. Aber ihre Reihenfolge ist so noth- 
wendig bestimmt und unverkennbar, wie die der Zeit- 
momente selbst : und jede von ihnen heisst in Beziehung 
auf die ihr vorhergegangene „Wirkung", auf die ihr 
nachfolgende ,, Ursach". 
Jede Fefändermig in der materiellen fVelt kann nur 
eintreten, sofern eine andere ihr unmittelbar vorherge- 
r 5l 
gangen ist: dies ist der wahre und (janze Inhalt des 
Gesetzes der Kausahtät. Allein kein Begriff ist in der 
Philosophie mehr gemissbraucht worden, als der der 
Ursache, mittelst des so beliebten Kunstgriffs oder 
Missgriffs, ihn, durch das Denken in abstracto, zu 
weit zu fassen, zu allgemein zu nehmen. Seit der Scho- 
lastik, ja eigentlich seit Plato und Aristoteles, ist die 
Philosophie grossentheils ein fortgesetzter Missbrauch 
allgemeiner Begriffe. Solche sind z. B. Substanz, Grund, 
Ursache, das Gute, die Vollkommenheit, Nothwendig- 
keit, und gar viele andere. Eine Neigung der Köpfe 
zum Operiren mit solchen abstrakten und zu weit 
gefassten Begriffen hat sich fast zu allen Zeiten gezeigt: 
sie mag zuletzt auf einer gewissen Trägheit des Intel- 
lektes beruhen, dem es zu beschwerlich ist, das Den- 
ken stets durch die Anschauung zu kontroliren. Sol- 
che zu weite Begriffe werden dann allmälig fast wie 
algebraische Zeichen gebraucht und wie diese hin und 
her gew^orfen, wodurch dasPhilosophiren zu einem blos- 
sen Kombiniren, zu einer Art Rechnerei ausartet, wel- 
che (wie alles Rechnen) nur niedrige Fähigkeiten be- 
schäftigt und erfordert. Ja, zuletzt entsteht hieraus 
ein blosser JVoj^tkram: von einem solchen liefert uns 
das scheusslichste Beispiel die kopfverderbende Hege- 
lei, als in welcher er bis zum haaren Unsinn getrieben 
wird. Aber auch schon die Scholastik ist oft in Wort- 
kram ausgeartet. Ja, sogar die Topi des Aristoteles, 
— ganz allgemein gefasste, sehr abstrakte Grundsätze, 
die man, zum pro oder contra disputiren, auf die ver- 
schiedenartigsten Gegenstände anwenden und überall 
ins Feld stellen konnte, — haben schon ihren Ursprung 
in jenem Missbrauch allgemeiner Begriffe. Von dem 
Verfahren der Scholastiker mit solchen Abstraktis fin- 
det man unzählige Beispiele in ihren Schriften, vor- 
züglich im Thomas Aquinas. Auf der von den Scho- 
lastikern gebrochenen Bahn ist aber eigentlich die 
Philosophie fortgegangen, bis auf Locke und Kant, 
welche endlich sich auf den Ursprung der Begriffe 
besannen. Ja, wir treffen Kanten selbst, in seinen frü- 
heren Jahren, noch auf jenem Wege an, in seinem 
„Beweisgrund des Daseyns Gottes" (S. 191 des ersten 
52 
Bandes der Rosenkranzischen Ausgabe), wo die Be- 
griffe Substanz, Grund, Realität in solcher A rt gebraucht 
werden, wie sie es nimmermehr könnten, wenn man 
auf den Ursprung und den durch diesen bestimmten 
wahren Gehalt jener Begriffe zurückgegangen wäre: 
denn da hätte man gefunden, als Ursprung und Ge- 
halt von Substanz allein die Materie, von Grund (wenn 
von Dingen der realen Welt die Rede ist) allein Ur- 
sache, d. h. die frühere Veränderung, welche die spä- 
tere herbeiführt, u. s. w. Freilich hätte das hier nicht 
zum beabsichtigten Resultat geführt. Aber überall, 
wie hier, entstanden aus solchen zu xveit gefassten Be- 
griffen, unter welche sich daher mehr subsumiren 
liess, als ihr wahrer Inhalt gestattet haben würde, 
falsche Sätze und aus diesen falsche Systeme. Auch 
Spinoza's ganze Demonstrirmethode beruht auf sol- 
chen ununtersuchten und zu weit gefassten Begriffen. 
Hier nun liegt das eminente Verdienst Locke's, der, 
um allem jenem dogmatischen Unwesen entgegenzu- 
wirken, auf Untersuchung des Ursprungs der Begriffe 
drang, wodurch er auf das Anschauliche und die 
Erfahrung zurückführte. In gleichem Sinn, doch 
mehr es auf Physik, als auf Metaphysik absehend, 
hatte vor ihm Baco gewirkt. Kant verfolgte die von 
Locke gebrochene Bahn, in höherm Sinne und viel 
weiter; wie bereits oben erwähnt. Den Männern des 
blossen Scheines hingegen, denen es gelang, die Auf- 
merksamkeit des Publikums von Kant auf sich zu 
lenken, waren die Locke'schen und Kantischen Re- 
sultate beschwerlich. Allein in solchem Fall verstehen 
sie so gut die Todten, wie die Lebenden zu ignoriren. 
Sie verliessen also, ohne Umstände, den von jenen 
Weisen endlich gefundenen allein richtigen Weg, 
philosophirten in den Tag hinein, mit allerlei aufge- 
rafften Begriffen, unbekümmert um ihren Ursprung 
und Gehalt, so dass zuletzt die Hegeische Afterweis- 
heit darauf hinauslief, dass die Begriffe gar keinen 
Ursprung hätten, vielmehr selbst der Ursprung der 
Dinge wären. — Inzwischen hat Kant darin gefehlt, 
dass er über der reinen Anschauung zu sehr die em- 
pirische vernachlässigte, wovon ich in meiner Kritik 
53 
seiner Philosophie ausführlich {jeredet hahe. Bei mir 
ist durchaus die Anschauun{f die Quelle aller Erkennt- 
niss. Das Verlan^jUche und Insidiöse der Ahstrakta 
früh erkennend, wies ich schon i8i3, in meiner Ah- 
handhuig üher den Satz vom Gnmde, die Verschieden- 
heit der Verhältnisse nach, die unter diesem Begriffe 
gedacht werden. Allgemeine Begriffe sollen zwar der 
Stoff seyn, in welchen die Philosophie ihre Erkenntniss 
ahsetzt und niederlegt; jedoch nicht die Quelle, aus 
der sie solche schöpft: der terminus ad quem, nicht 
a quo. Sie ist nicht, wie Kant sie definirt, eine Wissen- 
schaft aus Bejjriflen, sondern in Begriffen. — Auch 
der Begriff der Kausalität also, von dem wir hier reden, 
ist von den Philosophen, zum Vortheil ihrer dogma- 
tischen Absichten, stets viel zu weit gefasst worden, 
wodurch hineinkam, was gar nicht darin liegt: dar- 
aus entstanden Sätze wie: „Alles was ist hat seine Ur- 
sache", — ,,die Wirkung kann nicht mehr enthalten, 
als die Ursache, also nichts, das nicht auch in dieser 
wäre", — „causa est nobilior suo effectu" — und 
viele andere eben so unbefugte. Ein ausführliches und 
besonders lukulentes Beispiel giebt folgende Vernünf- 
telei des faden Schwätzers Prohlus, in seiner Institutio 
theologica, §. 76. Flav to airo axtvirjTou -[Ti'voij.svov airia«;, 
ajisraß^Tj-ov eyei tr^v uTrap^tv" Tiav oe zo ar^o xivoujjlsv/ji;, 
[i.£TaßXrjTT^v si yap axtvrjxov eoxt TravTif) to ttoiouv, ou Sia 
xivTjoecoc;, a)X autcp reo eivai Ttapaysi to osuxepov acp' 
kaurou. (Qtiidquid ab immobili causa manat, immu- 
tabilem habet essentiam [substantiam]. Quidquid vero 
a mobili causa manat, essentiam habet mutabilem. Si 
enim illud, quod aliquid facit, est prorsus immobile, 
non per motum, sed per ipsum Esse producit ipsum 
secundum ex se ipso.) Schon recht! aber zeige mir ein 
Mal eine unbewegte Ursache: sie ist eben unmöglich. 
Allein die Abstraktion hat hier, wie in so vielen Fäl- 
len, alle Bestimmungen weggedacht, bis auf die eine, 
welche man eben brauchen will, ohne Rücksicht dar- 
auf, dass diese ohne jene nicht existiren kann. — Der 
allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität 
ist dieser: Jede Veränderung hat ihre Ursache in eine?' 
andern, ihr unmittelbar vorhcrgätigigen. Wenn etwas 
54 
geschieht, d. h. ein neuer Zustand eintritt, d. h. etwas 
sich verändert; so niuss gleich vorher etwas Anderes 
sich verändert hahen; vor diesem wieder etwas Ande- 
res, und so aufwärts ins Unendhche: denn eine erste 
Ursache ist so unmögHch zu denken, wie ein Anfang 
der Zeit, oder eine Gränze des Raums. Mehr, als das 
Angegebene, besagt das Gesetz der Kausalität nicht: 
also treten seine Ansprüche erst bei Veränderungen 
ein. So lange sich nichts verändert, ist nach keiner Ur- 
sache zu fragen : denn es giebt keinen Grund a pinori, 
vom Daseyn vorhandener Dinge, d. h. Zustände der 
Materie, auf deren vorheriges Nichtdaseyn und von 
diesem auf ihr Entstehen, also auf eine Veränderung, 
zu schliessen. Daher berechtigt das blosse Daseyn eines 
Dinges nicht, zu schliessen, dass es eine Ursache habe. 
Gründe a posteriori, d. h. aus früherer Erfahrung ge- 
schöpft, kann es jedoch geben, zu der Voraussetzung, 
dass der vorliegende Zustand nicht von jeher dage- 
wesen, sondern erst in Folge eines andern, also durch 
eine Veränderung, entstanden sei, von welcher dann 
die Ursache zu suchen ist, und von dieser eben so: 
hier sind wir alsdann in dem endlosen Regrcssus be- 
griffen, zu welchem die x\nvvendung des Gesetzes der 
Kausalität allemal führt. Oben wurde gesagt: „Dinge, 
d. h. Zustände der Materie'"'", denn nur auf Zustände 
bezieht sich die Veränderung und die Kausalität. Diese 
Zustände sind es, welche man unter Form, im weitern 
Sinn, versteht: und nur die Formen wechseln; die 
Materie beharrt. Also ist auch nur die Form dem Ge- 
setz der Kausalität unterworfen. Aber auch die Form 
macht das Ding aus, d. h. begründet die Verschieden- 
heit der Dinge; während die Materie als in allen 
gleichartig gedacht werden muss. Daher sagten die 
Scholastiker : forma dat esse rei ; genauer würde dieser 
Satz lauten: forma dat rei essentiam, materia existen- 
tiam. Daher eben betrifft die Frage nach der Ursache 
eines Dinges stets nur dessen Form, d. h. Zustand, Be- 
schaffenheit, nicht aber dessen Materie, und auch jene 
nur, sofern man Gründe hat, anzunehmen, dass sie 
nicht von jeher gewesen, sondern durch eine Ver- 
änderung entstanden sei. Die Verbindung der Form 
55 
mit der Materie, oder der Essentia mit der Existentia, 
giebt das Konkrete, welches stets ein Einzelnes ist, also 
das DitKj: und die Formen sind es, deren Verbindung 
mit der Materie, d. h. deren Eintritt an dieser, mit- 
telst einer Feränderung, dem Gesetze der Kausalität 
unterliegt. Durch die zu weite Fassung des Begriffes 
in abstracto also schlich sich der Missbrauch ein, dass 
man die Kausalität auf das Ding schlechthin, also auf 
sein ganzes Wesen und Daseyn, mithin auch auf die Ma- 
terie ausdehnte, und nun am Ende sich berechtigt hielt, 
sogar nach einer Ursache der Welt zu fragen. Hieraus 
entstand der kosmo logische Beiveis. Dieser geht eigent- 
lich davon aus, dass er, ohne alle Berechtigung, vom 
Daseyn der Welt auf ihr INichtseyn schliesst, welches 
nämlich dem Daseyn vorhergegangen wäre : zu seinem 
Endpunkt aber hat er die fürchterliche Inkonsequenz, 
dass er eben das Gesetz der Kausalität, von welchem 
allein er alle Beweiskraft entlehnt, geradezu aufhebt, 
indem er bei einer ersten Ursache stehen bleibt und 
nicht weiterwill, also gleichsam mit einem Vatermord 
endigt; wie die Bienen die Drohnen tödten, nachdem 
diese ihre Dienste geleistet haben. Auf einen verschäm- 
ten und daher verlarvten kosmologischen Beweis läuft 
aber all das Gerede vom jihsolutum zurück, welches, 
im Angesicht der Kritik der reinen Vernunft, seit sech- 
zig Jahren in Deutschland für Philosophie gilt. Was 
bedeutet nämlich das Absolutum? - — Etwas das nun 
einmal ist, und davon man (bei Strafe) nicht weiter 
fragen darf, woher und Avarum es ist. Ein Kabinet- 
stück für Philosophie- Professoren! — Beim ehrlich 
dargelegten kosmologischen Beweis nun aber wird 
überdies, durch Annahme einer ersten Ursache, mit- 
hin eines ersten Anfangs in einer schlechterdings an- 
fangslosen Zeit, dieser Anfang durch die Frage: war- 
um nicht früher? immer höher hinaufgerückt und 
so hoch, dass man nie von ihm zur Gegenwart herab- 
gelangt, sondern stets sich wundern nmss, dass diese 
nicht schon vor Millionen Jahren gewesen. Ueber- 
haupt also hndet das Gesetz der Kausalität auf alle 
Dinge in der W^elt Anwendung, jedoch nicht auf die 
Welt selbst: denn es ist der Welt immanent, nicht 
56 
transscendent: mit ihr ist es gesetzt und mit ihr auf- 
gehoben. Dies liegt zuletzt daran, dass es zur blossen 
Form unsers Verstandes gehört und, mit sammt der 
objektiven Welt, die deshalb blosse Erscheinung ist, 
durch ihn bedingt ist. Also auf alle Dinge in der Welt, 
versteht sich ihrer Form nach, auf den Wechsel dieser 
Formen, also auf ihre Veränderungen, findet das Ge- 
setz der Kausalität volle Anwendung und leidet keine 
Ausnahme: es gilt vom Thun des Menschen, wie vom 
Stosse des Steines; jedoch, wie gesagt, immer nur in 
Bezug auf Vorgänge, auf Veränderiirujen. Wenn wir 
aber vom Ursprung desselben im Verstände abstra- 
hiren und es rein objektiv auffassen wollen; so beruht 
es im tiefsten Grunde darauf, dass jedes Wirkende 
vermöge seiner ursprünglichen und daher ewigen, d. h. 
zeitlosen Kraft wirkt, daher seine jetzige Wirkung 
schon unendlich früher, nämlich vor jeder denkbaren 
Zeit, eingetreten sein müsste, wenn nicht die zeitliche 
Bedingung dazu gefehlt hätte: diese ist der Anlass, 
d. h. die Ursach, vermöge welcher allein die Wirkung 
erst je^rY, jetzt aber nothwendig eintritt: sie ertheilt 
ihr ihre Stelle in der Zeit. 
Allein in Folge der oben erörterten, zu weiten Fas- 
sung des Begriffes Ursache, im abstrakten Denken, hat 
man mit demselben auch den Begriff der Kraft ver- 
wechselt: diese, von der Ursache völlig verschieden, 
ist jedoch Das, was jeder Ursache ihre Kausalität, d. h. 
die Möglichkeit zu wirken, ertheilt; wie ich dies im 
zweiten Buche des ersten Bandes, sodann im „Willen 
in der Natur", endlich auch in der zweiten Auflage 
der Abhandlung „Ueber den Satz vom Grunde", §. 20, 
8.44» ausführlich und gründlich dargethan habe. x\m 
plumpesten findet man diese Verwechselung im oben 
erwähnten Buche von Maine de Biian, worüber das 
Nähere am zuletzt angeführten Orte: jedoch ist sie 
auch ausserdem häufig, z. B. wenn nach der Ursache 
irgend einer ursprünglichen Kraft, z. B. der Schwer- 
kraft, gefragt wird. Nennt doch Kant selbst (über den 
einzig möglichen Beweisgrund, Bd. I, S. ai i und 21 5 
der Rosenkranzischen Ausgabe) die Naturkräfte „wir- 
kende Ursachen" und sagt: „die Schwere ist eine 
57 
Ursaclie", Es ist jedoch uninöfjlicli, mit seinem Den- 
ken im Klaren 7ai seyn, so lanjje darin Kraft und Ur- 
sache nicht als völli{} verschieden deutlich erkannt 
\verden. Zur V^er Wechsel un^j derselhen führt aher sehr 
leicht der Gebrauch abstrakter Begriffe, wenn die Be- 
trachtung ihres Ursprungs bei Seite gesetzt wird. Man 
verlässt die auf der Form des Verstandes beruhende, 
stets anachantiche Erkenntniss der Ursachen und Wir- 
kungen, um sich an das x\bstraktum Ursache zu halten: 
bloss dadurch ist der Begriff der Kausalität, bei aller 
seiner Einfachheit, so sehr häuHg falsch gefasst wor- 
den. Daher hnden wir selbst beim ^Aristoteles (Me- 
taph., IV, 2) die Ursachen in vier Klassen getheilt, 
welche grundfalsch, ja wirklich roh aufgegriffen sind. 
Man vergleiche damit meine Eintheilung der Ursachen, 
wie ich sie in meiner Abhandlung über das Sehen und 
die Farben, Kap. i, zuerst aufgestellt, in §. 6 unsers 
ersten Bandes (erste Auflage, S. 29) *) kurz berührt, aus- 
führlich aber in der Preisschrift „Ueber die Freiheit 
des Willens", S. 3o — 33 [2. Aufl. S. 29 — 32] darge- 
legt habe. — Von der Kette der Kausalität, welche 
vorwärts und rückwärts endlos ist, bleiben in der Natur 
zwei Wesen unberührt: die Materie und die Natur- 
kräfte. Diese beiden nämlich sind die Bedingungen 
der Kausalität, während alles Andere durch diese be- 
dingt ist. Denn das Eine (die Materie) ist Das, an wel- 
chem die Zustände und ihre Veränderungen eintreten; 
Das Andere (die Naturkräfte) Das, vermöye dessen 
allein sie überhaupt eintreten können. Hiebei aber sei 
man eingedenk, dass im zweiten Buche und später, 
auch gründlicher im „Willen in der Natur", die Na- 
tu rkräfte als identisch mit dem JViller\ in uns nach- 
gewiesen werden, die Materie aber sich als die blosse 
Sichtbarkeit des Willens ergiebt; so dass auch sie zuletzt, 
in gewissem Sinne, als identisch mit dem Willen be- 
trachtet werden kann. 
Andererseits bleibt nicht minder wahr und richtig, 
was §. 4 des ersten Bandes**), und noch besser in der 
zweiten Auflage der Abhandlung „Ueber den Satz 
vom Grunde", am Schluss des §. 21, S. 77, auseinan- 
•) S. 2 3 d. A. **) S. 9 d. A. 
58 
dergesetzt ist, dass nämlich die Materie die objektiv 
aufgefasste Kausalität selbst sei, indem ihr ganzes We- 
sen im JVirkeyi iibefhaupt besteht, sie selbst also die 
Wirksam/ieit [zvep^Bia =Wirk\ichkeit) der Dinge über- 
haupt ist, gleichsam das Abstraktum alles ihres ver- 
schiedenartigen Wirkens. Da demnach das Wesen, 
Essentia, der Materie im Wirken überhaupt besteht, 
die Wirklichkeit, Existentia, der Dinge aber eben in 
ihrer Materialität, die also wieder mit dem Wirken 
überhaupt Eins ist; so lässt sich von der Materie be- 
haupten, dass bei ihr Existentia und Essentia zusam- 
menfallen und Eins seien: denn sie hat keine andern 
Attribute als das Daseyn selbst überhaupt und abge- 
sehen von aller näheren Bestimmung desselben. Hin- 
gegen ist jede empirisch gegebene Materie, also der Stojf 
(den unsere heutigen unwissenden Materialisten mit 
der Matei'ie verwechseln) schon in die Hülle der For- 
men eingegangen und manifestirt sich allein durch 
deren Qualitäten und Accidenzien; weil in der Er- 
fahrung jedes Wirken ganz bestimmter und besonderer 
Art ist, nie ein bloss allgemeines. Daher eben ist die 
reine Materie ein Gegenstand des Denkens allein, nicht 
der Anschoiiung; welches den Plotinos (Enneas FI, 
lib. 4, c. 8 u. 9) und den Jordmius Brunns (Della causa, 
dial. 4) zu dem paradoxen Ausspruch gebracht hat, 
dass die Materie keine Ausdehnung, als welche von 
der Eorm unzertrennlich sei, habe und daher unkör- 
perlich sei; hatte doch schon Aristoteles gelehrt, dass 
sie kein Körper sei, wiewohl körperlich : oco[j.a [xev oux 
av eiTT], oiü\iaxv/.ri oe (Stob. Eck, lib. I. c. 1 2, §. 5). Wirk- 
lich denken wir unter reiner Mateine das blosse 
Wirken in abstracto, ganz abgesehen von der Art die- 
ses Wirkens, also die reine Kausalität selbst: und als 
solche ist sie nicht Gegenstand, sondern Bedingung der 
Erfahrung, eben wie Raum und Zeit. Dies ist der 
Grund, warum auf der hier beigegebenen Tafel un- 
serer reinen Grunderkenntnisse a priori die Materie 
die Stelle der Kausalität hat einnehmen können, und 
neben Zeit und Raum, als das dritte rein Eormelle 
und daher unserm Intellekt Anhängende figurirt. 
Diese Tafel nämlich enthält sämmtliche in unserer 
59 
anschauenden Erkenntniss a priori wurzelnden Grund- 
wahrheiten, ausfjesprochen als oberste, von einander 
unal)han{jige Grundsätze; nicht aber ist hier das Spe- 
cielle angestellt, was den Inhalt der Arithmetik und 
Geometrie ausmacht, noch Dasjenige, was sich erst 
durch die Verknüpfung und Anwendung jener for- 
mellen Erkenntnisse ergiebt, als welches eben den 
Gegenstand der von Kant dargelegten „Metaphysi- 
schen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" aus- 
macht, zu welchen diese Tafel gewissermassen die 
Propädeutik und Einleitung bildet, sich also unmit- 
telbar daran schliesst. Ich habe bei dieser Tafel zu- 
nächst den sehr merkwürdigen Parallelismus unserer, 
das Grundgerüst aller Erfahrung bildenden, Erkennt- 
nisse a priori im Auge gehabt, besonders aber auch 
dies, dass, wie ich §. .\ des ersten Bandes auseinander- 
gesetzt habe, die Materie (wie eben auch die Kausali- 
tät) als eine Vereinigung, wenn man will, Verschmel- 
zung des Raumes mit der Zeit zu betrachten ist. In 
Uebereinstimmung hiemit finden wir dies: was die 
Geometrie für die reine Anschauung des Raumes, die 
Arithmethik für die der Zeit ist, das ist Kants Phoro- 
nomie für die reine Anschauung beider im Verein, 
denn die Materie allererst ist das Bewegliche im Raum. 
Der mathematische Punkt lässt sich nämlich nicht 
ein Mal als beweglich denken; wie schon Aiistoteles 
dargethan hat: Phys., VI, lo. Dieser Philosoph selbst 
hat auch schon das erste Beispiel einer solchen Wis- 
senschaft geliefert, indem er im fünften und sechsten 
Buche seiner Phvsik, die Gesetze der Ruhe und Be- 
wegung a priori bestimmt. 
Nun kann man diese Tafel nach Belieben betrachten 
entweder als eine Zusammenstellung der ewigen 
Grundgesetze der Welt, mithin als die Basis einer 
ontologie; oder al)er als ein Kapitel aus der Physio- 
logie des Gehirnes; je nachdem man den realistischen, 
oder den idealistischen Gesichtspunkt fasst; wiewohl 
der zweite in letzter Instanz Recht behält. Hierüber 
haben wir zwar uns schon im ersten Kapitel ver- 
ständigt: doch will ich es noch speciell durch ein 
Beispiel erläutern. Das Buch des Aristoteles de Xeno- 
60 
Praedicabilia a priori 
pr 
der Zeit. 
1 ) Es giebt nur eine Zeit, und alle verschiedenen 
Zeiten sind Theile derselben. 
2) Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, son- 
dern nach einander. 
3) Die Zeit lässt sich nicht wegdenken, jedoch 
Alles aus ihr. 
4) Die Zeit hat drei Abschnitte: Vergangenheit, 
Gegenwart und Zukunft, welche zwei Richtungen 
mit einem Indifferenzpunkt bilden. 
5) Die Zeit ist ins Unendliche theilbar. 
6) Die Zeit ist homogen und ein Continuum: 
d. h. kein Theil derselben ist vom andern verschie- 
den, noch durch etwas, das nicht Zeit wäre, ge- 
trennt. 
7) Die Zeit hat keinen Anfang noch Ende, son- 
dern aller Anfang und Ende ist in ihr. 
8) Vermöge der Zeit zählen wir. 
9) Der Rhythmus ist allein in der Zeit. 
10) Wir erkennen die Gesetze der Zeit a priori. 
1 1 ) Die Zeit ist a priori, wiewohl nur unter dem 
Bilde einer Linie, anschaubar. 
12) Die Zeit hat keinen Bestand, sondern ver- 
geht sobald sie da ist. 
1 3) Die Zeit ist rastlos. 
14) Alles was in der Zeit ist hat eine Dauer. 
1 5) Die Zeit hat keine Dauer, sondern alle Dauer 
ist in ihr, und ist das Beharren des Bleibenden, im 
Gegensatz ihres rastlosen Laufes. 
16) Alle Bewegung ist nur in der Zeit möglich. 
des Raumes. 
(Scliopenliiiiin. II. Bd. Zu Seite üi.) 
der Materie. 
1 ) Es giebt nur einen Raum, und alle verschie- 
denen Räume sind Theile desselben. 
2) Verschiedene Räume sind nicht nach ein- 
ander, sondern zugleich. 
3) Der Raum lässt sich nicht wegdenken, je- 
doch Alles aus ihm. 
4) Der Raum hat drei Dimensionen : Höhe. 
Breite und Länge. 
5) Der Raum ist ins Unendliche theilbar. 
6) Der Raum ist homogen und ein Continuum: 
d. h. kein Theil desselben ist vom andern verschie- 
den, noch durch etwas, das nicht Raum wäre, ge- 
trennt. 
7) Der Raum hat keine Gränzen, sondern alle 
Gränzen sind in ihm. 
8) Vermöge des Raumes messen wir. 
g) Die Symmetrie ist allein im Räume. 
10) Wir erkennen die Gesetze des Raumes a pri- 
ori. 
1 1) Der Raum ist a priori unmittelbar anschau- 
bar. 
1 2) Der Raum kann nie vergehen, sondern be- 
steht allezeit. 
i3) Der Raum ist unbeweglich. 
i4) Alles was im Raum ist hat einen Ort. 
i.t) Der Raum hat keine Bewegung, sondern alle 
Bewegung ist in ihm, und ist der Ortwechsel des Be- 
weglichen, im Gegensatz seiner unerschütterlichen 
Ruhe. 
16) Alle Bewegung ist nur im Raum möglich. 
1 ) Es giebt nur eine Materie, und alle verschiedenen) 
Stoffe sind verschiedene Zustände dersell)en: als solche 
heisst sie Substanz. 
a) Verschiedenartige Materien (Stoffe) sind es nicht 
durch die Substanz, sondern durch die Accidenzien. 
3) Vernichtung der Materie lässt sich nicht denken, 
jedoch die aller ihrer Formen und Qualitäten. 
4) Die Materie existirt, d. i. wirkt, nach allen Dimen- 
sionen des Raumes und durch die ganze Länge der Zeit, 
wodurch sie beide vereinigt und dadurch erfüllt: hierin 
besteht ihrWesen : sie ist also durch und durch Kausalität. 
5) Die Materie ist ins Unendliche theilbar. 
6) Die Materie ist homogen und ein Continuum: d. h. 
sie besteht nicht aus ursprünglich verschiedenartigen 
(Homoiomerien), noch ursprünglich getrennten Theilen 
(Atome); ist also nicht zusammengesetzt aus Theilen, die 
wesentlich durch etwas, das nicht Materie wäre, getrennt 
wären. 
7) Die Materie hat keinen Ursprung noch Untergang, 
sondern alles Entstehen und Vergehen ist an ihr. 
8) Vermöge der Materie wägen wir. 
9) Das Aequilibrium ist allein in der Materie. 
1 o) Wir erkennen die Gesetze der Substanz aller Acci- 
denzien a priori. 
I 1) Die Materie wird a priori bloss gedacht. 
1 2) Die x\ccidenzien wechseln, die Substanz beharrt. 
i3) Die Materie ist gleichgültig gegen Ruhe und Be- 
wegung, d. h. zu keinem von beiden ursprünglich geneigt. 
i4) Alles Materielle hat eine Wirksamkeit. 
i5) Die Materie ist das Beharrende in der Zeit und 
das Bewegliche im Raum: durch den Vergleich des 
Ruhenden mit dem Bewegten messen wir die Dauer. 
16) Alle Bewegung ist nur der Materie möglich. 
Praedicabüia a priori 
der Zeit. 
1 7) Die Geschwindigkeit ist, bei gleichem Raum, 
im umgekehrten Verhältniss der Zeit. 
1 8) Messbar ist die Zeit nicht direkte, durch sich 
selbst, sondern nur indirekte, durch die Bewegung, 
als welche im Raum und Zeit zugleich ist : so misst 
die Bewegung der Sonne und der Uhr die Zeit. 
19) Die Zeit ist allgegenwärtig: jedes Zeittheil 
ist überall, d. h. im ganzen Raum, zugleich. 
20) In der Zeit für sich allein wäre Alles nach 
einander. 
21) Die Zeit macht den Wechsel der Accidenzien 
möglich. 
22) Jeder Theil der Zeit enthält alle Theile der 
Materie. 
23) Die Zeit ist das Principium individuationis. 
24) Das Jetzt ist ohne Dauer. 
26) Die Zeit an sich ist leer und bestimmungslos. 
26) Jeder Augenblick ist bedingt durch den vor- 
hergegangenen, und ist nur sofern dieser aufgehört 
hat zu seyn. (Satz vom Grunde des Seyns in der 
Zeit. — Siehe meine Abhandlung über den Satz 
vom Grunde.) 
27) Die Zeit macht die Arithmetik möglich. 
des Raumes. 
1 7) Die Geschwindigkeit ist, bei gleicher Zeit, in 
geradem Verhältniss des Raumes. 
18) Messbar ist der Raum direkte durch sich 
selbst, und indirekte durch die Bewegung, als wel- 
che in Zeit und Raum zugleich ist: daher z. B. eine 
Stunde Weges, und die Entfernung der Fixsterne 
ausgedrückt durch so viel Jahre Lauf des Lichts. 
19) Der Raum ist ewig: jeder Theil desselben ist 
allezeit. 
20) Im Raum für sich allein wäre Alles zugleich. 
21) Der Raum macht das Beharren der Substanz 
möglich. 
22) Kein Theil des Raumes enthält mit dem 
andern die selbe Materie. 
23) Der Raum ist das Principium individuationis. 
24) Der Punkt ist ohne Ausdehnung. 
25) Der Raum an sich ist leer und bestimmungs- 
los. 
26) Durch die Lage jeder Gränze im Raum gegen 
irgend eine andere ist auch ihre Lage gegen jede 
mögliche durchaus streng bestimmt. — (Satz vom 
Grunde des Seyns im Raum.) 
27) Der Raum macht die Geometrie möglich. 
28) Das Einfache der Arithmetik ist die Einheit. 28) Das Einfache der Geometrie ist der Punkt. 
der Materie. 
1 7) Die Grösse der Beivegung ist, bei gleicher Geschwin- 
digkeit, im geraden geometrischen Verhältniss der Materie 
(Masse). 
18) Messbar, d. h. ihrer Quantität nach bestimmbar, 
ist die Materie als solche (die Masse) nur indirekt, näm- 
lich allein durch die Grösse der Bewegung, welche sie 
empfängt und giebt, indem sie fortgestossen, oder ange- 
zogen wird. 
19) Die Materie ist absolut: d. h. sie kann nicht ent- 
stehen noch vergehen, ihr Quantum also weder vermehrt 
noch vermindert werden. 
20), 21) Die Materie vereint die bestandlose Flucht 
der Zeit mit der starren Unbeweglichkeit des Raumes: 
daher ist sie die beharrende Substanz der wechselnden 
Accidenzien. Diesen Wechsel bestimmt, für jeden Ort zu 
jeder Zeit, die Kausalität, welche eben dadurch Zeit und 
Raum verbindet und das ganze Wesen der Materie aus- 
macht. 
22) Denn die Materie ist sowohl beharrend, als un- 
durchdringlich. 
23) Die Individuen sind materiell. 
24) Das Atom ist ohne Realität. 
25) Die Materie an sich ist ohne Form und Qualität, 
desgleichen träge, d. h. gegen Ruhe oder Bewegung 
gleichgültig, also bestimmungslos. 
26) Jede Veränderung an der Materie kann nur ein- 
treten vermöge einer andern, ihr vorhergegangenen : da- 
her ist eine erste Veränderung und also auch ein erster 
Zustand der Materie so undenkbar, wie ein Anfang der 
Zeit oder eine Gränze des Raums. — (Satz vom Grunde 
des Werdens.) 
27) Die Materie, als das Bewegliche im Raum, macht 
die Phoronomie möglich. 
28) Das Einfache der Phoronomie ist das Atom. 
der Materie. 
1 7) Die Grösse der Beivegung ist, bei gleicher Geschwin- 
im U'it, im geraden geometrischen Verhältniss der Materie 
sej. 
18) Messbar, d. h. ihrer Quantität nach bestimmbar, 
selbse Materie als solche (die Masse) nur indirekt, näm- 
als wallein durch die Grösse der Bewegung, welche sie 
die Ekngt und giebt, indem sie fortgestossen, oder ange- 
I wird. 
19) Die Materie ist absolut: d. h. sie kann nicht ent- 
ist Ulli noch vergehen, ihr Quantum also weder vermehrt 
vermindert werden. 
20), 21) Die Materie vereint die bestandlose Flucht 
einai^eit mit der starren Unbeweglichkeit des Raumes: 
2ir ist sie die beharrende Substanz der wechselnden 
mögUenzien. Diesen Wechsel bestimmt, für jeden Ort zu 
Zeit, die Kausalität, welche eben dadurch Zeit und 
II verbindet und das ganze Wesen der Materie aus- 
it. 
22) Denn die Materie ist sowohl beharrend, als un- 
Mateidringlich. 
23) Die Individuen sind materiell. 
24) Das Atom ist ohne Realität. 
2-5) Die Materie an sich ist ohne Form und Qualität, 
eichen träge, d. h. gegen Ruhe oder Bewegung 
bgültig, also bestimmungslos. 
26) Jede Veränderung an der Materie kann nur ein- 
hergfli vermöge einer andern, ihr vorhergegangenen : da- 
hat zst eine erste Veränderung und also auch ein erster 
Zeit, md der Materie so undenkbar, wie ein Anfang der 
vom oder eine Gränze des Raums. — (Satz vom Grunde 
Verdens.) 
27 ) Die Materie, als das Bewegliche im Raum, macht 
'horonomie möglich. 
28 ) Das Einfache der Phoronomie ist das Atom. 
i 
phane etc. hebt an mit diesen gewichtigen Worten 
des Xenophanes: Atoiov sivai cpirjoiv, ei ti eoxiv, stirep 
(XT) ewoeyelai ^evso^ai [xtjosv ex |xr]0£voc (Aeternurn esse, 
inquit, quicquid est, siquidem fieri non potest, ut 
ex nihilo, quippiam existat). Hier urteilt also Xeno- 
'ha?ies über den Ursprung der Dinge, seiner Möglich- 
keit nach, über welchen er keine Erfahrung haben 
kann, nicht ein Mal eine analoge: auch beruft er sich 
auf keine; sondern er urtheilt apodiktisch, mithin a 
priori. Wie kann er Dieses, wenn er von aussen und 
fremd hineinschaut in eine rein objektiv, d. h. unab- 
hängig von seinem Erkennen, vorhandene Welt? Wie 
kann Er, ein vorübereilendes Ephemer, dem nur ein 
flüchtiger Blick in eine solche Welt gestattet ist, über 
sie, über die Möglichkeit ihres Daseyns und Ursprungs, 
zum voraus, ohne Erfahrung, apodiktisch urtheilen? — 
Die Lösung dieses Räthsels ist, dass der Mann es bloss 
mit seinen eigenen Vorstellungen zu thun hat, die als 
solche das W^erk seines Gehirnes sind, deren Gesetz- 
mässigkeit daher nur die Art und Weise ist, wie seine 
Gehirn funktion allein vollzogen werden kann, d. h. 
die Form seines Vorstellens. Er urtheilt also nur über 
sein eigenes Gehirnphänomen und sagt aus, was in 
dessen Formen, Zeit, Raum und Kausalität, hinein- 
geht und was nicht : da ist er vollkommen zu Hause 
und redet apodiktisch. In gleichem Sinne also ist die 
hier folgende Tafel der Praedicabilia a priori der Zeit, 
des Raumes und der Materie zu nehmen. 
ANMERKUNGEN ZUR BEIGEFÜGTEN TAFEL. 
i) Zu Nr. 4 der Materie. 
Das Wesen der Materie besteht im Wirken : sie ist 
das Wirken selbst, in abstracto, also das Wirken über- 
haupt, abgesehen von aller Verschiedenheit der Wir- 
kungsart: sie ist durch und durch Kausalität. Eben 
deshalb ist sie selbst, ihrem Daseyn nach, dem Gesetz 
der Kausalität nicht unterworfen, also unentstanden 
und unvergänglich : denn sonst würde das Gesetz der 
Kausalität auf sich selbst anf^ewandt werden. Da nun 
die Kausalität uns a priori bewusst ist, so kann der 
Begriff der Materie, als der unzerstörbaren Grund- 
lage alles Existirenden, indem er nur die Realisation 
einer uns a priori gegebenen Form des Erkennens ist, 
insofern seine Stelle unter den Erkenntnissen a priori 
einnehmen. Denn sobald wir ein Wirkendes anschauen, 
stellt es sich eo ipso als materiell dai-, wie auch umge- 
kehrt, ein Materielles nothvvendig als wirksam : es sind 
in der That Wechselbegrift'e. Daher wird das Wort 
,, wirklich" als Synonym von ,, materiell" gebraucht: 
auch das Griechische xai' evsp-j-eiav, im Gegensatz 
von xaxa ouva[xiv, beurkundet den selben Ursprung, 
da Evsp^eia das Wirken überhaupt bedeutet: eben 
so actu, im Gegensatz von potentiä; auch das Engli- 
sche actually für „wirklich". — Was man die Raum- 
erfüllung oder Undurchdringlichkeit nennt und als 
das wesentliche Merkmal des Körpers (d. i. des Mate- 
riellen) angiebt, ist bloss diejenige JVirkimgsart, wel- 
che a//e« Körpern ohne Ausnahme zukommt, nändich 
die mechanische. Diese Allgemeinheit, vermöge deren 
sie zum Begriff eines Körpers gehört und aus diesem 
Begriff a priori folgt, daher auch nicht weggedacht 
weiden kann, ohne ihn selbst aufzuheben, ist es allein, 
die sie vor andern Wirkungsarten, wie die elektrische, 
die chemische, die leuchtende, die wärmende, aus- 
zeichnet. Diese Raumerfüllung, oder mechanische 
Wirkungsart, hat Kant sehr richtig zerlegt in Repul- 
sions- und Attraktions-Kraft, wie man eine gegebene 
mechanische Kraft, durch das Parallelogramm der 
Kräfte, in zwei andere zerlegt. Doch ist jenes im Grunde 
nur die besonnene Analyse des Phänomens in seine 
Bestandtheile. Beide Kräfte im Verein stellen den 
Körper innerhalb seiner Gränzen, d. h. in bestimmtem 
Volumen dar, während die eine allein ihn ins Unend- 
liche zerstreuend auflösen, die andere allein ihn in 
einen Punkt kontrahiren würde. Dieses gegenseitigen 
Balancements, oder Neutralisation, ungeachtet, wirkt 
der Körper noch mit der ersten Kraft repellirend auf 
andere Körper, die ihm den Raum streitig machen, 
imd mit der andern attrahirend auf alle Körper über- 
62 
haupt, in der Gravitation; so dass die zwei Kräfte doch 
nicht in ihrem Produkt, dem Körper, erlöschen, wie 
etwan zwei in entgegengesetzter Richtung gleich wir- 
kende Stosskräfte, oder -j- E und — E, oder Oxygen 
und Hydrogen im Wasser. Dass Undurchdringlich- 
keit und Schwere wirklich genau zusammenhängen, 
bezeugt, obwohl wir sie in Gedanken trennen können, 
ihre empirische Unzertrennlichkeit, indem nie eine 
ohne die andere auftritt. 
Ich darf jedoch nicht unerwähnt lassen, dass die 
hier angezogene Lehre Kants, welche den Grundge- 
danken des zweiten Hauptstücks seiner „Metaphysi- 
schen Anfangsgründe der Naturwissenschaft", also 
der Dynamik, ausmacht, bereits vor Kant deutlich und 
ausführlich dargelegt war, von Priestley, in seinen so 
vortrefflichen Disquisitions on matter and spirit, Sect. 
I et 2, welches Buch 1777, in der zweiten Auflage 
1 782, erschien, währendjene Metaphysischen Anfangs- 
gründe von 1786 sind. Unbewusste Reminiscenzen 
lassen sich allenfalls bei Nebengedanken, sinnreichen 
Einfallen, Gleichnissen u. dgl. annehmen, nicht aber 
bei Haupt- und Grund-Gedanken. Sollen wir also 
glauben, dass Kant jene so wichtigen Gedanken eines 
Andern sich stillschweigend zugeeignet habe? Und 
dies aus einem damals noch neuen Buch? Oder aber, 
dass dieses Buch ihm unbekannt gewesen und der 
selbe Gedanke binnen kurzer Zeit in zwei Köpfen 
entsprungen sei? — Auch die Erklärung, welche Kant 
in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Natur- 
wissenschaft" (erste Auflage S. 88, Rosenkranzische 
Ausgabe S. 384), vom eigentlichen Unterschiede des 
Flüssigen vom Festen gießt, ist im Wesentlichen schon 
zu finden in Kaspar Friedr. Wolff s „Theorie von der 
Generation", ßerün 1764, S. i32. Was sollen wir aber 
sagen, wenn wir Kants wichtigste und glänzendste 
Grundlehre, die von der Idealität des Raumes und 
der bloss phänomenalen Existenz der Körperwelt, 
schon dreissig Jahre früher ausgesprochen finden von 
Maupertuis? wie Dies des Näheren zu ersehen ist aus 
Frauenstädt's Briefen über meine Philosophie, Brief i {. 
Maupertuis spricht diese paradoxe Lehre so entschie- 
63 
den und doch ohne Hinzufügnnj^ eines Beweises aus, 
dass man verniuthen niuss, auch er hahe sie wo an- 
ders hergenommen. Es wäre sehr wünsdienswerth, 
dass man der Sache weiter nachforschte; imd da dies 
mühsame und weitläuftige Untersuchunj^en erfordert, 
so könnte wohl irgend eine Deutsche Akademie eine 
Preisfrage darüber aufstellen. Wie Kant hier zu Priest- 
ley, vielleicht auch zu Kaspar JVolff^ und zu Mauper- 
tuis oder dessen Vordermann, so steht zu ihm Laplace, 
dessen bewunderungswürdige und gewiss richtige 
Lehre vom Ursprung des Planetensystems, dargelegt 
in seiner Exposition du Systeme du monde Liv. V, c. 
2, der Hauptsache und den Grundgedanken nach, 
ungefähr fünfzig Jahr früher, nämlich lyST), vorge- 
tragen war von Kant in seiner „Naturgeschichte und 
Theorie des Himmels", und vollkommener 1763 in 
seinem „Einzig möglichen Beweisgrund des Daseyns 
Gottes", Kap. 7; und da er in letzterer Schrift auch 
zu verstehen giebt, dass Lambeit in seinen „Kosmolo- 
gischen Briefen", 1761, jene Lehre stillschweigend 
von ihm entlehnt habe, diese Briefe aber, um die selbe 
Zeit, auch französisch erschienen sind (Lettres cosmo- 
logiqvies sur la Constitution de Tunivers); so müssen 
wir annehmen, dass Laplace jene Kantische Lehre 
gekannt hat. Zwar stellt er, wie es seinen tiefern astro- 
nomischen Kenntnissen angemessen ist, die Sache 
gründlicher, schlagender, ausführlicher und doch ein- 
facher dar, als Kant: aber in der Hauptsache ist sie 
schon bei diesem deutlich vorhanden, und würde, bei 
der hohen Wichtigkeit der Sache, allein hinreichend 
seyn, seinen Namen unsterblich zu machen. — Es 
muss uns höchlich betrüben, wenn wir die Köpfe 
ersten Ranges einer Unredlichkeit verdächtig finden, 
die selbst denen des letzten zur Schande gereicht; in- 
dem wir fühlen, dass einem reichen Mann Diebstahl 
noch weniger zu verzeihen wäre, als einem armen. 
Wir dürfen aber nicht dazu schweigen; denn hier 
sind wir die Nachwelt und müssen gerecht seyn; wie 
wir hoffen, dass auch gegen uns einst die Nachwelt 
(jerecht seyn werde. Daher will ich zu jenen Fällen 
noch als drittes Seitenstück anführen, dass die Grund- 
64 
gedanken der „Metamorphose der Pflanzen", von 
Goethe, bereits 1764 ausgesprochen waren von Kaspar 
Friedrich fVol ff'in seiner „ Theorie von der Generation " , 
S. 148, 229, 243 u. s. w. — Ja, ist es denn anders mit 
dem Gravitationssy stein? dessen Entdeckung, auf dem 
Europäischen Festlande, noch immer dem Neivton 
zugeschrieben wird; während in England wenigstens 
die Gelehrten sehr wohl wissen, dass sie dem Robert 
Hooke angehört, welcher sie schon im Jahre 1666, in 
einer Communication to the Royal Society, zwar nur 
als Hypothese und ohne Beweis, aber ganz deutlich 
darlegte. Die Hauptstelle aus dieser ist abgedruckt in 
Dugald Stewart's Philosophy of the human mind, 
Vol. 2, p. 434? ^^^ wahrscheinlich aus R. Hooke's 
Posthumous works entnommen. Den Hergang der 
Sache und wie Newton dabei ins Gedränge kam, findet 
man auch in der Biographie universelle, article New- 
ton. Als ausgemachte Sache wird Hooke' s Prioriät be- 
handelt in einer kurzen Geschichte der Astronomie, 
Quarterly review, August 1828, Das Ausführlichere 
über diesen Gegenstand findet man in meinen Parer- 
gis, Bd. H, §. 86. Die Geschichte vom Fall eines Apfels 
ist ein eben so grundloses, als beliebtes Märchen und 
ohne alle Autorität. 
2) Zu Nr. 18 der Materie. 
Die Grösse der Be^vegung (quantitas motus, schon 
bei Kartesius) ist das Produkt der Masse in die Ge- 
schwindigkeit. 
Dieses Gesetz begründet nicht nur in der Mechanik 
die Lehre vom Stoss, sondern auch in der Statik die 
Lehre vom Gleichgewicht. Aus der Stosskraft, welche 
zwei Körper, bei gleicher Geschwindigkeit, äussern, 
lässt sich das Verhältniss ihrer Massen zu einander 
bestimmen: so wird von zwei gleich schnell schla- 
genden Hämmern der von grösserer Masse den Nagel 
tiefer in die Wand, oder den Pfahl tiefer in die Erde 
treiben. Z. B. ein Hammer, dessen Gewicht sechs Pfund 
ist, wird, bei einer Geschwindigkeit = 6, so viel wirken 
wie ein Hammer von drei Pfund, bei einer Geschwin- 
digkeit =z \i: denn in beiden Fällen ist die Grösse 
der Bewegung =1 36. Von zwei gleich schnell rollenden 
5 Schopenhauer II UJ 
Ku{jelnwird die von grösserer Masse einedritteruhende 
Kugel weiter fortstossen, als die von kleinerer Masse 
es kann: weil die Masse der ersteren, muliiplicirt mit 
der gleichen Geschwindigkeit, ein grösseres Quantum 
der Bewegung ergiel)t. Die Kanone reicht Aveiter als 
die Flinte, weil dort die gleiche Geschwindigkeit, einer 
viel grössern Masse mitgetheilt, ein viel grösseres Quan- 
tum Bewegung liefert, welches der ermattenden Ein- 
wirkung derSchwerelänger widersteht. Aus dem näm- 
lichen Grunde wird der selbe Arm eine bleierne Kugel 
weiter werfen, als eine steinerne von gleicher Grösse, 
oder einen grössern Stein weiter, als einen ganz kleinen. 
Daher auch reicht ein Kartätschenschuss nicht so weit, 
wie der Schuss mit der Kugel. 
Das selbe Gesetz liegt der Lehre vom Hebel und 
von der Waage zum Grunde: denn auch hier hat die 
kleinere Masse, am längeren Hebelarm oder Waage- 
balken, beim Fallen eine grössere Geschwindigkeit, mit 
welcher multiplicirt sie der, am kürzern Arm behnd- 
lichen, grössern Masse an Grösse der Beivegung gleich 
kommen, ja, sie übertreflen kann. In dem durch das 
Gleichgeu'iclit herbeigeführten Zustande der Ruhe ist 
jedoch diese Geschwindigkeit bloss intentionell, oder 
virtuell, potentia nicht actu, vorhanden, wirkt jedoch 
so gut wie actu, welches sehr merkwürdig ist. 
INach diesen in Erinnerung gebrachten Wahrheiten 
wird die folgende Erklärung leichter fasslich seyn. 
Die Quantität einer gegebenen Materie kann über- 
haupt nur nach ihrer Kraft geschätzt und diese nur 
an ihrer Aeusserung evkuinnl werden. Diese Aeusserung 
kann, wo die Materie bloss ihrer Quantität, nicht ihrer 
Qualität nach in Betracht kommt, nur eine mechanische 
seyn, d. h. nur bestehen in der Bewegung, die sie an- 
derer Materie mitteilt. Denn erst in der Bewegung wird 
die Kraft der Materie gleichsam lebendig: daher der 
Ausdruck lebendige Kraft für die Kraftäusserung der 
bewegten Materie. Denmach ist für die Quantität ge- 
gebener Materie das alleinige Maass die G)'össe ihrer 
Bewegung. In dieser aber, wenn sie gegeben ist, tritt 
die Quantität der Materie noch mit dem andern Faktor 
derselben, der Geschwindigkeit, versetzt und verschmol- 
66 
zen auf: dieser andere Faktor also muss ausgeschieden 
werden, wenn man die Quantität der Materie (die 
Masse) erkennen will. Nun wird zwar die Geschwin- 
S 
rft^Ä:ezY unmittelbar erkannt: denn sie ist q^- Alleinder 
andere Faktor, der durch Ausscheidung dieses übrig 
bleibt, also die Masse, ist stets nur lelativ erkennbar, 
nämlich im Vergleich mit andern Massen, die aber selbst 
wieder nur mittelst der Grösse ihrer Bewegung^ also in 
ihrer Versetzung mit der Geschwindigkeit, erkennbar 
sind. Man muss also ein Quantum Bewegung mit dem 
andern vergleichen, dann aus beiden die Geschwindig- 
keit abrechnen, um zu ersehen wie viel jedes derselben 
seiner Masse verdankte. Dies geschieht durch das 
Wägen der Massen gegen einander, in welchem näm- 
lich diejenige Gi^össe der Bewegung, welche, in jeder 
der beiden Massen, die auf beide nur nach Maassgabe 
ihrer Quantität wirkende Anziehungskraft der Erde 
erregt, verglichen wird. Daher giebt es zwei Arten des 
Wagens: nämlich entweder ertheilt man den beiden 
zu vergleichenden Massen ^/e?cAe Geschwindigkeit, um 
zu ersehen, welche von beiden der andern jetzt noch 
Bewegung mittheilt, also selbst ein grösseres Quantum 
derselben hat, welches, da die Geschwindigkeit auf 
beiden Seiten gleich ist, dem andern Faktor der Grösse 
der Bewegung, also der Masse, zuzuschreiben ist (Hand- 
waage) ; oder aber man wägt dadurch, dass man unter- 
sucht, wie viel Gesdnvindigkeit die eine Masse mehr 
erhalten muss, als die andere hat, um dieser an Grösse 
der Bewegung gleich zu kommen, mithin von ihr sich 
keine mehr mitthei/en zu lassen; da dann in dem Ver- 
hältniss, wie ihre Geschwindigkeit die der andern über- 
treffen muss, ihre Masse, d. h. die Quantität ihrer Ma- 
terie, geringer ist, als die der andern (Schnellwaage). 
Diese Schätzung der Massen durch Wägen beruht auf 
dem günstigen Umstand, dass die bewegende Kraft, 
an sich selbst, auf beide ganz gleichmässig wirkt, und 
jede von beiden in der Lage ist, ihren Ueberschussan 
Grösse der Bewegung unmittelbar der andern mitzu- 
theilen, wodurch er sichtbar wird. 
Das Wesentliche dieser Lehren ist längst, \on New- 
5' 67 
ton und Kant, ausgesprochen worden, aber durch den 
Zusammenhang und die Klarheit dieser Darstellung 
glaube ich denselben eine Fasslichkeit verliehen zu 
haben, welche Jedem die Einsicht zugänglich macht, 
die ich zur Rechtfertigung des Satzes Nr. 1 8 nöthig 
erachtete. 
68 
ZWEITE HÄLFTE 
DIE 
LEHRE VON DER 
ABSTRAKTEN VORSTELLUNG 
ODER DEM DENKEN 
tnxv\/vvw\wnx\nn/wnnn/vwnn/wvvvw\nwv^^ 
KAPITEL 5*). 
VOM VERNÜNFTLOSEN INTELLEKT. 
EINE vollkommene Kenntniss desBewusstseyns der 
Thiere müsste möglich seyn; sofern wir es durch 
blosse Wegnahme gewisser Eigenschaften des unse- 
rigen konstruieren können. Jedoch greift in dasselbe 
andererseits der Instinkt ein, welcher in allen Thieren 
entwickelter, als im Menschen ist, und in einigen bis 
zum Kunsttriebe geht. 
Die Thiere haben Verstand, ohne Vernunft zu haben, 
mithin anschauliche, aber keine abstrakte Erkenntniss: 
sie apprehendiren richtig, fassen auch den unmittel- 
baren Kausalzusammenhang auf, die oberen Thiere 
selbst durch mehrere Glieder seiner Kette; jedoch 
denken sie eigentlich nicht. Denn ihnen mangeln die 
Begrijfe, d. h. die abstrakten Vorstellungen. Hievon 
aber ist die nächste Folge der Mangel eines eigent- 
lichen Gedächtnisses, welchem selbst die klügsten 
Thiere noch unterliegen, und dieser eben begründet 
hauptsächlich den Unterschied zwischen ihrem Be- 
wusstseyn und dem menschlichen. Die voUkoinmene 
Besonnenheit nämlich beruht auf dem deutlichen Be- 
wusstseyn der Vergangenheit und der eventuellen 
Zukunft ab solcher und im Zusammenhange mit 
*) Dieses Kapitel, mit sammt dem folgenden, steht in Bezie- 
hung auf §. 8 und 9 des ersten Bandes. [S. 43 — 64 ^' ^O 
71 
der Gegenwart. Das hlezu erforderte eigentliche 
Gedächtniss ist daher eine geordnete, zusauirnenhän- 
gende, denkende Riickerinnerung: eine solche aber 
ist nur möglich mittelst allgemeiner Begrijfe, deren 
Hülfe sogar das ganz Individuelle bedarf, um in sei- 
ner Ordnung und Verkettung zurückgerufen zu wer- 
den. Denn die unübersehbare Menge gleichartiger 
und ähnlicher Dinge und Begebenheiten, in unserm 
Lebenslauf, lässt nicht unmittelbar eine anschauliche 
und individuelle Rückerinnerung jedes Einzelnen zu, 
als für welche weder die Kräfte der umfassendesten 
Erinnerungsfähigkeit, noch unsere Zeit ausreichen 
würde: daher kann dies Alles nur aufbewahrt werden 
mittelst Subsumtion unter allgemeine Begriffe und 
daraus entstehende Zurückführung auf verhältniss- 
mässig wenige Sätze, mittelst welcher wir sodann eine 
geordnete und genügende Uebersicht unserer Ver- 
gangenheit beständig zu Gebote haben. Bloss einzelne 
Scenen der Vergangenheit können wir uns anschau- 
lich vergegenwärtigen ; aber der seitdem verflossenen 
Zeit und ihres Inhaltes sind wir uns bloss in abstracto 
bewusst, mittelst Begriffen von Dingen und Zahlen, 
welche nun Tage und Jahre, nebst deren Inhalt, ver- 
treten. Das Erinnerungsvermögen der Thiere hingegen 
ist, wie ihr gesammter Intellekt, auf das Anscliauliche 
beschränkt und besteht zunächst bloss darin, dass ein 
wiederkehrender Eindruck sich als bereits dagewesen 
ankündigt, indem die gegenwärtige Anschauung die 
Spur einer frühern auffrischt: ihre Erinnerung ist da- 
her stets durch das jetzt wirklieb Gegenwärtige ver- 
mittelt. Dieses regt aber eben deshalb die Empfindung 
und Stimmung, welche die frühere Erscheinung her- 
vorgebracht hatte, wieder an. Demnach erkennt der 
Hund die Bekannten, unterscheidet Freunde und Fein- 
de, findet den ein Mal zurückgelegten Weg, die 
schon besuchten Häuser, leicht wieder, und wird durch 
den Anblick des Tellers, oder den des Stocks, sogleich 
in die entsprechende Stimmung versetzt. Auf der Be- 
nutzung dieses anschauenden Erinnerungsvermögens 
und der bei den Thieren überaus starken Macht der 
Gewohnheit beruhen alle Arten der Abrichtung: diese 
72 
ist daher von der menschlichen Erziehung gerade so 
verschieden, wie Anschauen von Denken. Auch wir 
sind, in einzelnen Fällen, wo das eigentliche Gedächt- 
niss seinen Dienst versagt, auf jene hloss anschauende 
Rückerinnerung heschränkt, wodurch wir den Unter- 
schied beider aus eigener Erfahrung ermessen können, 
z. B. beim Anblick einer Person, die uns bekannt vor- 
kommt, ohne dass wir uns erinnern, wann und wo 
wir sie gesehen haben; desgleichen, wann wir einen 
Ort betreten, an welchem wir in früher Kindheit, also 
bei noch unentwickelter Vernunft, gewesen, solches 
daher ganz vergessen haben, jetzt aber doch den Ein- 
druck des Gegenwärtigen als eines bereits Dagewese- 
nen empfinden. Dieser Art sind alle Erinnerungen der 
Thiere. Nur kommt noch hinzu, dass, bei den klüg- 
sten, dieses bloss anschauende Gedächtniss sich bis zu 
einem gewissen Grade von Phantasie steigert, welche 
ihm wieder nachhilft und vermöge deren z. B. dem 
Hunde das Bild des abwesenden Herrn vorschwebt 
und Verlangen nach ihm erregt, daher er ihn, bei 
längerem Ausbleiben, überall sucht. Auf dieser Phan- 
tasie beruhen auch seine Träume. Das Bewusstseyn 
der Thiere ist demnach eine blosse Succession von 
Gegenwarten, deren jede aber nicht vor ihrem Ein- 
tritt als Zukunft, noch nach ihrem Verschwinden als 
Vergangenheit dasteht; als welches das Auszeichnende 
des menschlichen Bewusstseyns ist. Daher eben haben 
die Thiere auch unendlich weniger zu leiden^ als wir, 
weil sie keine andern Schmerzen kennen, als die, wel- 
che die Gegenivartnv\\nilte\h^Y herbeiführt. Die Gegen- 
wart ist aber ausdehnungslos; hingegen Zukunft und 
Vergangenheit, welche die meisten Ursachen unserer 
Leiden enthalten, sind weit ausgedehnt, und zu ihrem 
wirklichen Inhalt kommt noch der bloss mögliche, 
wodurch dem Wunsch und der Furcht sich ein un- 
absehbares Feld öffnet: von diesen hingegen unge- 
stört geniessen die Thiere jede auch nur erträgliche 
Gegenwart ruhig und heiter. Sehr beschränkte Men- 
schen mögen ihnen hierin nahe kommen. Ferner kön- 
nen die Leiden, welche rein der Gegenwart angehören, 
bloss physische seyn. Sogar den Tod empfinden eigent- 
lieh die Thiere nicht: erst hei seinem Eintritt könn- 
ten sie ihn kennen lernen; aber dann sind sie schon 
nicht mehr. So ist denn das Leben des Thieres eine 
fortgesetzte Gegenwart. Es lebt dahin ohne Besinnung 
und geht stets ganz in der Gegenwart auf: selbst der 
grosse Haufen der Menschen lebt mit sehr geringer 
Besinnung. Eine andere Folge der dargelegten Be- 
schaffenheit des Intellekts der Thiere ist der genaue 
Zusammenhang ihres Bewusstseyns mit ihrer Um- 
gebung. Zwischen dem Thiere und der Aussenwelt 
steht nichts: zwischen uns und dieser stehen aber 
immer noch unsere Gedanken über dieselbe, und 
machen oft uns ihr, oft sie uns unzugänglich. Nur 
bei Kindern und sehr rohen Menschen wird diese 
Vormauer bisweilen so dünn, dass um zu wissen, 
was in ihnen vorgeht, man nur zu sehen braucht, 
was um sie vorgeht. Daher auch sind die Thiere 
weder des Vorsatzes, noch der Verstellung fähig: 
sie haben nichts im Hinterhalt. In dieser Hinsicht ver- 
hält sich der Hund zum Menschen, wie ein gläserner 
zu einem metallenen Becher, und dies trägt viel bei, 
ihn uns so werth zu machen: denn es gewährt uns ein 
grosses Ergötzen, alle unsere Neigungen und Affekte, 
die wir so oft verhehlen, in ihm bloss und haar zu 
Tage gelegt zu sehen. Ueberhaupt spielen die Thiere 
gleichsam stets mit offen hingelegten Karten: daher 
sehen wir mit so vielem Vergnügen ihrem Thun und 
Treiben unter einander zu, sowohl wenn sie der selben, 
wie wenn sie verschiedenen Species angehören. Ein 
gewisses Gepräge von Unschuld charakterisirt dasselbe, 
im (Gegensatz des menschlichen Thuns, als welches, 
durch den Eintritt der Vernunft, und mit ihr der Be- 
sonnenheit der Unschuld der Natur entrückt ist. Da- 
für aber hat es durchweg das Gepräge der Vorsätz- 
lichkeit, deren Abwesenheit und mithin das Bestimmt- 
werden durch den äugen blicklichen Impuls, denGrund- 
charakter alles thierischen Thuns ausmacht. Eines 
eigentlichen Vorsatzes nämlich ist kein Thier fähig: 
ihn zu fassen und zu befolgen ist das Vorrecht des 
Menschen, und ein höchst folgenreiches. Zwar kann 
ein Instinkt, wie der der Zugvögel, oder der der Bienen, 
74 
ferner auch ein bleibender, anhaltender Wunsch, eine 
Sehnsucht, wie die des Hundes nach seinem abwesen- 
den Herrn, den Schein des Vorsatzes hervorbringen, 
ist jedoch mit diesem nicht zu verwechseln. — - Alles 
Dieses nun hat seinen letzten Grund in dem Verhält- 
niss zwischen dem menschlichen und dem thierischen 
[ntellekt, welches sich auch so ausdrücken iässt: die 
Thiere haben bloss eine unmittelbare Erkenntniss, wir 
neben dieser auch eine mittelbare^ und der Vorzug, den 
in manchen Dingen, z. B. in der Trigonometrie und Ana- 
lysis, im Wirken durch Maschinen statt durch Hand- 
arbeit u. s. w., das Mittelbare vor dem Unmittelbaren 
hat, findet auch hier Statt. Diesemnach wieder kann 
man sagen: die Thiere haben bloss einen einfachen 
Intellekt, wir einen doppelten^ nämlich neben dem an- 
schauenden noch den denkenden ; und die Operationen 
beider gehen oft imabhängig von einander vor sich : 
wir schauen Eines an und denken an ein Anderes ; oft 
wiederum greifen sie in einander. Diese Bezeichnimg 
der Sache macht die oben erwähnte wesentliche Offen- 
heit undNaivetät der Thiere, im Gegensatz der mensch- 
lichen Verstecktheit, besonders begreiflich. 
Inzwischen ist das Gesetz Natura non facit saltus 
auch in Hinsicht auf den Intellekt der Thiere nicht 
ganz aufgehoben; wenn gleich der Schritt vom thieri- 
schen zum menschlichen Intellekt wohl der weiteste 
ist, den die Natur, bei Hervorbringung ihrer Wesen, 
gethan hat. Eine schwache Spur von Reflexion, von 
Vernunft, von Wortverständniss, von Denken, von 
Vorsatz, von Ueberlegung, giebt sich in den vorzüg- 
lichsten Individuen der obersten Thiergeschlechter 
allerdings bisweilen kund, zu unserer jedesmaligen 
Verwunderung. Die auffallendesten Züge der Art hat 
der Elephant geliefert, dessen sehr entwickelter Intel- 
lekt noch durch die Uebung und Erfahrung einer bis- 
weilen zweihundertjährigen Lebensdauer erhöht und 
unterstützt wird. Von Prämeditation, welche uns an 
Thieren stets am meisten überrascht, hat er öfter un- 
verkennbare Zeichen gegeben, die daher in allbekann- 
ten Anekdoten aufbewahrt sind : besonders gehört dahin 
die von dem Schneider, an welchem er, wegen eines 
75 
Nadelstiches, Rache nahm. Tcli will jedoch ein Seiten- 
stück zu derselben, weil es den Vorzug hat, durch ge- 
richtliche Untersuchung beglaubigt zu seyn, hier der 
Vergessenheit entreissen. Zu Morpeth, in England, 
wurde, am i'] . August i83o, eine Coroners inquest 
gehalten, über den von seinem Elephanten getödteten 
Wärter Baptist Bernhai'd : aus dem Zeugenverhör er- 
gab sich, aass er zwei Jahre vorher den Elephanten 
gröblich beleidigt und jetzt dieser ohne Anlass, aber 
bei günstiger Gelegenheit, ihn plötzlich gepackt und 
zerschmettert hatte. (Siehe den Spectator und andere 
Englische Zeitungen jener Tage.) Zur speciellen Kennt- 
niss des Intellekts der Thiere empfehle ich das vor- 
treffliche Buch des Leroy, Sur rintelligence des ani- 
niaux, nouv. ed. i8o9,. 
KAPITEL 6. 
ZUR LEHRE VON DER ABSTRAKTEN, ODER 
VERNUNFT-ERKENNTNISS. 
DER äussere Eindruck auf die Sinne, sammt der 
Stimmung, die er allein und für sich in uns her- 
vorruft, verschwindet mit der Gegenwart der Dinge. 
Jene Beiden können daher nicht selbst die eigentliche 
jEr/rtÄ/'M/j^^ ausmachen, deren Belehrung für die Zukunft 
unser Handeln leiten soll. Das Bild jenes Eindrucks, 
welches die Phantasie aufbewahrt, ist schon sogleich 
schwächer als er selbst, schwächt sich täglich mehr 
ab und verlischt mit der Zeit ganz. Weder jenem 
augenblicklichen Verschwinden des Eindrucks, noch 
dem allmäligen seines Bildes unterworfen, mithin frei 
von der Gewalt der Zeit, ist nur Eines: der Begriff. 
In ihm also muss die belehrende Erfahrung niederge- 
legt seyn, und er allein eignet sich zum sichern Lenker 
unserer Schritte im Leben. Daher sagt Seneka mit 
Recht: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi 
-6 
(ep. 37). Und ich füge hinzu, dass, um im wirklichen 
Leben den Andern überlegen zu seyn, überlegt seyn, 
d. h. nach Begriffen verfahren, die unerlässhche Be- 
dingungist. Ein so wichtiges Werkzeug der Intelhgenz, 
wie der Begriff ist, kann offenbar nicht identisch seyn 
mit dem Wort, diesem blossen Klang, der als Sinnes- 
eindruck mit der Gegenwart, oder als Gehörphantasma 
mit der Zeit verklänge. Dennoch ist der Begriff eine 
Vorstellung, deren deutliches Bewusstseyn und deren 
Aufbewahrung an das Wort gebunden ist: daher be- 
nannten die Griechen Wort, Begriff, Verhältniss, Ge- 
danken und Vernunft mit dem Namen des Ersteren: 
6 Xofo?. Dennoch ist der Begriff sowohl von dem 
Worte, an welches er geknüpft ist, als auch von den 
Anschauungen, aus denen er entstanden, völlig ver- 
schieden. Er ist ganz anderer Natur, als diese Sinnes- 
eindrücke. Jedoch vermag er alle Resultate der An- 
schauung in sich aufzunehmen, um sie, auch nach 
dem längsten Zeitraum, unverändert und unvermin- 
dert wieder zurückzugeben : erst hiedurch entsteht die 
Erfahrung. Aber nicht das Angeschaute, noch das 
dabei Empfundene, bewahrt der Begriff' auf, sondern 
dessen Wesentliches, Essentielles, in ganz veränderter 
Gestalt, und doch als genügenden Stellvertreter Jener. 
So lassen sich die Blumen nicht aufbewahren, aber 
ihr ätherisches Oel, ihre Essenz, mit gleichem Geruch 
und gleichen Kräften. Das Handeln, welches richtige 
Begriffe zur Richtschnur gehabt hat, wird, im Resul- 
tat, mit der beabsichtigten Wirklichkeit zusammen- 
treffen. — Den unschätzbaren Werth der Begriffe und 
folglich der Vetmunft kann man ermessen, wenn man 
auf die unendliche Menge und Verschiedenheit von 
Dingen und Zuständen, die nach und neben einander 
dasind, den Blick wirft und nun bedenkt, dass Sprache 
und Schi'ift (die Zeichen der Begriffe) dennoch jedes 
Ding und jedes Verhältniss, wann und wo es auch ge- 
wesen seyn mag, zu unserer genauen Kunde zu bringen 
vermögen; weil eben verhältnissmässig wenige Begriffe 
eine Unendlichkeit von Dingen und Zuständen be- 
fassen und vertreten. — Beim eigenen Nachdenken 
ist die Abstraktion ein Abwerfen unnützen Gepäckes, 
77 
zum Behuf leichterer Ilandhabiin^j der zu ver{jleichen- 
den und darum hin und her zu werfenden Erkennt- 
nisse. Man lässt nämlich dabei das viele Unwesent- 
liche, daher nvu' Verwirrende, der realen Dinfje weg, 
und operirt mit wenif^^en, aber wesentlichen, in ab- 
stracto {gedachten Bestimmungen. Aber eben weil die 
Allgemeinbegriffe nur durch Wegdenken und Aus- 
lassen vorhandener Bestimmungen entstehen und da- 
her je allgemeiner, desto leerer sind, beschrankt der 
iSutzen jenes Verfahrens sich auf die Ferorbeituruj 
unserer bereits erworbenen Erkenntnisse, zu der auch 
das Schliessen aus den in ihnen enthaltenen Prämissen 
gehört. Neue Grundeinsichten hingegen sind nur aus 
der anschaulichen, als der allein vollen und reichen 
Erkenntniss zu schöpfen, mit Hülfe der LIrtheilskraft. 
— Weil ferner Inhalt und Umfang der Begriffe in 
entgegengesetztem Verhältnisse stehen, also je mehr 
unter einem Begriff, desto weniger in ihm gedacht 
wird; so bilden die Begriffe eine Stufenfolge, eine 
Hierarchie, vom speciellsten bis zum allgemeinsten, 
an deren unterm Ende der scholastische Bealismus, 
am obern der Nominalismus beinahe Recht behält. 
Denn der speciellste Begriff ist schon beinahe das In- 
dividuum, also beinahe real: und der allgemeinste 
Begriff, z. B. das Seyn (d. i. der Infinitiv der Kopula), 
beinahe nichts als ein Wort. Daher auch sind philo- 
sophische Systeme, die sich innerhalb solcher sehr allge- 
meinen Begriffe halten, ohne auf das Reale herabzu- 
kommen, beinahe blosser Wortkram. Denn da alle 
Abstraktion im blossen Wegdenken besteht; so behält 
man, je weiter man sie fortsetzt, desto weniger übrig. 
Wenn ich daher solche moderne Philosopheme lese, 
die sich in lauter sehr weiten Abstraktis fortbewegen; 
so kann ich bald, trotz aller Aufmerksamkeit, fast 
nichts mehr dabei denken; weil ich eben keinen Stoff 
zum Denken erhalte, sondern mit lauter leeren Hül- 
sen operiren soll, weiches eine Empfindung giebt, der 
ähnlich, die beim Versuch sehr leichte Körper zu 
werfen entsteht: die Kraft nämlich und auch die An- 
strengung ist da; aber es fehlt am Objekt, sie aufzu- 
nehmen, um das andere Moment der Bewegung her- 
-78 
zustellen. Wer dies erfahren will, lese die Schriften 
der Schellingiancr und, noch besser, der Hegelianer. 
— Einfache Begriffe niüssten eigentlich solche seyn, 
die unauflösbar wären; demnach sie nie das Subjekt 
eines analytischen Urtheils seyn könnten: dies halte 
ich für unmöglich; da, wenn man einen Begriff denkt, 
man auch seinen Inhalt muss angeben können. Was 
man als Beispiele von einfachen Begriffen anzuführen 
pflegt, sind gar nicht mehr Begriffe, sondern theils 
blosse Sinnesempfindungen, wie etwan die einer be- 
stimmten Farbe, theils die a priori uns bewusslen 
Formen der Anschauung; also eigentlich die letzten 
Elemente der oiischaiienden Erkenntniss. Diese selbst 
aber ist für das System aller unserer Gedanken Das, 
was in der Geognosie der Granit ist, der letzte feste 
Boden, der Alles trägt und über den man nicht hin- 
aus kann. Zu?' Deutlichkeit eines Begriffes nämlich ist 
erfordert, nicht nur, dass man ihn in seine Merkmale 
zerlegen, sondern auch dass man diese, falls auch sie 
Abstrakta sind, abermals analysiren könne, und so 
immerfort, bis man zur anschauenden Erkenntniss her- 
abgelangt, mithin auf konkrete Dinge hinweist, durch 
deren klare Anschauung man die letzten Abstrakta 
belegt und dadurch diesen, wie auch allen auf ihnen 
beruhenden höhern Abstraktionen, Realität zusichert. 
Daher ist die gewöhnliche Erklärung, der Begriff sei 
deutlich, sobald man seine Merkmale angeben kann, 
nicht ausreichend: denn die Zerlegung dieser Merk- 
male führt vielleicht immerfort nur auf Begriffe, ohne 
dass zuletzt Anschauungen zum Grunde lägen, welche 
allen jenen Begriffen Realität ertheilten. Man nehme 
z. B. den Begriff" ,, Geist" und analysiere ihn in seine 
Merkmale, „ein denkendes, wollendes, immaterielles, 
einfaches, keinen Raum füllendes, unzerstörbares 
Wesen"; so ist dabei doch nichts Deutliches gedacht; 
weil die Elemente dieser Begriffe sich nicht durch 
Anschauungen belegen lassen: denn ein denkendes 
Wesen ohne Gehirn ist wie ein A^erdauendes Wesen 
ohne Magen. Klar sind eigentlich nur Anschauungen, 
nicht Begriffe: diese können höchstens deutlich seyn. 
Darum auch hat man, so absurd es war, „klar und 
79 
verworren" zu einander gestellt und als synonym ge- 
braucht, als man die anschauende Erkenntniss für 
eine nur verworrene abstrakte erklärte, weil nämlich 
diese letztere die allein deutliche wäre. Dies hat zu- 
erst Duiia Skotus gethan, aber auch noch Leibnitz hat 
im Grunde diese Ansicht, als auf welcher seine Iden- 
titas indiscernibilium beruht: man sehe /lonfs Wider- 
legung derselben, S. 275 der ersten Ausgabe der 
„Kritik der reinen Vernunft". 
Die oben berührte enge Verbindung des Begriffs mit 
dem Wort, also der Sprache mit der Vernunft, beruht 
im letzten Grunde auf Folgendem. Unser ganzes Be- 
wusstseyn, mit seiner innern und äussern Wahrneh- 
mung, hat durchweg die Zeit zur Form. Die Begriffe 
hingegen, als durch Abstraktion entstandene, völlig 
allgemeine und von allen einzelnen Dingen verschie- 
dene Vorstellungen, haben, in dieser Eigenschaft, ein 
zwar gewissermaassen objektives Daseyn, welches je- 
doch keiner Zeitreihe angehört. Daher müssen sie, um 
in die vmmittelbare Gegenwart eines individuellen 
Bewusstseyns treten, mithin in eine Zeitreihe einge- 
schoben werden zu können, gewissermaassen wieder 
zur Natur der einzelnen Dinge herabgezogen, indivi- 
dualisirt und daher an eine sinnliche Vorstellung ge- 
knüpft werden: diese ist das Wort. Es ist demnach 
das sinnliche Zeichen des Begriffs und als solches das 
nothwendige Mittel ihn zu ßxij'en, d. h. ihn dem an 
die Zeitform gebundenen Bewusstseyn zu vergegen- 
wärtigen und so eine Verbindung herzustellen zwischen 
der Vernunft, deren Objekte bloss allgemeine, weder 
Ort noch Zeitpunkt kennende Universalia sind, und 
dem an die Zeit gebundenen, sinnlichen und insofern 
bloss thierischen Bewusstseyn. Nur vermöge dieses 
Mittels ist uns die willkürliche Reproduktion, also 
die Erinnerung und Aufbewahrung der Begriffe, mög- 
lich und disponibel, und erst mittelst dieser die mit 
denselben vorzunehmenden Operationen, also urthei- 
len, schliessen, vergleichen, beschränken u. s. w. Zwar 
geschieht es bisweilen, dass Begriffe auch ohne ihre 
Zeichen das Bewusstseyn beschäftigen, indem wir mit- 
unter eine Schlusskette so schnell durchlaufen, dass 
80 
wir in solcher Zeit nicht hätten die Worte denken 
können. Allein dergleichen sind Ausnahmen, die eben 
eine grosse Uebung der Vernunft voraussetzen, welche 
sie nur mittelst der Sprache hat erlangen können. 
Wie sehr der Gebrauch der Vernunft an die Sprache 
gebunden ist, sehen wir an den Taubstummen, welche, 
wenn sie keine Art von Sprache erlernt haben, kaum 
mehr Intelligenz zeigen, als die Orangutane und 
Elephanten: denn sie haben fast nur potentiä nicht 
actu Vernunft. 
Wort und Sprache sind also das unentbehrliche 
Mittel zum deutlichen Denken. Wie aber jedes Mittel, 
jede Maschine, zugleich beschwert und hindert; so 
auch die Sprache : weil sie den unendlich nüancirten, 
beweglichen und modifikabeln Gedanken in gewisse 
feste, stehende Formen zwängt und indem sie ihn 
fixiert, ihn zugleich fesselt. Dieses Hinderniss wird 
durch die Erlernung mehrerer Sprachen zum Theil 
beseitigt. Denn indem, bei dieser, der Gedanke aus 
einer Form in die andere gegossen wird, er aber in 
jeder seiner Gestalt etwas verändert, löst er sich mehr 
und mehr von jeglicher Form vind Hülle ab; wodurch 
sein selbst-eigenes Wesen deutlicher ins Bewusstseyn 
tritt und er auch seine ursprüngliche Modifikabilität 
wieder erhält. Die alten Sprachen aber leisten diesen 
Dienst sehr viel besser, als die neuen; weil, vermöge 
ihrer grossen Verschiedenheit von diesen, der selbe 
Gedanke jetzt auf ganz andere Weise ausgedrückt 
werden, also eine höchst verschiedene Form annehmen 
muss; wozu noch kommt, dass die vollkommenere 
Grammatik der alten Sprachen eine künstlichere und 
vollkommenere Konstruktion der Gedanken und ihres 
Zusammenhanges möglich macht. Daher konnte ein 
Grieche, oder Römer, allenfalls sich an seiner Sprache 
genügen lassen. Aber wer nichts weiter, als so einen 
einzigen modernen Patois versteht, wird, im Schreiben 
und Reden, diese Dürftigkeit bald verrathen, indem 
.sein Denken, an so armsälige, stereotypische Formen 
fest geknüpft, ungelenk und monoton ausfallen muss. 
Genie freilich ersetzt, wie Alles, so auch dieses, z. B, 
im Shakespeare. 
6 Schopenhauer II *^ ' 
Von dem, was ich §. 9 des ersten Bandes*) dargelegt 
habe, dass nämlich die Worte einer Rede vollkommen 
verstanden werden, ohne anschauliche Vorstellungen, 
Bilder in unserm Kopie zu veranlassen, hat schon 
eine ganz richtige und sehr ausführliche Auseinander- 
setzung ^«rAe gegeben, in seiner Inquiry into the Sub- 
lime and Beautil'ul, P. 5, Sect. 4 et 5; allein er zieht 
daraus den jjanz falschen Schluss, dass wir die Worte 
hören, vernehmen und gebrauchen, ohne irgend eine 
Vorstellung (idea) damit zu verbinden; während er 
hätte schliessen sollen, dass nicht alle Vorstellungen 
(ideas) anschauliche Bilder (images) sind, sondern 
dass gerade die, welche durch Worte bezeichnet wer- 
den m üssen, blos^^e Begi-ijf'e (a bstract notions) und diese, 
ihrer Natur zufolge, nicht anschaulich sind. — Eben 
weil Worte blosse Allgemeinbegriffe, welche von den 
anschaulichen Vorstellungen durchaus verschieden 
sind, mittheilen, werden z. B. bei der Erzählung einer 
Begebenheit, zwar alle Zuhörer die selben Begriffe er- 
halten; allein wenn sie nachher sich den Vorgang ver- 
anschaulichen wollen, wird jeder ein anderes Bild da- 
von in seiner Phantasie entwerfen, welches von dem 
richtigen, das allein der Augenzeuge hat, bedeutend 
abweicht. Hierin liegt der nächste Grund (zu welchem 
sich aber noch andere gesellen) warum jede That- 
sache durch Weitererzählen nothwendig entstellt 
wird; nämlich der zweite Erzähler theilt Begriffe mit, 
die er aus seinem Phantasiebilde abstrahirt hat und 
aus denen der Dritte sich wieder ein anderes noch ab- 
weichenderes Bild entwirft, welches er nun wieder in 
Begriffe umsetzt, und so geht es immer weiter. Wer 
trocken genug ist, bei den ihm mitgetheilten Begriffen 
stehen zu bleiben und diese weiter zu geben, wird der 
treueste Berichterstatter sein. 
Die beste und vernünftigste Auseinandersetzung 
über Wesen und Natur der Begriffe, die ich irgendwo 
habe finden können, steht in Thom. Beids Essays on 
the powersof human mind. Vol. 2,essay 5,ch. 6. — Die- 
selbe ist seitdem gemissbilligt worden von Dugald Ste- 
wart, in dessen Philosophy of the human mind : über die- 
•) S. 48 (1. A. 
82 
sen will ich, um kein Papier an ihn zu verschwenden, 
nur in der Kürze sagen,dass er zu den Vielen {gehört hat, 
die durch Gunst und Freunde einen unverdienten Ruf 
erlangten; daher ich nur rathen kann, mit den Schrei- 
bereien dieses Flachkopfes keine Stunde zu verlieren. 
Dass übrigens die Vernunft das Vermögen der ab- 
strakten, der Ferstand aber das der anschaulichen 
Vorstellungen sei, hat bereits der fürstliche Schola- 
stiker Picus de Mirandula eingesehen, indem er in 
seinem Buche De imaginatione, c. 1 1, Verstand und 
Vernunft sorgfältig unterscheidet und diese für das 
diskursive, dem Menschen eigenthümüche Vermögen, 
jenen aljer für das intuitive, der Erkenn tniss weise der 
Engel, ja, Gottes verwandte erklärt. — Auch Spinoza 
charakterisirt ganz richtig die Vernunft als das Ver- 
mögen allgemeine Begriffe ^u bilden : Eth. IT, prop. 4o, 
schol. 2. — Dergleichen brauchte nicht erwähnt zu 
werden, wäre es nicht wegen der Possen, welche in 
den letzten fünfzig Jahren sämmtliche Philosophaster 
in Deutschland mit dem Begriffe der Vemiunft getrie- 
ben haben, indem sie, mit unverschämter Dreistigkeit, 
unter diesem Namen ein völlig erlogenes Vermögen 
unmittelbarer, metaphysischer, sogenannter übersinn- 
licher Erkenntnisse einschwärzen wollten, die wirk- 
liche Vernunft hingegen Verstand benannten, den 
eigentlichen Verstand aber, als ihnen sehr fremd, ganz 
übersahen und seine intuitiven Funktionen der Sinn- 
lichkeit zuschrieben. 
Wie bei allen Dingen dieser Welt jedem Auskunfts- 
mittel, jedem Vortheil, jedem Vorzug sich sofort auch 
neue Nachtheile anhängen; so führt auch dieVernunft, 
welche dem Menschen so grosse Vorzüge vor den 
Thieren giebt, ihre besondern Nachtheile mit sich und 
eröffnet ihm Abwege, auf welche das Thier nie ge- 
rathen kann. Durch sie erlangt eine ganz neue Art 
von Motiven, der das Thier unzugänglich ist, Macht 
über seinen Willen; nämlich die abstrakten Motive, 
die blossen Gedanken, welche keineswegs stets aus 
der eigenen Erfahrung abgezogen sind, sondern oft 
nur durch Rede und Beispiel Anderer, durch Tradi- 
tion und Schrift, an ihn kommen. Dem Gedanken zu- 
6- 83 
gänglich geworden steht er sofort auch dem Irrthum 
offen. Allein jeder Irrthum muss, früher oder später, 
Schaden stiften, und desto grössern, je grösser er war. 
Den individuellen Irrthum muss, wer ihn hegt, ein 
Mal büssen und oft theuer bezahlen: das Selbe wird 
im Grossen von gemeinsamen Irrthümern ganzer Völ- 
ker gelten. Daher kann nicht zu oft wiederholt wer- 
den, dass jeder Irrthum, wo man ihn auch antreffe, als 
ein Feind der Menschheit zu verfolgen und auszurot- 
ten ist, und dass es keine privilegirte, oder gar sanktio- 
nirte Irrthümer geben kann. Der Denker soll sie an- 
{jreifen; wenn auch die Menschheit, gleich einem 
Kranken, dessen Geschwür der Arzt berührt, laut da- 
bei aufschrie. — Das Thier kann nie weit vom Wege 
der Natur abirren : denn seine Motive liegen allein in 
der anschaulichen Welt, wo nur das Mögliche, ja, nur 
das Wirkliche Raum findet: hingegen in die abstrak- 
ten Begriffe, in die Gedanken und Worte, geht alles 
nur Ersinnliche, mithin auch das Falsche, das Unmög- 
liche, das Absurde, das Unsinnige. Da nun Vernunft 
Allen, Urtheilskraft Wenigen zu Theil geworden; so 
ist die Folge, dass der Mensch dem Wahne offen steht, 
indem er allen nur erdenklichen Chimären Preis ge- 
geben ist, die man ihm einredet, und die, als Motive 
seines Wollens wirkend, ihn zu Verkehrtheiten und 
Thorheiten jeder Art, zu den unerhörtesten Extra- 
vaganzen, wie auch zu den seiner thierischen Natur 
Widerstrebendesten Handlungen bewegen können. Ei- 
gentliche Bildung, bei welcher Erkenntniss und Ur- 
theil Iland in Hand gehen, kann nur Wenigen zuge- 
wandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie 
aufzunehmen. Für den grossen Haufen tritt überall 
an ihre Stelle eine Art Abrichtung: sie wird bewerk- 
stelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr früh- 
zeitiges, festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend 
Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft dawären, das 
Werk zu stören. So werden Gedanken eingeimpft, die 
nachher so fest und durch keine Belehrung zu er- 
schüttern haften, als wären sie angeboren, wofür sie 
auch oft, selbst von Philosophen, angesehen worden 
sind. Auf diesem Wege kann man, mit gleicher Mühe, 
84 
den Menschen das Richtige und Vernünftige, oder 
auch das Absurdeste einprägen, z. B. sie gewöhnen, 
sich diesem oder jenem Götzen nur von heihgemSchauer 
durchdrungen zu nähern und beim Nennen seines 
Namens nicht nurm it dem Leibe, sondern auch mit 
dem ganzen Gemüthe sich in den Staub zu werfen; 
an Worte, an Namen, an die Vertheidigung der aben- 
theuerhchsten Grillen, willig ihr Eigenthum und Leben 
zu setzen; die grösste Ehre und die tiefste Schande 
beliebig an Dieses oder an Jenes zu knüpfen und da- 
nach Jeden mit inniger Ueberzeugunghoch zu schätzen, 
oder zu verachten; aller animalischen Nahrung zu 
entsagen, wie in Hindustan, oder die dem lebenden 
Thiere herausgeschnittenen , noch warmen und zucken- 
den Stücke zu verzehren, wie in Abyssinien; Men- 
schen zu fressen, wie in Neuseeland, oder ihre Kinder 
dem Moloch zu opfern; sich selbst zu kastriren, sich 
willig in den Scheiterhaufen des Verstorbenen zu 
stürzen, — mit Einem Worte, luas man ivill. Daher 
die Kreuzzüge, die Ausschweifungen fanatischer Sek- 
ten, daher Chiliasten und Flagellanten, Ketzerverfol- 
gungen, Autos de Fe, und was immer das lange Regi- 
ster menschlicher Verkehrtheiten noch sonst darbietet. 
Damit man nicht denke, dass nur finstere Jahrhun- 
derte solche Beispiele liefern, füge ich ein Paar neuere 
hinzu. Im Jahre i8i8 zogen aus dem Württembergi- 
schen 7000 Chiliasten in die Nähe des Ararat: weil 
das, besonders durch Jung-Stillingangekündigte, neue 
Reich Gottes daselbst anbrechen sollte*). Ga// erzählt, 
dass zu seiner Zeit eine Mutter ihr Kind getödtet und 
gebraten habe, um mit dessen Fett die Rheumatismen 
ihres Mannes zu kuriren**). Die tragische Seite des 
Irrthums und Vorurtheils liegt im Praktischen, die 
komische ist dem Theoretischen vorbehalten: hätte 
man z. B. nur erst drei Menschen fest überredet, dass die 
Sonne nicht die Ursache des Tageslichts sei; so dürfte 
man hoffen, es bald als die allgemeine Ueberzeugung 
gelten zu sehen. Einen widerlichen, geistlosen Schar- 
") Illgens Zeitschrift für historische Theologie, 1839, erstes 
Heft, S. 182. 
") Gall et Spurzheim, Des clispositions innees 181 i, p. 253. 
85 
lataniind beispiellosen Unsiniischmierer, Hegel, konnte 
man, in Deutschland, als den {jrössten Philosophen 
aller Zeiten aiisschreien, und viele Tausende haben 
es, zwanzig Jahre lan{j, steif und fest geglaubt, sogar 
ausser Deutschland die Danische Akademie, welche 
für seinen Ruhm {jegen mich aufgetreten ist und ihn 
als einen summus philosophus hat geltend machen 
wollen. (Siehe hierüber die Vorrede zu meinen, ,Grnnd- 
problemen der Ethik"). — Dies also sind die Nach- 
theile, welche, wegen der Seltenheit der Urtheilskraft, 
an das Daseyn der Vernunft geknüpft sind. Zu ihnen 
kommt nun noch die Möglichkeit des Wahnsinns: 
Thiere werden nicht wahnsinnig; wiewohl die Fleisch- 
fresser der Wuth, die Grasfresser einer Art Raserei 
ausgesetzt sind. 
KAPITEL 7*). 
VOM VRRHÄLTNISS DER ANSCHAUENDEN ZUR 
ABSTRAKTEN ERKENNTNISS. 
DA nun, wie gezeigt worden, die Begriffe ihren 
Stoff von der anschauenden Erkenntniss ent- 
lehnen, und daher das ganze Gebäude unserer Ge- 
dankenwelt auf der Welt der Anschauungen ruht; so 
müssen wir von jedem Begriff, wenn auch durch Mit- 
telstufen, zurückgehen können auf die Anschauungen, 
aus denen er unmittelbar selbst, oder aus denen die 
Begriffe, deren Abstraktion er wieder ist, abgezogen 
worden: d.h. wir müssen ihn mit Anschauungen, die 
zu den Abstraktionen \n\ Verhältniss des Beispiels 
stehen, belegen können. Diese Anschauungen also 
liefern den realen Gehalt alles unsers Denkens, und 
überall, wo sie fehlen, haben wir nicht Begriffe, son- 
dern blosse Worte im Kopfe gehabt. In dieser Hin- 
sicht gleicht unser Intellekt einer Zettelbank, die, 
wenn sie solide seyn soll, Kontanten in Kassa haben 
") Dieses Kapitel steht in Bezieliung zu §. i 2 des ersten Randes. 
[S. 66 d. A.] 
86 
muss, um erforderlichenfalls alle ihre ausgestellten 
Noten einlösen zu können : die Anschauungen sind 
die Kontanten, die Begriffe die Zettel. — In diesem 
Sinne könnten die Anschauungen recht passend pri- 
märe, die Begriffe hingegen sekundäre Vorstellungen 
benannt werden: nicht ganz so treffend nannten die 
Scholastiker, auf Anlass des Aristoteles (Metaph. VI, 
li; XI, i) die realen Dinge substantias primas, und 
die Begriffe substantias secundas. — Bücher theilen 
nur sekundäre Vorstellungen mit. Blosse Begriffe von 
einer Sache, ohne Anschauung, geben eine bloss all- 
gemeine Kenntniss derselben. Ein durchaus gründ- 
liches Verständniss von Dingen und deren Verhält- 
nissen hat man nur, sofern man fähig ist, sie in lauter 
deutlichen Anschauungen, ohne Hülfe der Worte, sich 
vorstellig zu machen. Worte durch Worte erklären, 
Begriffe mit Begriffen vergleichen, worin das meiste 
Philosophiren besteht, ist im Grunde ein spielendes 
Hin- und Herschieben der Begriffssphären; um zu 
sehen, welche in die andere geht und welche nicht. 
Im glücklichsten Fall wird man dadurch zu Schlüssen 
gelangen: aber auch Schlüsse geben keine durchaus 
neue Erkenntniss, sondern zeigen uns nur, was Alles 
in der schon vorhandenen lag und was davon etwan 
auf den jedesmaHgen Fall anwendbar wäre. Hingegen 
anschauen, die Dinge selbst zu uns reden lassen, neue 
Verhältnisse derselben auffassen, dann aber dies Alles 
in Begriffe absetzen und niederlegen, um es sicher zu 
besitzen: das giebt neue Erkenntnisse. Allein, wäh- 
rend Begriffe mit Begriffen zu vergleichen so ziem- 
lich Jeder die Fähigkeit hat, ist Begriff mit Anschau- 
ungen zu vergleichen eine Gabe der Auserwählten: 
sie bedingt, je nach dem Grade ihrer Vollkommenheit, 
Witz, Urtheilskraft, Scharfsinn, Genie. Bei jener erstem 
Fähigkeit hingegen kommt nie viel mehr heraus, als 
etwan vernünftige Betrachtungen. — Der innerste 
Kern jeder ächten und wirklichen Erkenntniss ist eine 
Anschauung; auch ist jede neue Wahrheit die Aus- 
beute aus einer solchen. Alles Urdenken geschieht in 
Bildern: darum ist die Phantasie ein so noth wendiges 
Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe 
nie envas Grosses leisten, — es sei denn in der Mathe- 
matik. — Hin{je{jen bloss abstrakte Gedanken, die 
keinen anschaulichen Kern haben, gleichen Wolken- 
gebilden ohne Realität. Selbst Schrift und Rede, sei 
sie Lehre oder Gedicht, hat zum letzten Zweck, den 
Leser zu derselben anschaulichen Erkenntniss hinzu- 
leiten, von welcher der Verfasser ausging: hat sie den 
nicht, so ist sie eben schlecht. Eben darum ist Be- 
trachtung und Beobachtung jedes JVv'klichen, sobald 
es irgend etwas dem Beobachter Neues darbietet, be- 
lehrender als alles Lesen und Hören. Denn sogar ist, 
wenn wir auf den Grund gehen, in jedem Wirklichen 
alle Wahrheit und Weisheit, ja, das letzte Geheimniss 
der Dinge enthalten, freilich eben nur in concreto, 
und so wie das Gold im Erze steckt: es konunt dar- 
auf an, es herauszuziehen. Aus einem Buche hingegen 
erhält man, im besten Fall, die Wahrheit doch nur 
aus zweiter Hand, öfter aber gar nicht. 
Bei den meisten Büchern, von den eigentlich schlech- 
ten ganz abgesehen, hat, w enn sie nicht durchaus em- 
pirischen Inhalts sind, der Verfasser zwar gedacht, aber 
nicht geschaut: er hat aus der Reflexion, nicht aus der 
Intuition geschrieben; und dies eben ist es, was sie 
mittelmassig und langweilig macht. Denn was Jener 
gedacht hat, hätte der Leser, bei einiger Bemühung, 
allenfalls auch denken können : es sind nämlich eben 
vernünftige Gedanken, nähere Auseinandersetzungen 
des im Thema implicite Enthaltenen. Aber dadurch 
kommt keine wirklich neue Erkenntniss in die Welt: 
diese wird nur im Augenblick der Anschauung, der 
unmittelbaren Auffassung einer neuen Seite der Dinge, 
erzeugt. Wo daher, im Gegentheil, dem Denken eines 
Autors ein Schauen zum Grunde lag; da ist es, als 
schriebe er aus einem Lande, wo der Leser nicht auch 
schon gewesen ist; da ist Alles frisch und neu: denn 
es ist aus der Urquelle aller Erkenntniss unmittelbar 
geschöpft. Ich will den hier berührten Unterschied 
durch ein ganz leichtes imd einfaches Beispiel erläu- 
tern. Jeder gewöhnliche Schriftsteller wird leicht das 
tiefsinnige Hinstarren, oder das versteinernde Er- 
staunen, dadurch schildern, dass er sagt: „Er stand 
88 
wie eine Bildsäule"; aber Cervantes sagt: „wie eine 
bekleidete Bildsäule: denn der Wind bewegte seine 
Kleider." (D. Quix., B. 6, Kap. 19.) Solcherniaassen 
haben alle grosse Köpfe stets in Gegenwart der ^An- 
schauung gedacht und den Blick unverwandt auf sie 
geheftet, bei ihrem Denken. Man erkennt dies, unter 
Anderin, daran, dass auch die heterogensten unter 
ihnen doch im Einzelnen so oft übereinstimmen und 
wieder zusammentreffen; weil sie eben Alle von der- 
selben Sache i-eden, die sie sämmtlich vor Augen 
hatten: die Welt, die anschauliche Wirklichkeit: ja, 
gewissermaassen sagen sie sogar alle das Selbe, und 
die Andern glauben ihnen nie. Man erkennt es ferner 
an dem Treffenden, Originellen, und der Sache stets 
genau Angepassten des Ausdrucks, weil ihn die iVn- 
schauung eingegeben hat, an dem ]Naiven der Aus- 
sagen, an der Neuheit der Bilder, und dem Schlagen- 
den der Gleichnisse, welches Alles, ohne Ausnahme, 
die Werke grosser Köpfe auszeichnet, denen der An- 
dern hingegen stets abgeht; weshalb diesen nur banale 
Redensarten und abgenutzte Bilder zu Gebote stehen 
und sie nie sich erlauben dürfen, naiv zu seyn, bei 
Strafe ihre Gemeinheit in ihrer traurigen Blosse zu 
zeigen: statt dessen sind sie preziös: Darum sagte 
Büjf'on : le style est Fhomme meme. Wenn die ge- 
wöhnlichen Köpfe dichten, haben sie einige traditio- 
nelle, ja konventionelle, also in abstracto überkom- 
mene Gesinnungen, Leidenschaften, noble Sentiments 
u. dgl., die sie den Helden ihrer Dichtungen unter- 
legen, welche hiedurch zu einer blossen Personifikation 
jener Gesinnungen werden, also gewissermaassen selbst 
schon Abstrakta und daher fade und langweilig sind. 
Wenn sie philosophiren, haben sie einige weite ab- 
strakte Begriffe überkommen, mit denen sie, als gelte 
es algebraische Gleichungen, hin und her werfen, und 
hoffen, es werde daraus etwas hervorgehen : höchstens 
sieht man, dass sie Alle das Selbe gelesen haben. Ein 
solches Hin- und Herwerfen mit abstrakten Begriffen, 
nach Art der algebraischen Gleichungen, welches man 
heut zu Tage Dialektik nennt, liefert aber nicht, wie 
die wirkliche Algebra, sichere Resultate; weil hier 
89 
der durch das Wort vertretene Begriff keine fest und 
genau bestimmte Grösse ist, wie die durch den Buch- 
staben der Algebra bezeichnete, sondern ein Schwan- 
kendes, Vieldeutiges, der Ausdehnung und Zusamnien- 
ziehung Fähiges. Genau genommen hat alles Denken, 
d. h. Kombiniren abstrakter Begriffe, höchstens Er- 
innefum/en aus dem fridier Angeschauten zum Stoff, 
und auch noch indirekt, sofern nämlich Dieses die 
Unterlage aller Begriffe ausmacht : ein wirkliches, d. h. 
unmittelbares Erkennen hingegen ist allein das An- 
schauen, das neue frische Percipiren selbst. Nun aber 
können die Begriffe, welche die Vernunft gebildet und 
das Gedächtniss aufbehalten hat, nie alle zugleich 
<lem Bewusstsevn gegenwärtig seyn, vielmehr nur eine 
sehr kleine Anzahl derselben zur Zeit. Hingegen die 
Energie, mit welcher die anschauliche Gegenwart, in 
der eigentlich immer das Wesentliche aller Dinge 
überhaupt virtualiter enthalten und repräsentirt ist, 
aufgefasst wird, erfüllt, mit ihrer ganzen Macht, das 
Bewusstseyn in Einem Moment. Hierauf beruht das 
unendliche Ueberwiegen des Genies über die Gelehr- 
samkeit: sie verhalten sich zu einander wie der Text 
des alten Klassikers zu seinem Kommentar. Wirklich 
liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der 
Anschauung. Aber leider lässt diese sich weder fest- 
halten, noch mittheilen : allenfalls lassen sich die ob- 
yeAfä'en Bedingungen dazu, durch die bildenden Künste 
und schon viel mittelbarer durch die Poesie, ge- 
reinigt und verdeutlicht den Andern vorlegen; aber 
sie beruht eben so sehr auf subjektiven Bedingungen, 
die nicht Jedem und Keinem jederzeit zu Gebote 
stehen, ja die, in den höhern Graden der Vollkommen- 
heit, nur die Begünstigun{j Weniger sind. Unbedingt 
mittheilbar ist nur die schlechteste Erkenntniss, die 
abstrakte, die sekundäre, der Begriff', der blosse Schat- 
ten eigentlicher Erkenntniss. Wenn Anschauimgen 
mittheilbar wären, da gäbe es eine der Mühe lohnende 
Mittheilung: so aber muss am Ende Jeder in seiner 
Haut bleiben und in seiner Hirnschaale, und Keiner 
kann dem Andern helfen. Den Begriff aus der An- 
schauung zu bereichern, sind Poesie und Philosophie 
90 
unablässijj bemüht. — Inzwischen sind die wesent- 
hchen Zwecke des Menschen pi^aktisch; für diese aber 
ist es hinreichend, dass das anschauhch Aufgefasste 
Spuren in ihm hinterlasst, vermöjje deren er es, beim 
nächsten ähnbchen Fall, wiedererkennt: so wird er 
wekkkig;. Daher kann der Wehmann, in der Regel, 
seine gesammelte Wahrheit und Weisheit nicht leh- 
ren, sondern bloss üben: er fasst jedes Vorkommende 
richtig auf und beschliesst, was demselben gemäss 
ist. — Dass Bücher nicht die Erfahrung, und Gelehr- 
samkeit nicht das Genie ersetzt, sind zwei verwandte 
Phänomene: ihr gemeinsamer Grund ist, dass das Ab- 
strakte nie das Anschauliche ersetzen kann. Bücher 
ersetzen darum die Erfahrung nicht, weil Begriffe 
stets allgemein bleiben und daher auf das Einzelne, 
welches doch gerade das im Leben zu Behandelnde 
ist, nicht herab gelangen: hiezu kommt, dass alle Be- 
griffe eben aus dem Einzelnen und Anschaulichen der 
Erfahrung abstrahirt sind, daher man dieses schon 
kennen gelernt haben muss, um auch nur das All- 
gemeine, welches die Bücher mittheilen, gehörig zu 
verstehen. Gelehrsamkeit ersetzt das Genie nicht, weil 
auch sie bloss Begriffe liefert, die geniale Erkenntnis^ 
aber in der Auffassung der (Platonischen) Ideen der 
Dinge besteht, daher wesentlich intuitiv ist. Beim 
ersten Phänomen fehlt demnach die objektive Be- 
dingung zur anschauenden Erkenntniss; beim zweiten 
die subjektive: ]^ex\e lässt sich erlangen; diese nicht. 
Weisheit und Genie, diese zwei Gipfel des Parnassus 
menschlicher Erkenntniss, wurzeln nicht im abstrak- 
ten, diskursiven, sondern im anschauenden Vermögen. 
Die eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht 
etwas Abstraktes. Sie besteht nicht in Sätzen und Ge- 
danken, die Einer als Resultate fremder oder eigener 
Forschung im Kopfe fertig herumtrüge: sondern sie 
ist die ganze Art, wie sich die Welt in seinem Kopfe 
darstellt. Diese ist so höchst verschieden, dass dadurch 
der Weise in einer andern Welt lebt, als der Thor, 
und das Genie eine andere Welt sieht, als der Stumpf- 
kopf. Dass die Werke des Genies die aller Andern 
himmelweit übertreffen, kommt bloss daher, dass die 
9» 
Welt, die es sieht und der es seine Aussagen entnimmt, 
so viel klarer, gleichsam tiefer herausgearbeitet ist, 
als die in den Köpfen der Andern, welche freilich die 
selben Gegenstände enthält, aber zu jener sich verhält, 
wie ein Chinesisches Bild, ohne Schatten und Perspek- 
tive, zum vollendeten Oelgemälde. Der Stoff ist in al- 
len Köpfen der selbe; aber in der Vollkommenheit der 
Form, die er in jedem annimmt, liegt der Unterschied, 
auf welchem die so vielfache Abstufung der Intelli- 
genzen zuletzt beruht: dieser ist also schon in der 
Wurzel, in der anschauenden Auffassung, vorhanden 
und entsteht nicht erst im Abstrakten. Daher eben 
zeigt die ursprüngliche geistige Ueberlegenheit sich so 
leicht bei jedem Anlass, und wird augenblicklich den 
Andern fühlbar und verhasst. 
Im Praktischen vermag die intuitive Erkenntniss 
des Verstandes unser Thun und Benehmen unmittel- 
bar zu leiten, während die abstrakte der Vernunft es 
nur unter Vermittelung des Gedächtnisses kann. Hier- 
aus entspringt der Vorzug der intuitiven Erkenntniss 
für alle die Fälle, die keine Zeit zur Ueberlegung ge- 
statten, also für den täglichen Verkehr, in welchem 
eben deshalb die Weiber excellieren. Nur wer das 
Wesen der Menschen, wie sie in der Regel sind, in- 
tuitiv erkannt hat und eben so die Individualität des 
gegenwärtigen Einzelnen auffasst, wird diesen mit 
Sicherheit und richtig zu behandeln verstehen. Ein 
Anderer mag alle dreihundert Klugheitsregeln des 
Gracian auswendig wissen; dies wird ihn nicht vor 
Balourdisen und Missgriffen schützen, wenn jene in- 
tuitive Erkenntniss ihm abgeht. Denn alle abstrakte 
Erkenntniss giebt zuvörderst bloss allgemeine Gnmd- 
sätze und Regeln; aber der einzelne Fall ist fast nie 
genau nach der Regel zu{jeschnitten: sodann soll diese 
nun erst das Gedächtniss zu rechter Zeit vergegen- 
wärtigen; was selten pünktlich geschieht: dann soll 
aus dem vorliegenden Fall die propositio minor ge- 
bildet und endlich die Konklusion gezogen werden. 
Ehe das Alles geschehen, wird die Gelegenheit uns 
meistens schon das kahle Hinterhaupt zugekehrt haben, 
und dann dienen jene trefflichen Grundsätze und 
92 
Regeln höchstens, uns hinterher die Grösse des be- 
gangenen Fehlers ermessen zu lassen. Freilich wird 
hieraus, mittelst Zeit, Erfahrung und Uebung, die 
Weltklugheit langsam erwachsen; weshalb, in Ver- 
bindung mit diesen, die Regeln in abstracto allerdings 
fruchtbar werden können. Hingegen die intuitive Et'~ 
kenntniss, welche stets nur das Einzelne auffasst, steht 
in unmittelbarer Beziehung zum gegenwärtigen Fall; 
Regel, Fall und Anwendung ist für sie Eins, und 
diesem folgt das Handeln auf den Fuss. Hieraus er- 
klärt sich, warum, im wirklichen Leben, der Gelehrte, 
dessen Vorzug im Reich thum abstrakter Erkenntnisse 
liegt, so sehr zurücksteht gegen den Weltmann, dessen 
Vorzug in der vollkommenen intuitiven Erkenntniss 
besteht, die ihm ursprüngliche Anlage verliehen und 
reiche Erfahrung ausgebildet hat. Immer zeigt sich 
zwischen beiden Erkenntnissweisen das Verhältniss 
des Papiergeldes zum haaren: wie jedoch für manche 
Fälle und Angelegenheiten jenes diesem vorzuziehen 
ist; so giebt es auch Dinge und Lagen, für welche die 
abstrakte Erkenntniss brauchbarer ist, als die intuitive. 
Wenn es nämlich ein Begriff ist, der, bei einer Ange- 
legenheit, unser Thun leitet; so hat er den Vorzug, 
ein Mal gefasst, unveränderlich zu seyn; daher wir, 
unter seiner Leitung, mit vollkommener Sicherheit 
und Festigkeit zu Werke gehen. Allein diese Sicher- 
heit, die der Begriff auf der subjektiven Seite ver- 
leiht, wird aufgewogen durch die auf der objektiven 
Seite ihn begleitende Unsicherheit: nämlich der ganze 
Begriff kann falsch und grundlos seyn, oder auch das 
zu behandelnde Objekt nicht unter ihn gehören, in- 
dem es gar nicht, oder doch nicht ganz seiner Art 
wäre. Werden wir nun, im einzelnen Fall, so etwas 
plötzlich inne; so sind wir aus der Fassung gebracht: 
werden wir es nicht inne; so lehrt es der Erfolg. Da- 
her sagt Vauvenargue: Personne n'est sujet ä plus de 
fautes, que ceux qui n'agissent que par reflexion. — 
Ist es hingegen unmittelbar die Anschauung der zu be- 
handelnden Objekte und ihrer Verhältnisse, die unser 
Thun leitet ; so schwanken wir leicht bei jedem Schritt : 
deim die Anschauung ist durchweg modifikabel, ist 
93 
zwcideiitifj, hat iinerscliöj)! liehe Einzelheiten in sich, 
und zei{jt viele Seiten nach einander: wir handeln da- 
her ohne volle Zuversicht. Allein die subjektive Un- 
sicherheit wird durch die objektive Sicherheit kom- 
pensirt: denn hier steht kein Begriff zwischen dem 
Objekt und uns, wir verlieren dieses nicht aus dem 
Auge: wenn wir daher nur richtig sehen, was wir vor 
uns haben und was wir thun; so werden wir das 
Rechte treffen. — Vollkommen sicher ist demnach 
unser Thun nur dann, wann es von einem Begriffe 
geleitet wird, dessen richtiger Grund, Vollständigkeit 
und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall völlig 
gewiss ist. Das Handeln nach Begriffen kann in Pe- 
danterie, das nach dem anschaulichen Eindruck in 
Leichfertigkeit und Thorheit übergehen. 
Die Anschauung ist nicht nur die Quelle aller Er- 
kenntniss, sondern sie selbst ist die Erkenntniss xax 
e^o)(7]v, ist allein die unbedingt wahre, die ächte, die 
ihres Namens vollkommen würdige Erkenntniss: denn 
sie allein ertheilt eigentliche Einsicht^ sie allein wird 
vom Menschen wirklich assimilirt, geht in sein Wesen 
über und kann mit vollem Grunde sein heissen; wäh- 
rend die Begriffe ihm bloss ankleben. Im vierten Buche 
sehen wir sogar die Tugend eigentlich von der an- 
schauenden Erkenntniss ausgehen : denn nur die Hand- 
lungen, welche unmittelbar durch diese hervorgerufen 
werden, mithin aus reinem Antriebe unserer eigenen 
Natur geschehen, sind eigentliche Symptome unseres 
wahren und unveränderlichen Charakters; nicht so 
die, welche aus der Reflexion und ihren Dogmen her- 
vorgegangen, dem Charakter oft abgezwungen sind, 
und daher keinen unveränderlichen Grund und Boden 
in uns haben. Aber auch die fVeisheit^ die wahre Le- 
bensansicht, der richtige Blick und das treffende Ur- 
theil, gehen hervor aus der Art, wie der Menseh die 
anschauliche Welt auffasst; nicht aber aus seinem 
blossen Wissen, d. h. nicht aus abstrakten Begriffen. 
Wie der F'onds oder Grundgehalt jeder W^issenschaft 
nicht in den Beweisen, noch in dem Bewiesenen be- 
steht, sondern in dem Unbewiesenen, auf welches die 
Beweise sich stützen und welches zuletzt nur anschau- 
94 
lieh erfasst wird ; so besteht auch der Fonds der eigent- 
hchen Weisheit und der wirkHchen Einsicht jedes 
Menschen nicht in den Begriffen und dem Wissen in 
abstracto, sondern in dem Angeschauten und dem Gra- 
de der Schärfe, Richtigkeit und Tiefe, mit dem er es 
aufgefasst hat. Wer hierin excellirt, erkennt die (Pla- 
tonischen) Ideen der Welt und des Lebens: jeder P'all, 
den er gesehen, repräsentirt ihm unzähhge; er fasst 
immer mehr jedes Wesen seiner wahren Natur nach 
auf, und sein Thun, wie sein Urtheil, entspricht seiner 
Einsicht. Allmähg nimmt auch sein Anthtz den Aus- 
druck des richtigen Bhckes, der wahren Vernünftig- 
keit und, wenn es weit kommt, der Weisheit an. Denn 
die Ueberlegenheit in der anschauenden Erkenntniss 
ist es allein, die ihren Stämpel auch den Gesichtszügen 
aufdrückt; während die in der abstrakten dies nicht 
vermag. Dem Gesagten gemäss finden wir unter allen 
Ständen Menschen von intellektueller Ueberlegenheit, 
und oft ohne alle Gelehrsamkeit. Denn natürlicher 
Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, 
aber keine Bildung den natürlichen Verstand. Der 
Gelehrte hat vor Solchen allerdings einen Reichthum 
von Fällen und Thatsachen (historische Kenntniss) 
und Kausalbestimmungen (Naturlehre), Alles in wohl- 
geordnetem, übersehbarem Zusammenhange, voraus : 
aber damit hat er doch noch nicht die richtigere und 
tiefere Einsicht in das eigentlich Wesentliche aller 
jener Fälle, Thatsachen und Kausalitäten. Der Unge- 
lehrte von Scharfblick und Penetration weiss jenes 
Reichthums zu entraten : mit Vielem hält man Haus, 
mit Wenig kommt man aus. Ihn lehrt Ein Fall aus 
eigener Erfahrung mehr, als manchen Gelehrten tau- 
send Fälle, die er kennt, aber nicht eigentlich versteht: 
denn das wenige Wissen jenes Ungelehrten ist leben- 
dig; indem jede ihm bekannte Thatsache durch rich- 
tige und wohlgefasste Anschauung belegt ist, wodurch 
dieselbe ihm tausend ähnliche vertritt. Hingegen ist 
das viele Wissen der gewöhnlichen Gelehrten todt\ 
weil es, wenn auch nicht, wie oft der Fall ist, aus blos- 
sen Worten, doch aus lauter abstrakten Erkenntnissen 
besteht: diese aber erhalten ihren Werth allein durch 
95 
die anschauliche Erkenntniss des Individuums, auf 
die sie sich beziehen, und die zuletzt die sämmtlichen 
BejTiiffe reahsiren niuss. Ist nun diese sehr dürftig; 
so ist ein solcher Kopf heschaffen, wie eine Bank, deren 
Assignationenden haaren Fonds zehnfach übersteigen, 
wodurch sie zuletzt bankrott wird. Daher, während 
manchem Ungelehrten die richtige Auffassung der 
anschaulichen Welt den Stämpel der Einsicht und 
Weisheit auf die Stirne gedrückt hat, trä{jt das Gesicht 
manches Gelehrten von seinen vielen Studien keine 
anderen Spuren, als die der Erschöpfung und Abnut- 
zung, durch übermassige, erzwungene Anstrengung 
des Gedächtnisses zu widernatürlicher Anhäufung 
todter Begriffe: dabei sieht ein solcher oft so einfältig, 
albern und schaafmässig darein, dass man glauben 
muss, die übermässige Anstrengimg der dem Abstrak- 
ten zugewendeten, mittelbaren Erkenntnisskraft be- 
wirke direkte Schwächung der unmittelbaren und an- 
schauenden, und der natürliche, richtige Blick werde 
durch das Bücherlicht mehr und mehr geblendet. Aller- 
dings muss das fortwährende Einströmen fremder 
Gedanken die eigenen hemmen und ersticken, ja, auf 
die Länge, die Denkkraft lähmen, wenn sie nicht den 
hohen Grad von Elasticität hat, welche jenem un- 
natürlichen Strom zu widerstehen vermag. Daher ver- 
dirbt das unaufhörliche Lesen und Studiren geradezu 
den Kopf; zudem auch dadurch, dass das System un- 
serer eigenen Gedanken und Erkenntnisse seine Ganz- 
heit und stetigen Zusammenhang einbüsst, wenn wir 
diesen so oft willkürlich unterbrechen, um für einen 
ganz fremden Gedankengang Raum zu gewinnen. 
Meine Gedanken verscheuchen, um denen eines Buches 
Platz zu machen, käme mir vor, wie was Shakespeare 
an den Touristen seiner Zeit tadelt, dass sie ihr eigen 
Land verkaufen, um Anderer ihres zu sehen. Jedoch 
ist die Lesewuth der meisten Gelehrten eine Art fuga 
vacui der Gedankenleere ihres eigenen Kopfes, welche 
nun das Fremde mit Gewalt hereinzieht: um Gedan- 
ken zu haben, müssen sie welche lesen, wie die leb- 
losen Körper nur von aussen Bewegung erhalten; 
während die Selbstdenkcr den lebendigen gleichen, 
96 
die sich von selbst bewegen. Es ist sogar gefährlich, 
früher über einen Gegenstand zu lesen, als man selbst 
darüber nachgedacht hat. Denn da schleicht sich mit 
dem neuen Stoff zugleich die fremde Ansicht und Be- 
handlung desselben in den Kopf, und zwar um so mehr, 
als Trägheit und Apathie anrathen, sich die Mühe 
des Denkens zu ersparen und das fertige Gedachte 
anzunehmen und gelten zu lassen. Dies nistet sich 
jetzt ein, und fortan nehmen die Gedanken darüber, 
gleich den in Gräben geleiteten Bächen, stets den ge- 
wohntenWeg: einen eigenen, neuen zu finden ist dann 
doppelt schwer. Dies trägt viel bei zum Mangel an 
Originalität der Gelehrten. Dazu kommt aber noch, 
dass sie vermeinen, gleich anderen Leuten, ihre Zeit 
zwischen Genuss und Arbeit theilen zu müssen. Nun 
halten sie das Lesen für ihre Arbeit und eigentlichen 
Beruf, überfressen sich also daran, bis zur Unverdau- 
lichkeit. Da spielt nun nicht mehr bloss das Lesen 
dem Denken das Prävenire, sondern nimmt dessen 
Stelle ganz ein: denn sie denken an die Sachen auch 
gerade nur so lange, wie sie darüber lesen, also mit 
einem freinden Kopf, nicht mit dem eigenen. Ist aber 
das Buch weggelegt, so nehmen ganz andere Dinge 
ihr Interesse viel lebhafter in Anspruch, nämlich per- 
sönliche Angelegenheiten, sodann Schauspiel, Karten- 
spiel, Kegelspiel, Tagesbegebenheiten und Geklatsch. 
Der denkende Kopf ist es dadurch, dass solche Dinge 
kein Interesse für ihn haben, wohl aber seine Probleme, 
denen er daher überall nachhängt, von selbst und ohne 
Buch: dies Interesse sich zu geben, wenn man es nicht 
hat, ist unmöglich. Daran liegt's. Und daran liegt es 
auch, dass Jene immer nur von Dem reden, was sie 
gelesen, er hingegen von Dem, was er gedacht hat, 
und dass sie sind, wie Pope sagt: 
For ever reading, ncver to be read*). 
Der Geist ist seiner Natur nach ein Freier, kein 
Fröhnling: nur was er von selbst und gern thut, geräth. 
Hingegen erzwungene Anstrengung eines Kopfes, zu 
Studien, denen er nicht gewachsen ist, oder wann er 
*) Beständig lesend, um nie gelesen zu werden. 
7 Schopenhauer II 97 
müde {geworden, oder überhaupt zu anhaltend und 
invita Minerva, stumpft das Gehirn so ab, wie Lesen im 
Mondschein die Augen. Ganz besonders thut dies auch 
die Anstrengung des noch unreifen Gehirns, in den frü- 
hen Kinder Jahren : ich glaube, dass das Erlernen der La- 
teinischen und Griechischen Grammatik vom sechsten 
bis zum zwölften Jahre den Grund legt zur nachheri- 
gen Stumpfheit der meisten Gelehrten. Allerdings be- 
darf der Geist der Nahrung, des Stoffes von aussen. 
Aber wie nicht Alles was wir essen dem Organismus 
sofort einverleibt wird, sondern nur sofern es verdaut 
worden, wobei nur ein kleiner Theil davon wirklich 
assimilirt wird, das Uebrige wieder abgeht, weshalb 
mehr essen als man assimiliren kann, unnütz, ja S(;liäd- 
hch ist; gerade so verhält es sich mit dem was wir 
lesen: nur sofern es Stoff zum Denken giebt, vermehrt 
es unsere Einsicht und eigentliches Wissen. Daher 
sagte schon HeraJdeitos TroXufxaOia vouv ou Sioaoxet 
(multiscitia non dat intellectum): mir aber scheint 
die Gelehrsamkeit mit einem schweren Harnisch zu 
vergleichen, als welcher allerdings den starken Mann 
völlig unüberwindlich macht, hingegen dem Schwa- 
chen eine Last ist, unter der er vollends zusammen- 
sinkt. — 
Die in unserm dritten Buch ausgeführte Darstellung 
der Erkenntniss der (Platonischen) Ideen, als der höch- 
sten dem Menschen erreichbaren und zugleich als einer 
durchaus anschauenden, ist uns ein Beleg dazu, dass 
nicht im abstrakten Wissen, sondern in der richtigen 
und tiefen anschaulichen Auffassung der Welt die 
Quelle wahrer Weisheit liegt. Daher auch können 
Weise in jeder Zeit leben, und dieder Vorzeit bleiben 
es für alle kommenden Geschlechter: Gelehrsamkeit 
hingegen ist relativ: die Gelehrten der Vorzeit sind 
meistens Kinder gegen uns und bedürfen der Nachsicht. 
Dem aber, der studirt, um Einsicht zu erlangen, sind 
die Bücher und Studien bloss Sprossen der Leiter, auf 
der er zum Gipfel der Erkenntniss steigt: sobald eine 
Sprosse ihn um einen Schritt gehoben hat, lässtersie 
liegen. Die Vielen hingegen, welche studiren, um ihr 
Gedächtniss zu füllen, benutzen nicht die Sprossea 
98 
der Leiter zum Steigen, sondern nehmen sie ab und 
laden sie sich auf, um sie mitzunehmen, sich freuend 
an der zunehmenden Schwere der Last. Sie bleiben 
ewig unten, da sie Das tragen, was sie hätte ti^agen 
sollen. 
Auf der hier auseinandergesetzten Wahrheit, dass 
der Kern aller Erkenntniss die anschauende Auffassung 
ist, beruht auch die richtige und tiefe Bemerkung des 
Helvetius, dass die wirklich eigenthümlichen und origi- 
nellen Grundansichten, deren ein begabtes Individuum 
fähig ist, und deren Verarbeitung, Entwickelung und 
mannichfaltige Benutzung alle seine, wenn auch viel 
später geschaffenen Werke sind, nur bis zum fünfund- 
dreissigsten, spätestens vierzigsten Lebensjahre in ihm 
entstehen, ja, eigentlich die Folge der in frühester 
Jugend gernachten Kombinationen sind. Denn sie sind 
eben nicht blosse Verkettungen abstrakter Begriffe, 
sondern die ihm eigene intuitive Auffassung der ob- 
jektiven Welt und des Wesens der Dinge. Dass nun 
diese bis zu dem angegebenen Alter ihr Werk vollendet 
haben muss, beruht theils darauf, dass schon bis dahin 
die Ektypen aller (Platonischen) Ideen sich ihm dar- 
gestellt haben, daher später keine mehr mit der Stärke 
des ersten Eindrucks auftreten kann ; theils ist eben 
zu dieser Quintessenz aller Erkenntniss, zu diesen Ab- 
drücken avant la lettre der Auffassung, die höchste 
Energie derGehirnthätigkeit erfordert, welche bedingt 
ist durch die Frische und Biegsamkeit seiner Fasern 
und durch die Heftigkeit, mit der das arterielle Blut 
zum Gehirn strömt: diese aber ist am stärksten nur 
so lange das arterielle System über das venöse ein 
entschiedenes Uebergewicht hat, welches schon mit 
den ersten dreissiger Jahren abnimmt, bis endlich 
nach dem zwei und vierzigsten Jahre das venöse System 
das Uebergewicht erhält; wie dies Cahanis vortrefflich 
und belehrend auseinandergesetzt hat. Daher sind die 
zwanziger und die ersten dreissiger Jahre für den In- 
tellekt was der Mai für die Bäume ist: nur jetzt setzen 
sich dieBlüthen an, deren Entwickelung alle späteren 
Früchte sind. Die anschauliche W^elt hat ihren Ein- 
druck gemacht und dadurch den Fonds aller folgenden 
7* 99 
Gedanken des Individuums gegründet. Dieses kann 
durch Nachdenken das Aufgefasste sich verdeuthchen, 
es kann noch viele Kenntnisse erwerhen, als Nahrung 
der ein Mal angesetzten Frucht, es kann seine An- 
sichten erweitern, seine Begriffe und Urtheile berich- 
tigen, durch endlose Kombinationen erst recht Herr 
des erworbenen Stoffes werden, ja, seine besten Werke 
wird es meistens viel später produciren, aber neue Ur- 
erkenntnisse, aus der allein lebendigen Quelle der An- 
schauung, hat es nicht mehr zu hoffen. Im Gefühl 
hievon bricht Byron in die wunderschöne Klage aus: 
No more — no more — Oh ! never more on me 
The freshness of the heart can fall like dew, 
Which out of all the lovely things we see 
Extracts emotions beautiful and new, 
Hived in our bosoms like the bag o' the bee : 
Thinkst thou the honey with those objects grew? 
Alas! 'twas noth in them, but in thy power 
To double even the sweetness of a flower*). 
Durch alles Bisherige hoffe ich die wichtige Wahr- 
heit in helles Licht gestellt zu haben, dass alle abstrakte 
Erkenntniss, wie sie aus der anschaul ichen entsprungen 
ist, auch allen W^erth allein durch ihre Beziehung auf 
diese hat, also dadurch, dass ihre Begriffe, oder deren 
Theilvorstelhmgen, durch Anschauungen zu realisiren, 
d. h. zu belegen sind; imgleichen, dass auf die Quali- 
tät dieser Anschauungen das Meiste ankommt. Be- 
griffe und Abstraktionen, die nicht zuletzt auf An- 
schauungen hinleiten, gleichen Wegen im Walde, die 
ohne Ausgang endigen. Begriffe haben ihren grossen 
Nutzen dadurch, dass mittelst ihrer der ursprüngliche 
Stoff der Erkenntniss leichter zu handhaben, zu über- 
sehen und zu ordnen ist: aber so vielfältige, logische 
*) Nicht mehr, — nicht mehr, — o nimmermehr auf mich, 
Kann, gleich dem Thau, des Herzens Frische fallen. 
Die aus den liolden Dingen, die wir sehn, 
Gefühle auszieht, neu und wonnevoll: 
Die Brust bewahrt sie, wie die Zell' den Honig. 
Denkst du, der Honig sei der Dinge Werk? 
Ach nein, nicht sie, nur deine eig'ne Kraft 
Kann selbst der Blume Süssigkeit verdoppeln. 
lOO 
und dialektische Operationen mit ihnen auch möghch 
sind; so wird aus diesen doch nie eine ganz ursprüng- 
hehe und neue Erkenntniss hervorgehen, d. h. eine 
solche, deren Stoff nicht schon in der Anschauung 
läge, oder auch aus dein Selbstbewusstseyn geschöpft 
wäre. Dies ist der wahre Sinn der dem Aristoteles zu- 
geschriebenen Lehre nihil est in intellectu, nisi quod 
antea fuerit in sensu: es ist ebenfalls der Sinn der 
Locke'schen Philosophie, welche dadurch, dass sie die 
Frage nach dem Ursprung unserer Erkenntnisse end- 
lich ein Mal ernstlich zur Sprache brachte, für immer 
Epoche in der Philosophie macht. Es ist, in der Haupt- 
sache, auch was die Kritik der reinen Vernunft lehrt. 
Auch sie nämlich will, das man nicht bei den Begrif- 
fen stehen bleibe, sondern auf den Urspiung derselben 
zurückgehe, also auf die uänschauung-^ nur noch mit 
dem wahren und wichtigen Zusatz, dass was von der 
Anschauung selbst gilt, sich auch auf die subjekti- 
ven Bedingungen derselben erstreckt, also auf die For- 
men, welche im anschauenden und denkenden Gehirn, 
als seine natürlichen Funktionen, prädisponirt liegen; 
obgleich diese wenigstens virtualiter der wirklichen 
Sinnesanschauung vorhergängig, d. h. a priori sind, 
also nicht von dieser abhängen, sondern diese von 
ihnen : denn auch diese Formen haben ja keinen andei'n 
Zweck, noch Tauglichkeit, als auf eintretende Anre- 
gung der Sinnesnerven die empirische Anschauung 
hervorzubringen; wie aus dem Stoffe dieser, andere 
Formen nachmals Gedanken in abstracto zu bilden 
bestimmt sind. Die Kritik der reinen Vernunft verhält 
sich daher zur Locke'schen Philosophie wie die Ana- 
lysis des Unendlichen zur Elementargeometrie; ist 
jedoch durchaus als Fortsetzung der Locke'schen Phi- 
losophie zu betrachten. — Der gegebene Stoff jeder 
Philosophie ist demnach kein anderer, als das empiri- 
sche Bewusstsejn, welches in das Bewusstseyn des ei- 
genen Selbst (Selbstbewusstseyn) und in das Bewusst- 
seyn anderer Dinge (äussere Anschaviung) zerfällt. 
Denn dies allein ist das Unmittelbare, das wirklich 
Gegebene. Jede Philosophie, die, statt hievon auszu- 
gehen, beliebig gewählte abstrakte Begriffe, wie z. B. 
101 
ALsolutiim,absolnteSubstanz,Gott, Unendliches, End- 
liches, absolute Identität, Seyn, Wesen u. s. w. u. s. w. 
zum Aus{5;an{jspunkt nimmt, schwebt ohne Anhalt in 
der Luft, kann daher nie zu einem wirklichen Er^^jeh- 
niss führen. Dennoch haben Philosophen zu allen 
Zeiten es mit derjjleichen versucht; daher so{jar/!ran^ 
bisweilen, nach her^jehrachter Weise und mehr aus 
Gewohnheit, als aus Konsequenz, die Philosophie als 
eine Wissenschaft aus blossen Begriffen dehnirt. Eine 
solche aber würde eigentlich unternehmen, aus blossen 
Theilvorstellungen (denn das sind die Abstraktionen) 
herausbringen, was in den vollständigen Vorstellungen 
(den Anschauungen), daraus jene, durch Weglassen, 
abgezogen sind, nicht zu finden ist. Die Möglichkeit 
der Schlüsse verleitet hiezu, weil hier die Zusammen- 
fügung der ürtheile ein neues Resultat giebt; wiewohl 
mehr scheinbar als wirklich, indem der Schluss nur 
heraushebt, was in den gegebenen Urtheilen schon 
lag; da ja die Konklusion nicht mehr enthalten kann, 
als die T^rämissen. Begriffe sind freilich das Material 
der Philosophie, aber nur so, wie der Marmor das Ma- 
terial des Bildhauers ist: sie soll nicht mts ihnen, son- 
dern in sie arbeiten, d. h. ihre Resultate in ihnen nie- 
derlegen, nicht aber von ihnen, als dem Gegebenen 
ausgehen. Wer ein recht grelles Beispiel eines solchen 
verkehrten xVusgehens von blossen Begriffen haben 
will, betrachte die Institutio theologica des /VoA/o.v, 
um sich das Nichtige jener ganzen Methode zu ver- 
deutlichen. Da werden Abstrakta, wie ev, 7rXr,{^oc, aya- 
dov, irapa^ov xai 7rapoiYO[jLSvov, auTdoxe?, aiTiov, xpeiirov, 
xivTjTov, axivTjTov, xivoujjLSvov (unum, multa, bonum, pro- 
ducens et productum, sibi sufficiens, causa, melius, 
mobile, inunobile, motum) u. s. w. aufgerafft, aber 
die Anschauungen, denen allein sie ihren Ursprung 
und allen Gehalt verdanken, ignorirt und darüber 
vornehm weggesehen : dann wird aus jenen Begiiffen 
eine Theologie konstruirt, wobei das Ziel, der Oeo?, 
verdeckt gehalten, also scheinbar ganz unbefangen 
verfahren wird, als wüsste nicht, schon beim ersten 
Blatt, der Leser, so {jut wie der Autor, wo das Alles 
hinaussoll. Ein Bruchstück davon habe ich bereits oben 
102 
angeführt. Wirklich ist dies Produkt des Proklos ganz 
besonders geeignet, deuthch zu machen, wie ganz un- 
tauglich und illusorisch dergleichen Kombinationen 
abstrakter Begriffe sind, indem sich daraus machen 
lässt, was Einer will, zumal wenn er noch dazu die 
Vieldeutigkeit mancher Worte benutzt, wie z. B. xpsit- 
Tov. Bei persönlicher Gegenwart eines solchen Begriffs- 
architekten brauchte man nur naiv zu fragen, wo denn 
alle die Dinge seien, von denen er so Vieles zu be- 
richten hat, und woher er die Gesetze, aus denen er 
seine sie betreffenden Folgerungen zieht, kenne? Da 
würde er denn bald genöthigt seyn, auf die empirische 
Anschauung zu verweisen, in der ja allein die reale 
Welt sich darstellt, aus welcher jene Begriffe geschöpft 
sind. Alsdann hätte man nur noch zu fragen, warum 
er nicht ganz ehrlich von der gegebenen Anschauung 
einer solchen Welt ausgienge, wo er bei jedem Schritt 
seine Behauptungen durch sie belegen könnte, statt 
mit Begriffen zu operiren, die doch allein aus ihr ab- 
gezogen sind und daher weiter keine Gültigkeit haben 
können, als die, welche sie ihnen ertheilt. Aber frei- 
lich, das ist eben sein Kunststück, dass er durch solche 
Begriffe, in denen, vermöge der Abstraktion, als ge- 
trennt gedacht wird was unzertrennlich, und als ver- 
eint was unvereinbar ist, weit über die Anschauung, 
die ihnen den Ursprung gab und damit über die Grän- 
zen ihrer Anwendbarkeit hinausgeht zu einer ganz 
andern Welt, als die ist, welche den Baustoff hergab, 
aber eben deshalb zu einer Welt von Hirngespinnsten. 
Ich habe hier den Pi-oklos angeführt, weil eben bei 
ihm dies Verfahren, durch die unbefangene Dreistig- 
keit, mit der es durchgeführt ist, besonders deutlich 
wird: aber auch beim Plato findet man einige, wenn 
gleich minder grelle Beispiele der Art, und überhaupt 
liefert die philosophische Litteratur aller Zeiten eine 
Menge dergleichen. Die der unserigen ist reich daran : 
man betrachte z. B. die Schriften der Schelling' sehen 
Schule und sehe die Konstruktionen, welche aufgebaut 
werden aus Abstraktis wie Endliches, Unendliches, — 
Seyn, Nichtseyn, Andersseyn, — Thätigkeit, Hem- 
mung, Produkt, — Bestimmen, Bestimmt werden, Be- 
I o3 
stimmtheit, — Grunze, Hejjränzen, Bcgränztseyn, — 
Einheit, Vielheit, Manni{jfakigkeit, — Identität, Di- 
versitat, hidifleren/, — Denken, Seyn, Wesen u. s. f. 
]Nicht nur (jilt von Konstruktionen aus solchem Ma- 
terial alles oben Gcsajjte; sondern, weil durch der- 
gleichen weite Abstrakta unendlich Vieles gedacht 
wird, kann in ihnen nur äusserst wenig gedacht werden : 
es sind leere Hülsen. Dadurch aber wird nun der Stofi" 
des ganzen Philosophirens erstaunlich gering und 
ärmlich, woraus jene unsägliche und marternde Lang- 
weiligkeit entsteht, die allen solchen Schritten eigen 
ist. Wollte ich nun gar an den Missbrauch erinnern, 
den Hegel und seine Gesellen mit dergleichen weiten 
und leeren Abstraktis getrieben haben; so müsste ich 
besorgen, dass dem Leser übel würde und mir auch: 
denn die allerekelhafteste Langweiligkeit schwebt über 
dem hohlen Wortkram dieser widerlichen Philoso- 
phaster. 
Dass ebenfalls in der ^raÄfiScAen Philosophie aus blos- 
sen abstrakten Begriffen keine Weisheit zu Tage geför- 
dert wird, ist wohl das Einzige, was zu lernen ist aus den 
moralischen Abhandlungen des Theologen Schleier- 
macher, mit deren Vorlesung derselbe, in einer Reihe 
von Jahren, die Berliner Akademie gelangweilt hat, 
und die jetzt kürzlich zusammengedruckt erschienen 
sind. Da werden zum Ausgangspunkt lauter abstrakte 
Begriffe genommen, wie Pflicht, Tugend, höchstes 
Gut, Sittengesetz u. dgl., ohne weitere Einführung, 
als dass sie eben in den Moralsystemen vorzukonunen 
pflegen, und werden nun behandelt als gegebene Re- 
alitäten. Ueber dieselben wird dann gar spitzfindig 
hin und her geredet, hingegen gar nie auf den Ur- 
sprung jener Begriffe, auf die Sache selbst losgegangen, 
auf das wirkliche Menschenleben, auf welches doch 
allein jene Begriffe sich beziehen, aus dem sie {;eschöpft 
seyn sollen, und mit dem es die Moral eigentlich zu 
thun hat. Gerade deshalb sind diese Diatriben eben so 
unfruchtbar und nutzlos, wie sie langweilig sind; wo- 
mit viel gesagt ist. Leute, wie diese nur {jar zu gern 
philosophirenden Theologen, findet man zu allen 
Zeiten, berühmt, während sie leben, nachher bald ver- 
/ 
io4 
gessen. Ich rathe hingegen lieber Die zu lesen, welchen 
es umgekehrt ergangen: denn die Zeit ist kurz luid 
kostbar. 
Wenn nun, allem hier Gesagten zufolge, weite, ab- 
strakte, zumal aber durch keine Anschauung zu reali- 
sirende Begriffe nie die Erkenntnissquelle, der Aus- 
gangspunkt, oder der eigentliche Stoff des Philosophi- 
rens seyn dürfen; so können doch bisweilen einzelne 
Resultate desselben so ausfallen, dass sie sich bloss in 
abstracto denken, nichtaber durch irgendeine Anschau- 
ung belegen lassen. Erkenntnisse dieser Art werden 
freilich auch nur halbe Erkenntnisse seyn; sie zeigen 
gleichsam nur den Ort an, wo das zu Erkennende liegt; 
aber es bleibt verhüllt. Daher soll man auch nur im 
äussersten Fall und wo man an den Gränzen der 
unsern Fähigkeiten möglichen Erkenntniss angelangt 
ist, sich mit dergleichen Begriffen begnügen. Ein Bei- 
spiel der Art wäre etwan der Begriffeines Seyns ausser 
der Zeit; desgleichen der Satz: die Unzerstörbarkeit 
unsers wahren Wesens durch den Tod ist keine Fort- 
dauer desselben. Bei Begriffen dieser Art wankt gleich- 
sam der feste Boden, der unser sämmtliches Erkennen 
trägt: das Anschauliche. Daher darf zwar bisweilen 
und im Nothfall das Philosophiren in solche Erkennt- 
nisse auslaufen, nie aber mit ihnen anheben. 
Das oben gerügte Operiren mit weiten Abstraktis, 
unter gänzlichem Verlassen der anschaulichen Er- 
kenntniss, aus der sie abgezogen worden und welcbe 
daher die bleibende, naturgemässe Kontrole derselben 
ist, war zu allen Zeiten die Hauptquelle der Irrthümer 
des dogmatischen Philosophirens. Eine Wissenschaft 
aus der blossen Vergleichung von Begriffen, also aus 
allgemeinen Sätzen aufgebaut, könnte nur dann sicher 
seyn, wenn alle ihre Sätze synthetische a priori wären, 
wie dies in der Mathematik der Fall ist: denn nur 
solche leiden keine Ausnahmen. Haben die Sätze hin- 
gegen irgend einen empirischen Stoff; so muss man 
diesen stets zur Hand behalten, um die allgemeinen 
Sätze zu kontroliren. Denn alle irgendwie aus der Er- 
fahrung geschöpften Wahrheiten sind nie unbedingt 
gewiss, haben daher nur eine approximative Allge- 
lo5 
mein{jültigkeit; weil hier keine Rejjel ohne Ausnahme 
gilt. Kette ich nun der{;leichen Satze, vermöge des In- 
einandergreifens ihrer Begriffsspharen, an einander; so 
wird leicht ein Begrilf den andern gerade da treffen, 
wo die Ausnahme liegt: ist eher dies im Verlauf einer 
langen Schlusskette auch nur ein einziges Mal gesche- 
hen ; so ist das ganze Gebäude von seinem Fundament 
losgerissen und schwebt in der Luft. Sage ich z. B. 
„die Wiederkäuer sind ohne vordere Schneidezähne", 
und wende dies und was daraus folgt auf die Kameele 
an; so wird Alles falsch: denn es gilt nur von den ge- 
hörnten Wiederkäuern. — Hieher gehört gerade was 
Kant das fernänfteln nennt und so oft tadelt: denn 
dies besteht eben in einem Subsumiren von Begriffen 
unter Begriffe, ohne Rücksicht auf den Ursprung der- 
selben, und ohne Prüfung der Richtigkeit und Aus- 
schliesslichkeit einer solcher Subsumtion, wodurch 
man dann, auf längerm oder kürzerm Umwege, zu 
fast jedem beliebigen Resultat, das man sich als Ziel 
vorgesteckt hatte, gelangen kann; daher dieses Ver- 
nünfteln vom eigentlichen Sophisticiren nur dem Gra- 
de nach verschieden ist. Nun aber ist, im Theoreti- 
schen, Sophisticiren eben das, was im Praktischen 
Schikaniren ist. Dennoch hat selbst Pinto sich sehr 
häufig jenes Vernünfteln erlaubt: Proklos hat, wie 
schon erwähnt, diesen Fehler seines Vorbildes, nach 
Weise aller Nachahmer, viel weiter getrieben. Dio- 
nysius Areopagita^ De divinis nominibus, ist ebenfalls 
stark damit behaftet. Aber auch schon in den Frag- 
menten des Eleaten Melissas finden wir deutliche Bei- 
spiele von solchem Vernünfteln (besonders §§. 2 — 5 
in Brandts Comment. Eleat.): sein V^erfahren mit den 
Begriffen, die nie die Realität, aus der sie ihren In- 
halt haben, berühren, sondern, in der Atmosphäre 
abstrakter Allgemeinheit schwebend, darüber hin- 
wegfahren, gleicht zum Schein gegebenen Schlägen, 
die nie treffen. Ein rechtes Muster von solchem Ver- 
nünfteln ist ferner des Philosophen Sallustius Büchel- 
chen De Diis et mundo, besonders c. c. 7, 12 et 17. 
Aber ein eigentliches Kabinetstück von philosophi- 
schem Vernünfteln, übergehend in entschiedenes So- 
I 06 
phisticiren, ist folgendes Räsonnement des Platonikers 
Maximus 7^/7 «/5, welches ich, da es kurz ist, hersetzen 
will. ,,Jede Ungerechtigkeit ist die Entreissung eines 
Guts: es giebt kein anderes Gut, als die Tugend: die 
Tugend aber ist nicht zu entreissen: also ist es nicht 
möglich, dass der Tugendhafte Ungerechtigkeit er- 
leide von dem Bösen. Nun bleibt übrig, dass entweder 
gar keine Ungerechtigkeit erlitten werden kann, oder 
dass solche der Böse von dem Bösen erleide. Allein 
der Böse besitzt gar kein Gut; da nur die Tugend ein 
solches ist: also kann ihm keines genommen werden. 
Also kann auch er keine Ungerechtigkeit erleiden. 
Also ist die Un(jerechtigkeit eine unmögliche Sache." — 
Das Original, durch Wiederholungen weniger koncis, 
lautet so: Aoixia eati acpaipeotc ayai^ou' to os aYotirov xi 
av £17] aXko 7] aperrj ; — tj 0£ apSTTj avacpaipsTov. Oux aSi- 
yrjosTai xoivuv 6 Trjv aps~7]v s/cuv, t] oux saxiv aoixta acpat- 
psaii; a'ea&ou" ouSev y^p rt:[a%rjv acpaipsxov, ouo' aTroßXrjxov, 
ouo' sXerov, ouoe Xrjtaxov. Etsv ouv, ouo' aBtxctxai 6 )(p7]oxo?, 
ouo' uTio xou [j,05({)T|pou' avacpaipsxo«; yap. yVeiTiexat xoivuv r^ 
jXTjOsva aotxsiabai xa&aTra^, t] xov fxoj({)7]pov uko xou ofxoiou" 
aXXa xtiiiJLO/&7]pu)ouo£vo; [xexeaxtv a^a^ou* tj os aSixta tjv 
aya^ou acpatpsoi';" o oö ix-i-j £)(a)V 6,xi acpaiosoöir), ouos eic, 6,xi 
aotx-ir]o^'i[],£j(£i.(Sermo a) Auch ein modernes Beispiel von 
solchen Beweisen aus abstrakten Begriffen, wodurch ein 
offenbar absurder Satz als Wahrheit aufgestellt wird, 
will ich noch hinzufügen und nehme es aus den Werken 
eines grossen Mannes, des Jordaniis Drunus. In seinem 
Buche Del Infinito, universo e mondi (vS. 87 der Aus- 
gabe von A. Wagner) lässt er einen Aristoteliker (mit 
Benutzung und Uebertreibung der Stelle f , 5 De coelo 
des Aristoteles) beweisen, dass jenseit der Welt kein 
Raum seyn könne. Die Welt nämlich sei eingeschlossen 
von der achten Sphäre des Aristoteles; jenseit dieser 
aber könne kein Raum mehr seyn. Denn: gäbe es jen- 
seit derselben noch einen Körper; so wäre dieser ent- 
weder einfach oder zusammengesetzt. Nun wird aus 
lauter erbetenen Principien sophistisch bewiesen, dass 
kein einfacher Körper daselbst seyn könne; aber auch 
kein zusammengesetzter: denn dieser müsste aus ein- 
fachen bestehen. Also ist daselbst überhaupt kein 
107 
Körper: — dann aber auch kein Baum. Denn der 
Raum wird deHnirt als „das, worin Körper seyn kön- 
nen": nun ist aber eben bewiesen, dass daselbst keine 
Körper seyn können. Also ist auch kein Raum da. Dies 
Letztere ist der Hauptstreicb dieses Beweises aus ab- 
strakten Begriffen. Im Grunde beruht er darauf", dass 
der Satz „wo kein Raum ist, können keine Körper 
seyn" als ein allgemein verneinender genommen und 
demnach simpliciter konvertirt wird: „wo keine Kör- 
per seyn können, da ist kein Raum". Aber jener Satz 
ist, genau betrachtet, ein allgemein bejahender, näm- 
lich dieser: ,, alles Raumlose ist körperlos": er darf 
also nicht simpliciter konvertirt werden. Jedoch lässt 
nicht jeder Beweis aus abstrakten Begriffen, mit einem 
Ergebniss, welches der Anschauung offenbar wider- 
streitet (wie hier die Endlichkeit des Raumes), sich 
auf so einen logischen Fehler zurückführen. Denn 
das Sophistische liegt nicht immer in der Form, son- 
dern oft in der Materie, in den Prämissen und in der 
Unbestimmtheit der Begriffe und ihresUmfangs. Hiezu 
finden sich zahlreiche Belege bei Spiiioza, dessen Me- 
thode es ja ist, aus Begriffen zu beweisen; man sehe 
z. B. die erbärmlichen Sophismen, in seiner Ethica, 
P. [V, prop. 29 — 3i, mittelst der Vieldeutigkeit der 
schwankenden Begriffe convenire und commune ha- 
bere. Doch verhindert Dergleichen nicht, dass den 
Neo-Spinozisten unserer Tage Alles, was er gesagt 
hat, als ein Evangelium gilt. Besonders sind unter 
ihnen die Hegelianer, deren es wirklich noch einige 
giebt, belustigend, durch ihre traditionelle Ehrfurcht 
vor seinem Satz omnis determinatio est negatio, bei 
welchem sie, dem scharlatanischen Geiste der Schule 
gemäss, ein Gesicht machen, als ob er die Welt aus den 
Angeln zu heben vermöchte; während man keinenHund 
damit aus dem Ofen locken kann ; indem auch der Ein- 
fältigste von selbst begreift,dass wenn ich,durch Bestim- 
mungen, etwas abgränze, ich eben dadurch das jenseit 
der Gränze Liegende ausschliesse und also verneine. 
Also an allen Vernünfteleien obiger Art wird recht 
sichtbar, welche Abwege jener Algebra mit blossen 
Begriffen, die keine Anschauung kontrolirt, offen 
108 
stehen, und dass mithin für unsern Intellekt die An- 
schauung das ist, was für unsern Leib der feste Boden, 
auf welchem er steht: verlassen wir jene, so ist Alles 
instabilis tellus, innabilis unda. Man wird dem Be- 
lehrenden dieser Auseinandersetzungen und Beispiele 
die Ausführlichkeit derselben zu Gute halten. Ich habe 
dadurch den grossen, bisher zu wenig beachteten Un- 
terschied, ja, Gegensatz zwischen dem anschauenden 
und dem abstrakten oder reflektirten Erkennen, dessen 
Feststellung ein Grundzug meiner Philosophie ist, her- 
vorheben und belegen wollen; da viele Phänomene 
unsers geistigen Lebens nur aus ihm erklärlich sind. 
Das verbindende Mittelglied zwischen jenen beiden 
so verschiedenen Erkenntnissweisen bildet, wie ich 
§. i4 des ersten Bandes*) dargethan habe, die Urtheils- 
kraft. Zwar ist diese auch auf dem Gebiete des bloss 
abstrakten Erkennens thätig, wo sie Begriffe nur mit 
Begriffen vergleicht: daher ist jedes Urtheil, im logi- 
schen Sinn dieses Worts, allerdings ein Werk der Ur- 
theilskraft, indem dabei allemal ein engerer Begriff 
einem weitern subsumirt wird. Jedoch ist diese Thä- 
tigkeit der Urtheil skraft, wo sie bloss Begriffe mit ein- 
ander vergleicht, eine geringere und leichtere, als wo 
sie den Uebergang vom ganz Einzelnen, dem Anschauli- 
chen, zum wesentlich Allgemeinen, dem Begriff, macht. 
Da nämlich dort, durch Analyse der Begriffe in ihre 
wesentlichen Prädikate, ihre Vereinbarkeit oder Un- 
vereinbarkeit auf rein logischem Wege muss entschie- 
den werden können, wozu die Jedem einwohnende 
blosse Vernunft hinreicht; so ist die Urtheilskraft dabei 
nur in der Abkürzung jenes Processes thätig, indem 
der mit ihr Begabte schnell übersieht, was Andere 
erst durch eine Reihe von Reflexionen herausbringen. 
Ihre Thätigkeit im engern Sinn aber tritt allerdings 
erst da ein, wo das anschaulich Erkannte, also das 
Reale, die Erfahrung, in das deutliche, abstrakte Er- 
kennen übertragen, unter genau entsprechende Be- 
griffe subsumirt und so in das reflektirte Wissen ab- 
gesetzt werden soll. Daher ist es dieses Vermögen, 
welches die festen Grundlagen aller Wissenschaften, 
') S. 77 d. A. 
I 09 
als welche stets im unmittelbar Erkannten, nicht weiter 
Abzuleitenden bestehen, aufzustellen hat. Hier in den 
Grundurtheilen liegt daher auch die Schwierigkeit 
derselben, nicht in den Schlüssen daraus. Schliessen 
ist leicht, urtheilen schwer. Falsche Schlüsse sind eine 
Seltenheit, Falsche Urtheile stets an der Tagesordnung. 
Nicht weniger hat die T^rtheilskraft im praktischen 
Leben, bei allen Grundbeschlüssen und Hauptentschei- 
dungen, den Ausschlag zu geben; wie denn der rich- 
terliche Ausspruch, in der Hauptsache, ihr Werk ist. 
Bei ihrer Thätigkeit muss, — auf ahnliche Art, wie 
das Brennglas die Sonnenstrahlen in einen engen Fokus 
zusanmienzieht, — der Intellekt alle Data, die er über 
eine Sache hat, so eng zusammenbringen, dass er sie 
mit Einem Blick erfasst, welchen er nun richtig lixirt 
und dann mit Besonnenheit das Ergebniss sich deutlich 
macht. Zudem beruht die grosse Schwierigkeit des 
Urtheils in den meisten Fällen darauf, dass wir von der 
Folge auf den Grund zu gehen haben, welcher Weg 
stets unsicher ist; ja, ich habe nachgewiesen, dass 
hier die Quelle alles Irrthums liegt. Dennoch ist 
in allen empirischen Wissenschaften, wie auch in den 
Angelegenheiten des wirklichen Lebens, dieser Weg 
meistens der einzige vorhandene. Das Experiment ist 
schon ein Versuch, ihn in umgekehrter Richtung zu- 
rückzulegen: daher ist es entscheidend und bringt 
wenigstens den Irrthum zu Tage; vorausgesetzt, dass 
es richtig gewählt und redlich angestellt sei, nicht aber 
wie dielNeutonischen Experimente in der Farbenlehre; 
aber auch das l^xperiment nuiss wieder beurtheilt wer- 
den. Die vollkommene Sicherheit der Wissenschaften 
a priori, also der Logik und Mathematik, beruht haupt- 
sächlich darauf, dass in ihnen uns derWeg vom Grunde 
auf die Folge offen steht, der allemal sicher ist. Dies 
verleiht ihnen den Charkter rein objektiver Wissen- 
schaften, d.h. solcher,überderen Wahrheiten Alle, wel- 
che dieselben verstehen, auch übereinstimmend urthei- 
len müssen; welches um so auffallender ist, als gerade 
sie auf den subjektiven Formen des Intellekts beruhen, 
während die empirischen Wissenschaften allein es mit 
dem handgreiflich Objektiven zu thun haben. 
I I o 
Aeusserungen der Urtheilskraft sind auch Witz und 
Scharfsinn : in jenem ist sie reflektirend, in diesem 
subsumirend thätig. Bei den meisten Menschen ist die 
Urtheilskraft bloss nominell vorhanden ; es ist eine Art 
Ironie, dass man sie den normalen Geisteskräften bei- 
zählt, statt sie allein den monstris per excessum zu- 
zuschreiben. Die gewöhnlichen Köpfe zeigen selbst 
in den kleinsten Angelegenheiten Mangel an Zutrauen 
zu ihrem eigenen Urtheil; eben weil sie aus Erfahrung 
wissen, dass es keines verdient. Seine Stelle nimmt bei 
ihnen Vorurtheil und Nachurtheil ein; wodurch sie in 
einem Zustand fortdauernder Unmündigkeit erhalten 
werden, aus welcher unter vielen Hunderten kaum 
Einer losgesprochen wird. Eingestand lieh ist sie frei- 
lich nicht; da sie sogar vor sich selber zum Schein 
urtheilen, dabei jedoch stets nach der Meinung Ande- 
rer schielen, welche ihr heimlicher Piichtpunkt bleibt. 
Während Jeder sich schämen würde, in einem geborg- 
ten Rock, Hut oder Mantel umherzugehen, haben sie 
Alle keine anderen, als geborgte Meinungen, die sie 
begierig aufraffen, wo sie ihrer habhaft werden, und 
dann, sie für eigen ausgebend, damit herumstolziren. 
Andere borgen sie wieder von ihnen und machen es 
damit ebenso. Dies erklärt die schnelle und weite Ver- 
breitungderIrrthümer,wieauchdenRuhmdesSchlech- 
ten: denn die Meinungsverleiher von Profession, also 
Journalisten u. dergl., geben in der Regel nur falsche 
Ware aus, wie die Ausleiher der Maskenanzüge nur 
falsche Juwelen. 
KAPITEL 8*). 
ZUR THEORIE DES LÄCHERLICHEN. 
AUF dem in den vorhergegangenen Kapiteln er- 
läuterten, von mir so nachdrücklich hervorge- 
hobenen Gegensatz zwischen anschaulichen und ab- 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 1 3 des ersten Bandes. [S. 
74 d. A.] 
I I l 
strakten Vorstellungen beruht auch meine Theorie 
des Lächerlichen; weshalb das zu ihrer Erläuterung 
noch Beizubringende seine Stelle hier findet, obgleich 
es, der Ordnung des Textes nach, erst weiter unten 
folgen müsste. 
Das Problem des überall identischen Ursprungs und 
damit der eigentlichen Bedeutung des Lachens wurde 
schon von Cicero erkannt, aber auch sofort als unlösbar 
aufgegeben. (De orat., H, 58.) Der älteste mir bekannte 
Versuch einer psychologischen Erklärung des Lachens 
findet sich in Hutchesons Introduction into moral 
philosophy Bk. i, eh. i, §. i4- — Eine etwas spätere 
anonyme Schrift, Traite des causes physiques et mora- 
les du rire, 1768, ist als Ventilation des Gegenstandes 
nicht ohne Verdienst. Die Meinungen der von Home 
bis zu Kant sich an einer Erklärung jenes der mensch- 
lichen Natur eigenthümlichen Phänomens versuchen- 
den Philosophen hat Plattier zusammengestellt, in sei- 
ner Anthropologie, §. 894. — Kants und Jean Pauls 
Theorie des Lächerlichen sind bekannt. Ihre Unrich- 
tigkeit nachzuweisen halte ich für überflüssig; da Jeder, 
welcher gegebene Fälle des Lächerlichen auf sie zu- 
rückzuführen versucht, bei den allermeisten die Ueber- 
zeugung von ihrer Unzulänglichkeit sofort erhalten 
wird. 
Meiner im ersten Bande ausgeführten Erklärung 
zufolge ist der Ursprung des Lächerlichen allemal die 
paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines 
Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen 
Begriff, und bezeichnet demgemäss das Phänomen des 
Lachens allemal die plötzliche Wahrnehmung einer 
Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem 
durch denselben gedachten realen Gegenstand, also 
zwischen dem Abstrakten und dem x\nschaulichen. 
Je grösser und unerwarteter, in der Auffassung des 
Lachenden, diese Inkongruenz ist, desto heftiger wird 
sein Lachen ausfallen. Demnach muss bei Allem, was 
Lachen erregt, allemal nachzuweisen seyn ein Begriff 
und ein Einzelnes, also ein Diujj oder ein Vorgang, 
welcher zwar unter jenen Begriff sich subsumiren, 
mithin durch ihn sich denken lässt, jedoch in anderer 
I I 2 
und vorwaltender Beziehung gar nicht darunter ge- 
hört, sondern sich von Allem, was sonst durch jenen 
Begriff gedacht wird, auffallend unterscheidet. Wenn, 
wie zumal hei Witzworten oft der Fall ist, statt eines 
solchen anschaulichen Realen, ein dem höhern oder 
Gattungsbegriffuntergeordneter Artbegriff auftritt; so 
wird er doch das Lachen erst dadurch erregen, dass 
die Phantasie ihn realisirt, d. h. ihn durch einen an- 
schaulichen Repräsentanten vertreten lässt, und so der 
Konflikt zwischen dem Gedachten und dem Ange- 
schauten Statt findet. Ja, man kann, wenn man die 
Sache recht explicite erkennen will, jedes Lächerliche 
zurückführen auf einen Schluss in der erster Figur, 
mit einer unbestrittenen major und einer unerwarte- 
ten, gewissermaassen nur durch Schikane geltend ge- 
machten minor; in Folge welcher Verbindung die 
Konklusion die Eigenschaft des Lächerlichen an sich 
hat. 
Ich habe, im ersten Bande, für überflüssig gehalten, 
diese Theorie an Beispielen zu erläutern; da Jeder dies, 
durch ein wenig Nachdenken über ihm erinnerliche 
Fälle des Lächerlichen, leicht selbst leisten kann. Um 
jedoch auch der Geistesträgheit derjenigen Leser, die 
durchaus im passiven Zustand verharren wollen, zu 
Hülfe zu kommen, will ich mich hier dazu bequemen. 
Sogar will ich, in dieser dritten Auflage, die Beispiele 
vermehren und anhäufen; damit es unbestritten sei, 
dass hier, nach so vielen fruchtlosen, früheren Ver- 
suchen, die wahre Theorie des Lächerlichen gegeben 
und das schon vom Cicero aufgestellte, aber auch auf- 
gegebene Problem definitiv gelöst sei. — 
Wenn wir bedenken, dass zu einem Winkel zwei 
auf einander treffende Linien erfordert sind, welche, 
wenn verlängert, einander schneiden, die Tangente 
hingegen den Kreis nur an einem Punkte streift, an 
diesem Punkte aber eigentlich mit ihm parallel geht, 
und wir demgemäss die abstrakte Ueberzeugung von 
der Unmöglichkeit eines Winkels zwischen Kreislinie 
und Tangente gegenwärtig haben; nun aber doch auf 
dem Papier ein solcher Winkel uns augenscheinlich 
vorliegt; so wird dieses uns leicht ein Lächeln abnö- 
8 Schopenhauer II I I J 
ihigen. Das Lächerliche in diesem Fall ist zwar äusserst 
schwach: hingegen tritt gerade in ihm der Ursprung 
desselben aus der Inkongruenz des Gedachten zum 
Angeschaulen ungemein deutlich hervor. — Je nach- 
dem wir, beim Auffinden einer solchen Inkongruenz,, 
vom Realen, d. i. Anschaulichen, zum Begriff, oder 
aber umgekehrt vom Begriff zum Realen übergehen, 
ist das dadurch entstehende Lächerliche entweder ein 
Witzwort, oder aber eine Ungereimtheit, im höheren 
Grade, zumal im Praktischen, eine Narrheit; wie im 
Text auseinandergesetzt worden. Um nun Beispiele 
des ersten Falles, also des Witzes, zu betrachten, wollen 
wir zunächst die allbekannte Anekdote nehmen vom 
Gaskogner, über den der König lachte, als er ihn bei 
strenger W^interkälte in leichter Sommerkleidung sah, 
und der darauf zum König sagte: „Hätten Ew. Maj. 
angezogen, was ich angezogen habe; so würden Sie 
es sehr warm finden", — und auf die Frage, was er 
angezogen habe: „meine ganze Garderobe". — Unter 
diesem letztern Begriff' ist nämlich, so gut wie die un- 
übersehbare Garderobe eines Königs, auch das einzige 
Sommerröckchen eines armen Teufels zu denken, des- 
sen Anblick auf seinem frierenden Leibe sich jedoch 
dem Begriff' sehr inkongruent zeigt. — Das Publikum 
eines Theaters in Paris verlanjjte einst, dass die Mar- 
seillaise gespielt werde, und gerieth, als dies nicht ge- 
schah, in grosses Schreien und Toben; so dass endlich 
ein Polizeikommissarius in Uniform auf die Bühne 
trat und erklärte, es sei nicht erlaubt, dass im Theater 
etwas Anderes vorkomme, als was auf dem Zettel 
stehe. Da rief eine »Stimme: Et vous, Monsieur, etes- 
vous aussi sur Taffiche? welcher Einfall das einstim- 
migste Gelächter erregte. Denn hier ist die Subsumtion 
des Heterogenen unmittelbar deutlich und ungezwun- 
gen. — Das Epigramm: 
,jBav ist der treue Hirt, von dem die Bibel sprach: 
Wenn seine Heerde schläft, bleibt er allein noch wach", 
subsumirt unter den Begriff' eines bei der schlafenden 
Heerde wachenden Hirten, den langweiligen Prediger ,^ 
der die ganze Gemeinde eingeschläfert hat und nun 
1,4 
ungehört allein fortbelfert. — Analog ist die Grab- 
schrift eines Arztes: „Hier liegt er, wie ein Held, und 
die Erschlagenen liegen um ilin her": — es subsumirt 
unter den dem Helden ehrenvollen Begriff des „von 
Gelödteten umringt Liegens" den Arzt, der das Leben 
erhalten soll. — Sehr häufig besteht das Witzwort in 
einem einzigen Ausdruck, durch den eben nur der 
Begriff angegeben wird, unter welchen der vorliegende 
Fall subsumirt werden kann, welcher jedoch Allem, 
was sonst darunter gedacht wird, sehr heterogen ist. 
So im Romeo, wenn der lebhafte, aber soeben todtlich 
verwundete M er kut 10 seinen Freunden, die ihn Morgen 
zu besuchen versprechen, antwortet : „Ja, kommt nur, 
ihr werdet einen stillen Mann an mir finden", unter 
welchen Begriff hier der Todte subsumirt wird; im 
Englischen kommt aber noch das Wortspiel hinzu, 
dass a grave man zugleich den ernsthaften, und den 
Mann des Grabes bedeutet. — Dieser Art ist auch die 
bekannte Anekdote vom Schauspieler ünzelmann: 
nachdem auf dem Berliner Theater alles Improvisiren 
streng untersagt worden war, hatte er zu Pferde auf 
der Bühne zu erscheinen, wobei, als er gerade auf dem 
Proscenio war, das Pferd Mist fallen Hess, wodurch 
das Publikum schon zum Lachen bewogen wurde, je- 
doch sehr viel mehr, als Ünzelmann zum Pferde sagte: 
„Was machst denn du? weisst du nicht, dass uns das 
Improvisiren verboten ist?" Hier ist die Subsumtion 
des Heterogenen unter den allgemeineren Begriff sehr 
deutlich, daher das Witzwort überaus treffend und 
die dadurch erlangte Wirkung des Lächerlichen äus- 
serst stark. — Hieher gehört ferner eine Zeitungs- 
nachricht vom März i85i aus Hall: „Die jüdische 
Gaunerbande, deren wir erwähnt haben, wurde wieder 
bei uns, unter obligater Begleitung, eingeliefert." Diese 
Subsumtion einer Polizeieskorte unter einen musikali- 
schen Ausdruck ist sehr glücklich; wiewohl sich schon 
dem blossen Wortspiel nähernd. — Hingegen ist es 
ganz der hier in Rede stehenden Art, wenn Saphir, in 
einem Federkrieg gegen den Schauspieler Angeli, die- 
sen bezeichnet als „den an Geist und Körper gleich gros- 
sen Angeli" — wo, vermöge der stadtbekannten win- 
I I 
zigenStatiirdesSchauspielers, unter den Begriff,, gross" 
das ungemein Kleine sich anschaulich stellt : — so auch, 
wenn derselbe Saphir die Arien einer neuen Oper „gute 
alte Bekannte" nennt, also unter einen Begriff, der 
in andern Fallen zur Empfehlung dient, gerade die 
tadelhafte Eigenschaft bringt: — ebenso, wenn man 
von einer Dame, auf deren Gunst Geschenke Einfluss 
hätten, sagen wollte, sie wisse das utile dnlci zu ver- 
einigen; wodurch man unter den Begriff der Begel, 
welche vom Horaz in ästhetischer Hinsicht empfohlen 
wird, das moralisch Gemeine bringt: —eben so, wenn 
man, um ein Bordell anzudeuten, es etwan bezeich- 
nete als einen „bescheidenen Wohnsitz stiller Freu- 
den". — Die gute Gesellschaft, welche um vollkommen 
fade zu seyn, alle entschiedenen Aeusserungen und 
daher alle starken Ausdrücke verbannt hat, pflegt, 
um skandalöse, oder irgendwie anstössige Dinge zu 
bezeichnen, sich dadurch zu helfen, dass sie solche, 
zur Milderung, mittelst allgemeiner Begriffe ausdrückt: 
hiedurch aber wird diesen auch das ihnen mehr oder 
minder Heterogene subsumirt, wodurch eben, in ent- 
sprechendem Grade, die Wirkung des Lächerlichen 
entsteht. Dahin also gehört das Obige utile dulci: des- 
gleichen: „er hat auf dem Ball Unannehmlichkeiten 
gehabt", — wenn er geprügelt und herausgeschmissen 
worden; oder „er hat des Guten etwas zu viel ge- 
than", — wenn er betrunken ist; wie auch „die Frau 
soll schwache Augenblicke haben", — wenn sie ihrem 
Mann Hörner aufsetzt; u. s. w. Ebenfalls gehören da- 
hin die Aequivoken, nämlich Begriffe, welche an und 
für sich nichts Unanständiges enthalten, unter die je- 
doch das Vorliegende gebracht auf eine unanständige 
Vorstellung leitet. Sie sind in der Gesellschaft sehr 
häufig. Aber ein vollkommenes Muster der durchge- 
führten und grossartigen Aequivoke ist die unver- 
gleichliche Grabschrift auf den Justice of peace von 
Shenstone, als welche, in ihrem hochtrabenden Lapi- 
darstil, von edeln luid erhabenen Dingen zu reden 
scheint, während unter jeden ihrer Begriffe etwas ganz 
Anderes zu subsumiren ist, welches erst im allerletzten 
Wort, als unerwarteter Schlüssel zum Ganzen, hervor- 
tritt und der Leser laut auflachend entdeckt, dass er 
bloss eine sehr schmutzige Aequivoke gelesen hat. Sie 
herzusetzen und gar noch zu übersetzen ist in diesem 
glatt gekämmten Zeitalter schlechterdings unzulässig: 
man findet sie in Shenstone's Poetical works, über- 
schrieben Inscription. Die Aequivoken gehen bisweilen 
in das blosse Wortspiel über, von welchem im Text 
das Nöthige gesagt worden. 
Auch wider die Absicht kann die jedem Lächer- 
lichen zum Grunde liegende Subsumtion des in einer 
Hinsicht Heterogenen unter einen ihm übrigens an- 
gemessenen Begriff Statt finden: z. B. einer der freien 
Neger in Nordamerika, welche sich bemühen, in allen 
Stücken den Weissen nachzuahmen, hat ganz kürz- 
lich seinem gestorbenen Kinde ein Epitaphium gesetzt, 
welches anhebt: „Liebliche, frühgebrochene Lilie". 
— Wird hingegen, mit plumper Absichtlichkeit, ein 
Reales und Anschauliches geradezu unter den Begriff 
seines Gegentheils gebracht, so entsteht die platte, ge- 
meine Ironie. Z. B. wenn bei starkem Regen gesagt 
wird: „das ist heute ein angenehmes Wetter"; — 
oder, von einer hässlichen Braut: ,,der hat sich ein 
schönes Schätzchen ausgesucht"; — oder von einem 
Spitzbuben: „dieser Ehrenmann"; u. dgl. m. Nur 
Kinder und Leute ohne alle Bildung werden über so 
etwas lachen : denn hier ist die Inkongruenz zwischen 
dem Gedachten und dem Angeschauten eine totale. 
Doch tritt, eben bei dieser plumpen Uebertreibung 
in der Bewerkstelligung des Lächerlichen, der Grund- 
charakter desselben, besagte Inkongruenz, sehr deut- 
lich hervor. — Dieser Gattung des Lächerlichen ist, 
wegen der Uebertreibung und deutlichen Absichtlich- 
keit, in etwas verwandt die Parodie. Ihr Verfahren 
besteht darin, dass sie den Vorgängen und Worten 
eines ernsthaften Gedichtes oder Dramas unbedeuten- 
de, niedrige Personen, oder kleinliche Motive und 
Handlungen unterschiebt. Sie subsumirt also die von 
ihr dargestellten platten Realitäten unter die im Thema 
gegebenen hohen Begriffe, unter welche sie nun in 
gewisser Hinsicht passen müssen, während sie übrigens 
denselben sehr inkongruent sind; wodurch dann der 
I n 
Widerstreit /wischen dem Angeschauten und dem 
Gedachten sehr grell hervortritt. An bekannten Bei- 
spielen fehlt es hier nicht: ich führe daher nur eines 
an, aus der Zoheide von Carlo Gozzi, Akt 4? Scene 3, 
wo zweien Hanswürsten, die sich soeben geprügelt 
haben und davon ermüdet ruhig nebeneinander liegen, 
die berühmte Stanze des Ariosto (Orl. für. I, 22) oh 
gran bonta de' cavalieri antichi u. s. w. ganz wörtlich 
in den Mund gelegt ist. — Dieser Art ist auch die in 
Deutschland sehr beliebte Anwendung ernster, be- 
sonders Schiller'scher Verse auf triviale Vorfalle, wel- 
che offenbar eine Subsumtion des Heterogenen unter 
den allgemeinen Begriff, welchen der Vers ausspi'icht, 
enthält. So z. B. wann Jemand einen recht charakte- 
ristischen Streich hat ergehen lassen, wird es selten 
an Einem fehlen, der dazu sagt: „Daran erkenn' ich 
meine Pappenheimer." Aber originell und sehr witzig 
war es, als Einer an ein eben getrautes junges Ehe- 
paar, dessen weibliche Hälfte ihm gefiel, die Schluss- 
worte der Schiller'schen Ballade „Die Bürgschaft" 
(ich weiss nicht wie laut) richtete: 
„Ich sei, erlaubt mir die Bitte, 
In euerm Bunde der Dritte."' 
Die Wirkung des Lächerlichen ist hier stark und un- 
ausbleiblich, weil unter die Begriffe, durch welche 
Schiller uns ein moralisch edles Verhältniss zu denken 
giebt, ein verbotenes und unsittliches, aber richtig und 
ohne Veränderung subsumirt, also dadurch gedacht 
wird. — In allen hier angeführten Beispielen des 
Witzes findet man, dass einem Begriff, oder überhaupt 
einem abstrakten Gedanken, ein Reales, unmittelbar, 
oder mittelst eines engern Begriffes, subsumirt wird, 
welches zwar, nach der Strenge, darunter gehört, je- 
doch himmelweit verschieden ist von der eigentlichen 
und ursprünglichen Absicht und Richtung des Ge- 
dankens. Demgemäss besteht der Witz, als Geistes- 
fähigkeit, ganz allein in der Leichtigkeit, zu jedem 
vorkommenden Gegenstande einen Begriff zu finden, 
unter welchem er allerdings mitgedacht werden kann, 
jedoch allen andern darunter gehörigen Gegenständen 
sehr heterogen ist. 
118 
Die zweite Art des Lächerlichen geht, wie erwähnt, 
in umgekehrter Richtung, vom abstrakten Begriff zu 
dem durch diesen gedachten Realen, oder Anschau- 
lichen, welches nun aber irgend eine Inkongruenz zu 
demselben, die übersehen worden, an den Tag legt, 
wodurch eine Ungereimtheit, mithin in praxi eine 
närrische Handlung entsteht. Da das Schauspiel Hand- 
lung erfordert, so ist diese Art des Lächerlichen der 
Komödie wesentlich. Hierauf beruht Voltaires Be- 
merkung: J'ai cru remarquer aux spectacles, qu'il 
ne s'eleve presque jamais de ces eclats de rire univer- 
sels, qu'ä Foccasion d'une meprise. (Preface de Ten- 
fant prodigue.) Als Beispiele dieserGattung des Lächer- 
lichen können die folgenden gelten. Als jemand ge- 
äussert hatte, dass er gern allein spatzieren gienge, 
sagte ein Oesterreicher zu ihm: „Sie gehn gern allein 
spatzieren: ich halt auch: da können wir zusammen 
gehn." Er geht aus von dem Begriff „ein Vergnügen, 
welches Zwei lieben, können sie gemeinschaftlich ge- 
niessen", und subsumirt demselben den Fall, der 
gerade die Gemeinschaft ausschliesst. F'erner der Be- 
diente, welcher das abgeschabte Seehundsfell am Koffer 
seines Herrn mit Makassaröl bestreicht, damit es wieder 
behaart werde; wobei er ausgeht von dem Begriff" 
„Makassaröl macht Haare wachsen" : — die Soldaten 
in der Wachtstube, welche dem eben eingebrachten 
Arrestanten an ihrem Kartenspiel Theil zu nehmen 
erlauben, weil er aber dabei schikanirt, wodurch Streit 
entsteht, ihn hinauswerfen : sie lassen sich leiten durch 
den allgemeinen Begriff „schlechte Gesellen wirft man 
hinaus", — vergessen aber, dass er zugleich Arrestant, 
d. h. Einer, den sie festhalten sollen, ist. — Zwei 
Bauernjungen hatten ihre Flinte mit grobem Schrot 
geladen, welches sie, um ihm feines zu substituiren, 
heraushaben wollten, ohne jedoch das Pulver einzu- 
büssen. Da legte der Eine die Mündung des Laufes 
in seinen Hut, den er zwischen die Beine nahm, und 
sagte zum Andern : Jetzt drücke du ganz sachte, sachte, 
sachte los: da kommt zuerst das Schrot." Er geht aus 
von dem Begriff „Verlangsamung der Ursache giebt 
Verlangsamung der Wirkung". Belege sind ferner die 
meisten Handlungen des Don Quijote, welcher unter 
Begriffe, die er aus Rittorromanen geschöpft, die ihm 
vorkommenden ihnen sehr heterogenen Realitäten 
subsumirt, z. B. um die Unterdrückten zu unterstützen, 
die Galeerensklaven befreit. Eigentlich gehören auch 
alle Münchhausianaden hieher: nur sind sie nicht 
Handlungen, die vollzogen, sondern unmögliche, die 
als wirklich geschehen dem Zuhörer aufgebunden 
werden. Bei denselben ist allemal die Tatsache so ge- 
fasst, dass sie, bloss in abstracto, mithin komparativ 
a priori gedacht, als möglich und plausibel erscheint: 
aber hiiiterher, wenn man zur Anschauung des indi- 
viduellen Falls herabkommt, also a posteriori, tut sich 
das Unmögliche der Sache, ja, das Absurde der An- 
nahme hervor und erregt Lachen, durch die augen- 
fällige Inkongruenz des Angeschauten zum Gedachten: 
z. B. wenn die im Posthorn eingefrorenen Melodien 
in der warmen Stube auftauen ; — wenn Münchhau- 
sen, bei strengem Frost, auf dem Baume sitzend, sein 
herabgefallenes Messer am gefrierenden Wasserstrahl 
seines Urins in die Höhe zieht, u. s. w. Dieser Art ist 
auch die Geschichte von zwei Löwen, welche Nachts 
die Scheidewand diuchbrechen und in ihrer Wuth 
sich gegenseitig auffressen; so dass am Morgen nur 
noch die beiden Schwänze gefunden werden. 
Noch giebt es Fälle des Lächerlichen, wo der Begriff, 
unter welchen das Anschauliche gebracht wird, weder 
ausgesprocheti, noch angedeutet zu werden braucht, 
sondern vermöge der Ideenassociation von selbst ins 
Bewusstseyn tritt. Das Lachen, in welches Garricky 
mitten im Tragiren, ausbrach, weil ein vorn im Par- 
terre stehender Fleischer, um sich den Schweiss abzu- 
wischen, einstweilen seinem grossen Hunde, der, mit 
den Vorderpfoten auf die Parterreschranke gestützt, 
nach dem Theater hinsah, seine Perrücke aufgesetzt 
hatte, war dadiu'ch vermittelt, dass Garrick vom hin- 
zugedachten Begriff" eines Zuschauers ausgin(f. Eben 
hierauf beruht es, dass gewisse Thiergestalten, wie 
Affen, Kängurus, Springhaasen u. dgl. ims bisweilen 
lächerlich erscheinen, weil etwas Menschenähnliches 
in ihnen uns veranlasst, sie unter den Begriff der 
I 20 
menschlichen (restalt zu subsumiren, von welchem 
wieder ausgehend, wir ihre Inkongruenz zu demselben 
wahrnehmen. 
Die Begriffe, deren hervortretende Inkongruenz zur 
Anschauung uns zum Lachen bewegt, sind nun ent- 
weder die eines Andern oder unsere eigenen. Im erstem 
Fall lachen wir über den Andern: im zweiten fühlen 
wir eine oft angenehme, wenigstens belustigende 
Ueberraschung. Kinder und rohe Menschen lachen 
daher bei den kleinsten, sogar bei widrigen Zufällen, 
wenn sie ihnen imerwartet waren, also ihren vorge- 
fassten Begriff' des Irrthums überführten. — In der 
Regel ist das Lachen ein vergnüglicher Zustand : die 
Wahrnehmung der Inkongruenz des Gedachten zum 
Angeschauten, also zur Wirklichkeit, macht uns dem- 
nach Freude und wir geben uns gern der krampfhaf- 
ten Erschütterung hin, welche diese Wahrnehmung 
erregt. Der Grund hievon liegt in Folgendem. Bei 
jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit zwischen 
dem Angeschauten und dem Gedachten behält das 
Angeschaute allemal unzweifelhaftes Recht: denn es 
ist gar nicht dem Irrthuni unterworfen, bedarf keiner 
Beglaubigung von ausserhalb, sondern vertritt sich 
selbst. Sein Konflikt mit dem Gedachten entspringt 
zuletzt daraus, dass dieses mit seinen abstrakten Be- 
griffen nicht herabkann zur endlosen Mannigfaltigkeit 
und Nüancirung des Anschaulichen. Dieser Sieg der 
anschauenden Erkenntniss über das Denken erfreut 
uns. Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von 
der thierischen Natur unzertrennliche Erkenntniss- 
weise, in der sich Alles, was dem Willen unmittel- 
bares Genügen giebt, darstellt: es ist das Medium der 
Gegenwart, des Genusses vuid der Fröhlichkeit: auch 
ist dasselbe mit keiner Anstrengung verknüpft. Vom 
Denken gilt das Gegentheil : es ist die zweite Potenz 
des Erkennens, deren Ausübung stets einige, oft be- 
deutende Anstrengung erfordert, und deren Begriffe 
es sind, welche sich oft der Befriedigung unserer un- 
mittelbaren Wünsche entgegensteilen, indem sie, als 
das Medium der Vergangenheit, der Zukunft und des 
Ernstes, das Vehikel unserer Befürchtungen, unserer 
121 
Reue und aller unserer Sorj^en abgeben. Diese strenge, 
unermüdliche, überlästige Hofineisterin Vernunft jetzt 
ein Mal der Unzulänglichkeit überführt zu sehen, 
muss uns daher ergötzlich seyn. Deshalb also ist die 
Miene des Lachens der der FVeude sehr nahe ver- 
wandt. 
Wegen des Mangels an Vernunft, also an Allge- 
meinbegriffen, ist dasThier, wie der Sprache, so auch 
des Lachens unfähig. Dieses ist daher ein Vorrecht 
und charakteristisches Merkmal des Menschen. Jedoch 
hat, beiläufig gesajjt, auch sein einziger Freund, der 
Hund, einen analogen, ihm allein eigenen und cha- 
rakteristischen Akt vor allen andern Thieren voraus, 
nämlich das so ausdrucksvolle, wohlwollende und 
grundehrliche Wedeln, Wie vortheilhaft sticht doch 
diese, ihm von der Natur eingegebene Begrüssung ab, 
gegen die Bücklinge und grinsenden Höflichkeitsbe- 
zeugungen der Menschen, deren Versicherung inniger 
Freundschaft und Ergebenheit es an Zuverlässigkeit, 
wenigstens für die Gegenwart, tausend Mal übertrifft. — 
Das Gegentbeil des Lachens und Scherzes ist der 
Ernst. Demgemäss besteht er im Bewusstseyn der voll- 
kommenen Uebereinstimmung und Kongruenz des 
Begriffs, oder Gedankens, mit dem Anschaulichen, oder 
der Realität. Der Ernste ist überzeugt, dass er die 
Dinge denkt wie sie sind, und dass sie sind wie er sie 
denkt. Eben deshalb ist der üebergang vom tiefen 
Ernst zum Lachen so besonders leicht und durch Klei- 
nigkeiten zu bewerkstelligen; weil jene vom Ernst an- 
genommene Uebereinstimmung, je vollkommener sie 
schien, desto leichter selbst durch eine geringe, uner- 
wartet zu Tage kommende Inkongruenz aufgehoben 
wird. Daher je mehr ein Mensch des ganzen Ernstes 
fähig ist, desto herzlicher kann er lachen. Menschen, 
deren Lachen stets affektirt und gezwungen heraus- 
kommt, sind intellektuell und moralisch von leichtem 
Gehalt; wie denn überhaupt die Art des Lachens, und 
andererseits der Anlass dazu, sehr charakteristisch für 
die Person ist. Dass die Geschlechtsverhältnisse den 
leichtesten, jederzeit bereit liegenden und auch dem 
schwächsten Witz erreichbaren Stoff zum Scherze ab- 
I 22 
geben, wie die Häufif^fkeit der Zoten beweist, könnte 
nicht seyn, wenn nicht der tiefste Ernst gerade ihnen 
zum Grunde läge. 
Dass das Lachen Anderer über Das, was wir thun 
oder ernsthch sagen, uns so einpfindHch beleidigt, be- 
ruht darauf, dass es aussagt, zwischen unsern Begriffen 
und der objektiven Realität sei eine gewaltige Inkon- 
gruenz. Aus demselben Grunde ist das Prädikat „lä- 
cherlich" beleidigend. — Das eigentliche Hohngeläch- 
ter ruft dem gescheiterten Widersacher triumphirend 
zu, wie inkongruent die Begriffe, welche er gehegt, 
zu der sich jetzt ihm offenbarenden Wirklichkeit ge- 
wesen. Unser eigenes bitteres Lachen, bei der sich uns 
schrecklich enthüllenden Wahrheit, durch welche fest 
gehegte Erwartungen sich als täuschend erweisen, ist 
der lebhafte Ausdruck der nunmehr gemachten Ent- 
deckung der Inkongruenz zwischen den Gedanken, 
die wir, in thörichtem Vertrauen auf Menschen oder 
Schicksal, gehegt, und der jetzt sich entschleiernden 
Wirklichkeit, 
Das absichtlich Lächerliche ist der Scherz: er ist 
das Bestreben, zwischen den Begriffen des Andern und 
der Realität, durch Verschieben des Einen dieser Bei- 
den, eine Diskrepanz zu Wege zu bringen; während 
sein Gegentheil der Ernst in der wenigstens angestreb- 
ten genauen Angemessenheit Beider zu einandei' be- 
steht. Versteckt nun aber der Scherz sich hinter den 
Ernst; so entsteht die Ironie: z. B. wenn wir auf 
die Meinungen des Andern, welche das Gegentheil 
der unserigen sind, mit scheinbarem Ernst eingehen 
und sie mit ihm zu theilen simuliren; bis endlich das 
Resultat ihn an uns und ihnen irre macht. So verhielt 
sich Sokrates dem Hippias, Protagoras, Gorgias und 
andern Sophisten, überhaupt oft seinem Collocutor ge- 
genüber. — Das Umgekehrte der Ironie wäre dem- 
nach der hinter den Scherz versteckte Ernst, und dies 
ist der Humor. Man könnte ihn den doppelten Kontra- 
punkt der Ironie nennen. — Erklärungen wie „der 
Humor ist die Wechseldurchdringung des Endlichen 
und Unendlichen" drücken nichts weiter aus, als die 
gänzliche Unfähigkeit zum Denken Derer, die an sol- 
I 23 
chen hohlen Floskeln ihr Genügen haben. — Die 
Ironie ist objektiv, nämlich autden Andern berechnet; 
der Humor aber subjektiv, nämlich zunächst nur für 
das eigene Selbst da. Dem{;emäss finden die Meister- 
stücke der Ironie sich bei den Alten, die des Humors 
sich bei den Neueren. Denn näher betrachtet, beruht 
der Humor auf einer subjektiven, aber ernsten und 
erhabenen Stimnuuig, welche unwillkürlich in Kon- 
flikt geruth mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen 
Aussenwelt, der sie weder ausweichen, noch sich selbst 
aufgeben kann; daher sie, zur Vermittelung, versucht, 
ihre eigene Ansicht und jene Aussenwelt durch die 
selben Begriffe zu denken, welche hiedurch eme dop- 
pelte, bald auf dieser bald auf der andern Seite liegen- 
de Inkongruenz zu dem dadurch gedachten Realen 
erhalten, wodurch der Eindruck des absichtlich Lä- 
cherlichen, also des Scherzes entsteht, hinter welchem 
jedoch der tiefste Ernst versteckt ist und durchscheint. 
Fängt die Ironie mit ernster Miene an und endigt mit 
lächelnder, so hält der Humor es umgekehrt. Als ein 
Beispiel von diesem kann schon der oben angeführte 
Ausdruck des Merkutio gelten. Desgleichen im Ham- 
let: Poloniiis: „Gnädigster Herr, ich will ehrerbietigst 
Abschied von Ihnen nehmen. — Hamlet: Sie kön- 
nen nichts von mir nehmen, was ich williger her- 
gäbe; — ausgenommen mein Leben, ausgenommen 
mein Leben, ausgenommen mein Leben." — So- 
dann, vor der Aufführung des Schauspiels bei Hofe, 
sagt Hamlet zur Ophelia: „Was sollte ein Mensch 
Anderes thun, als lustig seyn? Denn seht nur, wie 
vergnügt meine Mutter aussieht, und mein Vater 
ist doch erst vor zwei Stunden gestorben. — Ophelia: 
Vor zwei Mal zwei Monaten, gnädigster Herr. — Ham- 
let: So lange ist's ber?! Ei, da mag der Teufel noch 
schwarz gehen! ich will mir ein munteres Kleid ma- 
chen lassen." — Ferner auch in Jean Pauls „Titan", 
wenn der tiefsinnig gewordene und nun über sich 
selbst brütende Schoppe öfter seine Hände ansehend 
zu sich sagt: „Da sitzt ein Herr leibhaftig und ich in 
ihm : wer ist aber solcher?" — Als wirklicher Humorist 
tritt Heinrich Heine auf, in seinem „Romancero" : hin- 
I 24 
ter allen seinen Scherzen und Possen merken wir einen 
tiefen Ernst, der sich schämt nnverschleiert hervor- 
zutreten. — Demnach beruht der Humor auf einer 
hesondern Art der Laune (wahrscheinlich von Luna), 
durch welchen Begriff, in allen seinen Modillkationen, 
ein entschiedenes Ueberwiegen des Subjektiven über 
das Objektive, bei der Auffassung der Aussenwelt, ge- 
dacht wird. Auch jede poetische, oder künstlerische 
Darstellung einer komischen, ja sogar possenhaften 
Scene, als deren verdeckter Hintergrund jedoch ein 
ernster Gedanke durchschimmert, ist Produkt des 
Humors, also humoristisch. Dahin gehört z. B. eine 
kolorirte Zeichnung von Tischhein: sie stellt ein ganz 
leeres Zimmer dar, welches seine Beleuchtung allein 
von dem im Kamin lodernden Feuer erhält. Vor die- 
sem steht ein Mensch, in der Weste, so dass, von sei- 
nen Füssen ausgehend, der Schatten seiner Person sich 
über das ganze Zimmer erstreckt. „Das ist einer", 
kommentirte Tischbein dazu, ,,dem in der Welt nichts 
hat gelingen wollen und der es zu nichts gebracht 
hat: jetzt freut er sich, dass er doch einen so grossen 
Schatten werfen kann." Sollte ich nun aber den hin- 
ter diesen Scherz versteckten Ernst aussprechen, so 
könnte ich es am besten durch folgende dem Persischen 
Gedichte Amvari Soheili entnommene Verse: 
„Ist einer Welt Besitz für dich zeironnen, 
Sei nicht im Leid darüber, es ist nichts; 
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen. 
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts. 
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen, 
Geh' an der W^elt vorüber, es ist nichts." — 
Dass heut zu Tage in der Deutschen Litteratur 
„humoristisch" durchgängig in der Bedeutung von 
„komisch" überhaupt gebraucht wird, entspringt aus 
der erbärmlichen Sucht, den Dingen einen vorneh- 
meren Namen zu geben, als ihnen zukommt, nämlich 
den einer über ihnen stehenden Klasse; so will jedes 
Wirtshaus Hotel, jeder Geldwechsler Banquier, jede 
Reiterbude Girkus, jedes Konzert Musikalische Aka- 
demie, das Kaufmannskomptoir Bureau, der Töpfer 
Thonkünstler heissen, — demnach auch jeder Hans- 
I 25 
wurst Humorist. Das Wort Hutnor ist von den Eng- 
ländern entlehnt, um eine, bei ihnen zuerst bemerkte, 
ganz eigenthümliche, sogar, wie oben gezeigt, dem 
Erhabenen verwandte Art des Lächerlichen auszuson- 
dern, und zu bezeichnen; nicht aber um jeden Spaass 
und jede Hanswurstiade damit zu betiteln, wie jetzt 
in Deutschland allgemein, ohne Opposition, geschieht, 
von Litteraten und Gelehrten ; weil der wahre Begriff 
jener Abart, jener Geistesrichtung, jenes Kindes des 
Lächerlichen und Erhabenen, zu subtil und zu hoch 
seyn würde für ihr Publikum, welchem zu gefallen, 
sie bemüht sind, Alles abzuplatten und zu pöbelari- 
siren. Je nun, „hohe Worte und niedriger Sinn" ist 
überhaupt der Wahlspruch der edeln „Jetztzeit" : dem- 
gemäss heisst heut zu Tage ein Humorist, was ehe- 
mals ein Hanswurst genannt wurde. 
KAPITEL 9*). 
ZUR LOGHi ÜBERHAUPT. 
LOGIK, Dialekt und Rhetorik gehören zusammen, 
indem sie das Ganze einer Technik derf^'^et-nurift aus- 
machen, unter welcher Benennung sie auch zusam- 
men gelehrt werden sollten, Logik als Technik des 
eigenen Denkens, Dialektik des DisputirensmitAnderen 
und Rhetorik des Redens zu Vielen (concionatio); also 
entsprechend dem Singular, Dual und Plural, wie auch 
dem Monolog, Dialog und Panegyrikus. 
Unter Dialektik verstehe ich, in Uebereinstimmung 
mit Aristoteles (Metaph. III, 2, et Analyt. post I, 1 1), 
die Kunst des auf gemeinsame Erforschung der Wahr- 
heit, namentlich der philosophischen, gerichteten Ge- 
spräches. Ein Gespräch dieser Art geht aber nothwen- 
dig, mehr oder weniger, in die Kontroverse über; da- 
*) Dieses Kapitel, mit sainmt dem folfjenden, steht in Bezieh- 
ung zu § 9 des ersten Bandes. [S. 48 d. A.] 
I 26 
her Dialektik auch erklärt werden kann als Disputir- 
kunst. Beispiele und Muster der Dialektik haben wir 
an den Platonischen Dialogen: aber für die eigentliche 
Theorie derselben, also für die Technik des Disputi- 
rens, die Eristik, ist bisher sehr wenig geleistet wor- 
den. Ich habe einen Versuch der Art ausgearbeitet 
und eine Probe desselben im zweiten Bande der Parerga 
mitgetheilt; daher ich die Erörterung dieser Wissen- 
schaft hier ganz übergehe. 
In der Rhetorik sind die rhetorischen Figuren un- 
gefähr was in der Logik die syllogistischen, jeden Falls 
aber der Betrachtung würdig. Zu Aristoteles Zeit schei- 
nen sie noch nicht Gegenstand theoretischer Unter- 
suchungen gewesen zu seyn; da er in keiner seiner 
Rhetoriken von ihnen handelt, und wir in dieser Hin- 
sicht an den Rutilius Lubus, den Epitomator eines 
späteren Gorgias, verwiesen sind. 
Alle drei Wissenschaften haben das Gemeinsame, 
dass man, ohne sie gelernt zu haben, ihre Regeln be- 
folgt, welche sogar selbst erst aus dieser natürlichen 
Ausübung abstrahiert sind. — Daher haben sie, bei 
vielem theoretischen Interesse, doch nur geringen prak- 
tischen Nutzen: theils weil sie zwar die Regel, aber 
nicht den Fall der Anwendung geben; theils weil wäh- 
rend der Praxis gewöhnlich keine Zeit ist, sich der 
Regeln zu erinnern. Sie lehren also nur was Jeder schon 
von selbst weiss und übt: dennoch ist die abstrakte 
Erkenntniss desselben interessant und wichtig. Prak- 
tischen Nutzen wird die Logik, wenigstens für das 
eigene Denken, nicht leicht haben. Denn die Fehler 
unseres eigenen Räsonnements liegen fast nie in den 
Schlüssen, noch sonst in der Form, sondern in den 
Urtheilen, also in der Materie des Denkens. Hingegen 
können wir bei der Kontroverse bisweilen einigen prak- 
tischen Nutzen von der Logik ziehen, indem wir die, 
aus deutlich oder undeutlich bewusster Absicht, trü- 
gerische Argumentation des Gegners, welche er unter 
dem Schmuck und der Decke fortlaufender Rede vor- 
bringt, auf die strenge Form regelmässiger Schlüsse 
zurückführen und dann ihm Fehler gegen die Logik 
nachweisen, z. B. einfache Umkehrung allgemein be- 
12' 
jahender Urtheile, Schlüsse mit vier Terminis, Schlüsse 
von der Folge auf den Grund, Schlüsse in der zweiten 
Figur aus lauter affirmirenden Prämissen u. dgl. m. 
Mir dünkt, dass man die Lehre von den Denkgesetzen 
dadurch vereinfachen könnte, dass man deren nur 
zwei aufstellte, nämlich das vom ausgeschlossenen 
Dritten und das vom zureichenden Grunde. Ersteres 
so: „jedem Subjekt ist jegliches Prädikat entweder 
beizulegen oder abzusprechen." Hier liegt im Entweder 
Oder schon, dass nicht Beides zugleich geschehen 
darf, folglich eben Das, was die Gesetze der Identität 
und des Wideispruchs besagen: diese würden also als 
Korollarien jenes Satzes hinzukommen, welcher ei- 
gentlich besagt, dass jegliche zwei Begriffssphären ent- 
weder als vereint, oder als getrennt zu denken sind, 
nie aber als Beides zuglei<;h; mithin dass, wo Worte 
zusammengefügt sind, welche Letzteres dennoch aus- 
drücken, diese Worte einen Denkprocess angeben, der 
unausführbar ist: das Innewerden dieser Unausführ- 
barkeit ist das Gefühl des Widerspruchs. — Das zweite 
Denkgesetz, der Satz vom Grunde, würde besagen, 
dass obiges Beilegen oder Absprechen durch etwas 
vom Unheil selbst Verschiedenes bestimmt seyn muss, 
welches eine (reine oder empirische) Anschauung, oder 
aber bloss ein anderes Urtheil seyn kann : dieses Andere 
und Verschiedene heisst alsdann der Grund des Ur- 
theils. Sofern ein Urtheil dem ersten Denkgesetze ge- 
nügt, ist es denkbar., sofern es dem zweiten genügt, 
ist es iva/u; wenigstens logisch oder formell wahr, 
wenn nämlich der Grund des Unheils wieder nur ein 
Urtheil ist. Die materielle, oder absolute Wahrheit 
aber ist zuletzt doch immer nur das Verhältniss zwi- 
schen einem Urtheil und einer Anschauung, also zwi- 
schen der abstrakten und der anschaulichen Vorstel- 
lung. Dies Verhältniss ist entweder ein unmittelbares, 
oder aber vermittelt durch andere Urtheile, d. h. durch 
andere abstrakte Vorstellungen. Hienach ist leicht ab- 
zusehen, dass nie eine Wahrheit die andere umstossen 
kann, sondern alle zuletzt in Uebereinstimmung seyn 
müssen; weil im Anschaulichen, ihrer gemeinsamen 
Grundlage, kein W^iderspruch möglich ist. Daher hat 
128 
keine Wahrheit die andere zu fürchten. Trug und 
Irrthum hingegen haben jede Wahrheit zu fürchten; 
weil, durch die logische Verkettung aller, auch die 
entfernteste ein Mal ihren Stoss auf jeden Irrthum 
fortpflanzen muss. Dieses zweite Denkgesetz ist dem- 
nach der Anknüpfungspunkt der Logik an Das, was 
nicht mehr Logik, sondern Stoff des Denkens ist. Folg- 
lich besteht in der Übereinstimmung der Begriffe, also 
der abstrakten Vorstellung, mit dem in der anschau- 
lichen Vorstellung Gegebenen, nach der Seite des Ob- 
jekts, die fVoh'/ieit, und nach der Seite des Subjekts, 
das Wissen. 
Das obige Vereint- oder Getrennt-seyn zweier Be- 
griffssphären auszudrücken ist die Bestimmung der 
Kopula: „ist — ist nicht." Durch diese ist jedes Ver- 
bum mittelst seines Particips ausdrückbar. Daher be- 
steht alles Urtheilen im Gebrauch eines Verbi, und 
umgekehrt. Demnach ist die Bedeutung der Kopula, 
dass im Subjekt das Prädikat mitzudenken sei — nichts 
weiter. Jetzt erwäge man, worauf der Inhalt des In- 
finitivs der Kopula, „^Sejn" hinausläuft. Dieser nun 
aber ist ein Hauptthema der Professorenphilosophie 
gegenwärtiger Zeit. Indessen muss man es mit ihnen 
nicht so genau nehmen: die meisten nändich wollen 
damit nichts Anderes, als die materiellen Dinge, die 
Körperwelt, bezeichnen, welcher sie, als vollkommen 
unschuldige Realisten, im Grunde ihres Herzens, die 
höchste Realität beilegen. Nun aber so geradezu von 
den Körpern zu reden scheint ihnen zu vulgär: daher 
sagen sie „das Seyn", als welches vornehmer klingt — 
und denken sich dabei die vor ihnen stehenden Tische 
und Stühle. 
„Denn, weil, warum, darum, also, da, obgleich, 
zwar, dennoch, sondern, wenn — so, entweder — 
oder", und ähnliche mehr, sind eigentlich logische Par- 
tikeln; da ihr alleiniger Zweck ist, das Formelle der 
Denkprocesse auszudrücken. Sie sind daher ein kost- 
bares Eigen thum einer Sprache und nicht allen in 
gleicher Anzahl eigen. Namentlich scheint zwar (das 
zusammengezogene ,,es ist wahr") der deutschen Spra- 
che ausschliesshch anzugehören: es bezieht sich alle- 
9 Schopenhauer II '^ -^9 
mal auf ein folgendes, oder hinzugedachtes aber, wie 
wenn auf 50. 
Die logische Regel, dass die der Quantität nach 
einzelnen Urtheile, also die, welche einen Einzelbegrijjf 
(notio singularis) zum Subjekt haben, eben so zu be- 
handeln sind, wie die allgemeinen Urtheile, beruht 
darauf, dass sie in der That allgemeine Urtheile sind» 
die bloss das Eigene haben, dass ihr Subjekt ein Be- 
griff ist, der nur durch ein einziges reales Objekt be- 
legt werden kann, mithin nur ein einziges unter sich 
begreift: so, wenn der Begriff durch einen Eigennamen 
bezeichnet wird. Dies kommt aber eigentlich erst in 
Betracht, wenn man von der abstrakten Vorstellung 
abgeht zur anschaulichen, also die Begriffe realisiren 
will. Beim Denken selbst, beim Operiren mit den Ur- 
theilen, entsteht daraus kein Unterschied, weil eben 
zwischen Einzelbegriffen und Allgemeinbegriffen kein 
logischer Unterschied ist: ,, Immanuel Kant" bedeutet 
logisch : „alle Immanuel Kant". Demnach ist die Quan- 
tität der Urtheile eigentlich nur zwiefach : allgemeine 
und partikulare. Eine einzelne Porstellung kann gar 
nicht das Subjekt eines Urtheils seyn; weil sie kein Ab- 
straktum, kein Gedachtes, sondern ein Anschauliches 
ist: jeder Begriff hingegen ist wesentlich allgemein, 
und jedes Urtheil muss einen Begriff zum Subjekt 
haben. 
Der Unterschied der hesondern Urtheile (proposi- 
tiones particulares) von den allgemeinen beruht oft 
nur auf dem äussern und zufälligen Umstände, dass 
die Sprache kein Wort hat, um den hier abzuzwei- 
genden Theil des allgemeinen Begriffs, der das Subjekt 
eines solchen Urtheils ist, für sich auszudrücken, in 
welchem Fall manches besondere Urtheil ein allge- 
meines seyn würde. Z. B. das besondere Urtheil : „ei- 
nige Bäume tragen Galläpfel", wird zum allgemeinen, 
weil man für diese Abzweigung des Begriffs Baum 
ein eigenes Wort hat: ,,alle Eichen tragen Galläpfel". 
Eben so verhält sich das Urtheil : „einige Menschen 
sind schwarz", zu dem : „alle Mohren sind schwarz". — 
Oder aber jener Unterschied bciidit darauf, dass im 
Kopfe des Urtheilenden der Begriff, welchen er zum 
100 
Subjekt des besondern ürtheils macht, sich nicht deut- 
lich abgesondert hat von dem allgemeinen Begriff, 
als dessen Theil er ihn bezeichnet, sonst er statt dessen 
ein allgemeines Urtheil würde aussprechen können: 
z. B. statt des Unheils: „einige Wiederkäuer haben 
obere Vorderzähne", dieses: „alle ungehörnten Wie- 
derkäuer haben obere Vorderzähne". 
Das hypothetische und das disjunktive Urtheil sind 
Aussagen über das Verhältniss zweier (beim disjunk- 
tiven auch mehrerer) kategorischer Urtheile zu ein- 
ander. — Das hypothetische Urtheil sagt aus, dass von 
der Wahrheit des ersten der hier verknüpften kate- 
gorischen Urtheile die des zweiten abhängt, und von 
der Unwahrheit des zweiten die des ersten: also, dass 
diese zwei Sätze, in Hinsicht auf Wahrheit und Un- 
wahrheit, in direkter Gemeinschaft stehen. — Das 
disjunktive Urtheil hingegen sagt aus, dass von der 
Wahrheit des einen der hier verknüpften kategorischen 
Urtheile die Unwahrheit der übrigen abhänge, und 
umgekehrt; also dass diese Sätze, in Hinsicht auf 
Wahrheit und Unwahrheit, in Widerstreit stehen. — 
DieFrcKje ist ein Urtheil, von dessen drei Stücken eines 
offen gelassen ist: also entweder die Kopula: „ist 
Kajus ein Römer — oder nicht? oder das Prädikat: 
„ist Kajus ein Römer — oder etwas Anderes?" oder 
das Subjekt: „ist Kajus ein Römer — oder ist es ein 
Anderer?" — Die Stelle des offen gelassenen Begriffs 
kann auch ganz leer bleiben, z. B. was ist Kajus? — 
wer ist ein Römer? 
Die £7raYa)Y7j, inductio, bei Aristoteles, ist das Ge- 
gentheil der aizaf w'fri. Diese weist einen Satz als falsch 
nach, indem sie zeigt, dass was aus ihm folgen würde, 
nicht wahr ist; also durch die instantia in contrarium. 
Die sTraYfüYTrj hingegen weist die Wahrheit eines Satzes 
dadurch nach, dass sie zeigt, dass was aus ihm folgen 
würde, wahr ist. Sie treibt demnach durch Beispiele 
zu einer iVnnahme hin; die aT:a'(isy^ri treibt eben so 
von ihr ab. Mithin ist die eTtaYcoyT], oder Induktion, 
ein Schluss von den Folgen auf den Grund, und zwar 
modo ponente; denn sie stellt aus vielen Fällen die 
Regel auf, aus der diese dann wieder die Folgen sind. 
Q* l3l 
Eben deshalb ist sie nie vollkommen sieber, sondern 
bringt es höchstens zu sehr grosser Wahrscheinlich- 
keit. Indessen kann diese formelle Unsicherheit, durch 
die Menge der aufgezählten Folgen, einer materiellen 
Sicherheit Raum geben; in ähnlicher Weise, wie in 
der Mathematik die irrationalen Verhältnisse, mittelst 
Decimalbrüchen, der Rationalität unendlich nahe ge- 
bracht weiden. Die aTraYcoyTi hingegen ist zunächst 
der Schluss vom Grunde auf die Folgen, verfährt je- 
doch nachher modo tollente, indem sie das Nichtda- 
seyn einer nothwendigen Folge nachweist und da- 
durch die Wahrheit des angenommenen Grundes auf- 
hebt. Eben deshalb ist sie stets voUkonnnen sicher 
und leistet durch ein einziges sicheres Beispiel in con- 
trarium mehr, als die Induktion durch unzählige Bei- 
spiele für den aufgestellten Satz. So sehr viel leichter 
ist widerlegen, als beweisen, umwerfen, als aufstellen. 
KAPITEL lo. 
ZUR SYLLOGISTIK. 
WIEWOHL es sehr schwer hält, über einen seit 
mehr als zwei Tausend Jahren von Unzähligen 
behandelten Gegenstand, der überdies nicht durch 
Erfahrungen Zuwachs erhält, eine neue und richtige 
Grundansicht aufeustellen; so darf dies mich doch 
nicht abhalten, den hier folgenden Versuch einer sol- 
chen dem Denker zur Prüfung vorzulegen. 
Ein Schluss ist die Operation unserer Vernunft, 
vermöge welcher aus zwei Urtheilen, durch Ver- 
gleichung derselben, ein drittes entsteht, ohne dass 
dabei irgend anderweitige Erkenntniss zur Hülfe ge- 
nommen würde. Die Bedingun{j hiezu ist, dass solche 
zwei Urtheile einen Begriff gemein haben: denn sonst 
sind sie sich fremd und ohne alle Gemeinschaft. Un- 
ter dieser Bedingung aber werden sie Vater und Mut- 
i3ii 
ter eines Kindes, welches von Beiden etwas an sich 
hat. Auch ist besagte Operation kein Akt der Willkür, 
sondern der Vernunft, welche, der Betrachtung sol- 
cher Urtheile hingegeben, ihn von selbst, nach ihren 
eigenen Gesetzen, vollzieht: insofern ist er objektiv, 
nicht subjektiv, und daher den strengsten Regeln un- 
terworfen. 
Beiläufig fragt sich, ob der Schliessende durch den 
neu entstandenen Satz wirklich etwas Neues erfährt, 
etwas ihm vorher Unbekanntes? — Nicht schlecht- 
hin; aber doch gewissermaassen. Was er erfährt, lag 
in dem, was er wusste: also wusste er es schon mit. 
Aber er wusste nicht, dass er es wusste, welches ist, 
wie wenn man etwas hat, aber nicht weiss, dass man 
es hat; wo es so gut ist, als hätte man es nicht. Näm- 
lich er wusste es nur implicite, jetzt weiss er es ex- 
plicite: dieser Unterschied aber kann so gross seyn, 
dass ihm der Schlusssatz als eine neue Wahrheit er- 
scheint. Z. B. 
Alle Diamanten sind Steine; 
Alle Diamanten sind verbrennlich : 
Also sind einige Steine verbrennlich. 
Das Wesen des Schlusses besteht folglich darin, dass 
wir uns zum deutlichen Bewusstseyn bringen, die 
Aussage der Konklusion schon in den Prämissen mit- 
gedacht zu haben: er ist demnach ein Mittel, sich 
seiner eigenen Erkenntniss deutlicher bewusst zu wer- 
den, näher zu erfahren, oder inne zu werden, was 
man weiss. Die Erkenntniss, welche der Schlusssatz 
liefert, war latent, wirkte daher so wenig, wie latente 
Wärme aufs Thermometer wirkt. Wer Salz hat, hat 
auch Chlor; aber es ist als hätte er es nicht: denn 
nur wenn es chemisch entbunden ist, kann es als Chlor 
wirken; also erst dann besitzt er es wirklich. Eben 
so verhält sich der Erwerb, welchen ein blosser Schhiss 
aus schon bekannten Prämissen liefert: eine vorher 
r/ebnndene oder latente Erkenntniss wird dadurch fj-ei. 
Diese Vergleiche könnten zwar etwas übertrieben 
scheinen, sind es jedoch wohl nicht. Denn, weil wir 
viele der aus unsern Erkenntnissen möglichen Schlüsse 
sehr bald, sehr schnell und ohne Förmlickheit voll- 
i33 
ziehen, weshalb auch keine deutliche Erinnerunjj der- 
selben bleibt; so scheint es, dass keine Prämissen zu 
möfjlichen Schlüssen lanjje unbenutzt aufbewahrt 
blieben, sondern wir zu allen Prämissen, die im Be- 
reich unseres Wissens liejjen, auch schon die Kon- 
klusionen fertijj hätten. Allein dies ist nicht immer 
der F'all: vielmehr können, in einem Kopfe, zwei 
Prämissen lanjje Zeit ein isolirtes Daseyn haben, bis 
endlich ein Anlass sie zusammenführt, wo dann die 
Konklusion plötzlich hervorspringt, wie aus Stahl und 
Stein, erst wann sie aneinander schlagen, der Funke. 
Wirklich liegen, sowohl zu theoretischen Einsichten, 
als zu Motiven, welche Entschlüsse herbeiführen, die 
von Aussen aufgenommenen Prämissen oft lange in 
uns und werden, zum Theil durch undeutlich bewusste, 
selbst wortlose Denkakte, mit unserm übrigen Vor- 
rath von Erkenntnissen verglichen, ruminirt und 
gleichsam durcheinander geschüttelt, bis endlich die 
rechte Major auf die rechte Minor trifft, wo diese als- 
bald sich gehörig stellen und nun die Konklusion mit 
Einem Male dasteht, als ein uns plötzlich aufgegange- 
nes Licht, und ohne unser Zuthun, als wäre sie eine 
Inspiration: da begreifen wir nicht, wie wir und wie 
Andere Das so lange nicht erkannt haben. Freilich 
wird im glücklich organisirten Kopf dieser Process 
schneller und leichter vor sich gehen, als im gewöhn- 
lichen: und eben w^eil er spontan, ja ohne deutliches 
Bewusstsein vollzogen wird, ist er nicht zu erlernen. 
Daher sagt Goethe: 
,,\Vie etwas sei leicht, 
Weiss, der es erfunden und der es erreicht." 
Als ein Gleichniss des geschilderten Gedankenprocesses 
kann man jene Vorhängschlösser betrachten, die aus 
Ringen mit Buchstaben bestehen: am Koffer eines 
Reisewagens hängend w erden sie so lange geschüttelt, 
bis endlich die Buchstaben des Wortes gehörig zu- 
sammentreffen und das Schloss aufgeht. Uebrigens 
aber ist dabei zu bedenken, dass der Syllogismus im 
Gedankengange selbst besteht, die Worte und Sätze 
aber, durch welche man ihn ausdrückt, bloss die nach- 
i34 
gebliebene Spur desselben bezeichnen: sie verhalten 
sich zu ihm, wie die Klangfiguren aus Sand zu den 
Tönen, deren Vibrationen sie darstellen. Wann wir 
etwas überdenken wollen, rücken wir unsere Data zu- 
sammen, sie konkresciren zu Urtheilen, welche sä mmt- 
lich schnell aneinandergehalten und verglichen wer- 
den, wodurch sich augenblicklich die daraus mögli- 
chen Konklusionen, mittelst des Gebrauchs aller drei 
syllogistischen Figuren, absetzen; wobei jedoch, wegen 
der grossen Schnelligkeit dieser Operationen, nur we- 
nige, bisweilen gar keine Worte gebraucht werden 
und bloss die Konklusion förmlich ausgesprochen 
wii'd. So geschieht es denn auch bisweilen, dass, indem 
wir auf diesem Wege, oder auch auf dem bloss intui- 
tiven, d. h. durch ein glückliches Appercu, irgend eine 
neue Wahrheit uns zum Bewusstseyn gebracht haben, 
wir nun zu ihr, als der Konklusion, die Prämissen 
suchen, d. h. einen Beweis für die selbe aufstellen 
möchten: denn die Erkenntnisse sind in der Regel 
früher da, als ihre Beweise. Wir durchwühlen alsdann 
den Vorrath unserer Erkenntnisse, um zu sehen, ob 
wir nicht darin irgend eine Wahrheit finden können, 
in welcher die neu entdeckte schon implicite enthalten 
wäre, oder zwei Sätze, durch deren regelmässige An- 
einanderfügung diese sich als Resultat ergäbe. — Hin- 
gegen liefert den förmlichsten und grossartigsten Syl- 
logismus, und zwar in der ersten Figur, jeder gericht- 
liche Process. Die Civil- oder Kriminal-Uebertretung, 
wegen welcher geklagt wird, ist die Minor: sie wird 
vom Kläger festgestellt. Das Gesetz für solchen Fall 
ist die Major. Das Urtheil ist die Konklusion, welche 
daher, als ein Noth wendiges, vom Richter bloss „er- 
kannt" wird. 
Jetzt aber will ich versuchen, von dem eigentlichen 
Mechanismus des Schliessens die einfachste und rich- 
tigste Darstellung zu geben. 
Das Urtheilen, dieser elementare und wichtigste 
Process des Denkens, besteht im Vergleichen zweier 
Begrißfe; das Schliessen im Vergleichen zweier Ur- 
theile. Inzwischen wird gewöhnlich, in den Lehrbü- 
chern, das Schliessen ebenfalls auf ein Vergleichen 
i35 
von Begriffen zuiückgefiihrt, wiewohl von dreien; in- 
dem nämlich aus dem Verhältniss, welches zwei dieser 
Befjrifi'e /um dritten hahen, Dasjenige, welches sie zu 
einander haben, erkannt würde. Dieser Ansicht lässt 
sich die Wahrheit auch nicht absprechen, und indem 
dieselbe Anlass zu der, auch von mir im Text gelobten, 
anschaulichen Darstellung der syllogistischen Ver- 
hältnisse mittelst gezeichneter Begritfssphären giebt, 
hat sie den Vorzug, die Sache leicht fasslich zu machen. 
Allein mir scheint, dass hier, wie in so manchen Fällen, 
die Fasslichkeit auf Kosten der Gründlichkeit erreicht 
wird. Der eigentliche Denkprocess beim Schliessen, 
mit welchem die drei syllogistischen Figuren und ihre 
Nothwendigkeit genau zusammenhängen,wirddadurch 
nicht erkannt. Wir operiren nämlich beim Schliessen 
nicht mit blossen Begrijf'en, sondern mit ganzen Ur- 
theilen, denen die Qualität, die allein in der Kopula 
und nicht in den Begriflen liegt, wie auch die Quan- 
tität, durchaus wesentlich ist, wozu auch sogar noch 
die Modalität kommt. Jene Darstellung des Schlusses 
als eines Verhältnisses dreier BegriJJ'e fehlt darin, dass 
sie die Urtheile sogleich in ihre letzten Bestandtheile 
(die Begritlfe) auflöst, wobei das Bindungsmittel dieser 
verloren geht und das den Urtheilen als solchen und 
in ihrer Ganzheit Eigenthümliche, welches gerade die 
Nothwendigkeit der aus ihnen hervorgehenden Kon- 
klusion herbeiführt, aus den Augen gebracht wird. Sie 
verfällt hiedurch in einen Fehler, der dem analog ist, 
den die organische Chemie begienge, wenn sie z. B. 
in der Analyse der Pflanzen, diese sogleich in ihre 
letzten Bestandtheile auflöste, wo sie denn bei allen 
Pflanzen Karbon, Hydro(;en undOxvgen erhalten, aber 
die specifischen Unterschiede verlieren würde, welche 
zu gewinnen man bei den nähern Bestandtheilen, den 
sogenannten A Ikaloiden, stehen blei ben und sich hüten 
muss, diese gleich wieder zu zersetzen. — Aus drei 
gegebenen Begriffen lässt sich noch kein Schluss ziehen. 
Da sagt man freilich: das Verhältniss zweier derselben 
zum dritten muss dabei gegeben seyn. Der Ausdruck 
dieses Verhältnisses sind ja aber gerade die jene Be- 
griffe verbindenden Urtheile: also sind Ur-theile, nicht 
i36 
blosse Begriffe, der Stoff des Schlusses. Demnach ist 
Schliessen wesentlich ein Vergleichen zweier Ujtheite: 
mit diesen, mit den durch sie ausgedrückten Gedanken, 
und nicht bloss mit drei Begriffen, geht der Denk- 
process in unserm Kopfe, auch wenn er unvollständig 
oder gar nicht durch Worte bezeichnet wird, vorsieh, 
und als solchen, als ein Aneinanderhalten der ganzen, 
unzerlegten ürtheile, muss man ihn in Betrachtung 
nehmen, um den technischen Hergang beim Schliessen 
eigentlich zu verstehen, woraus dann auch die Noth- 
wendigkeit dreier, wirklich vernunftgemässer, syllo- 
gisiischer Figuren sich ergeben wird. 
Wie man, bei der Darstellung der Syllogistik mit- 
telst Begriffssphären, diese sich unter dem Bilde von 
Kreisen denkt; so hat man, bei der Darstellung mit- 
telst ganzer ürtheile, sich diese unter dem Bilde von 
Stäben zu denken, die, zum Behuf der Vergleichung 
bald mit dem einen, bald mit dem andern Ende an- 
einander gehalten werden; die verschiedenen Weisen 
aber, nach denen dies geschehen kann, geben die drei 
Figuren. Da nun jede Prämisse ihr Subjekt und ihr 
Prädikat enthält; so sind diese zwei Begriffe als an 
den beiden Enden jedes Stabes befindlich vorzustellen. 
Verglichen werden jetzt die beiden ürtheile hinsicht- 
lich der in ihnen beiden verschiede7ien Begriffe: denn 
der dritte Begriff muss in beiden, wie schon erwähnt, 
der selbige seyn; daher er keiner Vergleichung unter- 
worfen, sondern das ist, ivoran, d. h. in Bezug worauf, 
die beiden andern verglichen werden; es ist der Me- 
diiis. Dieser ist sonach immer nur das Mittel und nicht 
die Hauptsache. Die beiden disparaten Begriffe hin- 
gegen sind der Gegenstand des Nachdenkens, und ihr 
Verhältniss zu einander, mittelst der ürtheile in denen 
sie enthalten sind, herauszubringen, ist der Zweck des 
Syllogismus : daher eben redet die Konklusion nur von 
ihnen, nicht aber vom Medius, als welcher ein blosses 
Mittel, ein Maassstab war, den man fallen lässt, sobald 
er gedient hat. Ist nun dieser in beiden Sätzen identische 
Begriff, also der Medius, in e»ier Prämisse, das Subjekt 
derselben; so muss der zu vergleichende Begriff ihr 
Prädikat seyn, und umgekehrt. Sogleich stellt sich hier 
■ 37 
a priori die Möj^lichkeit dreier Falle heraus, entwe- 
der nämlich wird dasSubjekt der eme/il*räinis.se mit dem 
Prädikat der andern ver^jlichen, oder aber das Subjekt 
der einen mit dem Subjekt der andern, oder endlich 
das Prädikat der einen mit dem Prädikat der andern. 
Hieraus entstehen die drei syllogistischen Figuren des 
Aristoteles: die vierte, welche, etwas naseweis, hinzujje- 
fügt worden, ist unächt und eine Afterart: man schreibt 
sie dem Galenus zu; jedoch beruht dies bloss auf Ara- 
bischen Auktoritäten. Jede der drei Figuren stellt ei- 
nen ganz verschiedenen, richtigen und natürhchen 
Gedankengang der Vernunft beim Schliessen dar. 
Ist nämlich, in den zwei zu vergleichenden Urthei- 
len, das Verhältniss zwischen dem Prädikat des einen 
und dem Subjekt des andern der Zweck der Verglei- 
chung: so entsteht die erste Figur. Diese allein hat den 
Vorzvig, dass die Begriffe, welche in der Konklusion 
Subjekt und Prädikat sind, beide auch schon in den 
Prämissen in derselben Eigenschaft auftreten; wäh- 
rend in den zwei andern Figuren stets einer von ihnen 
in der Konklusion seine Rolle wechseln muss. Dadurch 
aber hat in der ersten Figur das Resultat stets weni- 
ger Neuheit und Ueberraschendes, als in den beiden 
andern. Jener Vorzug der ersten Figur wird nun da- 
durch erreicht, dass das Prädikat der Major vergli- 
chen wird mit dem Subjekt der Minor; nicht aber um- 
gekehrt; Avelches daher hier wesentlich ist und her- 
beifühi-t, dass der Medius die beiden ungleichnamigen 
Stellen einnimmt, d. h. in der Major Subjekt und in 
der Minor Prädikat ist; woraus eben wieder seine un- 
tergeordnete Bedeutung hervorgeht, indem er figurirt 
als ein blosses Gewicht, welches man beliebig bald in 
die eine, bald in die andere Waagschale legt. Der Ge- 
dankengang bei dieser Figur ist, dass dem Subjekt der 
Minor das Prädikat der Major zukommt, weil das Sub- 
jekt der Major dessen eigenes Prädikat ist; oder im 
negativen Fall, aus demselben Grunde, dasUmgekehrte. 
Hier wird also den durch einen Begriff gedachten Din- 
gen eine Eigenschaft beigelegt, weil sie einer andern an- 
hängt, die wir schon an ihnen kennen; oder umge- 
kehrt. Daher ist hier das leitende Princip : nota notae 
i38 
est nota rei ipsius, et repujjnans notae repugnat rei 
ipsi. 
Vergleichen wir hingegen zwei Urtheile in der Ab- 
sicht, das Verhäkniss, welches die Subjekte beider zu 
einander haben mögen, herauszubringen; so müssen 
wir zum gemeinsamen Maassstab das Prädikat dersel- 
selben nehmen : dieses wird demnach hier der Medius 
und muss folghch in beiden ürtheilen dasselbe seyn. 
Daraus entsteht die zweite Figur. Hier wird das Ver- 
hältniss zweier Subjekte zu einander bestimmt, durch 
dasjenige, welches sie zu einem und demselben Prä- 
dikat haben. Dies Verhältniss kann aber nur dadurch 
bedeutsam werden, dass dasselbe Prädikat dem einen 
Subjekt beigelegt, dem andern abgesprocheu wird, als 
wodurch es zu einem wesentlichen ünterscheidungs- 
grunde beider wird. Denn würde es beiden Subjekten 
beigelegt; so könnte dies über ihr Verhältniss zu ein- 
ander nicht entscheidend seyn: weil fast jedes Prädi- 
kat unzähligen Subjekten zukommt. Noch weniger 
würde es entscheiden, wenn man es Beiden abspräche. 
Hieraus folgt der Grundcharakter der zweiten Figur, 
dass nämlich die beiden Prämissen entgegengesetzte 
Qualität haben müssen: die eine muss bejahen, die 
andere verneinen. Daher ist hier die oberste Regel: 
sit altera negans : deren KoroUarium ist: e meris afhr- 
mativis nihil sequitur; eine Regel, gegen welche in 
einer losen, durch viele Zwischensätze verdeckten Ar- 
gumentation bisweilen gesündigt wird. Aus dem Ge- 
sagten geht der Gedankengang, den diese Figur dar- 
stellt deutlich hervor: es ist die Untersuchung zweier 
Arten von Dingen, in der Absicht sie zu unterscheiden; 
also festzustellen, dass sie nicht gleicher Gattung sind, 
welches hier dadurch entschieden wird, dass der einen 
Art eine Eigenschaft wesentlich ist, welche der andern 
fehlt. Dass dieser Gedankengang ganz von selbst die 
zweite Figur annimmt und nur in dieser sich scharf 
ausprägt, zeige ein Beispiel: 
Alle Fische haben kaltes Blut; 
Kein Wallfisch hat kaltes Blut: 
Also ist kein Wallfisch ein Fisch. 
i39 
Hin^^egen stellt dieser Gedanke sich in der ersten 
Figur matt, gezwungen und zuletzt ausgeflickt dar: 
Keines, was kaltes Blut hat, ist ein WallHsch; 
Alle Fische haben kaltes Blut: 
Also ist kein Fisch ein VVallhsch, 
Und folglich kein Wallfisch ein Fisch. — 
Auch ein Beispiel mit bejahender Minor: 
Kein Mohammedaner ist ein Jude; 
Einige Türken sind Juden: 
Also sind einige Türken keine Mohammedaner. 
Als das leitende Princip für diese Figur stelle ich 
demnach auf: für die Modi mit verneinender Minor: 
cui repugnat nota, etiam repugnat notatum: und für 
die mit bejahender Minor: notato repugnat id cui 
nota repugnat. Deutsch lässt es sich so zusammenfassen : 
zwei Subjekte, die zu einem Prädikat in entgegenge- 
setztem Verhältnisse stehen, haben zu einander ein 
negatives. 
Der dritte Fall ist der, dass es die Prädikate zweier 
Urtheile sind, deren Verhältniss zu erforschen wir 
die Urtheile zusammenstellen : hieraus entsteht die 
dritte Figur, in welcher demgemäss der Medius in 
beiden Prämissen als Subjekt auftritt. Er ist auch hier 
das tertium comparationis, der Maassstab, der an 
beide zu untersuchende Begriffe gelegt wird, oder 
gleichsam ein chemisches Reagens: an welchem man 
beide -prüft, um aus ihrem Verhältniss zu ihm, das 
zu erfahren, welches zwischen ihnen selbst Statt fin- 
det: demzufolge sagt dann die Konklusion aus, ob 
zwischen ihnen beiden ein Verhältniss von Subjekt 
und Pi'ädikat vorhanden ist und wie weit sich dieses 
erstreckt. Demnach stellt in dieser Figur sich das 
Nachdenken über zwei Eigenschaften dar, welche man 
entweder für unvereinbar, oder aber für unzertrenn- 
lich zu halten geneigt ist, und um dieses zu entschei- 
den, sie in zwei Urtheilen zu Prädikaten eines und 
desselben Subjekts zu macheu versucht. Hierdurch 
ergiebt sich nun, entweder dass beide Eigenschaften 
einem und demselben Dinge zukommen, folglich ihre 
P^ereinharkeit, oder aber, dass ein Ding zwar die 
i4o 
eine, jedoch nicht die andere hat, IblgHch ihre Trenn- 
bai-keit: Ersteres in allen Modis mit zwei affirmi- 
renden, Letzteres in allen mit einer negirenden Prä- 
misse: z. B. 
Einige Thiere können sprechen; 
Alle Thiere sind unvernünftig: 
x\lso können einige Unvernünltige sprechen. 
Nach Kant (die falsche Spitzfindigkeit §. 4) würde 
nun dieser Schluss nur dadurch konklusiv seyn, dass 
wir in Gedanken hinzufügten: „also einige Unver- 
nünftige sind Thiere". Dies scheint hier aber durchaus 
überflüssig und keineswegs der natürliche Gedanken- 
gang zu seyn. Um aber denselben Gedankenprocess 
direkt mittelst der ersten Figur zu vollziehen, müsste 
ich sagen: 
„Alle Thiere sind unvernünftig; 
Einige Sprechenkönnende sind Thiere", 
welches offenbar nicht der natürliche Gedankengang 
ist: ja, die alsdann sich ergebende Konklusion „einige 
Sprechenkönnende sind unvernünftig" müsste umge- 
kehrt werden, um den Schlusssatz zu erhalten, den 
die dritte Figur von selbst ergiebt und auf welchen 
der ganze Gedankengang es abgesehen hat. — Nehmen 
wir noch ein Beispiel: 
Alle Alkalimetalle schwimmen auf dem Wasser; 
Alle Alkalimetalle sind Metalle: 
Also einige Metalle schwimmen auf dem Wasser. 
Bei der Versetzung in die erste Figur muss die 
Minor umgekehrt werden, lautet also: „einige Me- 
talle sind Alkalimetalle"; sie besagt mithin nur, 
dass einige Metalle in der Sphäre „Alkalimetalle" lie- 
gen, so: 
i4. 
während unsere wirkliche Erkenntniss ist, dass alle 
Alkalimetalle in der Sphäre „Metalle" liegen, so: 
Folglich müssten wir, wenn die'^erste Figur die allein 
normale seyn soll, um naturgemäss zu denken, we- 
niger denken, als wir wissen, und unbestimmt den- 
ken, während wir bestimmt wissen. Diese Annahme 
hat zu viel gegen sich. Ueberhaupt also ist zu leug- 
nen, dass wir, beim Schliessen in der zweiten und drit- 
ten Figur, im Stillen einen Satz umkehren. Vielmehr 
stellt die dritte und auch die zweite Figur einen eben 
so vernunftgemässen Gedankenprocess dar, wie die 
erste. Betrachten wir jetzt noch ein Beispiel der an- 
dern Art der dritten Figur, wo die Trennbarkeit der 
beiden Prädikate das Ergebniss ist; weshalb hier eine 
Prämisse negirend seyn muss: 
Kein Buddhaist glaubt einen Gott; 
Einige Buddhaisten sind vernünftig : 
Also glauben einige Vernünftige keinen Gott. 
Wie in den obigen Beispielen die Vereinbarkeit, so 
ist jetzt die Trennbarkeit zweier Eigenschaften das 
Problem der Reflexion, welches auch hier dadurch 
entschieden wird, dass n)an sie an einem Subjekt ver- 
gleicht und an diesem die eii^e ohne die andere nach- 
weist: dadurch erreicht man seinen Zweck unmittel- 
bar, während man ihn durch die erste Figur nur 
mittelbar erreichen könnte. Denn um den Schluss auf 
diese zu reduziren, müsste man die Minor umkehren, 
mithinsagen: „Einige Vernünftige sind Buddhaisten", 
welches nur ein verfehlter Ausdruck des Sinnes der- 
selben wäre, als welcher besagt: „Einige Buddhaisten 
sind denn doch wohl vernünftig." 
Als das leitende Princip dieser Figur stelle ich 
demnach auf: für die bejahenden Modi: ejusdein rei 
notae, modo sit altera universahs, sibi invicem sunt 
notae particulares: und für die verneinenden Modi: 
nota rei competens, notae eidem repu^jnanti, particu- 
lariterrepugnat,modositaherauniversaHs. Zu deutsch: 
Werden von einem Subjekte zwei Prädikate bejaht, 
und zwar wenigstens eines allgemein, so werden sie 
auch von einander partikulär bejaht; hingegen parti- 
kulär verneint, sobald eines derselben dem Subjekt 
widerspricht, von dem das andere bejaht wird: nur 
muss Jenes oder Dieses allgemein geschehen. 
In der vieTten Figui^ soll nun das Subjekt der Major 
mit dem Prädikat der Minor verglichen werden: al- 
lein in der Konklusion müssen Beide ihren Werth 
und ihre Stelle wieder vertauschen, so dass als Prä- 
dikat auftritt, was in der Major Subjekt war und als 
Subjekt, was in der Minor Prädikat war. Hieran wird 
sichtbar, dass diese Figur bloss die muthwillig auf 
den Kopf gestellte e?'ste, keineswegs aber der Aus- 
druck eines wirklichen und der Vernunft natürlichen 
Gedankenganges ist. 
Hingegen sind die drei ersten Figuren der Ektypos 
dreier wirklicher und wesentlich verschiedener Denk- 
operationen. Diese haben das Gemeinsame, dass sie in 
der Vergleichung zweier Urtheile bestehen; aber eine 
solche wird nur dann fruchtbar, wann sie e/«e/i Be- 
griff gemeinschaftlich haben. Diesen können wir, wenn 
wir uns die Prämissen unter dem Bilde zweier Stäbe 
versinnlichen, als einen Haken denken, der sie mit 
einander verbindet: ja man könnte, beim Vortrage, 
sich solcher Stäbe bedienen. Die drei Figuren unter- 
scheiden sich hingegen dadurch, dass jene Urtheile 
verglichen werden entweder hinsichtlich ihrer beiden 
Subjekte, oder aber ihrer beiden Prädikate, oder end- 
lich hinsichtlich des Subjekts des einen und des Prä- 
dikats des andern. Da nun jeder Begriff bloss sofern 
er bereits Theil eines ürtheils ist die Eigenschaft hat, 
Subjekt oder Prädikat zu seyn; so bestätigt dies meine 
Ansicht, dass im Syllogismus zunächst nur Urtheile 
verglichen werden, Begriffe aber bloss sofern sie Theile 
von Urtheilen sind. Beim Vergleich zweier Urtheile 
i 43 
kommt es aber wesentlich darauf an, in Hinsicht auf 
was man sie ver{jleicht, nicht aber darauf, wodurch 
man sie vergleicht: jenes sind die disparaten Begriffe 
derselben, letzteres der Medius, d. h. der in beiden 
identische Begriff'. Es ist daher nicht der rechte Ge- 
sichtspunkt, den Lambert, ja eigentlich schon jlristo- 
teles und fast alle Neueren genommen haben, bei der 
Analyse der Schlüsse vom Medius auszugeben, ihn zur 
Hauptsache und seine Stellung zum wesentlichen 
Charakter der Schlüsse zu machen. Vielmehr ist seine 
Rolle nur eine sekundäre und seine Stellung eine 
Folge des logischen Werthes der im Syllogismus ei- 
gentlich zu vergleichenden Begriffe. Diese sind zweien 
Substanzen, die chemisch zu prüfen wären, zu ver- 
gleichen, der Medius aber dem Reagens, an welchem 
sie geprüft werden. Er nimmt daher allemal die Stelle 
ein, welche die zu vergleichenden Begriffe leer lassen, 
und kommt in der Konklusion nicht mehr vor. Er 
wird gewählt je nachdem sein Verhältniss zu beiden 
Begriffen bekannt ist und er sich zu der einzuneh- 
menden Stelle eignet: daher kann man ihn in vielen 
Fällen auch beliebig gegen einen andern vertauschen, 
ohne dass es den Syllogismus affizirt: z. B. in dem 
Schluss: 
Alle Menschen sind sterblieh; 
Kajus ist ein Mensch: 
kann ich den Medius „Mensch" vertauschen mit 
„animalische Wesen". In dem Schluss: 
Alle Diaujanten sind Steine: 
Alle Diamanten sind brennbar: 
kann ich den Medius „Diamant" vertauschen mit 
„Anthracit". Als äusseres Merkmal, daran man so- 
gleich die Figur eines Schlusses erkennt, ist allerdings 
der Medius sehr brauchbar. Aber zum Grundcharak- 
ter einer zu erklärenden Sache muss man ihr Wesent- 
liches nehmen: dieses ist hier aber, ob man zwei Sätze 
zusammenstellt, um ihre Prädikate, oder ihre Subjekte, 
oder das Prädikat des einen und das Subjekt des an- 
dern zu vergleichen. 
Also um als Prämissen eine Konklusion zu erzeugen, 
müssen zwei Urtheile einen gemeinschaftlichen Begriff' 
i44 
haben, ferner nicht beide verneinend, auch nicht beide 
partikular seyn, endHch im Fall die beiden in ihnen 
zu vergleichenden Begriffe ihre Subjekte sind, dürfen 
sie auch nicht beide bejahend seyn. 
Als ein Sinnbild des Syllogismus kann man die 
Voltaische Säule betrachten: ihr Indifferenzpunkt in 
der Mitte stellt den Medius vor, der das Zusammen- 
haltende der beiden Prämissen ist, vermöge dessen 
sie Schlusskraft haben: die beiden disparaten Begriffe 
hingegen, welche eigentlich das zu Vergleichende 
sind, werden durch die beiden heterogenen Pole der 
Säule dargestellt: erst indem diese, mittelst ihrer bei- 
den Leitungsdrähte, welche die Kopula der beiden 
ürtheile versinnlichen, zusammengebracht werden, 
springt bei ihrer Berührung der Funke, — das neue 
Licht der Konklusion hervor. 
KAPITEL II*). 
ZUR RHETORIK. 
BEREDSAMKEIT ist die Fähigkeit, unsere Ansicht 
einer Sache, oder unsere Gesinnung hinsichtlich 
derselben, auch in Andern zu erregen, unser Gefühl da- 
rüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie 
mit uns zu versetzen; dies Alles aber dadurch, dass 
wir, mittelst Worten, den Strom unserer Gedanken 
in ihren Kopf leiten, mit solcher Gewalt, dass er den 
ihrer eigenen von dem Gange, den sie bereits genom- 
men, ablenkt, und in seinen Lauf mit fortreisst. Dies 
Meisterstück wird um so grösser seyn, je mehr der 
Gang ihrer Gedanken vorher von dem unserigen ab- 
wich. Hieraus wird leicht begreiflich, warum dieeigene 
Überzeugung und die Leidenschaft beredt macht, und 
überhaupt Beredsamkeit mehr Gabe der Natur, als 
*) Dieses Kapitel steht in Beziehung zum Schlüsse des §. 9 des 
-ersten Bandes. [S. 48 d. A.] 
I o Schopenhauer II I 4 ^ 
Werk der Kunst ist: doch wird auch hier die Kunst 
die Natur unterstützen. 
Um einen Andern von einer Wahrheit, die gegen 
einen von ihm festgehakenen Irrthuui streitet, zu 
überzeugen, ist die erste zu befolgende Regel eine 
leichte und natürliche: man lasse die Präinissen vor- 
angehen, Hie Konklusion aber folgen. Dennoch wird 
diese Regel selten beobachtet, sondern umgekehrt ver- 
fahren; weil Eifer, Hasligkeit und Rechthaberei uns 
treiben, die Konklusion, laut und gellend, dem am 
entgegengesetzten Irrthum Hängenden entgegen zu 
schreien. Dies macht ihn leicht kopfscheu, und nun 
stemmt er seinen Willen gegen alle Gründe und Prä- 
missen, von denen er schon weiss, zu welcher Konklu- 
sion sie führen. Daher soll man vielmehr die Kon- 
klusion völlig verdeckt halten und allein die Prämissen 
geben, deutlich, vollständig, allseitig. Wo möglich 
spreche man sogar die Konklusion gar nicht aus: sie 
wird sich in der Vernunft der Hörer nothwendig und 
gesetzmässig von selbst einfinden, und die so in ihnen 
selbst geborene Ueberzeugung wird um so aufrichtiger, 
zudem von Selbstgefühl, statt von Beschämvmg, be- 
gleitet seyn. In schwierigen Fällen kann man sogar 
die Miene machen, zu einer ganz entgegengesetzten 
Konklusion, als die man wirklich beabsicbtigt, gelan- 
gen zu wollen. Ein Muster dieser Art ist die beriüimte 
Rede des Antonius im „Julius Cäsar" von Shakespeare. 
Beim Vertheidigen einer Sache versehen Viele es 
darin, dass sie alles Ersinnliche, was sich dafür sagen 
lässt, getrost vorbringen, Wahres, Halbwahres und 
bloss Scheinbares durcheinander. Aber das Falsche 
wird bald erkannt, oder doch gefühlt, und verdäch- 
tigt nun auch das mit ihm zusammen vorgetragene 
Triftige und Wahre: man gebe also dieses rein und 
allein, und hüte sich, eine Wahrheit mit unzuläng- 
lichen und daher, sofern sie als zulänglich aufgestellt 
werden, sophistischen Gründen zu vertheifli{jen: denn 
der Gegner stösst diese um und gewinnt dadurch den 
Schein, auch die daraufgestützte Wahrbeit selbst um- 
gestossen zu haben: d. h. er macht argumenta ad ho- 
minem als argumenta ad rem geltend. Zu weit, auf 
i46 
der andern Seite, flehen vielleicht die Chinesen, indem 
sie folgenden Spruch haben : „Wer beredt ist und eine 
scharfe Zunge hat, mag immer die Hälfte eines Satzes 
unausgesprochen lassen; und wer das Recht auf seiner 
Seite hat, kann drei Zehntel seiner Behauptung getrost 
nachgeben." 
KAPITEL 12*). 
ZUR WISSENSCHAFTSLEHRE. 
AUS der in sämmtlichen vorhergegangenen Kapi- 
teln gegebenen Analyse der verschiedenen Funk- 
tionen unseres Intellekts erhellt, dass zu einem regel- 
rechten Gebrauch desselben, sei es in theoretischer 
oder in praktischer Absicht, Folgendes erforderlich 
ist: i) die richtige anschauende Auffassung der in Be- 
tracht genommenen realen Dinge und aller ihrer we- 
sentlichen Eigenschaften und Verhältnisse, also aller 
Data. i) Die Bildung richtiger Begriffe aus diesen, 
also die Zusammenfassung jener Eigenschaften unter 
richtige Abstrakta, welche jetzt das Material des 
nachfolgenden Denkens werden. 3) Die Vergleichung 
dieser Begriffe, theils mit dem Angeschauten, theils 
unter sich, theils mit dem übrigen Vorrath von Be- 
griffen : so dass richtige, zur Sache gehörige und diese 
vollständig befassende und erschöpfende Ürtheile dar- 
aus hervorgehen : also richtige Beurtheilung der Sache. 
4) Die Zusammenstellung, oder Kombination dieser 
Ürtheile zu Prämissen von Schlüssen: diese kann nach 
Wahl und Anordnung der Ürtheile sehr verschieden 
ausfallen und doch ist das eigentliche Resultat der 
ganzen Operation zunächst von ihr abhängig. Es 
kommt hiebei darauf an, dass, aus so vielen möglichen 
Kombinationen jener verschiedenen zur Sache ge- 
hörigen Ürtheile, die freie Ueberlegung gerade die 
*) Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. i4 des ersten Bandes. 
[S. 77 d. A.] 
i47 
zweckdienlichen und entscheidenden treffe. — Ist aber 
bei der ersten Funktion, also bei der anschauenden 
Auffassung der Din^je und Verhältnisse, irgend ein 
wesentlicher Punkt übersehen worden; so kann die 
Richtigkeit aller nachfolgenden Operationen des Gei- 
stes doch nicht verhindern, dass das Resultat falsch 
ausfalle: denn dort liegen die Data, der Stoff der gan- 
zen Untersuchung. Ohne die Gewissheit, dass diese 
richtig und vollständig beisammen seien, soll man 
sich, in wichtigen Dingen, jeder definitiven Entschei- 
dung enthalten. — 
Ein Begriff ist 7'ichtig ; ein Urtheil wahr; ein Körper 
real; ein Verhältniss evident. — Ein Satz von unmittel- 
barer Gewissheit ist ein Axiom. Nur die Grundsätze 
der Logik und die aus der Anschauung a priori ge- 
schöpften der Mathematik, endlich auch das Gesetz 
der Kausalität, haben unmittelbare Gewissheit. — 
Ein Satz von mittelbarer Gewissheit ist ein Lehrsatz, 
und das dieselbe Vermittelnde ist der Beweis. — Wird 
einem Satz, der keine unmittelbare Gewissheit hat, 
eine solche beigelegt; so ist er eine petitio principii. 
— Ein Satz, der sich unmittelbar auf die empirische 
Anschauung beruft, ist eine Assertion: seine Konfron- 
tation mit derselben verlangt Urtheilskraft. — Die 
empirische Anschauung kann zunächst nur einzelne, 
nicht aber allgemeine Wahrheiten begründen : durch 
vielfache Wiederholung und Bestätigung erhalten 
solche zwar auch Allgemeinheit, jedoch nur eine kom- 
parative und prekäre, weil sie immer noch der An- 
fechtung offensteht. — Hat aber ein Satz absolute 
Allgemeingültigkeit; so ist die Anschauung, auf die 
er sich beruft, keine empirische, sondern a priori. 
Vollkommen sichere Wissenschaften sind demnach 
allein Logik und Mathematik: sie lehren uns aber 
auch eigentlich nur, was wir schon vorher wussten. 
Denn sie sind blosse Verdeutlichungen des uns a pri- 
ori Bewussten, nämlich der Formen unseres eigenen 
Erkennens, die eine der des denkenden, die andere 
der des auschauenden. Wir spinnen sie daher ganz 
aus uns selbst heraus. Alles andere Wissen ist empirisch. 
Ein Beweis beweist zu viel, wenn er sich auf Dinge 
i48 
oder Fälle erstreckt, von denen das zu Beweisende 
offenbar nicht gilt, daher er durch diese apagogisch 
widerlegt wird. — Die Deductio ad absurdum besteht 
eigentlich darin, dass man, die aufgestellte falsche Be- 
hauptung zum Obersatze nehmend und eine richtige 
Minor hinzufügend, eine Konklusio erhält, welche er- 
fehrungsmässigen Thatsachen oder unbezweifelbaren 
Wahrheiten widerspricht. Auf einem Umwege aber 
muss eine solche für jede falsch^ Lehre möglich seyn; 
sofern der Verfechter dieser doch wohl irgend eine 
Wahrheit erkennt und zugiebt: denn alsdann müssen 
die Folgerungen aus dieser und andererseits die aus 
der falschen Behauptung sich so weit fortführen las- 
sen, bis zwei Sätze sich ergeben, die einander gerade- 
zu widersprechen. Von diesem schönen Kunstgriff 
ächter Dialektik finden wir im Plato viele Beispiele. 
Eine 7'ichtige Hypothese ist nichts weiter, als der 
wahre und vollständige Ausdruck der vorliegenden 
Thatsache, welche der Urheber derselben in ihrem 
eigentlichen Wesen und innern Zusammenhang in- 
tuitiv aufgefasst hatte. Denn sie sagt uns nur, was 
hier eigentlich vorgeht. 
Den Gegensatz der analytischen und synthetischen 
Methode finden wir schon beim Ai^istoteles angedeutet, 
deutlich beschrieben jedoch vielleicht zuerst beim 
Prok/os, als welcher ganz richtig sagt: Me^oSotosTrapa- 
otoovTaf xaXXioTT] fxev i] oia tt]? ava^uasco? stt' ap)(7jv 
6[jLoXoYOU|j.£V7]v ava^ouca xo Cxiiooiiew^' tjv xai llXaxcov, <jjc, 
<paoi, Aaooa[xavTi TiapeScoxev. x. t. X. (Methodi traduntur 
sequentes ; pulcherrima quidem ea, quae per analysin 
quaesitum refert ad principium, de quo jam convenit; 
quam etiam Plato Laodamanti tradidisse dicitur). In 
primum Euclidis librum, L. III. Allerdings besteht 
die analytische Methode im Zurückführen des Ge- 
gebenen auf ein zugestandenes Princip: die synthe- 
tische hingegen in dem Ableiten aus einem solchen. 
Sie haben daher Analogie mit der, Kapitel 9 erörter- 
ten £TraY(üY7) und aTraycoYT]; nur dass letztere nicht auf 
das Begründen, sondern stets auf das Umstossen vou 
Sätzen gerichtet ist. Die analytische Methode geht von 
den Thatsachen, dem Besondern, zu den Lehrsätzen, 
dein Allgemeinen, oder von den Folgen zu den Grün- 
den; die andere umgekehrt. Daher wäre es viel rich- 
tiger, sie als die induktive und die deduktive Methode 
zu hezeichnen: denn die hergehrachten Namen sind 
unpassend und drücken die Sache schlecht aus. 
Wollte ein Philosoph damit anfangen, die Methode, 
nach der er philosophiren will, sich auszudenken; 
so gliche er einem Dichter, der zuerst sich eine Aesthe- 
lik schriebe, um sodann nach dieser zu dichten: Beide 
aber glichen einem Menschen, der zuerst sich ein Lied 
sänge und hinterher danach tanzte. Der denkende 
Geist muss seinen Weg aus ursprünglichem Triebe 
finden: Regel und Anwendung, Methode und Leistung 
müssen, wie Materie und Form, unzertrennlich auf- 
treten. Aber nachdem man angelangt ist, mag man 
den zurückgelegten Weg betrachten. Aesthetik und 
Methodologie sind, ihrer Natur nach, jünger als Poesie 
und Philosophie; wie die Grammatik jünger ist als 
die Sprache, der Generalbass jünger als die Musik, 
die Logik jünger als das Denken. 
Hier finde beiläufig eine Bemerkung ihre Stelle, 
durch die ich einem einreissenden Verderb, so lange 
es noch Zeit ist, Einhalt thun möchte. — Dass das La- 
teinische aufgehört hat, die Sprache aller wissenschaft- 
lichen Untersuchungen zu seyn, hat den Nachtheil, 
dass es nicht mehr eine unmittelbar gemeinsame 
wissenschaftliche Litteratur für ganz Europa giebt, 
sondern Nationallitteraturen; wodurch dann jeder Ge- 
lehrte zunächst auf ein viel kleineres, zudem in na- 
tionalen Einseitigkeiten imd Vorurtheilen befangenes 
Publikum beschränkt ist. Sodann muss er jetzt die 
vier europäischen Hauptsprachen, neben den beiden 
alten, erlernen. Hiebei nun wird es ihm eine grosse 
Erleichterung" seyn, dass die termini technici aller 
Wissenschaften (mit Ausnahme der Mineralogie), als 
ein Erbtheil von unsern Vorgängern, Lateinisch oder 
Griechisch sind. Daher auch alle Nationen diese weis- 
lich beibehalten. Nur die Deutschen sind auf den un- 
glücklichen Einfall gerathen, die termini technici 
aller Wissenschaften verdeutschen zu wollen. Dies 
hat zwei grosse Nachtheile. Erstlich wird der fremde 
I 5o 
und auch der deutsche Gelehrte genöthigt, alle Kunst- 
ausdrücke seiner Wissenschaft zwei Mal zu erlernen, 
welches, wo deren viele sind, z. B. in der Anatomie, 
unplaublich mühsam und weitläufig ist. Wären die 
andern Nationen nicht, in diesem Stücke, klüger als 
die Deutschen; so hätten wir die Mühe, jeden termi- 
nus technicus fünf Mal zu erlernen. Fahren die Deut- 
schen damit fort; so werden die auswärtigen Gelehr- 
ten die, überdies meistens viel zu ausführlichen, dazu 
in einem nachlässigen, schlechten, oft auch noch afiFek- 
tirten und geschmackwidrigen Stile, häufig auch mit 
einer unartigen Rücksichtslosigkeit gegen den Leser 
und dessen Bedürfnisse abgefassten Bücher derselben 
vollends ungelesen lassen. — Zweitens sind jene Ver- 
deutschungen der termini technici fast durchgängig 
lange, zusammengeflickte, ungeschickt gewählte, 
schleppende, dumpftönende, sich von der übrigen 
Sprache nicht scharf absondernde Worte, welche da- 
her sich dem Gedächtniss schwer einprägen, während 
die von den alten, unvergesslichen Urhebern der 
Wissenschaften gewählten Griechischen und Lateini- 
schen Ausdrücke die sämmtlichen entgegengesetzten 
guten Eigenschaften haben und durch ihren sonoren 
Klang sich leicht einprägen. Was für ein hässliches, 
kakophonisches W^ort ist nicht schon „Stickstoff" 
statt Azot! „Verbum, Substantiv, Adjektiv", behält 
und unterscheidet sich doch leichter, als Zeitwort, 
Nennwort, Beiwort, oder gar „Umstandswort" statt 
Adverbium. Ganz unausstehlich und dazu noch ge- 
mein und barbiergesellenhaft ist es in der Anatomie. 
Schon „Pulsader und Blutader" sind der augenblick- 
lichen Verwechselung leichter ausgesetzt, als Arterie 
und Vene: aber vollends verwirrend sind Ausdrücke 
wie „Fruchthälter, Fruchtgang und Fruchtleiter" 
statt Uterus, vagina und tuba Faloppii, die doch jeder 
Arzt kennen muss und mit denen er in allen Euro- 
päischen Sprachen ausreicht; desgleichen „Speiche 
und Ellenbogenröhre" statt radius und ulna, die ganz 
Europa seit Jahrtausenden versteht: wozu also jene 
ungeschickte, verwirrende, schleppende, ja abge- 
schmackte Verdeutschung? Nicht weniger widerlich 
i5i 
ist die Uebersetzung der Kunstausdrücke in der Lo- 
gik, wo denn unsere genialen Philosophieprofessoren 
die Schöpfer einer neuen Terminologie sind und fast 
Jeder seine eigene hat : bei G. E. Schulze z. B. heisst 
das Subjekt „Grundbegriff", das Prädikat ,, Beile- 
gungsbegriff" : da giebt es „Beilegungsschlüsse, Vor- 
aussetzungsschlüsse und Entgegensetzungsschlüsse", 
die Urtheile haben „Grösse, Beschaffenheit, Ver- 
hältniss und Zuverlässigkeit" d. h. Quantität, Quali- 
tät, Relation und Modalität. Dieselbe widerwärtige 
Wirkung jener Deutschthümelei wird man in allen 
Wissenschaften finden. — Die Lateinischen und Grie- 
chischen Ausdrücke haben zudem noch den Vorzug, 
dass sie den wissenschaftlichen Begriff als einen sol- 
chen stämpeln und ihn aussondern aus den Worten 
des gemeinen Verkehrs und den diesen anklebenden 
Ideenassociationen ; während z. B. „Speisebrei", statt 
Chymus, von der Kost kleiner Kinder zu reden, und 
„Lungensack'", statt pleura, nebst „Herzbeutel", statt 
pericardium, eher von Metzgern als von Anatomen her- 
zurühren scheint. Endlich hängt an den antiken ter- 
minis technicis die unmittelbarste Nothwendigkeit der 
Erlernung der alten Sprachen, welche durch den Ge- 
brauch der lebenden zu gelehrten Untersuchungen 
mehr und mehr in Gefahr geräth, beseitigt zu werden. 
Kommt es aber dahin, verschwindet der an die Spra- 
chen gebundene Geist der Alten aus dem gelehrten 
Unterricht; dann wird Rohheit, Plattheit und Gemein- 
heit sich der ganzen Litteratur bemächtigen. Denn die 
Werke der Alten sind der Nordstern für jedes künst- 
lerische oder litterarische Streben: geht der euch un- 
ter; so seid ihr verloren. Schon jetzt merkt man an dem 
jämmerlichen und läppischen Stil der meisten Schrei- 
ber, dass sie nie Latein geschrieben haben. Sehr pas- 
send nennt man die Beschäftigung mit den Schrift- 
stellern des Alterthums Humanitätsstiidien: denn durch 
sie wird der Schüler zuvörderst wieder ein Mensch^ 
indem er eintritt in die Welt, die noch rein war von 
allen Fratzen des Mittelalters und der Romantik,welche 
nachher in die Europäische Menschheit so tief ein- 
drangen, dass auch noch jetzt jeder damit betüncht 
i52 
zur Welt kommt und sie erst abzustreifen hat, um 
nur zuvörderst wieder ein Mensch zu werden. Denkt 
nicht, dass eure moderne Weisheit jene Weihe zum 
Menschen je ersetzen könne: ihr seid nicht, wie die 
Griechen und Römer, geborene Freie, unbefangene 
Söhne der Natur. Ihr seid zunächst die Söhne und Er- 
ben des rohen Mittelalters und seines Unsinns, des 
schändlichen Pfaffentrugs und des halb brutalen, halb 
geckenhaften Ritterwesens. Geht es gleich mit beiden 
jetzt allgemach zu Ende, so könnt ihr darum doch 
noch nicht auf eigenen Füssen stehen. Ohne die Schule 
der Alten wird eure Lilteratur in gemeines Geschwätze 
und platte Philisterei ausarten. — Aus allen diesen 
Gründen also ist es mein wohlgemeinter Rath, dass 
man der oben gerügten Deutschmichelei ungesäumt 
ein Ende mache. 
Ferner will ich hier die Gelegenheit nehmen, das 
Unwesen zu rügen, welches seit einigen Jahren, auf 
unerhörte Weise, mit der deutschen Rechtschreibung 
getrieben wird. Die Skribler, in jeder Gattung, haben 
nämlich so etwas vernommen von Kürzedes Ausdrucks, 
wissen jedoch nicht, dass diese besteht in sorgfältigem 
Weglassen alles Ueberflüssigen, wozu denn freilich ihre 
ganze Schreiberei gehört; sondern vermeinen es da- 
durch zu erzwingen, dass sie die Worte beschneiden, 
wie die Gauner die Münzen, und jede Silbe, die ihnen 
überflüssig scheint, weil sie den Werth derselben nicht 
fühlen, ohne Weiteres abknappen. Z. B, unsere Vor- 
fahren haben, mit richtigem Takt, „Beweis" und „Ver- 
weis", hingegen „Nachweisung" gesagt: der feine Un- 
terschied, analog dem zwischen „Versuch" und „Ver- 
suchung", „Betracht" und ,, Betrachtung", ist den 
dicken Ohren und dicken Schädeln nicht fühlbar; 
daher sie das Wort „Nachweis" erfunden haben, wel- 
ches sogleich in allgemeinen Gebrauch gekommen ist: 
denn dazu gehört nur, dass ein Einfall recht plump 
und ein Schnitzer recht grob sei. Demgemäss ist die 
gleiche Amputation bereits an unzähligen Worten vor- 
genommen worden: z.B. statt „Untersuchung" schreibt 
man „Untersuch", ja, gar statt „allmälig, mälig", 
statt „beinahe, nahe", statt „beständig, ständig". Un- 
i53 
terfinge sich ein Franzose pres statt presque, ein Eng- 
länder niost statt alinost zu schreiben; so würde er 
einstimmig als ein Narr verlacht werden: in Deutsch- 
land aber gilt man durch so etwas für einen originellen 
Kopf. Chemiker schreiben bereits „löslich und unlös- 
lich" statt „unauflöslich" und werden damit, wenn 
ihnen nicht die Graunnatiker auf die Finger schlagen, 
die Sprache um ein werthvolies Wort bestehlen : löslich 
.sind Knoten, Schuhriemen, auch Konglomerate, deren 
Cäment erweicht wird, und alles diesem Analoge: 
auflöslich hingegen ist was in einer Flüssigkeit ganz 
verschwindet, wie Salz im Wasser. „Auflösen" ist der 
terminus ad hoc, welcher Dies und nichts Anderes be- 
sagt, einen bestimmten Begriff aussondernd : den aber 
wollen unsere scharfsinnigen Sprachverbesserer in die 
allgemeine Spülwanne „Lösen" giessen: konsequenter 
Weise müssten sie dann auch statt ,, ablösen (von Wa- 
chen), auslösen, einlösen" u. s. w. überall ,, lösen" 
setzen, und in diesem, wie in jenem Fall der Sprache 
die Bestimmtheit des Ausdrucks benehmen. Aber die 
Sprache um ein Wort ärmer machen heisst das Denken 
der Nation um einen Begriff ärmer machen. Dahin 
aber tendiren die vereinten Bemühungen fast aller 
unserer Bücherschreiber seit zehn bis zwanzig Jahren: 
denn was ich hier an einem Beispiele gezeigt habe, 
Hesse sich an hundert andern nachweisen, und die 
niederträchtigste Silbenknickerei grassirt wie eine 
Seuche. Die Elenden zählen wahrhaftig die Buchstaben 
und nehmen keinen Anstand, ein Wort zu verkrüppeln, 
oder eines in falschem Sinne zu gebrauchen, sobald 
nur zwei Buchstaben dabei zu lukriren sind. Wer kei- 
ner neuen Gedanken fähig ist, will wenigstens neue 
Worte zu Markte bringen, und jeder Tintenklexer 
hält sich berufen, die Sprache zu verbessern. Am un- 
verschämtesten treiben es die Zeitungsschreiber, und 
da ihre Blätter, vermöge der Trivialität ihres Inhalts, 
das allergrösste Publikum, ja ein solches haben, das 
grösstentheils nichts Anderes liest; so droht durch sie 
der Sprache grosse Gefahr; daher ich ernstlich an- 
rathe, sie einer orthographischen Censur zu unter- 
werfen, oder sie für jedes ungebräuchliche, oder ver- 
r54 
stümmelte Wort eine Strafe bezahlen zu lassen: denn 
was könnte unwürdijjer seyn, als dass Sprachumwan- 
delungen vom allerniedrigsten Zweige der Litteratur 
ausgien gen? Die Sprache, zu mal eine relati veUrsprache, 
wie die Deutsche, ist das köstlichste Erbtheil der Na- 
tion und dabei ein überaus komplicirtes, leicht zu ver- 
derbendes und nicht wieder herzustellendesKunstwerk, 
daher ein noli me tangere. Andere Völker haben dies 
gefühlt und haben gegen ihre, obwohl viel unvoll- 
kommneren Sprachen grosse Pietät l)e wiesen: daher 
ist Dantes und Petrarca \s Sprache nur in Kleinigkeiten 
von der heutigen verschieden, Montaigne noch ganz 
lesbar, und so auch Shakespeare in seinen ältesten 
Ausgaben. — Dem Deutschen ist es sogar gut, etwas 
lange Worte im Munde zu haben : denn er denkt lang- 
sam und sie geben ihm Zeit zum Besinnen. Aber jene 
eingerissene Sprachökonomie zeigt sich in noch meh- 
reren charakteristischen Phänomenen: sie setzen z. ß., 
gegen alle Logik und Grammatik, das Imperfektum 
statt des Perfektums und Plusquamperfektums; sie 
stecken oft das Auxiliaiwerbum in die Tasche; sie 
brauchen den Ablativ statt des Genitivs; sie machen, 
um ein Paar logische Partikeln zu lukriren, so ver- 
flochtene Perioden, dass man sie vier Mal lesen muss, 
um hinter den Sinn zu kommen: denn bloss das Papier, 
nicht die Zeit des Lesers wollen sie sparen: bei Eigen- 
namen deuten sie, ganz hottentottisch, den Kasus weder 
durch Flexion, noch Artikel an: der Leser mag ihn 
rathen. Besonders gern aber eskrokiren sie die dop- 
pelten Vokale und das tonverlängernde h, diese der 
Prosodie geweihten Buchstaben; welches Verfahren 
gerade so ist, wie wenn man aus dem Griechischen 
das r^ und (o verbannen und statt ihrer e und o setzen 
wollte. Wer nun Scham , Märchen, Mass, Spass schreibt, 
sollte auch Lon, Son, Stat, Sat, Jar, AI u. s. w. schrei- 
ben. Die Nachkommen aber werden, da ja die Schrift 
das Abbild der Rede ist, vermeinen, dass man auszu- 
sprechen hat, wie man schreibt: wonach dann von 
der Deutschen Sprache nur ein gekniffenes, spitzmäu- 
liges, dumpfes Konsonantengeräusch übrig bleiben 
und alle Prosodie verloren gehen wird. Sehr beliebt ist 
i55 
auch, wegen Ersparnisseines Buchstabens, die Schreib- 
art „Literatur" statt der richtigen „Litteratur". Zu ih- 
rer Vertheidigung wird das Participdes Verbums Hnere 
für den Ursprung des Wortes ausgegeben. Linere heisst 
aber schmieren : daher möchte für den grössten Theil 
der Deutschen Buchmacherei die behebte Schreibart 
wirkhch die richtige seyn; so dass man eine sehr kleine 
Litteratur und eine sehr ausgedehnte Literatur unter- 
scheiden könnte. — Um kurz zu schreiben, veredele 
man seinen Stil und vermeide alles unnütze Gewäsche 
und Gekaue: da braucht man nicht, des theuren Pa- 
piers halber, Silben und Buchstaben zu eskrokiren. 
Aber so viele unnütze Seiten, unnütze Bogen, unnütze 
Bücher zu schreiben, und dann diese Zeit- und Pa- 
piervergeudung an den unschuldigen Silben und Buch- 
staben wieder einbringen zu wollen, — das ist wahrlich 
der Superlativ Dessen, was man auf Englisch penny- 
wise and poundfoolish nennt. — Zu beklagen ist es, 
dass keine Deutsche Akademie da ist, dem litterari- 
schen Sanskülottismus gegenüber die Sprache in ihren 
Schutz zu nehmen, zumal in einer Zeit, wo auch die 
der alten Sprachen Unkundigen es wagen dürfen, die 
Presse zu beschäftigen. Ueber den ganzen, heut zu 
Tage mit der Deutschen Sprache getriebenen, unver- 
zeihlichen Unfug habe ich mich des Weiteren ausge- 
lassen in meinen Parergis, Bd. II, Kap. 23. — 
Von der bereits in meiner Abhandlung ,, Ueber den 
Satz vom Grunde", §. 5t, vorgeschlagenen und auch 
hier, §. 7 und i5 des ersten Bandes*), wieder berühr- 
ten, obersten Einteilung der Wissenschaften, nach der 
in ihnen vorherrschenden Gestalt des Satzes vom 
Grunde will ich eine kleine Probe hierhersetzen, die 
jedoch ohne Zweifel mancher Vei'besserung und Ver- 
vollständigung fähig seyn wird. 
I. Beine Wissenschaften a priori. 
1. Die Lehre vom Grunde des Seyns. 
a) im Baum: Geometrie. 
b) in der Zeit: Arithmetik und Algebra. 
2. Die Lehre vom Grunde des Erkennens: Logik. 
II. Empirische oder Wissenschaften a posteriori. 
•) S. 3 I u. S. 86 d. A. 
i56 
Sämmtlich nach dem Grunde des Werdens, d. i. dem 
Gesetz der Kausalität, und zwar nach dessen drei Modis. 
1. Die Lehre von den Ursachen: 
a) Allgemeine: Mechanik, Hydrodynamik, Phy- 
sik, Chemie. 
b) Besondere: Astronomie, Mineralogie, Geolo- 
gie, Technologie, Pharmacie. 
2. Die Lehre von den Reizen: 
a) Allgemeine: Physiologie der Pflanzen undThie- 
re, nebst deren Hülfswissenschaft Anatomie. 
b) Besondere: Botanik, Zoologie, Zootomie, ver- 
gleichende Physiologie, Pathologie, Therapie. 
3. Die Lehre von den Motiven: 
a) Allgemeine: Ethik, Psychologie. 
b) Besondere: Rechtslehre, Geschichte. 
Die Philosophie oder Metaphysik, als Lehre vom 
Bewusstseyn und dessen Inhalt überhaupt, oder vom 
Ganzen der Erfahrung als solcher tritt nicht in die 
Reihe; weil sie nicht ohne Weiteres der Betrachtung, 
die der Satz vom Grunde heischt, nachgeht, sondern 
zuvörderst diesen selbst zum Gegenstande hat. Sie ist 
als der Grundbass aller Wissenschaften anzusehen, 
ist aber höherer Art als diese und der Kunst fast so 
sehr als der Wissenschaft verwandt. — Wie in der 
Musik jede einzelne Periode dem Ton entsprechen 
muss, zu welchem der Grundbass eben fortgeschritten 
ist; so wird jeder Schriftsteller, nach Maassgabe sei- 
nes Faches, das Gepräge der zu seiner Zeit herrschen- 
den Philosophie tragen. — Ueberdies aber hat jede 
Wissenschaft noch ihre specielle Philosophie: daher 
man von einer Philosophie der Botanik, der Zoologie, 
der Geschichte usw. redet. Hierunter ist vernünftiger- 
weise nichts Anderes zu verstehen, als die Hauptre- 
sultate jeder Wissenschaft selbst, vom höchsten, d.h. 
allgemeinsten Standpunkt aus, der innerhalb dersel- 
ben möglich ist, betrachtet und zusammengefasst. Diese 
allgemeinsten Ergebnisse schliessen sich unmittelbar 
an die allgemeine Philosophie an, indem sie ihr wich- 
tige Data liefern und sie der Mühe überheben, diese 
im philosophisch unbearbeiteten Stoffe der Special- 
wissenschaften selbst zu suchen. Diese Specialphilo- 
157 
Sophien stehen demnach vermittelnd zwischen ihren 
speziellen Wissenschaften nnd der eigentlichen Philo- 
sophie. Denn da diese die all {gemeinsten Aufschlüsse 
über das Ganze der Dinge zu ertheilen hat; so müssen 
solche auch auf das Einzelne jeder Art derselben her- 
abgeführt und angewandt werden können. Die Phi- 
losophie jeder Wissenschaft entsteht inzwischen un- 
abhängig von der allgemeinen Philosophie, nämlich 
aus den Datis ihrer eigenen Wissenschaft selbst: da- 
her sie nicht zu warten braucht, bis jene endlich ge- 
funden worden; sondern schon vorher ausgearbeitet, 
zur wahren allgemeinen Philosophie jedenfalls passen 
wird. Diese hingegen muss Bestätigung und Erläute- 
rung erhalten können aus den Philosophien der ein- 
zelnen Wissenschaften: denn die allgemeinste Wahr- 
heit muss durch die specielleren belegt werden kön- 
nen. Ein schönes Beispiel der Philosophie der Zoo- 
logie hat Goethe geliefert an seinen Reflexionen über 
Daltons und Panders Skelette der Nagethiere. (Hefte 
zur Morphologie, 1824.) Aehnliche Verdienste um 
dieselbe Wissenschaft haben Kielmayer, Delatnarky 
Geojfroy St. Hilaire, C'nvier u. a. m., sofern sie Alle 
die durchgängige Analogie, die innere Verwandtschaft, 
den bleibenden Typus und den gesetzmässigen Zu- 
sammenhang der thierischen Gestalten hervorgehoben 
haben. — Empirische Wissenschaften, rein ihrer selbst 
wegen und ohne philosophische Tendenz betrieben, 
gleichen einem Antlitz ohne Augen. Sie sind inzwi- 
schen eine passende Beschäftigung für gute Kapaci- 
täten, denen jedoch die höchsten Fähi{jkeiten abgehen, 
welche auch eben den minutiösen Forschungen sol- 
cher Art hinderlich sein würden. Solche koncentriren 
ihre ganze Kraft und ihr gesammtes Wissen auf ein 
einziges abgestecktes Feld, in welchem sie daher, un- 
ter der Bedingung gänzlicher Unwissenheit in allem 
Uebrigen, die möglichst vollständige Erkenntniss er- 
langen können; während der Philosoph alle Felder 
übersehen, ja, in gewissem Grad darauf zu Hause seyn 
muss; wobei diejenige Vollkommenheit, welche man 
nur durch das Detail erlangt, nothwendig ausgeschlos- 
sen bleibt. Dafür aber sind Jene den Genfer Arbeitern 
l58 
zu vergleichen, deren Einer lauter Räder, der Andere 
lauter Federn, der Dritte lauter Ketten macht; der 
Philosoph hingegen dem Uhrmacher, der aus dem 
Allen erst ein Ganzes hervorbringt, welches Bewe- 
gung und Bedeutung hat. Auch kann man sie den 
Musicis im Orchester vergleichen, jeder von welchen 
Meister auf seinem Instrument ist, den Philosophen 
hingegen dem Kapellmeister, der die Natur und Be- 
handhingsweise jedes Instruments kennen muss, ohne 
jedoch sie alle, oder auch nur eines, in grosser Voll- 
kommenheit, zu spielen. Sfiotus Erigena begreift alle 
Wissenschaften unter dem Namen Scientia, im Gegen- 
satz der Philosophie, welche er Sapientia nennt. Aber 
ein überaus glückliches und pikantes Gleichniss des 
Veihältnisses beider Arten geistiger Bestrebungen zu- 
einander haben die Alten so oft wiederholt, dass man 
nicht mehr weiss, wem es angehört. Diogenes Laertius 
(II, 79) schreibt es dem Aristippos zu, Stobäos (P'loril. 
til. IV, 110) dem Ariston Chios, dem Aristoteles sein 
Scholiast (S. 8 der Berliner Ausgabe), Plutarch aber 
(De puer. educ. c. 10) dem Bion, qui ajebat, sicut Pe- 
nelopes proci, quum non possent cum Penelope con- 
cumbere, rem cum ejus ancillis habuissent; ita qui 
philosophiam nequeunt apprehendere, eos in aliis 
nullius pretii discipHnis sese conterere. In unserm 
überwiegend empirischen und historischen Zeitalter 
kann die Erinnerung daran nicht schaden. 
KAPITEL i3*). 
ZUR METHODENLEHRE DER MATHEMATIK. 
DIEEukleidischeDemonstrirmethodehatausihrem 
eigenen Schooss ihre treffendeste Parodie und Ka- 
rikatur geboren, an der berühmten Streitigkeit über 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 1 5 des ersten Bandes [Seite 
86 d. A.l 
i59 
die Theorie der Parallelen und den sich jedes Jahr 
wiederholenden Versuchen, das elfte Axiom zu be- 
weisen. Dieses nämlich besagt, und zwar durch das 
mittelbare Merkmal einer schneidenden dritten Linie, 
dass zwei sich gegen einander neigende (denn dies 
eben heisst „kleiner als zwei rechte seyn"), wenn ge- 
nugsam verlängert, zusammentreffen müssen; welche 
Wahrheit nun zu komplicirt seyn soll, um für selbst- 
evident zu gelten, daher sie eines Beweises bedarf, der 
nun aber nicht aufzubringen ist; eben weil es nichts 
Unmittelbareres giebt. Mich erinnert dieser Gewis- 
sensskrupel an die Schillersche Rechtsfrage: 
„Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen: 
Hah' ich denn wirkUch an sie auch ein erweisliches Recht? 
ja, mir scheint, dass die logische Methode sich hiedurch 
bis zur Niaiserie steigere. Aber gerade durch die Strei- 
tigkeiten darüber, nebst den vergeblichen Versuchen, 
das umnittelhai' Gewisse als bloss mittelbar gewiss 
darzustellen, tritt die Selbständigkeit und Klarheit der 
intuitiven Evidenz mit der Nutzlosigkeit und Schwie- 
rigkeit der logischen üeberführung in einen Kontrast, 
der nicht weniger belehrend, als belustigend ist. Man 
will hier nämlich die unmittelbare Gewissheit deshalb 
nicht gelten lassen, weil sie keine bloss logische, aus 
dem Begriffe folgende, also allein auf dem Verhält- 
niss des Prädikats zum Subjekt, nach dem Satze vom 
Widerspruch, beruhende ist. Nun ist aber jenes Axiom 
ein synthetischer Satz a priori und hat als solcher die 
Gewährleistung der reinen, nicht empirischen An- 
schauung, die eben so unmittelbar und sicher ist, wie 
der Satz vom Widerspruch selbst, von welchem alle 
Beweise ihre Gewissheit erst zur Lehn haben. Im 
Grunde gilt dies von jedem geometrischen Theorem, 
und es ist willkürlich, wo man hier die Gränze zwi- 
schen dem unmittelbar Gewissen und dem erst zu Be- 
weisenden ziehen will. — Mich wundert, dass man 
nicht vielmehr das achte Axiom angreift. „Figuren, 
die sich decken, sind einander gleich". Denn das Sich- 
decken ist entweder eine blosse Tautolgie, oder etwas 
ganz Empirisches, welches nicht der reinen Anschau- 
i6o 
ung, sondern der äussern sinnlichen Erfahrung ange- 
hört. Es setzt nämhch BewegHchkeit der Figuren vor- 
aus: aber das Bewegliclie im Raum ist allein die Ma- 
terie. Mithin verlässt dies Provociren auf das Sich- 
decken den reinen Raum, das alleinige Element der 
Geometrie, um zum Materiellen und Empirischen 
überzugehen. 
Die angebliche Ueberschrift des Platonischen Lehr- 
saals, AYStujjLeTpTjTo«; [itjoek; etottu), auf welche die Ma- 
thematiker so stolz sind, war ohne Zweifel dadurch 
motivirt, dass Plato die geometrischen Figuren als 
Mittelwesen zwischen den ewigen Ideen und den ein- 
zelnen Dingen ansah, wie dies Arhloteles in seiner 
Metaphysik öfter erwähnt (besonders I, c. 6, S. 887, 
998 et Scholia, S. 837, Ed. Berol.). Ueberdies Hess der 
Gegensatz zwischen jenen für sich bestehenden, ewigen 
Formen, oder Ideen, und den vergänglichen einzelnen 
Dingen sich an den geometrischen Figuren am leich- 
testen fasslich machen und dadurch der Grund legen 
zur Ideenlehre, welche der Mittelpunkt der Philoso- 
phie Plato\s, ja, sein einziges ernstliches und entschie- 
denes theoretisches Dogma ist: heim Vortrag desselben 
ging er darum von der Geometrie aus. In gleichem 
Sinn wird uns gesagt, dass er die Geometrie als Vor- 
übung betrachtete, durch welche der Geist der Schüler 
sich an die Beschäftigung mit unkörperlichen Gegen- 
ständen gewöhnte, nachdem derselbe bis dahin, im 
praktischen Leben, es nur mit körperlichen Dingen 
zu thun gehabt hatte (Schol. in Aristot., p. 12, i5). 
Dies also ist der Sinn, in welchem Plato die Geometrie 
den Philosophen empfahl: man ist daher nicht be- 
rechtigt, denselben weiterauszudehnen. Vielmehr emp- 
fehle ich, als Untersuchung des Einflusses der Ma- 
thematik auf unsere Geisteskräfte und ihres Nutzens 
für wissenschaftliche Bildung überhaupt, eine sehr 
gründliche und kenntnissreiche Abhandlung, in Form 
der Recension eines Buches von Whewell, in der Edin- 
burgh' Review vom Januar i836: ihr Verfasser, der 
sie später, zusammen mit einigen andern Abhandlun- 
gen, unter seinem Namen herausgegeben hat, ist W. 
Hamilton, Professor der Logik und Metaphysik in 
1 1 Schopenhauer II I O I 
Schottland. Dieselbe hat auch einen Deutschen Ueber- 
setzer gefunden und ist für sich allein erschienen, unter 
dein Titel: „Ueber den Werth und Unwerth der Ma- 
thematilv", aus dem Eii{jlischen, i836. Das Ergebniss 
derselben ist, dass der Werth der Mathematik nur ein 
mittelbarer sei, nämlich in der Anwendung zu Zwek- 
ken, welche allein durch sie erreichbar sind, liege; 
an sich aber lasse die Mathematik den Geist da, wo 
sie ihn gefunden hat, und sei der allgemeinen Aus- 
bildung und Entwickelung desselben keineswegs för- 
derlich, ja sogar entschieden hinderlich. Dies Ergeb- 
niss wird nicht nur durch gründliche dianoiologische 
Untersuchung der mathematischen Geistesthatigkeit 
dargethan, sondern auch durch eine sehr gelehrte An- 
häufung von Beispielen und Autoritäten befestigt. Der 
einzige unmittelbare Nutzen, welcher der Mathematik 
gelassen wird, ist, dass sie unstäte und flatterhafte 
Köpfe gewöhnen kann, ihre Aufmerksamkeit zu fixi- 
ren. — Sogar Ka7'tesiiti>, der doch selbst als Mathema- 
tiker berühmt war, urtheilte eben so über die Mathe- 
matik. In der Vie de Descartes par Baillet, 1 6y3, heisst 
es, Liv. II, eh. 6, p. 54: Sa propre experience Tavait 
convaincu du peu d'utilite des mathematiques, surtout 
lorsqu' on ne les cultive que pour elles mcmes. 
II ne voyait rien de moins solide, que de s'occuper de 
nombres tout simples et de figures imaginaires u. s. f. 
KAPITEL 14. 
IjEBER DIE GEDANKEISASSOCIATION. 
DIE Gegenwart der Vorstellungen und Gedanken in 
unserm ßewusslseyn ist dem Satze vom Grund, in 
seinen verschiedenen Gestalten, so streng unterworfen, 
wie die Bewegung der Körper dem Gesetze der Kau- 
salität. So wenig ein Körper ohne Ursache in Be- 
wegung gerathen kann, ist es mö(;lich, dass ein Ge- 
danke ohne Anlass ins Bewusstseyn trete. Dieser Anlass 
62 
ist nun entweder ein äussei-er, also ein Eindruck auf 
die Sinne; oder ein innerer, also selbst wieder ein Ge- 
danke, der einen andern herbeiführt, vermöge der 
Association. Diese wieder beruht entweder auf einem 
Verhältniss von Grund und Folge zwischen beiden; 
oder aber auf Aehnlichkeit, auch blosser Analogie; 
oder endlich auf Gleichzeitigkeit ihrer ersten Auffas- 
sung, welche wieder in der räumlichen Nachbarschaft 
ihrer Gegenstände ihren Grund haben kann. Die bei- 
den letztern Fälle bezeichnet das Wort ä propos. Für 
den intellektuellen Werth eines Kopfes ist das Vor- 
herrschen des einen dieser drei Bänder der Gedanken- 
association vor den andern charakteristisch : das zuerst 
genannte wird in den denkenden und gründlichen, 
das zweite in den witzigen, geistreichen, poetischen, 
das letzte in den beschränkten Köpfen vorherrschen. 
Nicht weniger charakteristisch ist der Grad der Leich- 
tigkeit, mit welcher ein Gedanke andere, in irgend 
einer Beziehung zu ihm stehende, hervoi'ruft : sie macht 
die Regsamkeit des Geistes aus. Aber die Unmöglich- 
keit des Eintritts eines Gedankens ohne seinen genü- 
genden Anlass, selbst beim stärksten Willen ihn her- 
vorzurufen, bezeugen alle die Fälle, wo wir vergeblich 
bemüht sind, uns auf etwas zu besinnen, und nun den 
ganzen Vorrath unserer Gedanken durchprobiren, um 
irgend einen zu finden, der mit dem gesuchten asso- 
ciirt sei: finden wir jenen, so ist auch dieser da. Stets 
sucht wer eine Erinnerung hervorrufen will, zunächst 
nach einem Faden, an dem sie durch die Gedanken- 
association hängt. Hierauf beruht die Mnemonik: sie 
will zu allen aufzubewahrenden Begriffen, Gedanken, 
oder Worten, uns mit leicht zu findenden Anlässen 
versehen. Das Schlimme jedoch ist, dass doch auch 
diese Anlässe selbst erst wiedergefunden werden müs- 
sen und hiezu wieder eines Anlasses bedürfen. Wie 
viel bei der Erinnerung der Anlass leistet, lässt sich 
daran nachweisen, dass Einer, der in einem Anekdo- 
tenbuch fünfzig Anekdoten gelesen und dann es weg- 
gelegt hat, gleich darauf bisweilen nicht auf eine ein- 
zige sich besinnen kann: kommt jedoch ein Anlass, 
oder fällt ihm ein Gedanke ein, der irgend eine Ana- 
II* i63 
logie mit einer jener Anekdoten bat; so fällt diese ihm 
sofjleich ein; und so gele{;entlich alle fünfzig. Das 
Selbe gilt von Allem, was man liest. — Im Grunde 
beruht unser unmittelbares, d. h. nicht durch mne- 
monische Künste vermitteltes, Wortgedächtniss, und 
mit diesem unsere ganze Sprachfahigkelt, auf der un- 
mittelbaren Gedankenassociation. Denn das Erlernen 
der Sprache besteht darin, dass wir, auf immer, einen 
Begriff mit einem Worte so zusammenketten, dass bei 
diesem Begriff" stets zugleich dieses Wort, und bei 
diesem Wort dieser Begriff uns einfällt. Den selben 
Process haben wir nachmals bei Erlernung jeder neuen 
Sprache zu wiederholen. Erlernen wir jedoch eine 
Sprache bloss zum passiven, nicht zum aktiven Ge- 
brauch, d. h. zum Lesen, nicht zum Sprechen, wie 
z. B. meistens das Griechische; so ist die Verkettung 
einseitig, indem beim Wort uns der Begriff, nicht 
aber durchweg beim Begriff* das Wort einfallt. Der 
selbe Hergang, wie bei der Sprache, wird im Einzelnen 
augenfällig bei Erlernung jedes neuen Eigennamens. 
Bisweilen aber trauen wir uns nicht zu, mit dem Ge- 
danken an ^?>5e Person, oder Stadt, Fluss, Berg, Pflanze, 
Thier u. s. w. den Namen derselben unmittelbar so 
fest zu verknüpfen, dass er ihn von selbst herbeizöge: 
alsdann helfen wir nns mnemonisch und verknüpfen 
das Bild der Person, oder Sache, mit irgend einer an- 
schaulichen Eigenschaft deren Name im ihrigen vor- 
kommt. Jedoch ist dies nur einstweiliges Gerüst zur 
Stützung: späterhin lassen wir es fallen, indem die 
Gedankenassociation eine unmittelbare wird. 
Das Suchen nach einem Faden der Erinnerung 
zeigt sich in eigenthümlicher Art, wenn es ein Traum 
ist, den wir beim Erwachen vergessen haben, als wo 
wir vergeblich nach Dem suchen, was noch vor we- 
nigen Minuten uns mit der Macht der hellsten Gegen- 
wart beschäfti{jte, jetzt aber ganz entwichen ist; wes- 
halb wir dann nach irgend einem zurückgebliebenen 
Eindruck haschen, an dem das Fädchen hienge, wel- 
ches, vermöge der x\ssociation, jenen Traum wieder 
in unser Bewusstsevn zurückziehen könnte. Selbst aus 
dem magnetisch-somnambulen Schlafe soll bisweilen 
i64 
Erinnerung möglich seyn, durch ein im Wachen vor- 
gefundenes sinnliches Zeichen: nach Kieser „Telluris- 
mus", Bd. II, § 271. Auf derselben Unmöglichkeit des 
Eintritts eines Gedankens ohne seinen Anlass beruht 
es, dass, wenn wir uns vorsetzen, zu einer bestimmten 
Zeit irgend etwas zu thun, dieses nur dadurch ge- 
schehen kann, dass wir entweder bis dahin an nichts 
Anderes denken, oder aber zur bestimmten Zeit durch 
irgend etwas daran erinnert werden, welches entweder 
ein äusserer, dazu vorherbereiteter Eindruck, oder 
auch ein selbst wieder gesetzmässig herbeigeführter 
Gedanke seyn kann. Beides gehört dann in die Klasse 
der Motive. — Jeden Morgen, beim Erwachen, ist 
das Bewusstseyn eine tabula rasa, die sich aber schnell 
wieder füllt. Zunächst nämlich ist es die jetzt wieder 
eintretende Umgebung des vorigen Abends, welche 
uns an das erinnert, was wir unter eben dieser Um- 
gebung gedacht haben: daran knüpfen sich die Er- 
eignisse des vorigen Tages, und so ruft ein Gedanke 
schnell den andern hervor, bis Alles, was uns gestern 
beschäftigte, wieder da ist. Darauf, dass dies gehörig 
geschehe, beruht die Gesundheit des Geistes, im Ge- 
gensatz des Wahnsinns, der, wie im dritten Buche 
gezeigt wird, eben darin besteht, dass grosse Lücken 
im Zusammenhange der Rückerinnerung Statt haben. 
Wie gänzlich aber der Schlaf den Faden der Erinne- 
rung unterbricht, so dass dieser an jedem Morgen 
wieder angeknüpft werden muss, sehen wir an ein- 
zelnen Un Vollkommenheiten dieser Operation: z. B. 
eine Melodie, welche Abends uns zum Ueberdruss im 
Kopfe herumgieng, können wir bisweilen am andern 
Morgen nicht wiederfinden. 
Eine Ausnahme zu dem Gesagten scheinen die Fälle 
zu liefern, wo ein Gedanke, oder ein Bild der Phan- 
tasie, uns plötzlich und ohne bewussten Anlass in den 
Sinn konunt. Meistens ist dies jedoch Täuschung, die 
darauf beruht, dass der Anlass so gering, der Gedanke 
selbst aber so hell und interessant v/ar, dass er jenen 
augenblicklich aus dem Bewusstseyn verdrängte: bis- 
weilen aber mag ein solcher urplötzlicher Eintritt 
einer Vorstellung innere körperliche Eindrücke, ent- 
i65 
weder der Theile des Gehirns aufeinander, oder auch 
desor{janischen Nervensystems aufdasGchirn zur Ur- 
sache haben. 
Ueberhaupt ist in der WirkHchkeit der Gedanken- 
process unseres hinern nicht so einfach, wie die Theo- 
rie desselben; da hier vielerlei ineinandergreift. Ver- 
gleichen wir, um uns die Sache zu veranschauHchen, 
unser Bevvusstseyn miteinem Wasser von einiger Tiefe; 
so sind die deutlich bewussten Gedanken bloss die 
Oberfläche: die Masse hingegen ist das Undeutliche, 
die Gefühle, die ISachempfindung der Anschauungen 
und des Erfehrenen überhaupt, versetzt mit der ei- 
genen Stimmung unseres Willens, welcher der Kern 
unseres Wesens ist. Diese Masse des ganzen Bewusst- 
seyns ist nun, mehr oder weniger, nach Maassgabe der 
intellektuellen Lebendigkeit, in steter Bewegung, und 
was in Folge dieser auf die Oberfläche steigt, sind die 
klaren Bilder der Phantasie, oder die deutlichen, be- 
wussten, in Worten ausgedrückten Gedanken und die 
Beschlüsse des Willens. Selten liegt der ganze Process 
unsers Denkens und Beschliessens auf der Oberfläche, 
d. h. besteht in einer Verkettung deutlich gedachter 
Urtheile; obwohl wir dies anstreben, um uns und 
Andern Rechenschaft geben zu können: gewöhnlich 
aber geschieht in der dunkeln Tiefe die Humination 
des von aussen erhaltenen Stoffes, durch welche er 
zu Gedanken umgearbeitet wird; und sie geht beinahe 
so unbewusst vor sich, wie die Umwandelung der 
Nahrung in die Säfte und Substanz des Leibes. Daher 
kommt es, dass wir oft vom Entstehen unserer tiefsten 
Gedanken keine Rechenschaft geben können: sie sind 
die Ausgeburt unsers geheimnissvollen Innern. Ur- 
theile, Einfälle, Beschlüsse steigen unerwartet und zu 
unserer eigenen Verwunderung aus jener Tiefe auf. 
Ein Brief bringt uns unvermuthete, wichtige Nach- 
richten, in Folge deren eine Verwirrung unserer Ge- 
danken und Motive eintritt; wir entschlagen uns der 
Sache einstweilen und denken nicht wieder daran; 
aber am andern, oder dem dritten, vierten Tage steht 
bisweilen das ganze Verhältniss, mit dem was wir da- 
bei zu thun haben, deutlich vor uns. Das Bevvusstseyn 
i66 
ist die blosse Oberfläche unseres Geistes, von welchem, 
wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern 
nur die Schaale kennen. 
Was aber die Gedankenassociation selbst, deren Ge- 
setze oben dargelegt worden, in Thätigkeit versetzt, ist, 
in letzter Instanz, oder im Geheimen unsers Innern, 
der Wille^ welcher seinen Diener, den Intellekt, an- 
treibt, nach Maassgabe seiner Kräfte, Gedanken an 
Gedanken zu reihen, das Aehnliche, das Gleichzeitige 
zurückzurufen. Gründe und Folgen zu erkennen: denn 
im Interesse des Willens liegt, dass überhaupt gedacht 
werde, damit man möglichst orientirt sei, für alle vor- 
kommenden Fälle. Daher ist die Gestalt des Satzes 
vom Grunde, welche die Gedankenassociation be- 
herrscht und thätig erhält, im letzten Grunde, das Ge- 
setz der Motivation; weil Das, was das Sensorium 
lenkt und es bestimmt, in dieser oder jener Richtung, 
der Analogie, oder sonstigen Gedankenassociation, 
nachzugehen, der Wille des denkenden Subjekts ist. 
Wie nun also hier die Gesetze des Ideennexus doch 
nur auf der Basis des Willens bestehen ; so besteht der 
Kausalnexus der Körper in der realen Welt eigentlich 
auch nur auf der Basis des in den Erscheinungen die- 
ser sich äussernden Willens; weshalb die Erklärung 
aus Ursachen nie eine absolute und erschöpfende ist, 
sondern zurückweist auf Naturkräfte als ihre Bedin- 
gung, deren Wesen eben der Wille als Ding an sich 
ist; — wobei ich freilich das folgende Buch anticipirt 
habe. 
Weil nun aber die äussern (sinnlichen) Anlässe der 
Gegenwart unserer Vorstellungen eben so wohl wie 
die innern (der Gedankenassociation), und beide un- 
abhängig von einander, beständig auf das Bewusstseyn 
einwirken; so entstehen hieraus die häufigen Unter- 
brechungen unsers Gedankenlaufs, welche eine ge- 
wisse Zerstückelung imd Verwirrung unsers Denkens 
herbeiführen, die zu den nicht zu beseitigenden Un- 
voll kommenheiten desselben gehört, welche wir jetzt 
in einem eigenen Kapitel betrachten wollen. 
.67 
KAPITEL i5. 
VON DEN WESENTLICHEN UN VOLLKOMMEN- 
HEITEN DES INTELLEKTS. 
I NSER Selbstbewusstseyn hat nicht den Raum^ 
V-y' sondern allein die Zeit zur P'orm: deshalb {jeht 
unser Denken nicht, wie unser Anschauen, nach drei 
Dimensionen vor sich, sondern bloss nach einer, also 
auf einer Linie, ohne Breite und Tiefe. Hieraus ent- 
springt die grösste der wesentlichen Unvollkommen- 
heiten unsers Intellekts. Wir können nämlich Alles 
nur successive erkennen und nur Eines zur Zeit uns 
bewusst werden, ja, auch dieses Einen nur unter der 
Bedingung, dass wir derweilen alles Andere vergessen, 
also uns desselben gar nicht bewusst sind, mithin es 
so lange aufhört für uns dazuseyn. In dieser Eigen- 
schaft ist unser Intellekt einem Teleskop mit einem 
sehr engen Gesichtsfelde zu vergleichen; weil eben 
unser Bewusstseyn kein stehendes, sondern ein flies- 
sendes ist. Der Intellekt apprehendirt nämlich nur 
successiv und muss, um das Eine zu ergreifen, das 
Andere fahren lassen, nichts als die Spuren von ihm 
zurückbehaltend, welche immer schwächer werden. 
Der Gedanke, der mich jetzt lebhaft beschäftigt, muss 
mir. nach einer kurzen W^eile ganz entfallen seyn: 
tritt nun noch eine wohldurchschlafene Nacht dazwi- 
schen; so kann es kommen, dass ich ihn nie wieder- 
finde; es sei denn, dass er an mein persönliches Inter- 
esse, d. h. an meinen Willen geknüpft wäre, als wel- 
cher stets das P'eld behauptet. 
Auf dieser Un Vollkommenheit des Intellekts beruht 
das Rhapsodische und oft Fragmentarische unsers Ge- 
dankenlaujs, welches ich bereits am Schlüsse des vori- 
gen Kapitels berührt habe, und aus diesem entsteht 
die un\erme\d\iche Zerstreuung unsers Denkens. Theils 
nämlich dringen äussere Sinneseindrücke störend und 
unterbrechend auf dasselbe ein, ihm jeden Augen- 
blick das Fremdartigste aufzwingend, theils zieht am 
i68 
Bande der Association ein Gedanke den atidern herbei 
und wird nun selbst von ihm verdrängt; theils end- 
hch ist auch der Intellekt selbst nicht ein Mal föhig 
sich sehr lange und anhaltend auf emen Gedanken zu 
heften, sondern wie das Auge, wenn es lange auf 
einen Gegenstand hinstarrt, ihn bald nicht mehr deut- 
lich sieht, indem die Umrisse in einander lliessen, sich 
verwirren und endlich Alles dunkel wird; so wird 
auch, durch langes fortgesetztes Grübeln über eine Sa- 
che, allmälig das Denken verworren, stumpft sich ab 
und endigt in völliger Dumpfheit. Daher müssen wir 
jede Meditation oder Deliberation, welche glücklicher- 
weise ungestört geblieben, aber doch nicht zu Ende 
geführt worden, auch wenn sie die wichtigste und 
uns angelegenste Sache betrifft, nach einer gewissen 
Zeit, deren Maass individuell ist, vor der Hand auf- 
geben und ihren uns so interessanten Gegenstand aus 
dem Bewusstseyn entlassen, um uns, so schwer die 
Sorge darüber auch auf uns lastet, jetzt mit unbedeu- 
tenden und gleichgültigen Dingen zu beschäftigen. 
Während dieser Zeit nun ist jener wichtige Gegen- 
stand für uns nicht mehr vorhanden: er ist jetzt, wie 
die Wärme im kalten Wasser, latent. Wenn wir ihn 
nun, zur andern Zeit, wieder aufnehmen; so kommen 
wir an ihn wie an eine neue Sache, in der wir uns von 
Neuem, wiewohl schneller, orientiren, und auch der 
angenehme, oder widrige Eindruck derselben auf un- 
sern Willen tritt von Neuem ein. Inzwischen kommen 
wir selbst nicht ganz unverändert zurück. Denn mit 
der physischen Mischung der Säfte und Spannung 
der Nerven, welche, nach Stunden, Tagen und Jah- 
reszeiten, stets wechselt, ändert sich auch unsere Stim- 
mung und Ansicht: zudem haben die in der Zwischen- 
zeit dagewesenen fremdartigen Vorstellungen einen 
Nachklang zurückgelassen, dessen Ton auf die folgen- 
den Einfluss hat. Daher erscheint uns die selbe Sache 
zu verschiedenen Zeiten, Morgens, Abends, Nachmit- 
tags, oder am andern Tage, oft sehr verschieden: ent- 
gegengesetzte Ansichten derselben drängen sich jetzt 
auf und vermehren unsein Zweifel. Darum spricht 
man vom Beschlafen einer Angelegenheit und fordert 
169 
zu grossen Entschlüssen lange Ueberlegungszeit. Wenn 
nun gleich diese Beschaffenheit unsers Intellekts, als 
aus der Schwäche desselben entspringend, ihre offen- 
baren Nachtheile hat; so gewahrt sie andererseits den 
Vortheil, dass wir, nach der Zerstreuung und der phy- 
sischen Ümstiinrnung, als komparativ Andere, frisch 
und fremd zu unserer Angelegenheit zurückkehren 
und so sie mehrmals in stark verändertem Lichte er- 
blicken können. — Aus diesem allen ist ersichtlich, 
dass das menschliche Bewusstseyn und Denken, seiner 
Natur nach, nothwendig fragmentarisch ist, weshalb 
die theoretischen oder praktischen Ergebnisse, welche 
durch die Zusammensetzung solcher PVagmente er- 
langt werden, meistens mangelhaft ausfallen. Dabei 
gleicht unser denkendes Bewusstseyn einer Laterna 
magica, in deren Fokus nur Ein Bild zur Zeit er- 
scheinen kann und jedes, auch wenn es das Edelste 
darstellt, doch bald verschwinden muss, um dem He- 
terogensten, ja Gemeinsten Platz zu machen. — In 
praktischen Angelegenheiten werden die wichtigsten 
Pläne und Beschlüsse im Allgemeinen festgestellt: 
diesen aber ordnen andere, als Mittel zum Zweck, 
sich unter, diesen wieder andere und so bis zum Ein- 
zelnen, in concreto Auszuführenden herab. Nun aber 
kommen sie nicht in der Reihe ihrer Dignität zur Aus- 
führung, sondern während die Pläne im Grossen und 
Allgemeinen uns beschäftigen, müssen wir mit den 
kleinsten Einzelheiten und der Sorge des Augenblickes 
kämpfen. Dadurch wird unser Bewusstseyn noch de- 
sultorischer. Ueberhaupt machen theoretische Geistes- 
beschäftigungen zu praktischen Angelegenheiten und 
diese wieder zu jenen unfähig. 
In Folge des dargestellten unvermeidlich Zerstreu- 
ten und Fragmentarischen alles unsers Denkens, und 
des dadurch herbeigeführten Gemisches der hetero- 
gensten Vorstellungen, welches auch dem edelsten 
menschlichen Geiste anhängt, haben wir eigentlich 
nur eine halbe Besinnung und tappen mit dieser im 
Labvrinth unsers Lebenswandels und im Dunkel un- 
serer Forschimgen umher: helle Augenblicke erleuch- 
ten dabei wie Blitze unsern Weg. Aber was lässt sich 
I •yo 
überhaupt von Köpfen erwarten, unter denen selbst 
der weiseste allnächtlich der Tummelplatz der aben- 
teuerlichsten und unsinnijjsten Traume ist und von 
diesen kommend seine Meditationen wieder aufnehmen 
soll? Offenbar ist ein so grossen Beschränkungen un- 
terliegendes Bewusstseyn zur Ergründung des Räth- 
sels der Welt wenig geeignet, und ein solches Bestreben 
müsste Wesen höherer Art, deren Intellekt nicht die 
Zeit zur Form, und deren Denken daher wahre Ganz- 
heit und Einheit hätte, seltsam und erbärmlich er- 
scheinen. Ja, es ist sogar zu bewundern, dass wir durch 
das so höchst heterogene Gemisch der Vorstellungs- 
und Denkfragmente jeder Art, welche sich beständig 
in unserm Kopfe durchkreuzen, nicht völlig verworren 
werden, sondern uns stets noch wieder darin zurecht- 
zufinden und Alles aneinanderzupassen vermögen. 
Offenbar muss doch ein einfacher Faden daseyn, auf 
dem sich Alles aneinanderreiht: was ist aber dieser? 
- — Das Gedächtniss allein reicht dazu nicht aus; da 
es wesentliche Beschränkungen hat, von denen ich 
bald reden werde, und überdies höchst unvollkommen 
und treulos ist. Das logische Ich, oder gar die trans- 
scendentale synthetische Einheit dei^ Apperceptian, — 
sind Ausdrücke und Erläuterungen, welche nicht leicht 
dienen werden, die Sache fasslich zu machen, vielmehr 
wird Manchem dabei einfallen : 
„Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel." 
Kants Satz: „das Ich denke muss alle unsere Vorstel- 
lungen begleiten", ist unzureichend : denn das Ich ist 
eine unbekannte Grösse, d. h. sich selber ein Geheim- 
niss. — Das, was dem Bewusstseyn Einheit und Zu- 
sammenhang giebt, indem es, durchgehend durch des- 
sen sämmtliche Vorstellungen, seine Unterlage, sein 
bleibender Träger ist, kann nicht selbst durch das Be- 
wusstseyn bedingt, mithin keine Vorstellung seyn: 
vielmehr muss es das Prius des Bewusstseyns und die 
Wurzel des Baumes seyn, davon jenes die Frucht ist. 
Dieses, sage ich, ist der Wille: er allein ist unwandel- 
bar und schlechthin identisch, und hat, zu seinen 
Zwecken, das Bewusstseyn hervorgebracht. Daher ist 
171 
auch er es, welcher ihm Einheit giebt und alle Vor- 
stellungen und Gedanken desselben zusammenhält, 
gleichsam als durchgehender Grundbass sie begleitend. 
Ohne ihn hätte der Intellekt nicht mehr Einheit des 
Bewusstseyns, als ein Spiegel, in welchem sich successiv 
bald Dieses bald Jenes darstellt, oder doch hö( hstens 
nur soviel wie ein Konvexspiegel, dessen Strahlen in 
einen imaginären Punkt hinter seiner Oberfläche zu- 
sammenlaufen. Nun aber ist der M'^ille allein das Be- 
harrende und Unveränderliche im Bewusstseyn. Er 
ist es, welcher alle Gedanken und Vorstellungen, als 
Mittel zu seinen Zwecken, zusammenhält, sie mit der 
Farbe seines Charakters, seiner Stimmung und seines 
Interesses tingirt, die Aufmerksamkeit beherrscht und 
den Faden der Motive, deren Einfluss auch Gedächt- 
niss und Ideenassociation zuletzt in Thätigkeit setzt, 
in der Hand hält: von ihm ist im Grunde die Rede, 
so oft „Ich" in einem Unheil vorkommt. Er also ist 
der wahi'e, letzte Einheitspunkt des Bewusstseyns und 
das Band aller Funktionen und Akte desselben: er ge- 
hört aber nicht selbst zum Intellekt, sondern ist nur 
dessen Wurzel, Ursprung und Beherrscher. 
Aus der Form der Zeit und der einfachen Dimension 
der Vorstellungsreihe, vermöge welcher der Intellekt, 
um Eines aufzufassen, alles Andere fallen lassen muss, 
folgt, wie seine Zerstreuung, auch seine f^ergesslich- 
keit. Das Meiste von Dem, was er fallen gelassen, 
nimmt er nie wieder auf, zumal da die Wiederauf- 
nahme an den Satz vom Grunde gebunden ist, also 
eines Anlasses bedarf, den die Gedankenassociatiou 
und Motivation erst zu liefern hat; welcher Anlass 
jedoch um so entfernter und geringer seyn darf, je 
mehr unsere Empfindlichkeit dafür durch das Interesse 
des Gegenstandes erhöht ist. Nun aber ist das Ge- 
dächtniss, wie ich schon in der Abhandlung über den 
Satz vom Grunde gezeigt habe, kein Behältniss, son- 
dern eine blosse Uebungsfähigkeit im Hervorbringen 
beliebiger Vorstellungen, die daher stets durch Wie- 
derholung in Uebung erhalten werden müssen ; da sie 
sonst sich allmälig verlieren. Demzufolge ist das Wissen 
auch des gelehrtesten Kopfes doch nur virtualiter vor- 
I ^1 
banden, als eine im Hervorbringen gewisser Vorstel- 
lungen erlangte Uebung: actualiter hingegen ist aucb 
er auf eine einzige Vorstellung beschränkt und nur 
dieser einen sich zur Zeit bewusst. Hieraus entsteht 
ein seltsamer Kontrast zwischen dem, was er potentiä 
und dem, was er actu weiss, d. h. zwischen seinem 
Wissen und seinem jedesmaligen Denken: Ersteres ist 
eine unübersehbare, stets etwas chaotis(;he Masse, Letz- 
teres ein einziger deutlicher Gedanke. Das Verhältniss 
gleicht dem, zwischen den zahllosen Sternendes Him- 
mels und dem engen Gesichtsfelde des Teleskops: es 
tritt auffallend hervor, wann er, auf einen Anlass, ir- 
gend eine Einzelheit aus seinem Wissen zur deutlichen 
Erinnerung bringen will, wo Zeit und Mühe erfordert 
wird, es aus jenem Chaos hervorzusuchen. Die Schnel- 
ligkeit hierin ist eine besondere Gabe, aber sehr von 
Tag und Stunde abhängig: daher versagt bisweilen 
das Gedächtniss seinen Dienst, selbst in Dingen, die 
es zur andern Zeit leicht zur Hand hat. Diese Betrach- 
tung fordert uns auf, in unsern Studien mehr nach 
Erlangung richtiger Einsicht, als nach Vermehrung 
der Gelehrsamkeit zu streben, und zu beherzigen, 
dass die Qualität des Wissens wichtiger ist, als die 
Quantität desselben. Diese ertheilt den Büchern bloss 
Dicke, jene Gründlichkeit und zugleich Stil: denn 
sie ist eine intensive (jrösse, während die andere eine 
bloss extensive ist, Sie besteht in der Deutlichkeit 
und Vollständigkeit der Begriffe, nebst der Reinheit 
und Richtigkeit der ihnen zum Grunde liegenden an- 
schaulichen Erkenntnisse; daher das ganze Wissen, 
in allen seinen Theilen von ihr durchdrungen wird 
und demgemäss vverthvoll, oder gering ist. Mit kleiner 
Quantität, aber guter Qualität desselben leistet man 
mehr, als mit sehr grosser Quantität, bei schlechter 
Qualität. — 
Die vollkommenste und genügendeste Erkenntniss 
ist die anschauende: aber sie ist auf das ganz Einzelne, 
das Individuelle beschränkt. Die Zusammenfassung 
des Vielen und Verschiedenen in eine Vorstellung ist 
nur möglich durch den Begriffe d.h. durch das Weg- 
lassen der Unterschiede, mithin ist dieser eine sehr 
,73 
unvollkommene Art des Vorstellens. Freilich kann 
auch das Einzelne nnmittelhar als ein Allgemeines 
auf{jet"asst werden, wenn es nämlich zur (Platonischen) 
Idee erhohen wird: hei diesem Vor{jang aher, den ich 
im dritten Buch analysiert hahe, tritt auch schon der 
Intellekt aus den Schranken der Individualität und 
mithin der Zeit heraus: auch ist es nur eine Aus- 
nahme. 
Diese innern und wesentlichen Unvollkommenhei- 
ten des Intellekts werden noch erhöht durch eine ihm 
gewissermaassen äusserliche,aber unausbleibliche Stö- 
rung, nämlich durch den Einiluss, welchen auf alle 
seine Operationen der IVille ausübt, sobald er beim 
Resultat derselben irgend beteiligt ist. Jede Leiden- 
schaft, ja, jede Neigung oder Abneigung, tingirt die 
Objekte der Erkenntniss mit ihrer Farbe. Am alltäg- 
lichsten ist die Verfälschung, welche Wunsch und 
Hoffnung an der Erkenntniss ausüben, indem sie uns 
das kaum Mögliche als wahrscheinlich und beinahe 
gewiss vorspiegeln und zur Auffassung des Entgegen- 
stehenden uns fast unfähig machen : auf ähnliche Wei- 
se wirkt die Furcht; auf analoge jede vorgefasste Mei- 
nung, jede Parteilichkeit und, wie gesagt, jedes In- 
teresse, jede Regung und jeder Hang des Willens. 
Zu allen diesen Llnvollkommenheiten des Intellekts 
kommt endlich noch die, dass er, mit dem Gehirn, 
altert, d. h. wie alle physiologischen Funktionen, in 
den spätem Jahren seine Energie verliert; wodurch 
dann alle seine Unvollkommenheiten sehr zunehmen. 
Die hier dargelegte mangelhafte Beschaffenheit des 
Intellekts wird uns indessen nicht wundern, wenn wir 
auf seinen Ursprung und seine Bestimmung zurück- 
sehen, wie ich solche im zweiten Buche nachgewiesen 
habe. Zum Dienst eines individuellen Willens hat ihn 
die INatur hervorgebracht: daher ist er allein bestimmt, 
die Dinge zu erkennen, sofern sie die Motive eines sol- 
chen Willens abgeben; nicht aber, sie zu ergründen, 
oder ihr Wesen an sich aufzufassen. Der menschliche 
Intellekt ist nur eine höhere Steigerung des thierischen: 
und wie dieser ganz auf die Gegenwart beschränkt ist, 
so trägt auch der unserige starke Spuren dieser Be- 
174 
schränkung. Daher ist unser Gedächtniss und Rück- 
erinnerung etwas sehr Unvollkommenes: wie wenig 
von dem, was wir gethan, erlebt, gelernt, gelesen ha- 
hen, können wir uns zurückrufen! und selbst dies 
Wenige meistens nur mühsam und unvollständig. Aus 
demselben Grunde wird es uns so sehr schwer, uns vom 
Eindrucke der Gegenwart frei zu erhalten. — Bewusst- 
losigkeit ist der ursprüngliche und natürliche Zustand 
aller Dinge, mithin auch die Basis, aus welcher, in 
einzelnen Arten der Wesen, das Bewusstsevn, als die 
höchste Efflorescenz derselben, hervorgeht, weshalb 
auch dann jene immer vorwaltet. Demgemäss sind die 
meisten Wiesen ohne Bewusstseyn: sie wirken dennoch 
nach den Gesetzen ihrer Natur, d. h. ihres Willens. 
Die Pflanzen haben höchstens ein ganz schwaches Ana- 
logon von Bewusstseyn, die untersten Tliiere bloss eine 
Dänjmerung desselben. Aber auch nachdem es sich, 
durch die ganze Thierreihe, bis zum Menschen und 
seiner Vernunft gesteigert hat, bleibt die Bewusstlo- 
sigkeit der Pflanze, von der es ausging, noch immer 
die Grundlage, und ist zu spüren in der Nothwendig- 
keit des Schlafes, wie eben auch in allen hier darge- 
legten wesentlichen und grossen Unvollkommenhei- 
ten jedes durch physiologische Funktionen hervorge- 
brachten Intellekts: von einem andern aber haben 
wir keinen Begriff. 
Die hier nachgewiesenen wesentlichen Unvollkom- 
menheiten des Intellekts werden nun aber, im ein- 
zelnen Falle, stets noch durch unwesentliche erhöht. 
Nie ist der Intellekt, in jedei' Hinsicht, was er mög- 
licherweise seyn könnte: die ihm möglichen Voll- 
kommenheiten stehen einander so entgegen, dass sie 
sich ausschliessen. Daher kann Keiner Plato und Ari- 
stoteles, oder Shakespeare und Neuton, oder Kant 
und (joehte zugleich seyn. Die ünvollkommenheiten 
des Intellekts hingegen vertragen sich sehr wohl zu- 
sammen; weshalb er, in der Wirklichkeit, meistens 
tief unter dem bleibt, was er seyn könnte. Seine Funk- 
tionen hängen von so gar vielen Bedingungen ab, 
welche wir, in der Erscheinung, in der sie uns allein 
gegeben sind, nur als anatomische und physiologische 
■ 75 
erfassen können, dass ein auch nur in einer Richtung 
entschieden exceUirender Intellekt zu den seltensten 
Naturerscheinungen gehört; daher eben die Produk- 
tionen eines solchen Jahrtausende hindurch aufbe- 
wahrt werden, ja, jede Reliquie eines so begünstigten 
Individuums zürn köstlichsten Kleinod wird. Von einem 
solchen Intellekt bis zu dem, der sich dem Blödsinn 
nähert, sind der Abstufimgen unzählige. Diesen ge- 
mäss fällt nun zunächst dei' geistige Gesichtskreis eines 
Jeden sehr verschieden aus, nämlich von dem der 
blossen Auffassung der Gegenwart, die selbst das Thier 
hat, zu dem, der doch auch die nächste Stunde, zu 
dem, der den Tag umfasst, selbst noch den mor- 
genden, die Woche, das Jahr, das Leben, die Jahr- 
hunderte, Jahrtausende, bis zu dem eines Bewusst- 
seyns, welches fast beständig den, wenn auch undeut- 
lich dämmernden Horizont der Unendlichkeit gegen- 
wärtig hat, dessen Gedanken daher einen diesem 
angemessenen Charakter annehmen. — Ferner zeigt 
jener Unterschied der Intelligenzen sich in der Schnel- 
ligkeit ihres Denkens, auf welche sehr viel ankommt, 
unddiesoverschiedenundallmäligabgestuftseynmag, 
wie die der Punkte des Radius einer sich drehenden 
Scheibe. Die Ferne der Folgen und Gründe, zu der 
das Denken eines Jeden reichen kann, scheint mit der 
Schnelligkeit des Denkens in einem gewissen Verhält- 
niss zu stehen, indem die grösste Spannung der Denk- 
kraft überhaupt nur eine ganz kurze Zeit hindurch 
anhalten könne, und doch nur, während sie dauert, 
ein Gedanke in seiner vollkommenen Einheit sich 
durchdenken liesse; weshalb es dann darauf ankommt, 
wie weit der Intellekt ihn in solcher kurzen Zeit 
verfolgen, also wie viel Weges er in ihr zurücklegen 
kann. Andererseits mag, bei Manchem, die Schnellig- 
keit durch das längere Anhalten jener Zeit des voll- 
kommen einheitlichen Denkens ersetzt werden. Wahr- 
scheinlich macht das langsame und anhaltende Den- 
ken den mathematischen Kopf, die Schnelle des Den- 
kens das Genie: dieses ist ein Flug, jenes ein sicheres 
Gehen auf festem Roden, Scluitt vor Schritt. Dass 
man jedoch mit diesem letzteren auch in den Wissen- 
.76 
Schäften, sobald es nicht mehr auf blosse Grössen, 
sondern auf das Verstehen des Wesens der Erscheinun- 
gen ankommt, nicht ausreicht, beweist z. B. Neutons 
Farbenlehre, und später BiotsGetasel über Farbenringe, 
welches jedoch mit der ganzen atomistischen Betrach- 
tungsweise des Lichts bei den Franzosen, mit ihren 
molecules de lumiere und überhaupt mit ihrer fixen 
Idee, Alles in der Natur auf bloss mechanische Wir- 
kungen zurückführen zu wollen, zusammenhangt. — 
Endlich zeigt der in Rede stehende grosse individuelle 
Unterschied der Intelligenzen sich vorzüglich im Grade 
der Klarheit des Verständnisses und demnach in der 
Deutlichkeit des gesammten Denkens. Dem Einen ist 
schon Das Verstehen, was dem Andern erst einiger- 
maassen Merken ist; Jener ist schon fertig und am 
Ziel, wo Dieser erst am Anfang ist; Jenem ist schon 
Das die Lösung, was diesem erst das Problem. Dies 
beruht auf der Qualität des Denkens und Wissens, 
welche bereits oben erwähnt wurde. Wie in Zimmern 
der Grad der Helle verschieden ist, so in den Köpfen, 
Diese Qualität des ganzen Denkens spürt man, sobald 
man nur wenige Seiten eines Schriftstellers gelesen 
hat. Denn da hat man sogleich mit seinem Verstände 
und in seinem Sinn zu verstehen gehabt: daher, ehe 
man noch weiss, was er Alles gedacht hat, man schon 
sieht, ivie er denkt, nämlich welches die formelle Be- 
schaffenheit, die Textur seines Denkens sei, die sich 
in Allem, worüber er denkt, gleich bleibt, und deren 
Ausdruck der Gedankengang und der Stil ist. An die- 
sem empfindet man sogleich den Schritt und Tritt, 
die Gelenkigkeit und Leichtigkeit, wohl gar die Be- 
flügelung seines Geistes, oder, umgekehrt, dessen 
Schwerfälligkeil, Steifheit, Lahmheit und bleierne 
Beschaffenheit. Denn wie die Sprache der Abdruck 
des Geistes eines Volkes, so ist der Stil der unmittel- 
bare Abdruck des Geistes eines Schriftstellers, die 
Physiognomie desselben. Man werfe das Buch weg, 
bei dem man merkt, dass man in eine dunklere Region 
geräth, als die eigene ist; es sei denn, dass man bloss 
Thatsachen, nicht Gedanken aus ihm zu empfangen 
habe. Ausserdem aber wird nur der Schriftsteller uns 
I 2 Schopenhauer II I 7 7 
Gewinn bringen, dessen Verstehen schärfer und deut- 
licher ist, als das eigene, der unser Denken beschleu- 
nigt, nicht es hemmt, wie der stumpfe Kopf, der den 
Krötengang seines Denkens mitzumachen uns nöthigen 
will ; also jener, mit dessen Kopfe einstweilen zu den- 
ken, uns fühlbare Erleichterung und Förderung ge- 
währt, bei dem wir uns getragen fühlen, wohin wir 
allein nicht gelangen konnten. Goethe sagte mir ein 
Mal, dass wenn er eine Seite im Kant lese, ihm zu 
Muthe würde, als träte er in ein helles Zimmer. Die 
schlechten Köpfe sind es nicht bloss dadurch, dass sie 
schief sind und mithin falsch urtheilen ; sondern zu- 
nächst durch die ündcutlichkeit ihres gesammten Den- 
kens, als welches dem Sehen durch ein schlechtes 
Fernrohr, in welchem alle Umrisse undeutlich und 
wie verwischt erscheinen und die verschiedenen Ge- 
genstände in einander laufen, zu vergleichen ist. Die 
Forderung der Deutlichkeit der Begriffe, vor welcher 
der schwache Verstand solcher Köpfe zurückbebt, 
machen diese daher selbst nicht an ihn; sondern sie 
behelfen sich mit einem Helldunkel, in welchem sich 
zu beruhigen sie gern nach Worten greifen, zumal 
nach solchen, die unbestimmte, sehr abstrakte, unge- 
wöhnliche und schwer zu erklärende Begriffe be- 
zeichnen, wie z. B. Unendliches und Endliches, Sinn- 
liches und Uebersinnliches, die Idee des Seyns, Ver- 
nunft-Ideen, das Absolute, die Idee des Guten, das 
Göttliche, die sittliche Freiheit, Selbsterzeugungskraft, 
die absolute Idee, Subjekt-Objekt u. s. w. Mit der- 
gleichen werfen sie getrost um sich, meynen wirklich, 
das drücke Gedanken aus, und muthen Jedem zu, sich 
damit zufrieden zu stellen: denn der höchste ihnen 
absehbare Gipfel der Weisheit ist eben, für jede mög- 
liche Frage dergleichen fertige Worte in Bereitschaft 
zu haben. Dies unsägliche Genügen an Worten ist für 
die schlechten Köpfe durchaus charakteristisch: es 
beruht eben auf ihrer Unfähigkeit zu deutlichen Be- 
griffen, sobald diese über die trivialsten und einfach- 
sten Verhältnisse hinausgehen sollen, mithin auf der 
Schwäche und Trägheit ihres Intellekts, ja, auf dem 
geheimen Bewusstseyn dieser, welches bei Gelehrten 
,78 
verbunden ist mit der früh erkannten, harten Noth- 
wendigkeit, sich für denkende Wesen auszugeben, 
welcher Anforderung in allen Fällen zu begegnen, sie 
einen solchen Vorrath fertiger Worte geeignet halten. 
Wirklich belustigend muss es seyn, einen Philosophie- 
Professor dieses Schlages auf dem Katheder zu sehen, 
der bona fide einen dergleichen gedankenleeren Wort- 
kram vorträgt, ganz ehrlich, im Wahn, dies seien 
eben Gedanken, und vor ihm die Studenten, welche 
eben so bona fide, d. h. im selben Wahn, andächtig 
zuhören und nachschreiben ; während doch im Grunde 
weder der Eine noch die Andern über die Worte 
hinausgehen, vielmehr diese, nebst dem hörbaren 
Kratzen der Federn, das einzige Reale bei der Sache 
sind. Dieses eigenthümliche Genügen an Worten trägt 
mehr als irgend etwas bei zur Perpetuirung der Irr- 
thümer. Denn gestützt auf die von seinen Vorgängern 
überkommenen Worte und Phrasen geht jeder ge- 
trost an Dunkelheiten, oder Problemen vorbei: wo- 
durch diese sich unbeachtet, Jahrhunderte hindurch, 
von Buch zu Buch fortpflanzen und der denkende 
Kopf, zumal in der Jugend, in Zweifel geräth, ob 
etwan nur er unfähig sei, Das zu verstehen, oder ob 
hier wirklich nichts Verständliches vorliege; desglei- 
chen, ob für die Andern das Problem, um welches 
sie mit so komischer Ernsthaftigkeit alle denselben 
Fusspfad herumschleichen, keines sei, oder ob sie es 
nur nicht sehen wollen. Viele Wahrheiten bleiben 
bloss deshalb unentdeckt, weil Keiner Muth hat, das 
Problem ins Auge zu fassen und darauf los zu gehen. 
— Im Gegentheil hievon bewirkt die den eminenten 
Köpfen eigenthümliche Deutlichkeit des Denkens und 
Klarheit der Begriffe, dass sogar bekannte Wahrhei- 
ten, von ihnen vorgetragen, neues Licht, oder wenig- 
stens neuen Reiz gewinnen: hört oder liest man sie; 
so ist es, als hätte man ein schlechtes Fernrohr gegen 
ein gutes vertauscht. Man lese z. B, nur in Eulers 
Briefen an eine Prinzessin seine Darstellung der Grund- 
wahrheiten der Mechanik und Optik, Hierauf beruht 
Diderots, im Neveu de Rameau beigebrachte Bemer- 
kung, dass nur die vollendeten Meister fähig sind, die 
13* '79 
Elemente einer Wissenschaft eigentlich gut vorzutra- 
gen; eben weil nur sie die Sachen wirklich verstehen 
und niemals ihnen Worte die Stelle der Gedanken 
vertreten. 
Aber man soll wissen, dass die schlechten Köpfe 
die Regel, die guten die Ausnahme, die eminenten 
höchst selten, das Genie ein portentum ist. Wie könn- 
te sonst ein aus ungefähr acht hundert Millionen In- 
dividuen bestehendes Menschengeschlecht, nach sechs 
Jahrtausenden, noch so Vieles zu entdecken, zu er- 
finden, zu erdenken und zu sagen übrig gelassen ha- 
ben? Auf Erhaltung des Individuums allein ist der 
Intellekt berechnet und in der Regel selbst hiezu nur 
nothdürftig ausreichend. Aber weislich ist die Natur 
mit Ertheilung eines grössern Maasses sehr karg ge- 
wesen : denn der beschränkte Kopf kann die wenigen 
und einfachen Verhältnisse, welche im Bereich seiner 
engen Wirkungssphäre liegen, mit viel grösserer Leich- 
tigkeit übersehen und die Hebel derselben handhaben, 
als der eminente, der eine ungleich grössere und rei- 
chere Sphäre überblickt und mit langen Hebeln agirt, 
es könnte. So sieht das Insekt auf seinen Stängeln und 
Blättchen Alles mit minutiösester Genauigkeit und bes- 
ser, als wir; wird aber nicht den Menschen gewahr, 
der drei Schritte davon steht. Hierauf beruht die 
Schlauheit der Dummen und das Paradoxon: II y a 
un mvstere dans Tesprit des gens qui n'en ont pas. 
Für das praktische Leben ist das Genie so brauch- 
bar, wie ein Stern-Teleskop im Theater. — Sonach 
ist, in Hinsicht auf den Intellekt, die Natur höchst 
aristokratisch. Die Unterschiede, die sie hier einge- 
setzt hat, sind grösser als die, welche Geburt, Rang, 
Reichthum, oder Kastenunterschied in irgend einem 
Lande feststellen, aber wie in andern Aristokratien, 
so auch in der ihrigen, kommen viele tausend Ple- 
bejer auf einen Edeln, viele Millionen auf einen Für- 
sten, und ist der grosse Haufen blosser Pöbel, mob, 
rabble, la Canaille. Dabei ist nun freilich zwischen der 
Rangliste der Natur und der der Konvention ein schrei- 
ender Kontrast, dessen Ausgleichung nur in einem gol- 
denen Zeitalter zu hoffen stände. Inzwischen haben 
iHo 
die auf der einen, und die auf der andern Rangliste 
sehr hoch Stehenden das Gemeinsame, dass sie mei- 
stens in vornehmer Isolation leben, aufweiche Byron 
hindeutet, wenn er sagt: 
To feel me in the solitude of kings, 
Without the power that makes them bear a crown*). 
(Proph. of Dante. C. i .") 
Denn der Intellekt ist ein differenzirendes, mithin 
trennendes Princip: seine verschiedenen Abstufungen 
geben, noch viel mehr als die der blossen Bildung, 
Jedem andere Begriffe, in Folge deren gewissermaassen 
Jeder in einer andern Welt lebt, in welcher er nur 
dem Gleichgestellten unmittelbar begegnet, den Ueb- 
rigen aber bloss aus der Ferne zurufen und sich ihnen 
verständlich zu machen suchen kann. Grosse unter- 
schiede im Grade und dabei in der Ausbildung des 
Verstandes öfPnen zwischen Mensch und Mensch eine 
weite Kluft, über welche nur die Herzensgüte setzen 
kann, als welche imGegentheil das unificirende Princip 
ist, welches jeden Andern mit dem eigenen Selbst iden- 
tificirt. Jedoch bleibt die Verbindung eine moralische: 
sie kann keine intellektuelle werden. Sogar bei ziemlich 
gleichem Grade der Bildung gleicht die Konversation 
zwischen einem grossen Geiste und einem gewöhn- 
lichen Kopfe der gemeinschaftlichen Reise eines Man- 
nes, der auf einem muthigen Rosse sitzt, mit einem 
Fussgänger. Beiden wird sie bald höchst lästig und 
auf die Länge unmöglich. Auf eine kurze Strecke kann 
zwar der Reiter absitzen, um mit dem Andern zu ge- 
hen; wiewohl auch dann ihm die Ungeduld seines 
Pferdes viel zu schaffen machen wird. — 
Das Publikum aber könnte durch nichts so sehr 
gefördert werden, als durch die Erkenntniss jener m- 
tellehtuellen Aristokratie der Natur. Vermöge einer 
solchen würde es begreifen, dass zwar, wo es sich um 
Thatsachen handelt, also etwan aus Experimenten, 
Reisen, Codices, Geschichtsbüchern und Chroniken 
*) Die Einsamkeit der Könige zu fühlen. 
Jedoch der Macht entbehren, welche sie 
Die Krone tragen iässt. 
[8[ 
referirt werden soll, der normale Kopf ausreicht; hin- 
gegen wo es sich bloss um Gedanken handelt, zumal 
um solche, /u welchen der Stoff, die Data, Jedem vor- 
liegen, wo es also eigentlich lUir darauf ankommt, den 
Andern vorziidenketi, entschiedene Ueberlegenheit, an- 
geborene Eminenz, welche nur die Natur und höchst 
selten verleiht, unerlasslich erforderlich ist, und Keiner 
Gehör verdient, der nicht sogleich Proben derselben 
ablegt. Könnte dem Publiko die selbsteigene Einsicht 
hierin verliehen werden; so würde es nicht mehr die 
ihm zu seiner Bildung kärjflich zugemessene Zeit ver- 
geuden an den Produktionen gewöhnlicher Köpfe, 
also an den zahllosen Stümpereien in Poesie und Phi- 
losophie, wie sie jeder Tag ausl^rütet; es würde nicht 
mehr, im kindischen Wahn, dass Bücher gleich Eiern, 
frisch genossen werden müssen, stets nach dem Neue- 
sten greifen; sondern würde sich an die Leistungen 
der wenigen Auserlesenen und Berufenen aller Zeiten 
und Völker halten, würde suchen sie kennen und ver- 
stehen zu lernen, und könnte so allmälig zu achter 
Bildung gelangen. Dann würden auch bald jene Tau- 
sende unberufener Produktionen ausbleiben, die wie 
Unkraut dem guten Weizen das Aufkommen er- 
schweren. 
KAPITKL 16*). 
l EBER DEN PRAKTISCHEN GEBRAUCH DER 
VERNUNFT UND DEN STOICISMUS. 
IM siebenten Kapitel habe ich gezeigt, dass im Theo- 
retischen das Ausgehen von Begriffen nur zu mittel- 
mässigen Leistungen hinreicht, die vortrefflichen hin- 
gegen das vSchöpfen aus der Anschauung selbst, als 
(1er Urquelle aller Erkenntniss, erfordern. Im Prak- 
tischen verhalt es sich nun aber umgekehrt: hier ist 
*) Dieses Kapitel bezieht sicli auf §. 16. des eisten Batides. 
[S. K..') (1. A.] 
182 
das Bestimmtwerden durch das Anschauliche die Weise 
des Thiers, des Menschen aber unwürdig, als welcher 
Begriffe hat, sein Handeln zu leiten, imd dadurch 
cniancipirt ist von der Macht der anschaulich vorlie- 
genden Gegenwart, welcher das Thier unbedingt hin- 
gegeben ist. In dem Maasse, wie der Mensch dieses 
Vorrecht geltend macht, ist sein Handeln vernünftig 
zu nennen, und nur in diesem. Sinne kann von prak- 
tischer Vernunft die Rede seyn, nicht im Kantischen, 
dessen UnStatthaftigkeit ich in der Preisschrift über 
das Fundament der Moral ausführlich dargethan habe. 
Es ist aber nicht leicht, sich durch Begr-iße allein 
bestimmen zu lassen: auch auf das stärkste Gemüth 
dringt die vorliegende nächste Aussenwelt, mit ihrer 
anschaulichen Realität, gewaltsam ein. Aber eben in 
der Besiegung dieses Eindrucks, in der Vernichtung 
seines Gaukelspiels, zeigt der Menschengeist seine 
Würde und Grösse. So, wenn die Reizungen zu Lust 
und Genuss ihn ungerührt lassen, oder das Drohen 
und Wüthen ergrimmter Feinde ihn nicht erschüttert, 
das Flehen irrender Freunde seinen Entschluss nicht 
wanken macht, die Truggestalten mit denen verab- 
redete Intriguen ihn umstellen, ihn unbewegt lassen, 
der Hohn der Thoren und des Pöbels ihn nicht aus 
der Fassung bringt, noch irre macht an seinem eigenen 
Werth: dann scheint er unter dem Einfluss einer ihm 
allein sichtbaren Geisterwelt (und das ist die der Be- 
griffe) zu stehen, vor welcher jene Allen offen dalie- 
gende, anschauliche Gegenwart wie ein Phantom zer- 
fliesst. — Was hingegen der Aussenwelt und sicht- 
baren Realität ihre grosse Gewalt über das Gemüth 
ertheilt, ist die Nähe und Unmittelbarkeit derselben. 
Wie die Magnetnadel, welche durch die vereinte Wir- 
kung weitvertheilter, die ganze Erde umfassender Na- 
turkräfte in ihrer Richtung erhalten wird, dennoch 
durch ein kleines Stückchen Eisen, wenn es ihr nur 
recht nahe kommt, perturbirt und in heftige Schwan- 
kungen versetzt werden kann; so kann bisweilen selbst 
ein starker Geist durch geringfügige Begebenheiten 
und Menschen, wenn sie nur in grosser Nähe auf ihn 
einwirken, aus der Fassung gebracht und perturbirt 
i83 
werden, und den überleglesten Entschluss kann ein 
unbedeutendes, aber unmittelbar gegenwärtiges Ge- 
genmotiv in momentanes Wanken versetzen. Denn 
der relative EinHuss der Motive steht unter einem Ge- 
setz, welches dem, nach welchem die Gewichte auf 
den Waagebalken wirken, gerade entgegengesetzt ist, 
und in Folge dessen ein sehr kleines, aber sehr nahe 
liegendes Motiv ein an sich viel stärkeres, jedoch aus 
der Ferne wirkendes, überwiegen kann. Die Beschaf- 
fenheit des Gemüthes aber, vermöge deren es diesem 
Gesetze gemäss sich bestimmen lässt und nicht, kraft 
der wirklich praktischen Vernunft, sich ihm entzieht, 
ist es, was die Alten durch animi impotentia bezeich- 
neten, welches eigentlich ratio regendae voluntatis im- 
potens bedeutet. ieAer AJfekt (animi perturbatio) ent- 
steht eben dadurch, dass eine auf unsern Willen wir- 
kende Vorstellung uns so übermässig nahe tritt, dass 
sie uns alles Uebrige verdeckt, und wir nichts mehr 
als sie sehen können, wodurch wir, iür den Augen- 
blick, unfähig werden, das Anderweitige zu berück- 
sichtigen. Ein gutes Mittel dagegen wäre, dass man 
sich dahin brächte, die Gegenwart unter der Einbil- 
dung anzusehen, sie sei Vergangenheit, mithin seiner 
Apperception den Briefstil der Römer angewöhnte. 
Vermögen wir doch sehr wohl, umgekehrt, das längst 
Vergangene so lebhaft als gegenwärtig anzusehen, 
dass alte, längst schlafende Affekte dadurch wieder 
zu vollem Toben erwachen. — Imgleichen Würde 
Niemand sich über einen Unfall, eine Widerwärtig- 
keit, enti'üsten und aus der Fassung gerathen, wenn 
die Vernunft ihm stets gegenwärtig erhielte, was ei- 
gentlich der Mensch ist: das grossen und kleinen Un- 
fällen, ohne Zahl, täglich und stündlich Preis gegebene, 
hülfsbedürftigste Wesen, ro osiXo-atov ^a>ov, welches 
daher in beständiger Sorge und Furcht zu leben hat. 
Ilav £0X1 avbpmTTO? ouix'f opa (homo totus est calamitas) 
sagt schon Herodot. 
Die Anwendung der Vernunft auf das Praktische 
leistet zunächst dies, dass sie das Einseitige und Zer- 
stückelte der bloss anschauenden Erkenntniss wieder 
zusammensetzt und die Gegensätze, welche diese dar- 
i84 
bietet, als Korrektionen zu einander gebrauclit, wo- 
durch das objektiv richtige Resultat gewonnen wird. 
Z. B. fassen wir die schlechte Handlung eines Men- 
schen ins Auge, so werden wir ihn verdammen; hin- 
gegen, bloss die Noth, die ihn dazu bewogen, betrach- 
tend, ihn bemitleiden: die Vernunft, mittelst ihrer 
Begriffe, erwägt Beides luid führt zu dem Resultat, 
dass er durch angemessene Strafe gebändigt, einge- 
schränkt, gelenkt werden müsse. 
Ich erinnere hier nochmals an Seneka's Ausspruch: 
Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi. Weil 
nun aber, wie im vierten Buche dargethan wird, das 
Leiden positiver, der Genuss negativer Natur ist; so 
wird Der, welcher die abstrakte oder Vernunft-Ei- 
kenntniss zur Richtschnur seines Thuns nimmt und 
demnach dessen Folgen und die Zukunft allezeit be- 
denkt, das Sustine et abstine sehr häufig zu üben haben, 
indem er, um die möglichste Schmerzlosigkeit des 
Lebens zu erlangen, die lebhaften Freuden und Ge- 
nüsse meistens zum Opfer bringt eingedenk des Aristo- 
telischen 6 (ppovt[xo<; To aXuTCOv oicuxei, ou to t^ou (quod 
dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prii- 
dens). Daher borgt bei ihm stets die Zukunft von der 
Gegenwart; statt dass beim leichtsinnigen Thoren die 
Gegenwart von der Zukunft borgt, welche, dadurch 
verarmt, nachher bankrott wird. Bei Jenem muss frei- 
lich die Vernunft meistens die Rolle eines grämlichen 
Mentors spielen und unablässig auf Entsagungen an- 
tragen, ohne dafür etwas Anderes versprechen zu kön- 
nen, als eine ziemlich schmerzlose Existenz. Dies be- 
ruht darauf, dass die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, 
das Ganze des Lebens überblickt, dessen Ergebniss, 
im berechenbar glücklichsten Fall, kein anderes seyn 
kann, als das besagte. 
Dieses Streben nach einer schmerzlosen Existenz, 
so weit sie, durch Anwendung und Befolgung ver- 
nünftiger Ueberlegung und erlangter Erkenntniss der 
wahren Beschaffenheit des Lebens, möglich seyn möch- 
te, hat, als es mit strenger Konsequenz und bis zum 
äussersten Extrem durchgeführt wurde, den Kynismus 
erzeugt, aus welchem nachher der Stoicismus hervor- 
i85 
{jion^j; wie ich Dies zu festerer Be{',ründun{j dei- unser 
erstes Hnch besehliessenden Darstellun{j, hier mit We- 
ni{jem ausführen will. 
Alle Moralsy.steine des Alterthuins, das Platonische 
allein ausjjenomnien, waren Anleitunjjen zu einem 
glücks;Ui[;en Lehen: demnach hat, hei ihnen, die Tu- 
pfend ihren Zweck durchaus nicht jenseit des Todes, 
sondern in dieser Welt. Denn sie ist ihnen ehen nur 
der rechte We(; zum wahrhaft glücklichen Lehen; 
deshalh erwählt sie der Weise. Daher ehen stammen 
die, besonders von Cicero luis aufbehaltenen, weit- 
läufigen Dehatten und scharfen, stets erneuernden Un- 
tersuchungen, oh auch wirklich die Tugend, ganz allein 
und für sich, zum glücklichen Lehen hinreichend sei; 
oder ob es dazu noch irgend eines Aeusserlichen be- 
dürfe; ob der Tugendhafte und Weise auch auf der 
Folter und dem Rade, oder im Stier des Phalaris, 
glücklich sei; oder ob es so weit doch nicht gehe. Denn 
freilich wäre dies der Probirstein einer Ethik dieser 
Art: beglücken müsste ihre Ausübung immittelbar 
und unbedingt. Vermag sie das nicht; so leistet sie 
nicht, was sie soll, und ist zu verwerfen. So richtig, 
wie dem christlichen Standpunkt gemäss ist es mit- 
hin, dass Augustinus seiner Darlegung der Moral- 
systeme der Alten (De civ. Dei, Lib. XIX, c. i) die 
Erklärung voranschickt: Exponenda sunt nobis ar- 
gumenta mortalium, quibus sibi ipsi beatitudinem fa- 
cere in hujus vilae infelicitate moliti sunt; ut ab eorum 
rebus vanis spes noslra quid differat clarescat. De Hni- 
bus bonorum et malorum multa inter se philosophi 
disputarunt; fpxam (juaestionem maxima intentione 
versautes, invenire conati sunt, quid efficiat hominem 
beatum: illud enim est finis bonorum. Ich will den 
angegebenen eudämonistischen Zweck der antiken 
Ethik durch einige ausdrückliche Aussprüche der Al- 
ten ausser Zweifel setzen. Aristoteles sagt in der Eth. 
magna, I, t\: 'H £uoat[j.ovia sv xcp so Ct[]v eoxi, xo oe eu 
CXiV ev T({> xaia xac, otpSTa? C^fjv. (Felicitas in bene viven- 
do posita est: verum bene vivere est in eo positum, 
ut secundum virtutem vivamus), womit zu vergleichen 
Eth. Nicom., 1, .'>. - — Cic. Tusc, V, i : Nam, quum 
t8(i 
ea causa impulerit eos, qui priini se ad pliilosophiae 
Stildia contulerunt, ut, Omnibus rebus posthabitis, to- 
tos se in optimo vitae statu exquirendo collocarent; 
profecto spe beate vivendi tantani in eo studio curam 
operamque posuerunt. — Nach Plutarch (De repugn. 
stoic, c. i8) hat Chrysippos gesagt: To xaxa xaxiav Ciflv 
TU) xaxooaiuovcüs C^flv tauTOv saxi. (Vitiose vivere ideni 
est, quod vivere infeUciter.) — Ibid. c. 26: 'H cppovrj- 
oic ou)( £~£pov cOTt -TjC £u5ai[jL0vtas xotO' saoTo, oKk' eo- 
oai[i.ovia. (Prudentia nihil difFert a feiicitate, estque 
ipsa adeo fehcitas.) — Stob. Ed., Lib. II, c. 7: Ts>.o; 
he cpaaiv sivai ~o euoaijxoveiv, ou svexa icavTa TtpaiTSTat. 
(Finem esse dicunt leHcitatem, cujus causa fiunt omnia.) 
— EuoaiijLOViav auvcovojAStv xtp tsXsi Xs^ouai. Fineni bo- 
norum et felicitatem synonyma esse dicunt.) — Arrian. 
diss. Epict., I, f: 'H apsr/] rauTTjv e^si ttjv siraYYsXiav- 
suoaiijLOviav TronTjcai. (Virtus proHtetur, se felicitatem 
praestare.) — Sen. ep. 90: Ceterum (sapientia) ad bea- 
tum statum tendit, illo ducit, illo vias aperit. — Id. 
ep. 108. Illud admoneo, auditionem philosophorum, 
lectionemque, ad proposituui beatae vitae trahendum. 
Diesen Zweck des gkickhchsten Lebens also setzte 
sich ebenfalls die Ethik der Kyiiiher; wie der Kaiser 
Julian ausdrücklich bezeugt: Orat. VI: Tt]«; Kuvix7]i; 8s 
tpiXooQcpia? axo~o<; [i£v ea~i xai teXo?, töoTrep ot) xat iraoTji; 
cpiXooocpias, TO euoaifjLOveiv to 8s £u8aijj,ovsiv ev tü> C^jv 
xaTa cpuoiv, aXXa [xt] Tipo? Ta? tcov ttoXXoiv oo^a;. (Gynicae 
philosophiae, ut etiam omnis pliilosophiae, scopus et 
finis est feliciter vivere: felicitas vitae autem in eo 
posita est, ut secundum naturam vivatur, nee vero 
secundum opiniones inultitudinis.) Nur aber schlugen 
die Kyiiiker zu diesem Ziel einen ganz besondern Weg 
ein, einen dem gewöhnlichen gerade entgegengesetz- 
ten: den der möglichst weitgetriebenen Entbehrung. 
Sie gingen nämlich von der Einsicht aus, dass die Be- 
wegungen, in welche den Willen die ihn reizenden 
und anregenden Objekte versetzen, und das mühe- 
volle, meistens vereitelte Streben diese zu erlangen, 
oder, wenn sie erlangt sind, die Furcht sie zu ver- 
lieren, endlich gar der Verlust selbst, viel grössere 
Schmerzen erzeugen, als die Entbehrung aller jener 
187 
Objekte irgend vermag. Darum wählten sie, um zum 
schmerzlosesten Leben zu gelangen, den Weg der 
grösstmöglichsten Entbehrung, und flohen alle Ge- 
nüsse, als Fallstricke, durch die man nachmals dem 
Schmerz überliefert würde. Danach aber konnten sie 
dem Glück und seinen Launen kühn Trotz bieten. 
Dies ist der Geist des Kynismus., deutlich spricht ihn 
Seneka aus, im achten Kapitel De tranquillitate ani- 
mi: cogitandum est, quanto levior dolor sit, non ha- 
bere, (juam perdere: et intelligemus, paupertati eo 
minorem tormentorum, ([uo minorem damnorum esse 
materiam. Sodann: Tolerabilius est, faciliusque, non 
acquirere, quam amittere. — — - — Diogenes effecit, 
ne quid sibi eripi posset, — — — qui se fortuitis 
Omnibus exuit. — — — Videtur mihi dixisse: age 
tuum negotium, fortuna: nihil apud Diogenem jam 
tuum est. Zu diesem letztern Satz ist die Parallelstelle 
die Anführung des Stohäos (Ecl. II, 7): Aio^evt]? £<p7] 
vojxi^etv öpav ttjv Tu)(TjV svoptuoav aoxov xai Xs^oucav 
TouTov 0' ou ouva[i.at ßaXeeiv xuva XuoorjTrjpa. (Diogenes 
credere se dixit, videre Fortunam, ipsum intuentem, 
ac dicentem: ast hunc non potui tetigisse canem ra- 
biosum). Den selben Geist des Kynismus bezeugt 
auch die Grabschrift des Diogenes, bei Suidas, voce 
Odtaxo?, und bei Diogenes Laertius, VI, 2: 
Frjpaoxsi [xev yakxoc, utto j^povou' aXXa ao^j odti 
Kuoo? ö Tzac, aiojv, Aio^Evs?, xa&eXsi* 
Mouvo? ETTSi ßioxr^; aoxapxea oo^av £0£i;a? 
OvtjTok;, xai C«>^C oijxov eXacppoxatTjV. 
(Aera quidcm absumit tcmpus, scd tempore numquain 
Inteiitiira tua est {jloria, Diogenes: 
Quandoquidem ad vitam niiseris mortalibus aequam 
Monstrata est facilis., te duce, et ampla via.) 
Der Grundgedanke des Kynismus ist demnach, dass 
das Leben in seiner einfachsten und nacktesten Ge- 
stalt, mit den ihm von der Natur beigegebenen Be- 
schwerden, das ertraglichste, mithin zu erwählen 
sei; weil jede Hülfe, Bequemlichkeit, Ergölzlichkeit 
und Genuss, dadurch man es angenehmer machen 
188 
möchte, nur neue und grössere Plagen herbeizöge, als 
die demselben ursprünglich eigenen. Daher ist als der 
Kernausdruck seiner Lehre der Satz anzusehen: Aio- 
Ysvrji; eßocf TroX^axi? Xsytov, tov tcov avdpcoTCtov ßiov paBtov 
liTzo TCOV decüv 8eooo&ai, airoxsxpucpOai os aurov Ctttouvtcuv 
jxeXnrrjxxa xai [jLupa xat xa irapaiuXirjota. (Diogenes clama- 
bat saepius,hominum vitam facilem a diis dari, verum 
occultari illam quaerentibus mellita cibaria, unguenta, 
et his similia. — Diog. Laert., VI, 2.) Ferner auch: 
Aeov, avn xcov a)(p7]OTcüV ttovcov, too? xata cpuoiv sXojxsvou^, 
C'ißv £u8at[xov(o?" irapa xtjv avoiav xaxooatjxovouai. 
TOV auTov j^apaxTTjpa tou ßtou Xsytov Sis^otYStv, ovTrsp xat, 
'HpaxXr^?, [jL7]0£v eX£u&7]pta<;7Tpoxpivu)v (Quum igitur, re- 
pudiatis inutilibus laboribus, naturales insequi, ac vi- 
vere beate debeamus,per summam dementiam infelices 
sumus. eandem vitae formam, quam Hercu- 
les, se vivere affirmans, nihil libertati praeferens. — 
Ibid.) Demnach hatten die alten, ächten Kyniker, Antis- 
thenes, Diogenes, Krates und ihre Jünger, ein für alle 
Mal jedem Besitz,allen Bequemlichkeiten und Genüssen 
entsagt, um der Mühe und Sorge, der Abhängigkeit 
und den Schmerzen, die unvermeidlich damit ver- 
knüpft sind und nicht dadurch aufgewogen werden, 
für immer zu entgehen. Durch nothdürftige Befriedi- 
gung der dringendesten Bedürfnisse und Entbehrung 
alles Ueberflüssigen gedachten sie leichtesten Kaufes 
davonzukommen. Sonach begnügten sie sich mit Dem, 
was in Athen und Korinth so ziemlich umsonst zu 
haben war, wie Lupinen, Wasser, ein schlechtes Tri- 
bonion, Schnappsack und Knittel, bettelten gelegent- 
lich, so weit es hiezu nöthig war, arbeiteten aber nicht. 
Sie nahmen jedoch durchaus nichts an, was über obige 
Bedürfnisse hinausging. Unabhängigkeit, im weitesten 
Sinn, war ihre Absicht. Ihre Zeit brachten sie zu mit 
Ruhen, Umhergehen, Reden mit allen Menschen, viel 
Spotten, Lachen und Scherzen: ihr Charakter war 
Sorglosigkeit und grosse Heiterkeit. Da sie nun, bei 
dieser Lebensweise, kein eigenes Trachten, keine Ab- 
sichten und Zwecke zu verfolgen hatten, also über das 
menschliche Treiben selbst hinausgehoben waren, da- 
bei auch stets voller Müsse genossen, eigneten sie, als 
189 
Männer von erjjrobter Oeistesstarke, sich tretf lieh, die 
Berather und Erinahner der Uehrigen zu werden. Da- 
her ^HQty/pulcjus (Florid., IV) : Crates, ut lar faniiHaris 
apud homines suae aetatis cuhus est. INulIa domus ei 
unquam clausa erat : nee erat patrislämilias tarn abseon- 
ditumseeretuni,<juineotenipestiveCrates interveniret, 
litiurn oniniuui et jurgiorum inter propinquos discep- 
tator et arbiter. Auch hierin also, wie in so vielem An- 
dern, zeigen sie viele Aehnliehkeit mit den Bettelmön- 
ehen der neuen Zeit, d. h. mit den besseren und achten 
unter diesen, deren Ideal man sich an dem Kapuziner 
Christoph, in Mnnzonis berühmtem Roman, vergegen- 
wärtijjen mag. Jedoch liegt diese xVehnlichkeit nur in 
den Wirkungen, nicht in der Ursache. Sie treffen im 
Resultat zusammen; aber der Grundgedanke Beider 
ist ganz verschieden : bei den Mönchen ist er, wie bei 
den ihnen verwandten Saniassis, ein über das Leben 
hinausgestecktes Ziel; bei den Kynikern aber nur die 
Ueberzeugung, dass es leichter sei, seine Wünsche und 
Bedürfnisse auf" das Minimum herabzusetzen, als in 
ihrer Befriedigung das Maximum zu erreichen, welches 
sogar unmöglich ist, da mit der Befriedigung die Wün- 
sche und Bedürfnisse ins Unendliche wachsen; daher 
sie, um das Ziel aller antiken Ethik, möglichste Glück- 
säligkeit in diesem Leben, zu erreichen, den Weg der 
Entsagung einschlugen, als den kürzesten und leich- 
testen öOsv xai Tov Kuviajiov stprjxaaiv auviojxov ei:' apeTTjv 
öoov (unde et Cynismum dixere compendiosam ad vir- 
tutem viam. Diog. Laert., VI, 9). — Die Grundver- 
schiedenheit des Geistes des Kynismus von dem der 
Askese tritt augenfällig hervor an der Demuth, als 
welche der Askese wesentlich, dem Kynismus aber so 
fremd ist, dass er, im Gegentheil, den Stolz und die 
Verachtimg aller Uebrigen im Schilde führt: 
Sapiens utio minor est Jove, dives, 
Liber, lionoratus, pulcher, rex denique regum. 
Hör. 
Hingegen trifft, dem Geiste der Sache nach, die Le- 
bensansicht der Kyniker mit der des /. J. Rousseau, wie 
er sie im Discours sur Torigine de Tinegalite darlegt, 
190 
zusammen ; da auch er uns zum rohen Naturzustande 
zurückführen möchte und das Herabsetzen unserer 
Bedürfnisse auf ihr Minimum als den sichersten Weg 
zur Glücksähgkeit betrachtet. — Uebrigens waren 
die Kyniker ausschhessHch praktische Philosophen: 
wenigstens ist mir keine Nachricht von ihrer theore- 
tischen Philosophie bekannt. 
Aus ihnen gingen nun die Stoiker dadurch hervor, 
dass sie das Praktische in ein Theoretisches verwan- 
delten. Sie meinten, das wirkliche Entbehren alles ir- 
gend Entbehrlichen sei nicht erfordert, sondern es 
reiche hin, dass man Besitz inid Genuss beständig als 
entbehrlich und als in der Hand des Zufalls stehend 
betrachte: da würde denn die wirkliche Entbehrung, 
wenn sie etwan eintrete, weder unerwartet seyn, noch 
schwer fallen. Man könne immerhin Alles haben und 
geniessen; nur müsse man die Ueberzeugung von der 
Werthlosigkeit und Entbehrlichkeit solcher Güter ei- 
nerseits, und von ihrer Unsicherheit und Hinfälligkeit 
andererseits stets gegenwärtig erhalten, mithin sie alle 
ganz gering schätzen, und allezeit bereit seyn, sie auf- 
zugeben. Ja, wer, um nicht durch jene Dinge bewegt 
zu werden, sie wirklich entbehren müsse, zeige dadurch 
an, dass er, in seinem Herzen, sie für wahre Güter 
halte, die man, um nicht danach lüstern zu werden, 
ganz aus seinem Gesichtskreis entfernen müsse. Der 
Weise hingegen erkenne, dass sie gar keine Güter seien, 
vielmehr ganz gleichgültige Dinge, aöiacpopa, allenfalls 
irporjYixsva. Daher wird er sie, wenn sie sich darbieten, 
annehmen, ist jedoch stets bereit, sie mit grösster 
Gleichgültigkeit wieder fahren zu lassen, wenn der 
Zufall, dem sie augehören, sie zurückfordert; weil sie 
Tcüv oux £cp' Tjjxiv sind. In diesem Sinne sagt Epiktef, 
Kap. 7, der Weise werde, gleich Einem, der vom Schifte 
ans Land gestiegen u. s. w., sich auch ein Weibchen, 
oder Knäbchen gefallen lassen, dabei jedoch stets bereit 
seyn, sobald der Schifler ruft, sie wieder gehen zu 
lassen. — So vervollkommneten die Stoiker die Theorie 
des Gleichmuths und der Unabhängigkeit, auf Kosten 
der Praxis, indem sie Alles auf einen mentalen Process 
zurückführten und durch Argumente, wie sie das erste 
Kapitel des Epiktet darbietet, sich alle Bequemlich- 
keiten des Lebens heransophisticirten. Sie hatten aber 
dabei ausser Acht gelassen, dass alles Gewohnte zum 
Bedürfniss wird und daher nur mit Schmerz entbehrt 
werden kann, dass der Wille nicht mit sich spielen 
lässt, nicht {jeniessen kann, ohne die Genüsse zu lieben ; 
dass ein Hund nicht {jleich{jiiltig bleibt, indem man 
ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht, und ein 
Weiser, wenn er hunj^rig^ ist, auch nicht; und dass 
es zwischen Bejjehren und Entsaj^^en kein Mittleres 
{jiebt. Sie aber {jlaubten sich dadurch mit ihren Grund- 
sätzen abzufinden, dass sie, an einer luxuriösen Römi- 
schen Tafel sitzend, kein Gericht ungekostet Hessen, 
jedoch dabei versicherten, das waren sammt und son- 
ders blosse 7tpoTf)Y}J.£va, keine ayaOa; oder. Deutsch zu 
reden, dass sie assen, tranken und sich einen (juten 
Tag machten, dabei aber dem lieben Gott keinen Dank 
dafür wussten, vielmehr fastidiöse Gesichter schnitten 
und nur immer brav versicherten, sie machten sich 
den Teufel etwas aus der ganzen Fresserei. Dies war 
<las Auskunftsmittel der Stoiker: sie waren demnach 
blosse Maulhelden, und zu den Kyiiikern verhalten sie 
sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und 
Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern. Je mehr 
sie nun die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten 
sie die Theorie zu. Der am Schlüsse unsers ersten Bu- 
ches gegebenen Auseinandersetzung derselben will ich 
hier noch einige einzelne Belege und Ergänzungen bei- 
fügen. 
Wenn wir in den uns hinterbliebenen Schriften der 
Stoiker, die alle unsystematisch abgefasst sind, nach 
dem letzten Grunde jenes unsunablässigzugemutheten, 
unerschütterlichen Gleichmuthes forschen; so finden 
wir keinen andern, als die Erkenntniss der gänzlichen 
Unabhängigkeit des Weltlaufs von unserm Willen und 
folglich der Unvermeidlichkeit der uns treffenden 
Uebel. Haben wir nach einer richtigen Einsicht hierin 
unsere Ansprüche regnlirt; so ist Trauern, Jubeln, 
Fürchten vmd Hoffen eine Thorheit, deren wir nicht 
mehr fähig sind. Dabei wird, besonders in den Kom- 
mentarien des Arrians, die Subreption begangen, dass 
19a 
Alles was oux ecp' :^|j.tv ist (d. h. nicht von uns abhängt), 
sofort auch ou Trpoc ri[ia<; wäre (d. h. uns nichts an- 
gienge). Doch bleibt wahr, dass alle Güter des Lebens 
in der Macht des Zufalls stehen, mithin sobald er, 
diese Macht übend, sie uns entreisst, wir unglücklich 
sind, wenn wir unser Glück darin gesetzt haben. Die- 
sem unwürdigen Schicksal soll uns der richtige Ge- 
brauch der Vernunft entziehen, vermöge dessen wir 
allejeneGüterniealsdie unserigen betrachten, sondern 
nur als auf unbestimmte Zeit uns geliehen: nur so 
können wir sie eigentlich nie verlieren. Daher sagt 
Seneka (Ep. 98): Si, quid humanarum reruni varietas 
possit, cogitaverit, ante quam senserit, und Diogenes 
Laertius (VII, i. 87): loov 8s sotito 7.0.x apsxTjv Ctjv tw 
xax' £[x7reipiav tcdv cpuaet oufxßaivovxcüv ^ip. (Secundum 
virtutem vivere idem est, quod secundum experientiam 
eorum, quae secundum naturam accidunt, vivere.) 
Hieher gehört besonders die Stelle in Annans Epik- 
tetäischen Abhandlungen, B. III, Kap. 24, 84 — 89; 
und speciell, als Beleg des §. 16 des ersten Bandes*) in 
dieser Hinsicht von mir Gesagten, die Stelle: Touxo 
■yap ecxi xo aixiov xoi<; avöpu)7roic Tcavxcov xcdv xaxcuv, xo 
xa? 7rpoX7](|i£i<; xa? xotva«; [jltj ouvao&ai ecpap[j,oC£iv xoi? SKt, 
}iepou<;, ibid. IV, 1.42. (Haec enim causa est hominibus 
omnium malorum, quod anticipationes generales rebus 
singularibus accommodare non possunt.) Desgleichen 
die Stelle im Antoninus (IV, 29): Et ^svo? xoajjiou 6 [jlt] 
fva)piCo)v xa £v auxcp ovxa, ou)( tjxxov ^£vo? xai 6 fxr] yv^pi^tov 
xa YtYvojjLsva d. h. : „Wenn Der ein Fremdling in der 
W^elt ist, welcher nicht weiss, was es darin giebt; so 
ist es nicht weniger Der, welcher nicht weiss, wie es 
darin hergeht." Auch Seneka's elftes Kapitel De tran- 
quillitate animi ist ein vollkommener Beleg dieser 
Ansicht. Die Meinung der Stoiker geht im Ganzen da- 
hin, dass wenn der Mensch dem Gaukelspiel des Glückes 
eine Weile zugesehen hat und nun seine Vernunft ge- 
braucht, er sowohl den schnellen Wechsel der Würfel, 
als die innere Werthlosigkeit der Rechenpfennige er- 
kennen und daher fortan unbewegt bleiben müsse, 
üeberhaupt lässt die Stoische Ansicht sich auch so 
*) S. io5 d. A. 
1 3 Schopenhauer II ^9 
ausdrücken: Unser Leiden entspringt allemal aus dem 
Missverhältniss zwischen unseren Wünschen und dem 
Weltlauf. Daher muss Eines dieser Beiden {geändert 
und dem Andern angepasst werden. Da nun der Lauf 
der Dinge nicht in unserer Macht steht (oux ecp' ifjfxiv); 
so müssen wir unser Wollen und Wünschen dem Lauf 
der Dinge gemäss einrichten: denn der Wille allein 
ist ecp' rjfjLiv. Dieses Anpassen des Wollens zum Laufe 
der Äussenwelt, also zur Natur der Dinge, wird sehr 
oft unter dem vieldeutigen xaia cpuaiv C,j^f verstanden. 
Man sehe Arriani Diss., II, 17, 21, 22. Ferner bezeich- 
net diese Ansicht Seneka (Ep. 119), indem er sagt: 
Nihil interest, utrum non desideres, an habeas. Summa 
rei in utroque est eadem : non torqueberis. Auch Cicero 
(Tusc, IV, 26), durch die W^orte: Solum habere velle, 
summa dementia est. Desgleichen Arrian (IV, i, 17 5): 
Oo "fap sxTrXvjpcüoet ttuv £Triöu[jLou|jL£vajv sXeuOspia Trapa- 
oxsuaCsTast, aXXa avaoxeuiQ ttj? sm^ujxia?. (Non enim 
explendis desideriis libertas comparatur, sed tollenda 
cupiditate.) 
Als Belege dessen, was ich am angeführten Orte 
über das 6 1x0X070 ufjisvwrji; ^v der Stoiker gesagt habe, 
kann man die in der Historia philosophiae Graeco- 
Romanae von Ritter und PreUer^ §. 898, zusammen- 
gestellten Anführungen betrachten; desgleichen den 
Ausspruch des Seneka (Ep. 3i und nochmals Ep. 74): 
Perfecta virtus est aequalitas et tenor vitae per omnia 
consonans sibi. Den Geist der Stoa überhaupt bezeich- 
net deutlich diese Stelle des Seneka (Ep. 92): Quid est 
beata vita? Securitas et perpetua tranquillitas. Hanc 
dabit animi magnitudo, dabit constantia bene judicati 
tenax. Ein zusammenhängendes Studium der Stoiker 
wird Jeden überzeugen,dass derZweck ihrer Ethik, eben 
wieder des Kynistniis, aus welchem sie entsprungen, 
durchaus kein anderer ist,als ein möglichst schmerzloses 
und dadurch möglichst glückliches Leben; woraus 
folgt,dassdieStoische Moral nur eine besondere Art des 
Eudf/nwnismus ist. Sie hat nicht, wie die Indische, die 
Christliche, selbst die Platonische Ethik, eine meta- 
physische Tendenz, einen transscendenten Zweck, 
sondern einen völlig immanenten, in diesem Leben 
«94 
erreichbaren: die Unerschütterlichkeit (arapa^ia) und 
ungetrübte Glücksähgkeit des Weisen, den nichts an- 
fechten kann. Doch ist nicht zu leugnen, dass die 
späteren Stoiker, namentlich Arrian, bisweilen diesen 
Zweck aus den Augen verlieren und eine wirklich 
asketische Tendenz verrathen, welches dem damals 
schon sich verbreitenden Christlichen und überhaupt 
orientalischen Geiste zuzuschreiben ist. — Wenn wir 
das Ziel des Stoicismus, jene atapa^ia, in der Nähe und 
ernstlich betrachten; so finden wir in ihr eine blosse 
Abhärtung und Unempfindlichkeit gegen die Streiche 
des Schicksals, dadurch erlangt, dass man die Kürze 
des Lebens, die Leerheit der Genüsse, den ünbestand 
des Glücks sich stets gegenwärtig erhält, auch einge- 
sehen hat, dass zwischen Glück und Unglück der 
Unterschied sehr viel kleiner ist, als unsere Anticipa- 
tion Beider ihn uns vorzuspiegeln pflegt. Dies ist aber 
noch kein glücklicher Zustand, sondern nur das ge- 
lassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeid- 
lich vorhergesehen hat. Doch liegt Geistesgrösse und 
Würde darin, dass man schweigend und gelassen das 
Unvermeidliche trägt, in melancholischer Ruhe, sich 
gleich bleibend, während Andere vom Jubel zur Ver- 
zweiflung und von dieser zu jenem übergehen. — Man 
kann demnach den Stoicismus auch auffassen als eine 
geistige Diätetik, welcher gemäss, wie man den Leib 
gegen Einflüsse des Windes und Wetters, gegen Un- 
gemach und Anstrengung abhärtet, man auch sein 
Gemüth abzuhärten hat gegen Unglück, Gefahr, Ver- 
lust, Ungerechtigkeit, Tücke, Verrath, Hochmuth und 
Narrheit der Menschen. 
Ich bemerke noch, dass die xaOrjxovTa der Stoiker, 
welche Cicero officia übersetzt, ungefähr bedeuten 
Obliegenheiten, oder Das, was zu tlum der Sa( he an- 
gemessen ist. Englisch incumbencies, Iialiäuisch quel 
che tocca a me di fare, o di lasciare, also überhaupt 
was einem vernünftigen Menschen zu thun zukommt. 
Man sehe Diog. Laert., Vü, i. 109. — Endlich den 
Pantheismus der Stoiker, wie er ganz und gar nicht 
zu so manchen Kapuzinaden Arrians passt, spricht 
auf das deutlichste Seneka aus: Quid est Dens? Mens 
i3' iq5 
universi. Quid est Deus? Quod vides totum, et quod 
non vides totum. Sic demum inajjnitudo sua illi red- 
ditur, (|ua nihil niajus excogitari j)Ote.st: si solus est 
oiTinia, opus suiun et extra et intra tenet. (Quaest. 
natur. I, praefatio, 12.) 
KAPITEL I 7 •). 
ÜEBER DAS METAPHYSISCHE BEDUERFNISS 
DES MENSCHEN. 
DEN Menschen ausgenommen, wundert sich kein 
Wesen über sein eigenes Dasein ; sondern ihnen Al- 
len versteht dasselbe sich so sehr von selbst, dass sie es 
nicht bemerken. Aus der Ruhe des Blickes der Thiere 
spricht noch die Weisheit der Natur; weil in ihnen 
der Wille und der Intellekt noch nicht weit genug 
auseinandergetreten sind, um bei ihrem Wiederbe- 
gegnen sich über einander verwundern zu können. 
So hängt hier die ganze Erscheinung noch fest am 
Stamme der Natur, dem sie entsprossen, und ist der 
unbewussten Allwissenheit der grossen Mutter theil- 
haft. — Erst nachdem das innere Wesen der Natur 
(der W^ille zum Leben in seiner Objektivation) sich 
durch die beiden Reiche der bewusstlosen Wesen und 
dann durch die lange und breite Reihe der Thiere, 
rüstig und wohlgemuth, gesteigert hat, gelangt es 
endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, 
zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich 
über seine eigenen Werke und fragt sich, was es selbst 
sei. Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher, 
als es hier zum ersten Male mit Bewusstseyn dem Tode 
gegenübersteht, und neben der Endlichkeit alles Da- 
seyns auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm 
mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung 
und dieser Verwunderung entsteht daher das dem 
') Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. i 5 des ersten liandes. 
(S. 86 (1. A.) 
196 
Menschen allein eigene Bedürfniss einer Metaphysik : 
er ist sonach ein animal metaphysicum. Im Anfang 
seines Bewusstseyns freilich nimmt auch er sich als 
Etwas, das sich von selbst versteht. Aber dies währt 
nicht lange ; sondern sehr früh, zugleich mit der ersten 
Reflexion, tritt schon diejenige Verwunderung ein, 
welche dereinst Mutter der Metaphysik werden soll. — 
Diesem gemäss sagt auch jiristoteles im Eingang seiner 
Metaphysik: Aia 'fap xo Oau[jLaC£iv ot av&pcoTroi xai vuv 
xcti xo xpoixov t] p^avxo cpiXoaocpstv. (Propter admirationem 
enim et nunc et primo inceperunt homines philoso- 
phari.) Auch besteht die eigentliche philosophische 
Anlage zunächst darin, dass man über das Gewöhn- 
liche und Alltägliche sich zu verwimdern fähig ist, 
wodurch man eben veranlasst wird, das Allgemeine 
der Erscheinung zu seinem Problem zu machen; 
während die Forscher in den Realwissenschaften sich 
nur über ausgesuchte und seltene Erscheinungen ver- 
wundern, und ihr Problem bloss ist, diese auf be- 
kanntere zurückzuführen. Je niedriger ein Mensch in 
intellektueller Hinsicht steht, desto weniger Räihsel- 
haftes hat für ihn das Daseyn selbst: ihm scheint viel- 
mehr sich Alles, wie es ist, und dass es sei, von selbst 
zu verstehen. Dies beruht darauf, dass sein Intellekt 
seiner ursprünglichen Bestimmung, als Medium der 
Motive dem Willen dienstbar zu seyn, noch ganz treu 
geblieben und deshalb mit der Welt und Natur, als 
integrirender Theil derselben, eng verbunden, folg- 
lich weit entfernt davon ist, sich vom Ganzen der 
Dinge gleichsam ablösend, demselben gegenüber zu 
treten und so einstweilen als für sich bestehend, die 
Welt rein objektiv aufzufassen. Hingegen ist die hier- 
aus entspringende philosophische Verwunderung im 
Einzelnen durch höhere Entwickelung der Intelligenz 
bedingt, überhaupt jedoch nicht durch diese allein; 
sondern ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, 
und neben diesem die Betrachtung des Leidens und 
der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoss zum 
philosophischen Besinnen und zu metaphysischen 
Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben end- 
los und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch 
197 
Keinem einfallen zu frajjen, warum die Welt dasei und 
gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch 
sich Alles von selbst verstehen. Dem entsprechend 
finden wir, dass das Interesse, welches philosophische, 
oder auch religiöse Systeme einflössen, seinen aller- 
stärksten Anhaltspunkt durchaus an dem Dogma ir- 
gend einer Fortdauer nach dem Tode hat: und wenn 
gleich die letzteren das Daseyn ihrer Götter zur Haupt- 
sache zu machen und dieses am eifrigsten zu verthei- 
digen scheinen, so ist dies im Grunde doch nur, weil 
sie an dasselbe ihr Unsterblickkeitsdogma geknüpft 
haben und es für unzertrennlich von ihw. hallen: nur 
um dieses ist es ihnen eigentlich zu thun. Denn wenn 
man ihnen dasselbe anderweitig sicher stellen könnte; 
so würde der lebhafte Eifer für ihre Götter alsbald 
erkalten, und er würde fast gänzlicher Gleichgültig 
keit Platz machen, wenn, umgekehrt, die völlige Un- 
möglichkeit einer Unsterblichkeit ihnen bewiesen 
wäre; denn das Interesse am Daseyn der Götter ver- 
schwände mit der Hoffnung einer nähern Bekannt- 
schaft mit ihnen, bis auf den Rest, der sich an ihren 
möglichen Einflussauf die Vorfälle des gegenwärtigen 
Lebens knüpfen möchte. Könnte man aber gar die 
Fortdauer nach dem Tode, etwan weil sie Ursprüng- 
lichkeit des Wesens voraussetzte, als unverträglich mit 
dem Daseyn von Göttern nachweisen; so würden sie 
diese bald ihrer eigenen Unsterblichkeit zum Opfer 
bringen und für den Atheismus eifern. Auf demselben 
Grunde beruht es, dass die eigentlich materialistischea 
Systeme, wie auch die absolut skeptischen, niemals 
einen allgemeinen, oder dauernden Einfluss haben 
erlangen können. 
Tempel und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in 
allen Landen, aus allen Zeiten, in Pracht und Grösse, 
zeugen vom metaphysischen Bedürfniss des Menschen, 
welches, stark und unvertilgbar, dem physischen auf 
dem Fusse folgt. Freilich könnte wer satirisch gelaunt 
ist hinzufügen, dass dasselbe ein bescheidener Bursche 
sei, der mit geringer Kost vorlieb nehme. An plumpen 
F'abeln und abgeschmackten Mährchen lässt er sich 
bisweilen genügen ; wenn nur früh genug eingeprägt, 
198 
sind sie ihm hinlängliche Auslegungen seines Daseyns 
und Stützen seiner Moralität. Man betrachte z. B. den 
Koran: dieses schlechte Buch war hinreichend, eine 
Weltreligion zu begründen, das metaphysische Be- 
dürfniss zahlloser Millionen Menschen seit 1 200 Jah- 
ren zu befriedigen, die Grundlage ihrer Moral und 
einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, 
wie auch, sie zu blutigen Kriegen und den ausgedehn- 
testen Eroberungen zu bejjeisteru. Wir finden in ihm 
die traurigste und ärmlichste Gestalt des Theismus 
Viel mag durch die Uebersetzungen verloren gehen; 
aber ich habe keinen einzigen werthvollen Gedanken 
darin entdecken können. Dergleichen beweist, dass 
mit dem metaphysischen Bedürfniss die metaphysische 
Fähigkeit nicht Hand in Hand geht. Doch will es 
scheinen, dass in den frühen Zeiten der gegenwärtigen 
Erdoberfläche diesem anders gewesen sei und dass Die, 
welche der Entstehung des Menschengeschlechts und 
dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher 
standen, als wir, auch noch theils grössere Energie 
der intuitiven Erkenntnisskräfte, theils eine richtigere 
Stimmung des Geistes hatten, wodurch sie einer rei- 
neren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Na- 
tur fähig und dadurch im Stande waren, dem meta- 
physischen Bedürfniss auf eine würdigere Weise zu 
genügen: so entstanden in den Urvätern der Brah- 
manen, den Rischis, die fast übermenschlichen Kon- 
ceptionen, welche später in den Upanischaden der 
Veden niedergelegt wurden. 
Niemals hingegen hat es an Leuten gefehlt, welche 
auf jenes metaphysische Bedürfniss des Menschen ihren 
Unterhalt zu gründen und dasselbe möglichst auszu- 
beuten bemüht waren; daher es unter allen Völkern 
Monopolisten und General pächter desselben giebt: die 
Priester. Ihr Gewerbe musste ihnen jedoch überall 
dadurch gesichert werden, dass sie das Recht erhiel- 
ten, ihre metaphysischen Dogmen den Menschen sehr 
früh beizubringen, ehe noch die Urtlieilskraft aus ihrem 
Morgenschlummer erwacht ist, also in der ersten Kind- 
heit: denn da haftet jedes wohl eingeprägte Dogma, 
sei es auch noch so unsinnig, auf immer. Hätten sie zu 
warten, bis die Uitheilskraft reif ist; so würden ihre 
Privilegien nicht bestehen können. 
Eine zweite, wiewohl nicht zahlreiche Klasse von 
Leuten, welche ihren Unterhalt aus dem metaphy- 
sischen Bedürtniss der Menschen zieht, machen die 
aus, welche von der Philosophie leben: bei den Grie- 
chen hiessen sie Sophisten, bei den Neueren Professoren 
der Philosophie. Aristoteles zählt (Metaph., II, 2) den 
Ai'istipp unbedenklich den Sophisten bei: den Grund 
dazu Hnden wir bei Diogenes Laertius (II, 65), dass 
nämlich er der Erste unter den Sokratikern gewesen, 
der sich seine Philosophie bezahlen liess; weshalb 
auch Soki^ates ihm sein Geschenk zurücksandte. Auch 
bei den Neueren sind die, welche von der Philosophie 
leben, nicht nur, in der Regel und mit den seltensten 
Ausnahmen, ganz Andere, als die, welchey«/' die Phi- 
losophie leben; sondern sogar sind sie sehr oft die 
Widersacher, die heimlichen und vinversöhnlichen 
Feinde dieser: denn jede ächte und bedeutende phi- 
losophische Leistung wird auf die ihrigen zu viel 
Schatten werfen und überdies den Absichten und Be- 
schränkungen der Gilde sich nicht fügen; weshalb sie 
allezeit bemüht sind, eine solche nicht aufkommen zu 
lassen, wozu dann, nach Maassgabe der jedesmaligen 
Zeiten und Umstände, bald Verhehlen, Zudecken, 
Verschweigen, Ignoriren, Sekretiren, bald Verneinen, 
Verkleinern, Tadeln, Lästern, Verdrehen, bald Denun- 
ziren und Verfolgen die üblichen Mittel sind. Daher 
hat denn auch schon mancher grosse Kopf, unerkannt, 
ungeehrt, unbelohnt, sich keuchend durchs Leben 
schleppen müssen, bis endlich nach seinem Tode die 
Welt über ihn enttäuscht wurde, und über sie. In- 
zwischen hatten sie ihren Zweck erreicht, hatten ge- 
golten, dadurch dass sie ihn nicht gelten Hessen, und 
hatten mit Weib und Kind vo7i der Philosophie gelebt, 
während Jener ßh- diese lebte. Ist er aber todt; da 
kehrt die Sache sich um : die neue Generation jener 
stets Vorhandenen wird nun der Erbe seiner Leistun- 
gen, schneidet sie nach ihrem Maassstab sich zurecht 
und lebt jetzt von ihm. Dass jedoch Kant zugleich von 
und für die Philosophie leben konnte, beruhte auf 
200 
dem seltenen Umstände, dass, zum ersten Male wieder, 
seit dem Divo Antonino und Divo Juliane, ein Philo- 
sojih auf dem Throne sass: nur unter solchen Auspi- 
cien konnte die Kritik der reinen Vernunft das Licht 
erblicken. Kaum war der König todt, so sehen wir 
auch schon Kanten, weil er zur Gilde gehörte, von 
Furcht ergriffen, sein Meisterwerk in der zweiten Aus- 
gabe modifiziren, kastriren und verderben, dennoch 
aber bald in Gefahr kommen, seine Stelle zu verlieren; 
so dass ihn Campe in Braunschweig einlud, zu ihmzu 
kommen, um als das Oberhaupt seiner Familie bei 
ihm zu leben [Ring, Ansichten aus Kants Leben, S. 
68). Mit der Universitatsphilosophieist esinderRegel 
blosse Spiegelfechterei : der wirkliche Zweck derselben 
ist, den Studenten, im tiefsten Grunde ihres Denkens, 
diejenige Geistesrichtung zu geben, welche das die 
Professuren besetzende Ministerium seinen Absichten 
angemessen hält. Daran mag dieses, im staatsmänni- 
schen Sinn, auch ganz Recht haben: nur folgt daraus, 
dass solche Kathederphilosophie ein nervis alienis mo- 
bile lignum ist und nicht für ernstliche, sondern nur 
für Spassphilosophie gelten kann. Auch bleibt es je- 
denfalls billig, dass eine solche Beaufsichtigung, oder 
Leitung, sich bloss auf die Kathederphilosophie er- 
strecke, nicht aber auf die wirkliche, welche es ernst- 
lich meint. Denn, wenn irgend etwas auf der Welt 
wünschenswerth ist, so wünschenswerth, dass selbst 
der rohe und dumpfe Haufen, in seinen besonneneren 
Augenblicken, es höher schätzen würde, als Silber 
und Gold; so ist es, dass ein Lichtstrahl fiele auf das 
Dunkel unsers Daseyns und irgend ein Aufschluss uns 
würde über diese räthselhafte Existenz, an der nichts 
klar ist, als ihr Elend und ihre Nichtigkeit. Dies aber 
wird, gesetzt, es sei an sich erreichbar, durch aufge- 
drungene und aufgezwungene Lösungen des Problems 
unmöglich gemacht. 
Jetzt aber wollen wir die verschiedenen Weisen der 
Befriedigung, welche diesem so starken metaphysi- 
schen Bedürfnisse wird, einer allgemeinen Betrachtung 
unterwerfen. 
Lnter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Er- 
20I 
kenntniss, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, 
also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung 
der Dinge hinausjjeht, um Ausschluss zu ertheilen über 
Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, 
bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was 
hinter der Natur steckt, und sie möglich macht. — 
Nun aber setzt die grosse ursprüngliche Verschieden- 
heit der Verstandeskräfte, wozu noch die der viele 
Müsse erfordernden Ausbildung derselben kommt, 
einen so grossen Unterschied zwischen Menschen, dass, 
sobald ein Volk sich aus dem Zustande der Rohheit 
herausgearbeitet hat, nicht wohl eine Metaphysik für 
Alle ausreichen kann; daher wir bei den civilisirten 
Völkern durchgängig zwei verschiedene Arten der- 
selben antreffen, welche sich dadurch unterscheiden, 
dass die eine ihre Beglaubigung in sich, die andere sie 
ausser sich hat. Da die metaphysischen Systeme der 
ersten Art, zur Rekognition ihrer Beglaubigung, Nach- 
denken, Bildung, Müsse und Urtheil erfordern ; so kön- 
nen sie nureineräusserst geringen Anzahl von Menschen 
zugänglich seyn, auch nur bei bedeutender Civilisa- 
tion entstehen und sich erhalten. Für die grosse An- 
zahl der Menschen hingegen, als welche nicht zu den- 
ken, sondern nur zu glauben befähigt und nicht für 
Gründe, sondern nur für Autorität emplänglich ist, 
sind ausschliesslich die Systeme der zweiten Art: diese 
können deshalb als Volksmetaphysik bezeichnet wer- 
den, nach Analogie der Volkspoesie, auch der Volks- 
weisheit, worunter man die Sprichwörter versteht. 
Jene Systeme sind indessen unter dem Namen der Re- 
ligionen bekannt und finden sich bei allen Völkern, 
mit Ausnahme der allerrohesten. Ihre Beglaubigung 
ist, wie gesagt, äusserlich und heisst als solche Offen- 
barung, welche dokumentirt wird durch Zeichen und 
Wunder. Ihre Argumente sind hauptsächlich Drohun- 
gen mit ewigen, auch wohl mit zeitlichen Uebeln, ge- 
richtet gegen die Ungläubigen, ja schon gegen die blos- 
sen Zweifler: als ultima ratio theologorum finden wir, 
bei manchen Völkern, den Scheiterhaufen, oder dem 
Aehnliches. Suchen Sie eine andere Beglaubigvmg, oder 
gebrauchen sie andere Argumente; so machen sie schon 
202 
einen Uebergang in die Systeme der ersten Art und 
können zu einem Mittelschlag beider ausarten; wel- 
ches mehr Gefahr als Vortheil bringt. Denn ihnen 
giebt die sicherste Bürgschaft für den fortdauernden 
Besitz der Köpfe ihr unschätzbares Vorrecht, den Kin- 
dern beigebracht zu werden, als wodurch ihre Dog- 
men zu einer Art von zweitem angeborenen Intellekt 
einwachsen, gleich dem Zweige auf dem gephopften 
Baum ; während hingegen die Systeme der ersten Art 
sich immer nur an Erwachsene wenden, bei diesen 
aber allemal schon ein System der zweiten Art im Be- 
sitz der Ueberzeugung vorfinden. — Beide Arten der 
Metaphysik, deren Unterschied sich kurz durch Ueber- 
zeugungslehre und Glaubenslehre bezeichnen lässt, 
haben Dies gemein, dass jedes einzelne System dersel- 
ben in einem feindlichen Verhältniss zu allen übrigen 
seiner Art steht. Zwischen denen der ersten Art wird 
der Krieg nur mit Wort und Schrift, zwischen denen 
der zweiten auch mit Feuer und Schwert geführt; 
manche von diesen haben ihre Verbreitung zum Theil 
dieser letztern Art der Polemik zu danken, und alle 
haben nach und nach die Erde unter sich getheilt, 
und zwar mit so entschiedener Herrschaft, dass die 
Völker sich mehr nach ihnen, als nach der Nationa- 
lität, oder der Regierung unterscheiden und sondern. 
Nur sie sind, jede in ihrem Bezirke, herrschend, die 
der ersten Art hingegen höchstens tolerirt, und auch 
dies nur, weil man, wegen der geringen Anzahl ihrer 
Anhänger, sie meistens der Bekämpfung durch Feuer 
und Schwert nicht werth hält; wiewohl, wo es nöthig 
schien, auch diese mit Erfolg gegen sie angewendet 
worden sind: zudem finden sie sich bloss sporadisch. 
Meistens hat man sie jedoch nur in einem Zustande der 
Zähmung und Unterjochung geduldet, indem das im 
Lande herrschende System der zweiten Art ihnen vor- 
schrieb, ihre Lehren seinen eigenen, mehr oder weni- 
ger eng, anzupassen. Bisweilen hat es sie nicht nur 
unterjocht, sondern sogar dienstbar gemacht und als 
Vorspann gebraucht; welches jedoch ein gefährliches 
Experiment ist; da jene Systeme der ersten Art, weil 
ihnen die Gewalt genommen ist, sich durch List hel- 
2o3 
fen zu dürfen {iflauben und eine geheime Tücke nie 
ganz ablejfen, die sich dann bisweilen iinvermuthet 
hervorthut und schwer zu heilenden Schaden stiftet. 
Denn überdies wird ihre Geföhrhchkeit dadurch er- 
höht, dass sarnthche Ilealwissenschaften, sogar die un- 
schuldigsten nicht ausgenommen, ihre heimhchenAlH- 
irten gegen die Systeme der zweiten Art sind, und, 
ohne selbst mit diesen in offenem Kriege zu stehen, 
plötzlich und unerwartet grossen Schaden auf dem 
Gebiete derselben anrichten. Zudem ist der durch die 
erwähnteDienstbarmachungbezweckteVersuch,einem 
System, welches ursprünglich seine Beglaubigung aus- 
serhalb hat, dazu noch eine von innen geben zu wol- 
len, seiner Natur nach, misslich: denn, wäre es einer 
solchen Beglaubigung fähig; so hätte es keiner äussern 
bedurft. Und überhaupt ist es stets ein Wagestück, 
einem fertigen Gebäude ein neues Fundament unter- 
schieben zu wollen. Wie sollte überdies eine Religion 
noch des Suffragiums einer Philosophie bedürfen! Sie 
hat ja Alles auf ihrer Seite: Offenbarung, Urkunden, 
Wunder, Prophezeiungen, Schutz der Regierung, den 
höchsten Rang, wie er der Wahrheit gebührt, Bei- 
stimmung und Verehrung Aller, tausend Tempel, in 
denen sie verkündigt und geübt wird, geschworene 
Priesterschaaren, und, was mehr als Alles ist, das un- 
schätzbare Vorrecht, ihre Lehren dem zarten Kindes- 
alter einprägen zu dürfen, wodurch sie fast zu ange- 
borenen Ideen werden. Um bei solchem Reich thum 
an Mitteln noch die Beistimmung armsäliger Philo- 
sophen zu verlangen, müsste sie habsüchtiger, oder, 
um den Widerspruch derselben zu besorgen, fiircht- 
samer seyn, als mit einem guten Gewissen vereinbar 
scheint. 
An den oben aufgestellten Unterschied zwischen 
Metaphysik der ersten und der zweiten Art knüpft 
sich noch folgender. Ein System der ersten Art, also 
eine Philosophie, macht den Anspruch und hat da- 
her die Verpflichtung, in Allem, was sie sagt, sensu 
stricto et proprio wahr zu seyn: denn sie wendet sich 
an das Denken und die Ueberzeugung. Eine Religion 
hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der 
2o4 
Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und 
schwierigsten Wahrheiten sensu proprio niinmerinelir 
fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung sensu 
allegorico wahr zu seyn. Nackt kann die Wahrheit 
vor dem Volke nicht erscheinen. Ein Symptom dieser 
allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht 
in jeder anzutreffenden Mysteinen, nämlich gewisse 
Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken las- 
sen, geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, viel- 
leicht liesse sich hehaupten, dass einige völlige Wider- 
sinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesent- 
liches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien : 
denn diese sind eben der Stämpel ihrer allegorischen 
Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn 
und rohen Verstände fühlbar zu machen, was ihm 
unbegreifHch wäre, nämlich dass die Religion im 
Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung 
der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze 
dieser Erscheinungswelt, denen gemäss sie sprechen 
muss, verschwinden, und dass daher nicht bloss die 
widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreif- 
lichen, eigentlich nur Allegorien und Akkommoda- 
tionen zur menschlichen Fassungskraft sind. In die- 
sem Geiste scheint mir Augustinus und selbst Luther 
die Mysterien des Christenthums festgehalten zuhaben, 
im Gegensatz des Pelagianismus, der Alles zur platten 
Verständlichkeit herabziehen möchte. Von diesem Ge- 
sichtspunkte aus wird auch begreiflich, wieTertuUian, 
ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus credibile est, 
quia ineptum est: certum est, quia impossibile. 
(De carne Christi, c. 5.) — Diese ihre allegorische Na- 
tur entzieht auch die Religionen den der Philosophie 
obliegenden Beweisen und überhaupt der Prüfung; 
statt deren sie Glauben verlangen, d. h. eine frei- 
willige Annahme, dass es sich so verhalte. Da sodann 
der (jlaube das Handeln leitet, und die Allegorie alle- 
mal so gestellt ist, dass sie, in Hinsicht auf das Prak- 
tische, eben dahin führt, wohin die Wahrheit sensu 
proprio auch führen würde; so verheisst die Religion 
Denen, welche glauben, mit Recht die ewige Sälig- 
keit. Wir sehen also, dass die Religionen die Stelle der 
2o5 
Metaphysik überhaupt, deren Bedürfniss der Mensch 
als unabweisbar fühlt, in der Hauptsache und für die 
grosse Menjje, welche nicht dem Denken obliegen 
kann, recht gut ausfüllen, theils nämlich zum prakti- 
schen Behuf, als Leitstern ihres Handelns, als öffent- 
liche Standarte der Rechtlichkeit und Tugend, wie 
Kant es vortrefflich ausdrückt; theils als unentbehr- 
licher Trost in den schweren Leiden des Lebens, als 
wo sie die Stelle einer objektiv wahren Metaphysik 
vollkommen vertreten, indem sie, so gut wie diese nur 
irgend könnte, den Menschen über sich selbst und 
das zeitliche Daseyn hinausheben: hierin zeigt sich 
glänzend der grosse Werth derselben, ja, ihre Ünent- 
behrlichkeit. Denn cpiXooocpov TtX^do? aouvatov eivai 
(vulgus philosophum esse impossibile est) sagt schon 
Plato und mit Recht (De Rep., VI, p. 89, Bip.). Der 
einzige Stein des Anstosses hingegen ist dieser, dass 
die Rehgionen ihre allegorische Natur nie einge- 
stehen dürfen, sondern sich als sensu proprio wahr 
zu behaupten haben. Dadurch thun sie einen Eingriff 
in das Gebiet der eigentlichen Metaphysik, und rufen 
den Antagonismus dieser hervor, der daher zu allen 
Zeiten, in denen sie nicht an die Kette gelegt worden, 
sich äussert. — Auf dem Verkennen der allegorischen 
Natur jeder Religion beruht auch der in unsern Tagen 
so anhaltend geführte Streit zwischen Supernatura- 
listen und Rationalisten. Beide nämlich wollen das 
Christenthum sensu proprio wahr haben: in diesem 
Sinne wollen die ersteren es ohne Abzug, gleichsam 
mit Haut und Haar, behaupten; wobei sie, den Kennt- 
nissen und der allgemeinen Bildung des Zeitalters 
gegenüber, einen schweren Stand haben. Die anderen 
hingegen suchen alles eigenthümlich Christliche hin- 
auszuexegesiren ; wonach sie etwas übrig behalten, 
das weder sensu proprio noch sensu allegorico wahr 
ist, vielmehr eine blosse Platitüde, beinahe nur Jiiden- 
thum, oder höchstens seichter Pelagianismus, und, was 
das Schlimmste, niederträchtiger 0[)timismus, der dem 
eigentlichen Christenthum durchaus fremd ist. Ueber- 
dies versetzt der Versuch, eine Religion aus der Ver- 
nunft zu begründen, sie in die andere Klasse der Me- 
206 
taphysik, in die, welche ihre Beglaubigung in sich selbst 
hat, also auf einen fremden Boden, auf den der philo- 
sophischen Systeme, und sonach in den Kampf, den 
diese, auf ihrer eigenen Arena, gegen einander führen, 
folglich unter das Gewehrfeuer des Skepticismus und 
das schwere Geschütz der Kritik der reinen Vernunft: 
sich aber dahin zu begeben, wäre für sie offenbare 
Vermessenheit. 
Beiden Arten der Metaphysik wäre es am zuträg- 
lichsten, dass jede von der andern rein gesondert bliebe 
und sich auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um da- 
selbst ihr Wesen vollkommen entwickeln zu können. 
Statt dessen ist man schon das ganze Christliche 
Zeitalter hindurch bemüht, vielmehr eine Fusion bei- 
der zu bewerkstelligen, indem man die Dogmen und 
Begriffe der einen in die andere überträgt, wodurch 
man beide verdirbt. Am unverholensten ist dies in 
unsern Tagen geschehen in jenem seltsamen Zwitter 
oderKentauren, der sogenannten Beligionsphilosophie, 
welche, als eine Art Gnosis, bemüht ist, die gegebene 
Religion zu deuten und das sensu allegorico Wahre 
dur(;h ein sensu proprio Wahres auszulegen. Allein 
dazu müsste man die Wahrheit sensu proprio schon 
kennen und besitzen: alsdann aber wäre jene Deutung 
überflüssig. Denn bloss aus der Religion die Meta 
physik, d. i. die Wahrheit sensu proprio, durch Aus- 
legung und Umdeutung erst finden zu wollen, wäre 
ein missliches und gefährliches Unternehmen, zu wel- 
chem man sich nur dann entschliessen könnte, wenn 
es ausgemacht wäre, dass die Wahrheit, gleich dem 
Eisen und andern unedlen Metallen, nur im vererzten, 
nicht im gediegenen Zustande vorkommen könne, da- 
her man sie nur durch Reduktion aus der Vererzung 
gewinnen könnte. — 
Religionen sind dem Volke nothwendig, und sind 
ihm eine unschätzbare Wohlihat. Wenn sie jedoch den 
Fortschritten der Menschheit in der Erkenntniss der 
Wahrheit sich entge{;enstellen wollen; so müssen sie 
mit möglichster Schonung bei Seite geschoben werden. 
Und zu verlangen, dass sogar ein grosser Geist — ein 
Shakespeare, ein Goethe — die Dogmen irgend einer 
207 
Religion impliclter, bona fide et sensu proprio zu seiner 
üeberzeugung mache, ist wie verlangen, dass ein Riese 
den Schuh eines Zwerges anziehe. 
Religionen können, als auf die Fassungskraft der 
grossen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht 
eine unmittelbare Wahrheit haben: diese von ihnen 
verlangen, ist, wie wenn man die im Buchdrucker- 
rahmen aufgesetzten Lettern lesen wollte, statt ihres 
Abdrucks. Der Werth einer Religion wird demnach 
abhängen von dem grössern oder geringern Gehalt 
an Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Alle- 
gorie, in sich trägt, sodann von der grössern oder ge- 
ringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch die- 
sen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtig- 
keit des letztern. Fast scheint es, dass, wie die ältesten 
Sprachen die vollkommensten sind, so auch die älte- 
sten Religionen. Wollte ich die Resultate meiner Phi- 
losophie zum Maassstabe der Wahrheit nehmen, so 
müsste ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den 
anderen zugestehen. Jeden Falls muss es mich freuen, 
meine Lehre in so grosser üebereinstimmung mit einer 
Religion zu sehen," welche die Majorität auf Erden 
für sich hat; da sie viel mehr Bekenner zählt, als ir- 
gend eine andere. Diese Üebereinstimmung muss mir 
aber um so erfreulicher seyn, als ich, bei meinem Phi- 
losophiren, gewiss nicht unter ihrem Einfluss gestan- 
den habe. Denn bis i8i8, da mein Werk erschien, 
waren über den Buddhaismus nur sehr wenige, höchst 
unvollkommene und dürftige Berichte in Europa zu 
finden, welche sich fast gänzlich auf einige Aufsätze 
in den früheren Bänden der Asiatic researches be- 
schränkten und hauptsächlich den Buddhaismus der 
Birmanen betrafen. Erst seitdem ist nach und nach 
eine vollständigere Kunde von dieser Religion zu uns 
gelangt, hauptsächlich durch die gründlichen und 
lehrreichen Abhandlungen des verdienstvollen Peters- 
burger Akademikers /. /. Schmidt, in den Denkschrif- 
ten seiner Akademie, und sodann allmälig durch meh- 
rere Englische und Französische Gelehrte, so dass ich 
habe ein ziemlich zahlreiches Verzeichniss der besten 
Schriften über diese (rlaubenslehre liefern können, 
208 
in meiner Schriit ,, lieber den Willen in der Natur", 
unter der Rubrik Sinologie. — Leider ist uns Csoina 
Körösi, dieser beharrliche Ungar, der, um die Sprache 
und die heiligen Schriften des Buddhaismus zu studi- 
ren, viele Jahre in Tibet und besonders in den Buddha- 
istischen Klöstern zugebracht hat, gerade dann durch 
den Tod entrissen, als er anfing, den Ertrag seiner PW- 
schungen für uns auszuarbeiten. Ich kann inzwischen 
die Freude nicht verleugnen, mit welcher ich in sei- 
nen vorläufigen Berichten manche unmittelbar aus 
dem Äa/i<7 KW?" selbst referirte Stellen lese, z.B. foljfende 
Unterredung des sterbenden Buddha mit dem ihm 
huldigenden Brahma: There is a description of their 
conversation on the subject of creation, — by whom 
was the world made. Shakya asks several questions 
of Brahma, — whether was it he, who made or pro- 
duced such and such things, and endowed or blessed 
them with such and such virtues or properties, — 
whether was it he who caused the several revolutions 
in the destruction and regeneration of the world. He 
denies that he had ever done anythiug to that effect. 
At last he himself asks Shakya how the world was 
made, — by whom? Here are attributed all changes 
in the world to the moral works of the animal beings, 
and it is stated that in the world all is illusion, there 
is no reality in the things; all is empty. Biahma being 
instructed in his doctrine, becomes his foUower. (Asia- 
tic researches, Vol. 20, p. 434.)*) 
*) „Es iindct sich eine Besclireibung ihrer Unterredung, deren 
Gegenstand die Schöpfung ist, — durch wen die Welt her- 
vorgebracht sei? Buddha riclitet mehrere Fragen an Brahma: 
ob er es gewesen, der dies oder jenes Ding gemacht, oder her- 
vorgebracht, und es mit dieser oder jener Eigenschaft begabt 
habe? ob er es gewesen, der die verschiedenen Umwälzungen 
zur Zerstörung und Wiederherstelhing der Welt verursaciit 
habe? — Brahma leugnet, dass er jemals irgend etwas der- 
gleichen gethan habe. — EndHch fragt er selbst den Buddha, 
wie die Welt hervorgebracht sei, — durch wen? Nun wer- 
den alle Veränderungen der Welt den moralischen IFerken ani- 
malischer Wesen zugeschrieben, und wird gesagt, dass Alles in 
der Welt blosse Illusion sei, keine Bealität in den Dingen, 
14 Schopenhauer II 2^9 
Den Fundanicnlalunterschied aller Relifjionen kann 
ich nicht, wie durchgängi{j geschieht, darin setzen, 
ob sie monotheistisch, polytheistisch, pantheistisch, 
oder atheistisch sind; sondern nur darin, oh sie opti- 
mistisch oder pessimistisch sind, d. h. ob sie das Da- 
seyn dieser Welt als durch sich selbst gerech ferti{ft 
darstellen, mithin es loben und preisen, oder aber es 
betrachten als etwas, das nur als Folge unserer Schuld 
begriffen werden kann und daher eigentlich nicht 
seyn sollte, indem sie erkennen, dass Schmerz und 
Tod nicht liegen können in der ewigen, Ursprung-^ 
liehen, unabänderlichen Ordnung der Dinge, in Dem, 
was in jedem Betracht seyn sollte. Die Kiait, vermöge 
welcher das Christenthum zunächst das Judenthum 
und dann das Griechische und Römische Heidenthum 
überwinden konnte, liegt ganz allein in seinem Pessi- 
mismus, in dem Eingeständniss, dass unser Zustand 
ein höchst elender und zugleich sündlicher ist, wäh- 
rend Judenthum und Heidenthum optimistisch waren. 
Jene von Jedem tief und schmerzlich gefühlte Wahr- 
heit schlug durch und hatte das ßedürfniss der Er- 
lösung in ihrem Gefolge. — 
Ich wende mich zur allgemeinen Betrachtung der 
andern Art der Metaphysik, also derjenigen, welche 
ihre Beglaubigung in sich selbst hat und Philosophie 
genannt wird. Ich erinnere an den oben erörterten 
Ursprung derselben aus einer Ferwuuderun<j über die 
Welt und unser eigenes Daseyn, indem diese sich dem 
Intellekt als ein Räthsel aufdringen, dessen Lösung 
sodann die Menschheit ohne Unterlass beschäftigt. 
Hier nun will ich zuvörderst darauf" aufmerksam 
machen, dass Diesem nicht so seyn könnte, wenn die 
Welt im Spinozischen, in unsern Tagen unter mo- 
dernen Formen und Darstellungen als Pantheismus 
so oft wieder vorgebrachten Sinn, eine ^^absolute Suh- 
stauz'"'', mithin ein schlechthin uothwendiqes JVesen wäre. 
Denn dies besagt, dass sie mit einer so grossen Noth- 
wendigkeit existire, dass neben derselben jede andere, 
Alles leer. Der also in Htiddha's Lehre unten iclitete liralinia 
wird sein Anhänger." 
2 I O 
unserni Verstände als solche fassliche NothAvendigkeit 
wie ein Zufall aussehen niüsste: sie wäre nämlich als- 
dann Etwas, das nicht nur alles wirkliche, sondern 
auch alles irgend mögliche Daseyn dergestalt in sich 
hegritfe, dass, wie Spinoza ehen auch angieht, die Mög- 
lichkeit und die Wirklichkeit desselhen ganz und gar 
Eins wären, dessen Nichtseyn daher auch die Unmög- 
lichkeit selbst wäre, also Etwas, dessen Nichtseyn, 
oder Andersseyn, völlig undenkbar seyn müsste, wel- 
ches mithin sich so wenig wegdenken liesse, wie z. B. 
der Raum oder die Zeit. Indem ferner li^/V- seihst Theile, 
Modi, Attribute oder Accidenzien einer solchen abso- 
luten Substanz wären, welche das Einzige wäre, was, 
in irgend einem Sinne, jemals und irgendwo daseyn 
könnte; so müsste unser und ihr Daseyn, nebst 
der Beschaffenheit desselben, weit entfernt, sich uns 
als auffallend problematisch, ja, als das unergründ- 
liche, vins stets beunruhigende Räthsel darzustellen, 
sich, im Gegentheil, noch viel mehr von selbst ver- 
stehen, als dass a Mal a vier ist. Denn wir müssten 
gar nicht anders irgend zu denken fähig seyn, als dass 
die Welt sei, und so sei, wie sie ist: mithin müssten 
wir ihres Daseyns als solchen, d. h. als eines Problems 
zum Nachdenken, so wenig uns bewusst werden, als 
wir die unglaublich schnelle Bewegung unsers Pla- 
neten empfinden. 
Diesem Allen ist nun aber ganz und gar nicht so. 
Nur dem gedankenlosen Thiere scheint sich die Welt 
und das Daseyn von selbst zu verstehen: dem Men- 
schen hingegen ist sie ein Problem, dessen sogar der 
Roheste und Beschränkteste, in einzelnen helleren 
Augenblicken, lebhaft inne wird, das aber Jedem um 
so deutlicher und anhaltender ins Bewusstseyn tritt, je 
heller und besonnener dieses ist und je mehr Stoff 
zum Denken er durch Bildung sich angeeignet hat, 
welches Alles endlich in den zum Philosophiren 
geeigneten Köpfen sich zu Piatons öaup-aCetv, fiaXa 
cpiXoaocpixov Tia^oc, (mirari, valde philosophicus affec- 
tus) steigert, nämlich zu derjenigen Verwunderung, 
die das Problem, welches die edlere Menschheit jeder 
Zeit und jedes Landes unablässig beschäftigt und ihr 
i4' 2 11 
keine Ruhe lässt, in seiner ganzen Grösse erfasst. In 
der Tat ist die Unruhe, welche die nie ablaufende 
Uhr der Metaphysik in Bewegun{> erhäh, das Bewusst- 
seyn, dass das Nichsseyn dieser Welt eben so möglich 
sei, wie ihr Daseyn. Daher also ist die Spinozistische 
Ansic:ht dei'selben als eines absolut noth wendigen 
Wesens, d. h. als Etwas, das schlechterdings und in 
jedem Sinn sevn sollte und müsste, eine falsche. Geht 
doch selbst der einfache Theismus, in seinem kosmo- 
logischen Beweise, stillschweigend davon aus, dass er 
vom Daseyn der Welt auf ihr vorheriges Nichtseyn 
schliesst : er nimmt sie mithin vorweg als ein Zufälliges. 
Ja, was mehr ist, wir fassen sehr bald die Welt auf 
als Etwas, dessen Nichtsevn nicht nur denkbar, sondern 
sogar ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; daher unsere 
Verwunderung über sie leicht übergeht in ein Brüten 
über jene Fatalität, welche dennoch ihr Dasevn her- 
vorrufen konnte, und vermöge deren eine so uner- 
messlicbe Kraft, wie zur Hervorbringung und Er- 
haltung einer solchen Welt erfordert ist, so sehr gegen 
ihren eignen Vortheil geleitet werden konnte. Das 
philosophische Erstaunen ist demnach im Grunde ein 
bestürztes und betrübtes: die Philosophie hebt, wie 
die Ouvertüre zum Don Juan, mit einem Mollakkord 
an. Hieraus ergiebt sich, dass sie weder Spinozismus, 
noch Optimismus seyn darf. — Die so eben ausge- 
sprochene nähere Beschaffenheit des Erstaunens, wel- 
ches zum Philosophiren treibt, entspringt offenbar 
aus dem Anblick des Uebels xiud des Bösen in der Welt, 
welche, selbst wenn sie im gerechtesten Verhältniss 
zu einander ständen, ja, auch noch vom Guten weit 
überwogen würden, dennoch etwas sind, was ganz 
und gar und überhaupt nicht seyn sollte. Weil nun 
aber nichts aus ISichts entstehen kann; so müssen auch 
jene ihren Keim im Ursprünge, oder im Kern der 
Welt selbst haben. Dies anzunehmen wird uns schwer, 
wenn w ir auf die Grösse, Ordnung und Vollendung 
der physischen Welt sehen, indem wir meynen, dass 
was die Macht hatte, eine solche hervorzubringen, 
auch wohl hätte das Uebel und das Böse müssen ver- 
meiden können. Am allerschwersten wird jene An- 
:> I •.> 
nähme (deren aufrichtigster Ausdruck Ormuzd und 
Ahrinian ist) begreiflicherweise dem Theismus. Daher 
wurde, um zuvörderst das Böse zu beseitigen, die 
Freiheit des Willens erfunden : diese ist jedoch nur 
eine versteckte Art, Etwas aus Nichts zu machen; in- 
dem sie ein Operari annimmt, dass aus keinem Esse 
hervorgienge (siehe „Die beiden Grundprobleme der 
Ethik", S. 58 fg. [2. Aufl. S. r)7 fg.]). Sodann das Uebel 
suchte man dadurch los zu werden, dass man es der 
Materie, oder auch einer unvermeidlichen Nothwen- 
digkeit zur Last legte; wobei man ungern den Teufel 
zur Seite liegen Hess, der eigentlich das rechte Ex- 
pediens ad hoc ist. Zum üebel gehört auch der Tod: 
das Böse aber ist bloss das Von-sich-auf-einen-Andern- 
schieben des jedesmaligen Uebels. Also, wie oben ge- 
sagt, das Böse, das Uebel und der Tod sind es, welche 
das philosophische Erstaunen qualifiziren und er- 
höhen : nicht bloss, dass die Welt vorhanden, sondern 
noch mehr, dass sie eine so trübsalige sei, ist das 
punctum pruriens der Metaphysik, das Problem, 
welches die Menschheit in eine Unruhe versetzt, die 
sich weder durch Skepticismus noch durch Kriticis- 
mus beschwichtigen lässt. 
Mit der Erklärung der Erscheinungen in der Welt 
finden wir auch die PliYsik (im weitesten Sinne des 
Worts) beschäftigt. Aber in der Natur ihrer Erklärun- 
gen selbst liegt schon, dass sie nicht genügen können. 
Die Physik vermag nicht auf eigenen Füssen zu stehen, 
sondern bedarf einer Metaphysik, sich darauf zu stüt- 
zen; so vornehm sie auch gegen diese thun mag. Denn 
sie erklärt die Erscheinungen durch ein noch Unbe- 
kannteres, als diese selbst sind: durch Naturgesetze, 
beruhend auf Naturkräften, zu welchen auch die 
Lebenskraft gehört. Allerdings muss der ganze gegen- 
wärtige Zustand aller Dinge auf der Welt, oder in 
der Natur, noth wendig aus rein physischen Ursachen 
erklärbar seyn. Allein eben so nothwendig müsste 
eine solche F>klärung, gesetzt man gelänge wirklich 
so weit, sie geben zu können, — stets mit zwei wesent- 
lichen UnvoUkommenheiten behaftet seyn (gleichsam 
mit zwei faulen Flecken, oder wie Achill mit der ver- 
:2i3 
wundbaren Ferse, oder der Teufel mit dem Pferde^ 
fuss), vermöge welcher alles so Erklärte, doch wieder 
eigentlich unerklärt bliebe. Erstlich nämlich mit dieser, 
dass der Anfang der Alles erklärenden Kette von 
Ursachen und NVirkungen, d. h. zusammenhängen- 
den Verändei'ungen, schlechterdings nie zu erreichen 
ist, sondern, eben wie die Gränzen der Welt in Raum 
und Zeit, unaufhörlich und ins Unendliche zurück- 
weicht; und zweitens mit dieser, dass sämmtliche 
wirkende Ursachen, aus denen man Alles erklärt, 
stets auf einem völlig Unerklärbaren beruhen, näm- 
lich auf den ursprünglichen Qualitäten der Dinge 
und den in diesen sich hervorthuenden Natur- 
hräften^ vermöge welcher jene auf bestimmte Art 
wirken, z. B. Schwere, Härte, Stosskraft, Elastici- 
tät, Wärme, Elektricität, chemische Kräfte u.s.w., 
und welche nun in jeder gegebenen Erklärung 
stehen bleiben, wie eine gar nicht wegzubringende 
unbekannte Grösse in einer sonst vollkommen 
aufgelösten algebraischen Gleichung; wonach es 
dann keine noch so gering geschätzte Thonscherbe 
giebt, die nicht aus lauter vmerklärlichen Quali- 
täten zusannnengesetzt wäre. Also diese zwei un- 
ausweichbaren Mängel in jeder rein physikalischen, 
d. h. kausalen Erklärung, zeigen an, dass eine solche 
nur relativ sevn kann, und dass die ganze Methode 
und Art derselben nicht die einzige, nicht die letzte, 
also nicht die genügende, d. h. nicht diejenige seyn 
kann, welche zur befriedigenden Lösung des schweren 
Räthsels der Dinge und zum wahren Verständniss der 
Welt und des Dasevns jemals zu führen vermag; son- 
dern dass die physische Erklärung, überhaupt und als 
solche, noch einer metaphysischen bedarf, welche den 
Schlüssel zu allen ihren Voraussetzungen lieferte, eben 
deshalb aber auch einen ganz andern Weg einschlagen 
müsste. Der erste Schritt hiezu ist, dass man den Un- 
terschied beider, mitbin den zwischen Physik und 
Metaphysik, zum deutlichen Bewusstsevn bringt und 
festhält. Er beruht im Allgemeinen auf der Kantischen 
Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an 
sich. Eben weil Kant das Letztere für schlechthin un- 
■ii4 
erkennbar erklärte, gab es, ihm zufolge, gar keine 
Metaphysik, sondern bloss immanente Erkenntniss, 
d.h. blosse Physik, welche stets nur von Erscheinun- 
gen reden kann, und daneben eine Kritik der nach 
Metaphysik strebenden Vernunft. Hier aber will ich, 
um den rechten Anknüpfungspunkt meiner Philoso- 
phie an die Kantische nachzuweisen, das zweite Buch 
anticipirend, hervorheben, dass Kant, in seiner schönen 
Erklärung des Zusammenbestehens der Freiheit mit 
der Nothwendigkeit (Kritik der reinen Vernunft, erste 
Auflage, S. 532 — 554, U"<i Kritik der praktischen 
Vernunft, S. 224 bis 23 1 der Rosenkranzischen Aus- 
gabe) darthut, wie eine und dieselbe Handlung einer- 
seits aus dem Charakter des Menschen, dem Einfluss, 
den er im Lebenslauf erlitten, und den jetzt ihm vor- 
liegenden Motiven, als noth wendig eintretend, voll- 
kommen erklärbar sei, dabei aber andererseits doch 
als das Werk seines freien Willens angesehen werden 
müsse: und in gleichem Sinne sagt er, §53 der Pro- 
legomena : „Zwar wird aller Verknüpfung der Ursache 
und Wirkung in der Sinnenwelt Naturnothwendig- 
keit anhangen, dagegen doch derjenigen Ursache, die 
selbst keine Erscheinung ist (obzwar ihr zum Grunde 
liegt), Freiheit zugestanden, Natur also und Freiheit 
eben demselben Dinge, aber in verschiedener Be- 
ziehung, ein Mal als Erscheinung, das andere Mal als 
einem Dinge an sich selbst, ohne Widerspruch bei- 
gelegt werden können." Was nun also Kant von der 
Erscheinung des Menschen und seines Thuns lehrt, 
das dehnt meine Lehre ai\( alle Erscheinungen in der 
Natur aus, indem sie ihnen den Willen als Ding an 
sich zum Grunde legt. Dies Verfahren rechtfertigt 
sich zunächst schon dadurch, dass nicht angenommen 
werden darf, der Mensch sei von den übrigen Wesen 
und Dingen in der Natur spezifisch, toto genere und 
von Grund aus verschieden, vielmehr nur dem Grade 
nach. — Von dieser anticipirenden Abschweifung 
kehre ich zurück zu unserer Betrachtung der Unzu- 
länglichkeit der Physik, die letzte Erklärung der Dinge 
abzugeben. — Ich sage also : physisch ist freilich Al- 
les, aber auch nichts erklärbar. Wie für die Bewegung 
2 i 5 
der gestossenen Kug^el, miiss auch zuletzt für das Den- 
ken des Gehirns eine physische Erklärung an sich 
möglich seyn, die dieses eben so hegreiflich machte, 
als jene es ist. Aher ehen jene, die wir so vollkommen 
zu verstehen wähnen, ist uns im Grunde so dunkel 
wie Letzteres: denn was das innere Wesen der Ex- 
pansion im Raum, der Undurchdringlichkeit, Beweg- 
hchkeit, der Härte, Elasticität und Schwere sei, — 
hleiht, nach allen physikalischen Erklärungen, ein 
Mysterium, so gut wie das Denken. Weil aber hei 
diesem das Unerklärbare am unmittelbarsten hervor- 
tritt, machte man hier sogleich einen Sprung aus der 
Physik in die Metaphysik und hypostasierte eine Sub- 
stanz ganz anderer Art, als alles Körperliche, — - ver- 
setzte ins Gehirn eine Seele. Wäre man jedoch nicht 
so stumpf gewesen, nur durch die auffallendeste Er- 
scheinung frappirt werden zu können; so hätte man 
die Verdauung durch eine Seele im Magen, die Vege- 
tation durch eine Seele in der Pflanze, die Wahlver- 
wandtschaft durch eine Seele in den Reagenzien, ja, 
das Phallen eines Steines durch eine Seele in diesen» 
erklären müssen. Denn die Qualität jedes unorgani- 
schen Körpers ist eben so geheinmissvoll, wie das 
Leben im Lebendigen: auf gleiche Weise stösst daher 
überall die physische Erklärungauf ein Metaphysisches, 
durch welches sie vernichtet wird, d. h. aufhört Er- 
klärung zu seyn. Nimmt man es streng, so liesse sich 
behaupten, dass alle Naturwissenschaft im Grunde 
nichts weiter leistet, als was auch die Botanik: näm- 
lich das Gleichartige zusammenzubringen, zu klassi- 
fiziren. — Eine Physik, welche behauptete, dass ihre 
Erklärungen der Dinge, — im Einzelnen ausUrsachen 
und im Allgemeinen aus Kräften, wirklich ausreich- 
ten und also das Wesen der Welt erscliöpften, wäre 
der eigentliche Naturalismus. Von Leukippos, Demo- 
kritos imd Epikuros an, his herab zum Systeme de la 
nature. dann zu Delamark, Cahanis und zu dem in 
diesen letzten Jahren wieder aufgewärmten Materialis- 
mus können wir den fortgesetzten Versuch verfolgen, 
eine Physik ohne Metaphysik aufzustellen, d. h. eine 
Lehre, welche die Erscheinung zum Dinge an sich 
216 
machte. Aber alle ihre Erklärungen suchenden Erklii- 
rern selbst und Andern zu verber{Ten,dasssie die Haupt- 
sache, ohne Weiteres, voraussetzen. Sie bemühen sich 
zu zeifjen, dass alle Phänomene, auch die geistigen, 
physisch sind: mit Recht! nur sehen sie nicht ein, 
dass alles Physische andererseits zugleich ein Meta- 
physisches ist. Dies ist aber auch, ohne Kant, schwer 
einzusehen; da es die Unterscheidung der Erscheinung 
vom Ding an sich voraussetzt. Dennoch hat sich, selbst 
ohne diese, Aj'istoteles, so sehr er auch zur Empirie 
geneigt und von Platonischer Hvperphysik entfernt 
war, von jener beschränkten Ansicht frei gehalten: 
er sagt: Ei [xev ouv jat] eon Ti? srspa ouaia Tiapa ta; 
cpuoei oovsoTTjxuiac, tj cpooixTj av £ITj irpcoTT] eTrioTrj[j.7]" et 
<5£ EOTi xic, ouota axtvTiToc, auTT] Tcpoiepa xai (piXooocpia 
TrpcjTT), X7.1 xa^oXou ouTo)?, Ott irpcoTTj • xai 7:spt tou ovto? 
T[j ov, rauTTj? av eitj ftewprjoai. (Si igitur non estaliquaalia 
substantia, praeter eas, quae natura consistunt, phy- 
sica profecto prima scientia esset: <{uodsi autem est 
aliqua substantia immobilis, haec prior et philosophia 
prima, et universalis sie, quod prima; et de ente, prout 
ens est, speculari hujus est.) Metaph., V. i . Eine solche 
absolute Physik ^ wie oben beschrieben, welche für 
keine Metaphysih Raum liesse, würde die Natura na- 
turata zur Natura naturans machen: sie wäre die auf 
den Thron der Metaphysik gesetzte Physik, würde 
jedoch, auf dieser hohen Stelle, sich fast so ausnehmen, 
wie Holbergs theatralischer Kannengiesser, den man 
zum Burgemeister gemacht. Sogar hinter dem an sich 
abgeschmackten, auch meistens boshaften Vorwurf 
des Atheismus liegt, als seine innere Bedeutung und 
ihm Kraft ertheilende Wahrheit, de« dunkle Begriff 
einer solchen absoluten Physik ohne Metaphysik. Al- 
lerdings müsste eine solche für die Ethik zerstörend 
seyn, und wie man fälschlich den Theismus für un- 
zertrennlich von der Moralität gehalten hat, so gilt 
Dies in Wahrheit nur von einer Metaphysih überhaupt, 
d. h. von der Erkenntniss, dass die Ordnung der Na- 
tur nicht die einzige und absolute Ordnung der Dinge 
sei. Daher kann man als das nothwendige Credo aller 
Gerechten und Guten dieses aufstellen: „ich glaube 
2 I 
7 
an eine Metaphysik". In dieser Hinsicht ist es wichtif^ 
und nothwendig, dass man sich von der Unhaltbarkeit 
einer absoluten Physik überzeuf^e; um so melir, da 
diese, der ei{jenthche jSaluralismus, eine Ansicht ist, 
die sich dem Menschen von selbst und stets von Neuem 
aufdringet und nur durch tiefere Spekulation ver- 
nichtet werden kann, als deren Surrogat, in dieser 
Hinsicht, allerlei Systeme und Glaubenslehren, inso- 
fern und so lange sie gelten, freilich auch dienen. 
Dass aber eine grundfalsche Ansicht sich dem Men- 
schen von selbst aufdringt und erst künstlich entfernt 
werden muss, ist daraus erklärlich, dass der Intellekt 
ursprünglich nicht bestimmt ist, uns über das Wesen 
der Dinge zu belehren, sondern nur ihre Relationen, in 
Bezug auf unsern Willen, uns zu zeigen: er ist, wie 
wir im zweiten Buche finden werden, das blosse Me- 
dium der Motive. Dass nun in diesem die Welt sich 
auf eine Weise schematisirt, welche eine ganz andere, 
als die schlechthin wahre Ordnung der Dinge darstellt, 
weil sie uns eben nicht den Kern, sondern nur die 
äussere Schaale derselben zeigt, geschieht accidenta- 
liter und kann dem Intellekt nicht zum Vorwurf ge- 
reichen ; um so weniger, als er doch wieder in sich 
selbst die Mittel findet, jenen Irrtum zu rektificiren, 
indem er zur Unterscheidung zwischen Erscheinung 
und Wesen an sich der Dinge gelangt, welche Unter- 
scheidung im Grunde zu allen Zeiten dawar, nur mei- 
stens sehr unvollkommen zum Bewusstseyn {gebracht 
und daher ungenügend ausgesprochen wurde, sogar 
oft in seltsamer Verkleidung auftrat. Schon die Christ- 
lichen Mvstiker z. B. erklären den Intellekt, indem 
sie ihn das Licht der Natur nennen, für unzulänglich, 
das wahre Wesen der Dinge zu erfassen. Er ist gleich- 
sam eine blosse Flächenkraft, wie die Elektricität, und 
dringt nicht in das Innere der Wesen. 
Die Unzulänglichkeit des reinen Naturalisnuis tritt, 
wie gesagt, zuvörderst, auf dem empirischen Wege 
selbst, dadurch hervor, dass jede physikalische Er- 
klärung das Einzelne aus seiner Ursache erklärt, die 
Kette dieser Ursachen aber, wie wir a priori, mithin 
völlig gewiss wissen, ins Unendliche rückwärts läuft, 
•218 
so dass schlechthin keine jemals die erste seyn konnte. 
Sodann aber wird die Wirksamkeit jeder Ursache zu- 
rückgeführt auf ein Naturgesetz, und dieses endlich 
auf eine Naturkraft, welche nun als das schlechthin 
Unerklärliche stehen bleibt. Dieses Unerklärliche aber, 
auf welches alle Erscheinungen jener so klar gegebe- 
nen und so natürlich erklärbaren Welt, von der höch- 
sten bis zur niedrigsten, zurückgeführt werden, ver- 
rät eben, dass die ganze Art solcher Erklärung nur 
eine bedingte, gleichsam niu' ex concessis ist, und kei- 
neswegs die eigentliche und genügende; daher ich 
oben sagte, dass physisch Alles und nichts erklärbar 
sei. Jenes schlechthin Unerklärliche, welches alle Er- 
scheinungen durchzieht, bei den höchsten, z. B. bei 
der Zeugung, am auffallendsten, jedoch auch bei den 
niedrigsten, z. B. den mechanischen, eben so wohl 
vorhanden ist, giebt Anweisung auf eine der physi- 
schen Ordnung der Dinge zum Grunde liegende ganz 
anderartige, welche eben Das ist, was Kant die Ord- 
imng der Dinge an sich nennt und was den Zielpunkt 
der Metaphvsik ausmacht. — Zweitens aber erhellt 
die Unzulänglichkeit des reinen Naturalismus aus je- 
ner philosophischen Grundwahrheit, welche wir in 
der ersten Hälfte dieses Buches ausführlich betrachtet 
haben und die eben auch das Thema der Kritik der 
reinen Vernunft ist: dass nämlich alles Objekt, sowohl 
seinem objektiven Daseyn überhaupt, als der Art und 
Weise (dem Formellen) dieses Daseyns nach, durch 
das erkennende Subjekt durchweg bedingt, mithin 
blosse Erscheinung, nicht Ding an sich ist; wie Dies 
^. 7 des ersten Bandes*) auseinandergesetzt und da- 
selbst dargethan worden, dass nichts täppischer seyn 
kann, als dass man, nach Weise aller Materialisten, 
das Objektive unbesehens als schlechthin gegeben 
nimmt, um aus ihm Alles abzuleiten, ohne irgend 
das Subjektive zu berücksichtigen, mittelst dessen, ja 
in welchem, allein doch jenes dasteht. Proben dieses 
Verfahrens liefert zu allernächst unser heutiger Mode- 
Materialismus, der eben dadurch eine rechte Barbier- 
gesellen- und Apotheker-Lehrlings-Philosophie ge- 
') S. 3 1 (\. A. 
2 I() 
worden ist. Ihm, in seiner Unschuld, ist die unbe- 
denkhch als absohit real genommene Materie das Ding 
an sich, und Stosskralt die einzige Fähigkeit eines Din- 
ges an sich, indem alle anderen Qualitäten nur Er- 
scheinungen derselben seyn können. 
Mit dem iNaturalisnms, oder der rein physikalischen 
Betrachtungsart, wird man demnach nie ausreichen: 
sie gleicht einem Rechnungse.vempel, welches nimmer- 
mehr aufgeht. End- und anfangslose Kausalreihen, 
unerfoi'schliche Grundkrafte, unendlicher Raum, an- 
fangslose Zeit, endlose Theilbarkeit der Materie, und 
dieses Alles noch bedingt durch ein erkennendes Ge- 
hirn, in welchem allein es dasteht, so gut wie der 
Traum, und ohne welches es verschwindet, — ma- 
chen das Labyrinth aus, in welchem sie uns unauf- 
hörlich herumführt. Die Höhe, zu welcher in unsern 
Zeiten die Naturwissenschaften gestiegen sind, stellt 
in dieser Beziehung alle früheren Jahrhundeite in tie- 
fen Schatten, und ist ein Gipfel, den die Menschheit 
zum ersten Mal erreicht. Allein, wie grosse Fort- 
schritte auch die Physik (im weiten Sinn der Alten 
verstanden) je machen möge; so wird damit noch 
nicht der kleinste Schritt zur Metophysik geschehen 
seyn; so wenig, wie eine Fläche, durch noch so weit 
fortgesetzte Ausdehnung, je Kubikinhalt gewinnt. 
Denn solche Fortschritte werden immer nurdieKennt- 
niss der Erscheinung vervollständigen; während die 
Metaphysik über die Erscheinung selbst hinausstrebt, 
zum Erscheinenden. Und wenn sogar die gänzlich 
vollendete Erfohrung hinzukäme; so würde dadurch 
in der Hauptsache nichts gebessert seyn. Ja, wenn 
selbst Einer alle Planeten sämmtl icher Fixsterne 
durchwanderte; so hätte er damit noch keinen Schritt 
in der Metaphysik gethan. Vielmehr werden die gröss- 
ten Fortschritte der Physik das Bedürfniss einer Me- 
taphysik immer fühlbarer machen; weil eben die be- 
richtigte, erweiterte und gründlichere Kenntniss der 
Natur einerseits die bis dahin geltenden metaphy- 
sischen Annahmen immer untergräbt und endlich 
umstösst, andererseits aber das Problem der Meta- 
physik selbst deutlicher, richtiger und vollständiger 
2'-iO 
vorlegt, dasselbe von allem bloss Physischen i-einer 
absondert, und eben auch das vollständiger und ge- 
nauer erkannte Wesen der einzelnen Dinge dringen- 
der die Erklärung des Ganzen und Allgemeinen for- 
dert, vv'elches, je richtiger, gründlicher und vollstän- 
diger empirisch erkannt, nur desto räthselhafter sich 
darstellt. Dies Alles wird freilich der einzelne, simple 
Naturforscher, in einem abgesonderten Zweige der Phy- 
sik, nicht sofort deutlich inne: vielmehr schläft er behag- 
lich bei seiner erwählten Magd im Hause desOdysseus, 
sich aller Gedanken an die Penelopeia entschlagend 
(siehe Kap. i 2 am Ende). Daher sehen wir heut zu 
Tage die Schaale der Natur auf das genaueste durch- 
forscht, die Intestina der Intestinalvvürmer und das 
Ungeziefer des Ungeziefers haarklein gekannt: kommt 
aber Einer, wie z. B, ich, und redet vom Kern der Na- 
tur, so hören sie nicht hin, denken eben es gehöre 
nicht zur Sache und klauben an ihren Schaalen wei- 
ter. Jene überaus mikroskopischen und mikrologischen 
Naturforscher findet man sich versucht, die Topf- 
gucker der Natur zu nennen. Die Leute aber, welche 
vermeynen, Tiegel und Retorte seien die wahre und 
einzige Quelle aller Weisheit, sind in ihrer i\rt eben 
so verkehrt, wie es weiland ihre Antipoden, die Scho- 
lastiker waren. Wie nämlich diese, ganz und gar in 
ihre abstrakten Begriffe verstrickt, mit diesen sich 
herumschlugen, nichts ausser ihnen kennend, noch 
untersuchend; so sind Jene ganz in ihre Empirie ver- 
strickt, lassen nichts gelten, als was ihre Augen sehen, 
und vermeynen damit bis auf den letzten Grund der 
Dinge zu reichen, nicht ahndend, dass zwischen der 
Erscheinung und dem darin sichManifestireuden, dem 
Dinge an sich, eine tiefe Kluft, ein radikaler Unter- 
schied ist, welcher nur durch die Erkenntniss und 
genaue Gränzbestimmung des subjektiven Ele- 
ments der Erscheinunjj aufgeklärt wird, und durch 
die Einsicht, dass die letzten und wichtigsten Auf- 
schlüsse über das Wesen der Dinge allein aus dem 
Selbstbewusstseyn geschöpft werden können; — ohne 
welches Alles man nicht einen Schritt über das den 
Sinnen unmittelbar Gegebene hinauskann, also nicht 
22 I 
weiter jjelangt, als bis zum Problem. — Jedoch sei 
auch andererseits bemerkt, dass die möglichst voll- 
ständige Naturerkenntniss die berichtigte Dai-lequrKf 
des Problems der Metaphysik ist: daher soll Keiner 
sich an diese wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur 
allgemeine, doch gründliche, klare und zusammen- 
hängende Kenntniss aller Zweige der Naturwissen- 
schaft sich erworben zu haben. Denn das Problem 
muss der Lösung vorhergehen. Dann aber muss der 
Blick des Forschers sich nach innen wenden: denn 
die intellektuellen und ethischen Phänomene sind 
wichtiger, als die physischen, in demselben Maasse, 
wie z. B. der animalische Magnetismus eine ungleich 
wichtigere Erscheinung, als der mineralische ist. Die 
letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem 
Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zu- 
gänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Räth- 
sel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an 
Einem Faden zu erfassen hoffen darf. Das eigenste 
Gebiet der Metaphysik liegt also allerdings in Dem, 
was man Geistesphilosophie genannt hat. 
„Du führst die Reihen der Lebendigen 
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder 
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen : 
Dann führst Du mich zur sichern Höhle, zei{;si 
Mich dann mir selbst, und meiner ei{;nen Brust 
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.'-' 
Was nun endlich die Quelle, oder das Fundament 
der metaphysischen Erkenntniss betrifft; so habe ich 
schon weiter oben mich gegen die, auch von Kant 
wiederholte, Voraussetzung erklärt, dass es in blossen 
Begriffen liegen müsse. Begriffe können in keiner Er- 
kenntniss das Erste seyn: denn sie sind allemal aus 
irgend einer Anschauung abgezogen. Was aber zu 
jener Annahme verleitet hat, ist wahrscheinlich das 
Beispiel der Mathematik gewesen. Diese kann, wie 
besonders in der Algebra, Trigonometrie, Analysis 
geschieht, die Anschauung ganz verlassend, mit blossen 
abstrakten, ja nur durch Zeichen statt der Worte re- 
präsentirten Begriffen operiren, und doch zu einem 
li 2 2 
völlig sichern und dabei so fern liegenden Resultate 
gelangen, dass man, auf dem festen Boden der An- 
schauung verharrend, es nicht hätte erreichen können. 
Allein die Möglichkeit hievon beruht, wie Kant ge- 
nugsam gezeigt hat, darauf, dass die Begriffe der Ma- 
thematik aus den allersichersten und bestimmtesten 
Anschauungen, nämlich aus den a priori und doch 
intuitiv erkannten Grössenverhältnissen, abgezogen 
sind und daher durch diese stets wieder realisirt und 
kontrolirt werden können, entweder arithmetisch, 
mittelst Vollziehung der durch jene Zeichen bloss an- 
gedeuteten Rechnungen, oder geometrisch, mittelst 
der von Kant so genannten Konstruktion der Begriffe. 
Dieses Vorzugs hingegen entbehren die Begriffe, aus 
welchen man vermeint hatte, die Metaphysik aufbauen 
zu können, wie z. B. Wesen, Seyn, Substanz, Voll- 
kommenheit, Nothwendigkeit, Realität, Endliches, 
unendliches, Absolutes, Grund, u. s. w. Denn ur- 
sprünglich, wie vom Himmel gefallen, oder auch an- 
geboren, sind dergleichen Begriffe keineswegs; sondern 
auch sie sind, wie alle Begriffe, aus Anschauungen 
abgezogen, und, da sie nicht, wie die mathematischen, 
das bloss P^ormale der Anschauung, sondern mehr ent- 
halten ; so liegen ihnen empirische Anschauungen zum 
Grunde: also lässtsich aus ihnen nichts schöpfen, was 
nicht auch die empirische Anschauung enthielte, d. h. 
was Sache der Erfahrung wäre und was man, da jene 
Begriffe sehr weite Abstraktionen sind, viel sicherer 
und aus erster Hand von dieser empfienge. Denn aus 
Begriffen lässt sich nie mehr schöpfen, als die An- 
schauungen enthalten, aus denen sie abgezogen sind. 
Verlangt man reine Begriffe, d. h. solche, die keinen 
empirischen Ursprung haben; so lassen sich bloss die 
aufweisen, welche Raum und Zeit, d. h. den blossen 
formalen Theil der Anschauung betreffen, folglich 
allein die mathematischen, und höchstens noch der 
Begriff der Kausalität, welcher zwar nicht aus der Er- 
fahrung entsprungen ist, aber doch nur mittelst der- 
selben (zuerst in der Sinnesanschauung) ins Bewusst- 
seyn tritt; daher zwar die Erfahrung nur durch ihn 
möglich, aber auch er nur in ihrem Gebiete gültig ist; 
223 
weshalb eben Kant bezeigt hat, dass derselbe bloss 
dient, der Jilrfahninp, Zusammenhang zu ertheilen, 
nicht aber sie zu überflieffen, dass er also bloss phy- 
sische Anvvendun^j {gestattet, nicht metaphysische. 
Apodiktische Gewissheit kann einer Erkenntniss frei- 
lich nur ihr Ursprnujj a priori {ifeben: eben dieser aber 
beschränkt sie auf das bloss For/nellr der Erfahrung 
überhaupt, indem er anzeigt, dass sie durch die sub- 
jektive Beschaffenheit des Intellekts bedingt sei. Der- 
gleichen Erkenntniss also, weit entfernt uns über die 
Erfahrung hinauszuführen, giebt bloss einen T/ieil 
dieser selbst, nämlich den forinellen, ihr durchweg 
eigenen und daher allgemeinen, mithin blosse Form 
ohne Gehalt. Da nun die Metaphysik am allerwenig- 
sten hierauf beschränkt seyn kann; so muss auch sie 
einpirische Erkenntnissquellen haben: mithin ist jener 
vorgefasste Begriff einer rein a priori zu findenden 
Metaphysik nothwendig eitel. Es ist wirklich einepe- 
titio principii Kants, welche er §. i der Prolegomena 
am deutlichsten ausspricht, dass Metaphysik ihre 
Grundbegriffe und Grundsätze nicht aus der Erfah- 
rung schöpfen dürfe. Dabei wird nändich zum voraus 
angenommen, dass nur Das, was wir toi- aller Er- 
fahrung wissen, weiter reichen könne, als mögliche 
Erfahrung. Hierauf gestützt kommt dann Kant und 
beweist, dass alle solche Erkenntniss nichts weiter sei, 
als die Form des Intellekts zum Behuf der Erfahrung, 
folglich über diese nicht hinausleiten könne; woraus 
er dann die Unmöglichkeit aller Metaphysik richtig 
folgert. Aber erscheint es nicht vielmehr geradezu 
verkehrt, dass man, um die Erfahrung, d. h. die uns 
allein vorliegende Welt, zu enträthseln, ganz von ihr 
wegsehen, ihren Inhalt ignoriren und bloss die a priori 
uns bewussten, leeren Formen zu seinem Stoff nelimen 
und gebrauchen solle? Ist es nicht vielmehr der Sache 
angemessen, dass die Wissenschaft von der Erfahrung 
überhaupt und als solcher, eben auch aus der Erfah- 
rung schöpfe? Ihr Problem selbst ist ihr ja empirisch 
{jegeben; warum sollte nicht auch die Lösung die Er- 
fahrung zu Hülfe nehmen? Ist es nicht widersinnig, 
dass wer von der Natur der Dinge redet, die Dinge 
.24 
selbst nicht ansehen, sondern nur an gewisse abstrakte 
Begriffe sich halten solhe. Die Aufgabe der Metaphysik 
ist zwar nicht die Beobachtung einzelner Erfahrungen, 
aber doch die richtige Erklärung der Erfahrung im 
Ganzen. !hr Fundament muss daher allerdings empi- 
rischer Art seyn. Ja sogar die Apriorität eines Theils 
der menschlichen Erkenntniss wird von ihr als eine 
gegebene That9,ache aufgefasst, aus der sie auf den 
subjektiven Ursprung desselben schliesst. Eben nur 
sofern das Bewusstseyn seiner Apriorität ihn begleitet, 
heisst er, bei Kant, traiisscendental zum Unterschiede 
von transscendeni, welcbes bedeutet „alle Möglichkeit 
der Erfahrung überfliegend", und seinen Gegensatz 
hat an immanent, d. h. in den Schranken jener Mög- 
lichkeit bleibend. Ich rufe gern die ursprüngliche Be- 
deutung dieser von Kant eingeführten Ausdrücke zu- 
rück, mit welciien, eben wie auch mit dem der Kate- 
cjorie u. a. m., heut zu Tage die Affen der Philosophie 
ihr Spiel treiben. — Ueberdies nun ist die Erkennt- 
nissquelle der Metaphysik mc\\t (\\e äussere Erfahrung 
allein, sondern eben sowohl die innere; ja, ihr Eigen- 
thümlichstes, Avodurch ihr der entscheidende Schritt, 
der die grosse Frage allein lösen kann, möglich wird, 
besteht, wie ich im „Willen in der Natur", unter der 
Rubrik „Phvsische Astronomie" ausführlich und 
gründlich dargethan habe, darin, dass sie, an der rech- 
ten Stelle, die äusses'e Erfabrung mit der innern in 
Verbindung setzt und diese zum Schlüssel jener macht. 
Der hier erörterte, ledlicher Weise nicht abzuleug- 
nende Ursprung der Metaphysik aus empirischen Er- 
kenntnissrpiellen benim'jit ihr freilich die Art apo- 
diktischer Gewisslieit, welche allein durch Erkenntniss 
a priori möglich ist: diese bleibt das Eigenthum der 
Logik und Mathematik, welche Wissenschaften aber 
auch eigentlich nur Das lehren, was Jeder schon von 
selbst, nur nicht deutlich weiss: höchstens lassen noch 
die allerersten Elemente der Naturlehre sich aus der 
Erkenntniss a priori ableiten. Durch dieses Eingeständ- 
niss giebt die Metaphysik nur einen alten Anspruch 
auf, welcher, dem oben Gesagten zufolge, auf Miss- 
verständniss beruhte und gegen welchen die grosse Ver- 
i5 Scliopenliauer !i '2 2 D 
schiedenheit und Wandclharkeit der metaphysischen 
Systeme, wie auch der sie stets begleitende Skepticis- 
mus jederzeit gezeujjt hat. Gegen ihre MögUchkeit 
überhaupt kann jedoch diese Wandelbarkeit nicht gel- 
tend gemacht werden; da dieselbe eben so sehr alle 
Zweige der Naturwissenschaft, Chemie, Physik, Geo- 
logie, Zoologie u. s. f. trifft, und sogar die Geschichte 
nicht damit verschont geblieben ist. Wann aber ein 
Mal ein, soweit die Schranken des menschlichen In- 
tellekts es zulassen, richtiges System der Metaphysik 
gefunden seyn wird; so wird ihm die Unw^andelbar- 
keit einer a priori erkannten Wissenschaft doch zu- 
kommen: weil sein Fundament nur die Er^ fahrung 
überhaupt seyn kann, nicht aber die einzelnen und be- 
sondern Erfahrungen, durch welche hingegen die Na- 
turwissenschaften stets inodifizirt werden und der Ge- 
schichte immer neuer Stoff zuwächst. Denn die Er- 
fahrung im Ganzen und Allgemeinen wird nie ihren 
Charakter gegen einen neuen vertauschen. 
Die nächste Frage ist: wie kann eine aus der Er- 
fahrung geschöpfte Wissenschaft über diese hinaus- 
führen und so den Namen Metaphysik verdienen? — 
Sie kann es nicht etwan so, wie aus drei Proportional- 
zahlen die vierte, oder aus zwei Seiten und dem Win- 
kel das Dreieck gefunden wird. Dies war der Weg 
der vorkantischen Dogmatik, welche eben, nach ge- 
wissen uns a priori bevvussten Gesetzen, vom Gege- 
benen auf das Nichtgegebene, von der Folge auf den 
Grund, also von der Erfahrung auf das in keiner Er- 
fahrung möglicherweise zu Gebende schliessen wollte. 
Die Unmöglichkeit einer Meta[)hysik auf diesem Wege 
that Kant dar, indem er zeigte, dass jene Gesetze, wenn 
auch nicht aus der Erfahrung {jeschöpft, doch nur für 
dieselbe Gültigkeit hätten. Er lehrt daher mit Recht, 
dass wir auf solche Art die Möglichkeit aller Erfah- 
rung nicht überfliegen können. Allein es giebt noch 
andere W^ege zur Metaphysik. Das Ganze der Erfah- 
rung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie 
der Entzifferun{j dersell)en, deren Richtigkeit sich 
durch den überall hervortretenden Zusammenhang 
bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefasst 
226 
und an die äussere die innere Erfahrung geknüpft wird ; 
so muss es aus sich selbst gedeutet^ ausgelegt werden 
können. Nachdem Kant uns unwiderleghch gezeigt 
hat, dass die Erfahrung überhaupt aus zwei Elemen- 
ten, nämhch den Erkermtnissformen und dem Wesen 
an sich der Dinge, erwächst, und dass sogar beide sich 
darin gegen einander abgränzen lassen; nämhch als 
das a priori uns Bewusste und das a posteriori Hinzu- 
gekommene; so lässt sich wenigstens im Allgemeinen 
angeben, was in der gegebenen Erfahrung, welche zu- 
nächst h\oi^%e. Erscheinung ist, der durch den Intellekt 
bedingten i^or//j dieser Erscheinungangehört, und was, 
nach dessen Abziehung, dem Dinge an sich übrig bleibt, 
und wenn gleich Keiner, durch die Hülle der An- 
schauungsformen hindurch, das Ding an sich erkennen 
kann; so trägt andererseits doch Jeder dieses in sich, 
ja, ist es selbst: daher muss es ihm im Selbstbewusst- 
seyn, wenn auch noch bedingterweise, doch irgendwie 
zugänglich seyn. Die Brücke also, auf welcher die 
Metaphysik über die Erfahrung hinausgelangt, ist 
nichts Anderers, als eben jene Zerlegung der Erfah- 
rung in Erscheinung und Ding an sich, worin ich Kants 
grosstes Verdienst gesetzt habe. Denn sie enthält die 
Nachweisung eines von der Erscheinung verschiedenen 
Kernes derselben. Dieser kann zwar nie von der Er- 
scheinung ganz losgerissen und, als ein ens extrainun- 
danum, für sich betrachtet werden, sondern er wird 
immer nur in seinen Verhältnissen und Beziehungen 
zur Erscheinung selbst erkannt. Allein die Deutung 
und Auslegung dieser, in Bezug auf jenen ihren in- 
nern Kern, kann uns Aufschlüsse über sie ertheilen, 
welche sonst nicht ins Bewusstseyn kommen. In die- 
sem Sinne also geht die Metaphysik über die Erschei- 
nung, d. i. die Natur, hinaus, zu dem in oder hinter 
ihr Verborgenen (to fxeta to cpuoixov), es. jedoch immer 
nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig 
von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher 
immanent und wird nicht transscendent. Denn sie 
reisst sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern 
bleibt die blosse Deutung und Auslegung derselben, 
da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Be- 
i5* 227 
ziehun;; zur Ersclieiniin{^ redet. Weiiifjstens ist dies 
der Sinn, in welclienii ich, mit durchjjanjji^jer Ijerück- 
siclitijjinig der von Kant nachgewiesenen Schranken 
der nienschhchen Erkenntniss, das Problem der Me- 
taphysik zu lösen versucht habe: daher lasse ich seine 
Prole{|oniena zu jeder Metaj)hysik auch für die mei- 
nijje {jeltcn unrt bestehen. Diese geht demnach nie 
eigentlich über die Erlährung hinaus, sondern eröffnet 
nur das wahre Verständniss der in ihr vorliegenden 
Welt. vSie ist weder, nach der auch von Kant wieder- 
holten IJefinition der Metaphysik, eine Wissenschaft 
aus blossen Begriffen, noch ist sie ein System von Fol- 
gerungen aus Sätzen a priori, deren Cntauglichkeit 
zum metaphysischen Zweck Kant dargethan hat. Son- 
dern sie ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung 
der äussern, wirklichen W^elt und dem Autschbiss, 
welchen über diese die intimste Thatsache des Selbst- 
hewusstsevns liefen, niedergelegt in deutliche Begriffe. 
Sie ist demnach Erfahrungswissenschaft: aber nicht 
einzelne Erfahiungen, sondern das Ganze und Allge- 
meine aller Erfahrung ist ihr Gegenstand und ihre 
Quelle. Ich lasse ganz und gar 7vV7n/.s Lehre bestehen, 
dass die Welt der Erfahrung blosse Erscheinung sei 
und dass die Erkenntnisse a priori bloss in Bezug auf 
diese gellen: ich aber füge hinzu, dass sie gerade als 
Erscheinung, die Manifestation Desjenigen ist, was er- 
scheint, und nenne es mit ihm das Ding an sich. Die- 
ses muss daher sein Wiesen und seinen Chaiakter in 
der Erfahrungswelt ausdrücken, mithin solcher aus 
ihm lierauszudeuten seyn, und zwar aus dem Stoff, 
nicht aus der blossen Forui der Erfahrvmg. Denmach 
ist die Philosophie nichts Anderes, als das richtige, 
universelle Verständniss der Erfahrung selbst, die 
wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes. Dieser 
ist das Metaphysische, d. h. in die Erscheinung bloss 
Gekleidete und in ihre Formen Verhüllte, ist Das, was 
sich zu ihr verhidt, wie der Gedanke zu den Worten. 
Eine solche Entzifferung der Welt in Beziehung 
auf das in ihr I^rscheinende muss ihre Bewährung aus 
sich selbst erhalten, durch die Uebereinstimnumg, in 
welche sie die so verschiedenartigen Erscheinungen 
228 
der Welt zu einander setzt, und welche man ohne sie 
nicht wahrnininit. — Wenn man eine Schrift findet, 
deren Alphabet unbekannt ist; so versucht man die 
Auslej]ung so lange, bis man auf eine x'^nnahme der 
Bedeutung der Buchstaben geräth, unter welcher sie 
verständlicheWorte und zusam menhängende Perioden 
bilden. Dann aber bleibt kein Zweifel an der Richtig- 
keit der Entzifferung; weil es nicht möglich ist, dass 
die Uebereinstimnumg und der Zusammenhang, in 
welchen diese Auslegung alle Zeichen jener Schrift 
setzt, bloss zufällig wäre und man, bei einem ganz an- 
dern Werthe der Buchstaben, ebenfalls Worte und 
Perioden in dieser Zusammenstellung derselben er- 
kennen könnte. Auf ähnliche Art muss die Entziffe- 
rung der Welt sich aus sich selbst vollkommen bewäh- 
ren. Sie muss ein gleichmässiges Licht über alle 
Erscheinungen der Welt verbreiten und auch die he- 
terogensten in Cebereinstimmung bringen, so dass auch 
zwischen den kontrastirendesten der Widerspruch ge- 
löst wird. Diese Bewährung aus sich selbst ist das 
Kennzeichen ihrer Aechtheit. Denn jede falsche Ent- 
zifferung wird, wenn sie auch zu einigen Erscheinun- 
gen passt, den übrigen desto greller widei-sprechen. 
So z. B. widerspricht der Leibnitzische Optimismus 
dem augenfölligen Elend des Daseyns; die Lehre des 
Spinoza, dass die Welt die allein mögliche und absolut 
nothwendige Substanz sei, ist unvereinbar mit unse- 
rer Verwunderung über ihr Seyn und Wesen; der 
Wolfischen Lehre, dass der Mensch von einem ihm 
fremden Willen seine Existentia und Essentia habe, 
widerstreitet unsere moralische Verantwortlichkeit für 
die aus diesen, im Konflikt mit den Motiven, steng 
noih wendig hervorgehenden Handlungen ; der oft wie- 
derholten Lehre von einer fortschreitenden Entvvicke 
lung der Menschheit zu isnmer höherer Vollkommen- 
heit, oder überhaupt von irgend einem Werden mit- 
telst des Weltprocesses, stellt sich die Einsicht a priori 
entgegen, dass bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt 
bereits eine unendliche Zeit abgelaufen ist, folglich 
Alles, was mit der Zeit kommen sollte, schon dasevn 
müsste; und so liesse sich ein unabsehbares Register 
229 
der Widersprüche dogmatischer Annahmen mit der 
gegebenen Wirkhchkeit der Dinge /.usamnienstellen. 
Hingegen miiss ich in Abrede stellen, dass auf dasselbe 
irgend eine Lehre meiner Philosophie redlicherweise 
einzutragen seyn würde; eben weil jede derselben in 
Gegenwart der angeschauten Wirklichkeit durchdacht 
worden und keine ihre Wurzel alleiu in abstrakten 
Begriffen hat. Da es dabei dennoch ein Grundgedanke 
ist, der an alle Erscheinungen der Welt, als ihr 
Schlüssel, gelegt wird, so bewährt sich derselbe als 
das richti(;e Alphabet, unter dessen Anwendung alle 
Worte und Perioden Sinn und Bedeutung haben. Das 
gefundene Wort eines Räthsels erweist sich als das 
rechte dadurch, dass alle Aussagen desselben zu ihm 
passen. So lässt meine Lehre Uebereinstiminung und 
Zusammenhang in dem kontrastirenden Gewirre der 
Erscheinungen dieser Welt erblicken und löst die 
unzähligen Widersprüche, welche dasselbe, von jedem 
andern Standpunkt aus gesehen, darbietet: sie gleicht 
daher in sofern einem Rechenexempel, welches auf- 
geht; wiewohl keineswegs in dem Sinne, dass sie kein 
Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbe- 
antwortet Hesse. Dergleichen zu beliaupten, wäre eine 
vermessene Ableuguung der Schranken menschlicher 
Erkenntniss überhaupt. Welche Fackel wir auch an- 
zünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; 
stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt 
bleiben. Denn die letzte Lösung des Räthsels der 
Welt müsste noth wendig bloss von den Dingen an 
sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber 
gerade auf diese allein sind alle unsere Erkenntniss- 
formen angelegt: daher müssen wir uns Alles durch 
ein Nebeneinander, Nacheinander und Kausalitäts- 
verhältnisse fasslich machen. Aber diese Formen haben 
bloss in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Be- 
deutung: die Din{fe an sich selbst und ihre möglichen 
Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht er- 
fassen. Daher muss die wirkliche, positive Lösung 
des Räthsels der Welt etwas seyn, das der menschliche 
Intellekt zu fassen und zu denken völlig imfahig ist; 
so dass y.enn ein Wesen höherer Art käme imd sich 
23o 
alle Mühe gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen 
Eröffnungen durchaus nichts würden verstehen 
können. Diejenigen sonach, welche vorgeben, die 
letzten, d. i. die ersten, Gründe der Dinge, also ein 
Urwesen, Absolutuin, oder wie sonst man es nennen 
will, nebst dem Process, den Gründen, Motiven, oder 
sonst was, in Folge welcher die Welt daraus hervor 
geht, oder quillt, oder fällt, oder prodncirt, ins Daseyn 
gesetzt, „entlassen" und hinauskomplimentirt wird, 
zu erkennen, — treiben Possen, sind Windbeutel, wo 
nicht gar Scharlatane. 
Als einen grossen Vorzug meiner Philosophie sehe 
ich es an, dass alle ihre Wahrheiten unabhängig von 
einander, durch die Betrachtung der idealen Welt ge- 
funden sind, die Einheit und Zusammenstimmung 
derselben aber, um die ich unbesorgt gewesen war, 
sich immer nachher von selbst eingefunden hat. Dar- 
um auch ist sie reich und hat breite Wurzeln auf dem 
Boden der anschaulichen Wirklichkeit, aus welchem 
alle Nahrung abstrakter Wahrheiten quillt: und dar- 
um wieder ist sie nicht langweilig; welche Eigenschaft 
man sonst, nach den philosophischen Schriften der 
letzten funfzig Jahre zu urtheilen, für eine der Philo- 
sophie wesentliche halten könnte. Wenn hingegen alle 
Lehren einer Philosophie bloss eine aas der andern 
und zuletzt wohl gar aus einem ersten Satze abgeleitet 
sind; so muss sie arm und mager, mithin auch lang- 
weilig ausfallen; da aus keinem Satze mehr folgen 
kann, als was er eigentlich schon selbst besagt: zudem 
hängt dann alles von der Richtigkeit eines Satzes ab, 
und durch einen einzigen Fehler in der Ableitung 
wäre die Wahrheit des Ganzen gefährdet. Noch we- 
niger Gewährleistung geben die Systeme, welche von 
einer intellektualen Anschauung, d. i. eine Art Ekstase 
oder Hellsehn, ausgehen : jede so gewonnene Erkennt- 
niss muss als subjektiv, individuell und folglich proI>Ie- 
matisch, abgewiesen werden. Selbst wenn sie wirklich 
vorhanden wäre, würde sie nicht mittheilbar seyn : denn 
nur die normale Gehirnerkenntniss ist mittheilbar: 
wenn sie eine abstrakte ist, durch Begriffe und Worte; 
wenn eine bloss anschauliche, durch Kunstwerke. 
23t 
Wenn man, wie so oft (jeschieht, der Metaphysik 
vorwirft, im Laufe so vieler Jahrhunderte, so {»erinf^e 
Fortschritte {gemacht zu hahen; so sollte man auch 
herücksichti{"en, dass keine andereWissenschaft, gleich 
ihr, unter fortwahrendem Drucke erwachsen, keine 
von aussen so gehemmt und gehindert worden ist, 
wie sie allezeit durch die Religion jedes Landes, als 
welche, üherall im Besitz des Monopols metaphysischer 
Erkenntnisse, sie nehen sich ansieht wie ein wildes 
Kraut, wie einen unherechtigten Arheiter, wie eine 
Zigeunerhorde, und sie in der Regel nur unter der 
Bedingung tolerirt, dass sie sich bequeme ihr zu dienen 
und nachzufolgen. Wo ist denn je wahre Gedanken- 
freiheit gewesen ? Gejirahlt hat man genug damit: aber 
sobald sie weiter gehen wollte, als etwan in unter- 
geordneten Dogn)en von der Landesreligion abzu- 
weichen, er{;riff die Verkündiger der Toleranz ein 
heiliger Schauder über die Vermessenheit, und es 
hiess: keinen Schritt weiter! — Welche Fortschritte 
der Metaphysik waren unter solchem Drucke möglich? 
Ja, nicht einmal auf die Mittlieilumj der Gedanken, 
sondern auf das Denken selbst erstreckt sich jener 
Zwang, den die privilegirte Metaphysik ausübt, da- 
durch, dass ihre Dogmen dem zarten, bildsamen ver- 
trauensvollen und gedankenlosen Kindesalter, unter 
studirtem, feierlich ernsten Mienenspiel so fest einge- 
prägt werden, dass sie, von dem an, mit dem Gehirn 
verwachsen und fast die Natur angeborener Gedanken 
annehmen, wofür manche Philosophen sie daher ge- 
halten haben, noch mehrere aber sie zu halten vor- 
geben. Nichts kann jedoch der Auffassiu)g auch nur 
des Problems der Metaphysik so fest entgegenstehen, 
wie eine ihm vorhergängige, aufgedrungene und dem 
Geiste früh eingeimpfte Lösung desselben: denn der 
nothwendige Ausgangspunkt zu allem ächten Philo- 
so[)hiren ist die tiefe Empfindung des Sokratischen : 
„Dies Eine weiss ich, dass ich nichts weiss." Die Alten 
standen auch in dieser Rücksicht im Vortheil gegen 
uns; da ihre Landesreligionen zwar die Mittheilung 
des Gedachten etwas beschränkten, aber die Freiheit 
des Denkens selbst nicht beeinträchtigten, weil sie 
23 :> 
nicht föimlich und feierlich den Kindern eingeprägt, 
wie auch überhaupt nicht so ernsthaft genommen 
wiu'den. Daher sind die Aken noch unsere Lehrer in 
der Metaphysik. 
Bei jenem Vorwurf der geringen Fortschritte der 
Metaphysik und ihres, trotz so anhaltendem Bemühen, 
noch immer nicht erreichten Zieles, soll man ferner 
erwägen, dass sie unterweilen immerfort den un- 
schätzbaren Dienst geleistet hat, den unendlichen 
Ansprüchen der privilegirten Metaphysik Gränzen zu 
setzen und dabei zugleich doch dem, gerade durch diese 
als unausbleibliche Reaktion hervorgerufenen, eigent- 
lichen Naturalismus und Materialismus entgegenzu- 
arbeiten. Man bedenke, wohin es mit den Anmaas- 
sungen der Priesterschaft jeder Religion kommen 
würde, wenn der Glaube an ihre Lehren so fest und 
blind vv'äre, wie jene eigentlich wünscht. Man sehe 
dabei zurück auf alle Kriege, Unruhen, Rebellionen 
und Revolutionen in Europa vom achten bis zum ach- 
zehnten Jahrhundert: wie wenige wird man finden, 
die nicht zum Kern, oder zum Vorwand, irgend eine 
Glaubensstreitigkeit, also metaphysische Probleme, 
gehabt haben, welche der Anlass wurden, die Völker 
auf einander zu hetzen. Ist doch jenes ganze Jahr- 
tausend ein fortwährendes Morden, bald auf dem 
Schlachtfeld, bald auf dem Schaffbtt, bald auf den 
Gassen, — in metapliysischen Angelegenheiten! Ich 
wollte, ich hätte ein authentisches Verzeichniss aller 
Verbrechen, die wirkl ich das Christenthum verhindert, 
und aller guten Handlungen, die es wirklich erzeugt 
hat, um sie auf die andere Waagschaale legen zu 
können. 
Was endlich die Verpflichtungen der Metaphysik 
betrifft so hat sie nur eine einzige: denn es ist eine, 
die keine andere neben sich duldet: die Verpflichtung 
wahr zu seyn. Wollte man neben dieser ihr noch 
andere auferlegen, wie etwandie, spiritualistisch, opti- 
mistisch, monotheistisch, ja auch nur die, moralisch 
zu seyn; so kann man nicht zum voraus wissen, ob 
diese nicht der Erfüllung jener ersten entgegenstände, 
ohne welche alle ihre sonstigen Leistungen offenbar 
9.33 
werthlos seyn müssten. Eine gegebene Philosopie hat 
demnach keinen andern Maassstah ihrer Schätzung, 
als den der Wahrheit. - Uebri{!fen,s ist die Phih)sophie 
wesentHch fVellweisheü; ihr Problem ist die Welt: 
mit dieser allein hat sie es zu thun und lässt die Götter 
in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe 
oelassen zu werden. 
234 
ERGÄNZUNGEN 
ZUM 
ZWEITEN BUCH. 
„Ihr folget falscher Spur, 
Denkt nicht, wir scherzen! 
Ist nicht der Kern der Natur 
Menschen im Herzen?" 
Goethe. 
ZUM ZWEITEN BUCH. 
VV\A\ VVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVM/V vvvia IM^VV vvvvv^^ 
KAPITEL 18*). 
VON DER ERKENNBARKEIT DES DINGES 
AN SICH. 
ZU diesem Buche, welches den eigenthümHchslen 
• und wichtigsten Schritt nieinei Philosophie, näin 
lieh den von Ka7it als unmöglich aufgegehenen Ueher- 
gang von der Erscheinung zum Dinge an sich, enthält, 
habe ich die wesentlichste Ergänzung schon i836 ver- 
öffentlicht, unter dem Titel ,,Ueher den Willen in der 
Natur" (Zweite Auflage i854)- Man würde sehr irren, 
wenn man die fremden Aussprüche, an welche ich 
dort meine Erläuterungen geknüpft habe, für den ei- 
gentlichen Stoff und Gegenstand jener dem Umfang 
nach kleinen, dem Inhalt nach wichtigen Schrift bal- 
ten wollte: vielmehr sind diese bloss der Anlass, von 
welchem ausgehend ich daselbst jene Grundwahrheit 
meiner Lehre mit so grosser Deutlichkeit, wie sonst 
nirjjends, erörtert und bis zur empirischen Naturer- 
kenntniss herabgeführt habe. Und zwar ist dies am 
erschöpfendesten und stringentesten unter der Rubrik 
„Physische Astronomie" geschehen; so dass ich nicht 
hoffen darf, jemals einen richtigeren und genaueren 
Ausdruck jenes Kernes meiner Lehre zu linden, als 
der daselbst niedergelegte ist. Wer meine Philosophie 
') Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. 1 8 des ersten Bandes. 
[S. 124 d. A.] 
289 
gründlich kennen und ernstlicli prüfen will, hat daher 
vor Allem die J)e.sa{}te Uui)rik zu herücksichtigen. 
Ueherhaupt also würde Alles in jener kleinen Schrift 
Gesagte den Hauptinhalt gegenwärtiger Ergänzungen 
ausmachen, wenn es nicht, als ihnen vorangegangen, 
ausgeschlossen hlelhen müsste; wogegen ich es nun 
aher hier als hekannt voraussetze, indem sonst gerade 
das Beste fehlen würde. 
Zunächst will ich jetzt, von einem allgemeinen 
Standpunkt aus, über den Sinn, in welchem von einer 
Erkenntniss des Dinges an sich die Rede seyn kann 
und über die nothwendige Beschränkung desselben 
einige Betrachtun^jen vorausschicken. 
Was ist Erhenyüniss? — Sie ist zunächst und we- 
sentlich Torstellunci. — Was ist Voi^stellung? — Ein 
sehr komplicirteryL>/?^ys/o/o^?W?e7" Vorgang im Gehirne 
eines Thieres, dessen Resultat das Bewusstseyn eines 
Bildes ebendaselbst ist. — Offenbar kann die Bezieh- 
ung eines solchen Bildes auf etwas von dem Thiere, 
in dessen Gehirn es dasteht, gänzlich Verschiedenes 
nur eine sehr mittelbare seyn. — Dies ist vielleicht 
die einfachste und fasslichste Art, die tiefe Kluft 
zwischen dem Idealen und Realen aufzudecken. Diese 
nämlich gehört zu den Dingen, deren man, wie der 
Bewegung der Erde, nicht unmittelbar inne wird: da- 
rum hatten die Alten sie, wie eben auch diese, nicht 
bemerkt. Ilinjjegen, von Cai^tesius zuerst, ein Mal 
nachgewiesen, hat sie seitdem den Philosophen keine 
Ruhe gegönnt. Nachdem aber zuletzt Äo/j^ die völlige 
Diversität des Idealen und Realen am allergründlich- 
sten dargethan, war es ein so kecker, wie absurder, 
jedoch auf die Urtheilskraft des philosophischen Pub- 
likums in Deutschland ganz richtig berechneter und 
daher von {flänzondem Erfolg gekrönterVersuch, durch, 
auf angebliche intellektuale Anschauung sich beru- 
fende, Machtsprüche, die absolute Identität Beider be- 
haupten zu wollen. — In Wahrheit hingegen ist ein 
subjektives und ein objektives Daseyn, ein Seyn für 
sich und ein Seyn für Andere, ein Bewusstseyn des 
eigenen Selbst und ein Bewusstseyn von andern Dingen, 
uns unmittelbar gegeben, und Beide sind es auf so 
grundverschiedene Welse, dass keine andere Verschie- 
denheit dieser gleich kommt. Von sich weiss Jeder 
unmittelbar, von allem Andern nur sehr mittelbar. 
Dies ist die Thatsache und das Problem. 
Hingegen ob, durch fernere Vorgänge im Innern 
eines Gehirns, aus den darin entstandenen anschau- 
lichen Vorstellungen oder Bildern x\llgemeinbegriffe 
(Universalia) abstrahirt werden, zum Behuf fernerer 
Kombinationen, wodurch das Erkennen ein vernünf- 
tiges wird und nunmehr Denken heisst, — dies ist hier 
nicht mehr das Wesentliche, sondern von unterge- 
ordneter Bedeutung. Denn alle solche Begriffe ent- 
lehnen ihren Inhalt allein aus der anschaulichen Vor- 
stellung, welche daher Uverkenntniss ist und also bei 
Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Idealen 
und dem Realen allein in Betracht kommt. Demnach 
zeugt es von gänzlicher Unkenntniss des Problems, 
oder ist wenigstens sehr ungeschickt, jenes Verhält- 
niss bezeichnen zu wollen als das zwischen Seyn und 
Denken. Das Denken hat zunächst bloss zum Anschaucii 
ein Verhältniss, das Anschauen aber hat eines zum 
Seyn an sich des Angeschauten, und dieses Letztere ist 
das grosse Problem, welches uns hier beschäftigt. Das 
empirische Seyn hingegen, wie es vorliegt, ist nichts 
Anderes, als eben nur das Gegebenseyn in der An- 
schauung: dieser ihr Verhältniss zum Denken ist aber 
kein Räthsel ; da die Begriffe, also der unmittelbare 
Stoff des Denkens, offenbar aus der Anschauung ab- 
strohif't Hind; woran kein vernünftiger Mensch zweifeln 
kann. Beiläufig gesagt, kann man, wie wichtig die 
Wahl der Ausdrücke in der Philosophie sei, daran 
sehen, dass jener oben gerügte, ungeschickte Ausdruck 
und das aus ihm entstandene Missverständniss die 
Grundlage der ganzen Hegeischen Afterphilosophie 
geworden ist, welche das Deutsche Publikum fünf- 
undzwanzig Jahre hindurch beschäftigt hat. 
Wollte man nun aber sagen: „die Anschauung ist 
schon die Erkenntniss des Dinges an sich: denn sie 
ist die Wirkung des ausser uns Vorhandenen, und 
wie dies ivirkt, so ist es: sein Wirken ist eben sein 
Seyn"; so steht dem entgegen: i) dass das Gesetz der 
16 Schopenhauer II 2i[l 
Kausalität, wie geniijjsam bewiesen, subjekliven Ur- 
sprunjjs ist, so {jut wie die Sinneseinpfindung, von der 
die Anschauung ausgeht: '?.) dass ebenfalls Zeit und 
Raum, in denen das Objekt sich darstellt, subjektiven 
Ursprungs sind: 3) dass wenn das Seyn des Objekts 
eben in seinem Wirken besteht, dies besagt, dass es 
bloss in den Veränderungen, die es in Andern hervor- 
bringt, besteht, mithin selbst und an sich gar nichts 
ist. - — Bloss von der Materie ist es wahr, wie ich im 
Text gesagt und in der Abhandlung über den Satz 
vom Grunde, am Schlüsse des §.21, ausgeführt habe, 
dass ihr Seyn in ihrem Wirken besteht, dass sie durch 
und durch nur Kausalität, also die objektiv ange- 
schaute Kausalität selbst ist: daher ist sie aber eben 
auch nichts an sich ri uXr) to aXrjf^tvov tj^eoooc, materia 
mendacium verax), sondern ist, als Ingrediens des an- 
geschauten Objekts, ein blosses Abstraktum, welches 
für sich allein in keiner Erfahrung gegeben werden 
kann. Weiter unten wird sie, in einem eigenen Kapitel, 
ausführlich betrachtet werden. — Das angeschaute 
Objekt aber muss etwas ati sich selbst seyn und nicht 
bloss etwas für Andere: denn sonst wäre es schlechthin 
nur Vorstellung, und wir hätten einen absoluten Idea- 
lismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, 
bei welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum 
blossen subjektiven Phantasma wird. W^enn wir in- 
zwischen, ohne weiter zu fragen, bei der JVelt als f'or- 
stellung ganz und gar stehen bleiben; so ist es freilich 
einerlei, ob ich die Objekte für Vorstellungen in mei- 
nem Kopfe, oder für in Zeit und Raum sich darstel- 
lende Erscheinungen erkläre : weil eben Zeit und Raum 
selbst nur in meinem Kopfe sind. In diesem Sinne Hesse 
sich alsdann eine Identität des Idealen und Realen 
immerhin behaupten: jedoch wäre, nachdem A<//<f da- 
gewesen, nichts Neues damit gesagt. Ueberdies aber 
wäre dadurch das Wesen der Dinge und der erschei- 
nenden Welt offenbar nicht erschöpft; sondern man 
stände damit noch immer erst auf der idealen Seite. 
Die ?-eale Seite muss etwas von der ff^elt als Vorstellung 
toto genere Verschiedenes seyn, nämlich Das, was die 
Dinge an sich selbst sind: und diese gänzliche Diver- 
:>42 
sität des Idealen und Realen ist es, welche Kant am 
gründlichsten nachgewiesen hat. 
Locke nämlich hatte den Sinnen die Erkenntniss 
der Dinge, wie sie an sich sind, abgesprochen: Kant 
aber sprach sie auch dem anschauenden Verstände ab, 
unter welchem Namen ich hier Das, was er die reine 
Sinnlichkeit nennt, und das die empirische Anschau- 
ung vermittelnde Gesetz der Kausalität, sofern es a 
priori gegeben ist, zusammenfasse. Nicht nur haben 
Beide Recht, sondern auch ganz unmittelbar lässt sich 
einsehen, dass ein Widerspruch in der Behauptung 
liegt, ein Ding werde erkannt nach dem, was es an 
und für sich, d. h ausser der Erkenntniss, sei. Denn 
jedes Erkennen ist, wie gesagt, wesentlich ein Vor- 
stellen : aber mein Vorstellen, eben weil es meines ist, 
kann niemals identisch seyn mit dem W^esen an sich 
des Dinges ausser mir. Das An- imd Fürsichseyn 
jedes Dinges muss noth wendig ein subjektives seyn: 
in der Vorstellung eines Andern hingegen steht es eben 
so noth wendig als ein objetives da; ein Unterschied, 
der nie ganz ausgeglichen werden kann. Denn durch 
denselben ist die ganze Art seines Daseyns von Grund 
aus verändert: als objektives setzt es ein fremdes Sub- 
jekt, als dessen Vorstellung es existirt, voiaus, und 
ist zudem, wie Kant nachgewiesen hat, in Formen ein- 
gegangen, die seinem eigenen W^esen fremd sind, weil 
sie eben jenem fremden Subjekt, dessen Erkennen 
erst durch dieselben möglich wird, angehören. Wenn 
ich, in diese Betrachtung vertieft, etwan leblose Körper 
von leicht übersehbarer Grösse und regelmässiger fass- 
licher Form anschaue und nun versuche, dies räum- 
liche Daseyn, in seinen drei Dimensionen, als das Seyn 
an sich, folglich als das den Dingen subjektive Daseyn 
derselben aufzufassen ; so wird mir die Unmöglichkeit 
der Sache geradezu fühlbar, indem ich jene objektiven 
Formen nimmermehr als das den Dingen subjektive 
Seyn denken kann, vielmehr mir unmittelbar bewusst 
werde, dass was ich da vorstelle, ein in meinem Gehirn 
zu Stande gebrachtes und nur für mich als erkennendes 
Subjekt existirendes Bild ist, welches nicht das letzte, 
mithin subjektive Seyn an sich und für sich auch nur 
,(r 243 
dieser leblosen Körper ausmachen kann. Andererseits 
aber darf ich nicht annehmen, dass auch nur diese 
leblosen Körper ganz allein in meiner Vorstellung 
existirten; sondern muss ihnen, da sie unergründliche 
Eigenschaften und vermöge dieser Wirksamkeit haben, 
ein Seyn an sich, irgend einer Art, zugestehen. Aber 
eben dieser Unergründlichkeit der Eigenschaften, wie 
sie zwar einerseits auf ein von unserm Erkennen 
unabhängig Vorhandenes deutet, giebt andererseits 
den empirischen Beleg dazu, dass unser Erkennen, 
weil es nur im Voystellen mittelst subjektiver Formen 
besteht, stets blosse Erscheinungen, nicht das Wesen 
an sich der Dinge liefert. Hieraus nämlich ist es zu 
erklären, dass in iVUem, was w ir erkennen, uns ein ge- 
wisses Etwas, als ganz unergründlich, verborgen bleibt, 
und wir gestehen müssen, dass wir selbst die gemein- 
sten und einfachsten Erscheinungen nicht von Grund 
aus verstehen können. Denn nicht etwan bloss die 
höchsten Produktionen der Natur, die lebenden Wesen, 
oder die komplicirten Phänomene der unorganischen 
Welt bleiben uns unergründlich ; sondern selbst jeder 
Bergkrystall, jeder Schwefelkies, ist vermöge seiner 
krystallographischen, optischen, chemischen, elektri- 
schen Eigenschaften, für die eindringende Betrachtung 
und Untersuchung, ein Abgrund von Unbegreiflich- 
keiten und Geheimnissen. Dem könnte nicht so seyn, 
wenn wir die Dinge erkennten, wie sie an sich selbst 
sind: denn da müssten wenigstens die einfacheren Er- 
scheinungen, zu deren Eigenschaften nicht Unkennt- 
niss uns den Weg versperrt, von Grund aus uns ver- 
ständlich seyn und ihr ganzes Seyn und Wesen in die 
Erkenntniss übergehen können. Es liegt also nicht 
am Mangelhaften unserer Bekanntschaft mit den Din- 
gen, sondern am Wesen des Erkennens selbst. Denn 
wenn schon unsere Anschauung, mithin die ganze 
empirische Auffassung der sich uns darstellenden 
Dinge, wesentlich und hauptsächlich durch unser Er- 
kenntnissvermögen bestimmt und durch dessen F'ormen 
und Funktionen bedingt ist; so kann es nicht anders 
ausfallen, als dass die Dinge auf eine von ihrem selbst- 
eigenen Wesen ganz verschiedene Weise sich dar- 
stellen und daher wie in einer Maskeerscbeinen, welche 
das darunter Versteckte immer nur voraussetzen, aber 
nie erkennen lässt; weshalb es dann als unergründ- 
liches Geheimniss durchblinkt, und nie die Natur ir- 
gend eines Dinges ganz und ohne Rückhalt in die Er- 
kenntniss übergehen kann, noch viel weniger aber 
irgend ein Reales sich a priori konstruiren lässt, wie 
ein Mathematisches. Also ist die empirische Uner- 
forschlichkeit aller Naturwesen ein Beleg a posteriori 
der Idealität und blossen Erscheinungswirklichkeit 
ihres empirischen Daseyns. 
Diesem allen zufolge wird man auf dem Wege der 
objektiven Erkenntniss, mithin von der Vorstelluyig 
ausgehend, nie über die Vorstellung, d. i. die Er- 
scheinung, hinausgelangen, wird also bei der Aussen- 
seite der Dinge stehen bleiben, nie aber in ihr Inneres 
dringen und erforschen können, was sie an sich selbst, 
d. h. für sich selbst, seyn mögen. So weit stimme ich 
mit Kant überein. Nun aber habe ich, als Gegenge- 
wicht dieser W^ahrheit, jene andere hervorgehoben, 
dass wir nicht bloss das erkennende Subjekt sind, 
sondern andererseits auch selbst zu den zu erkennen- 
den Wesen gehören, selbst das Ding an sich sind; dass 
mithin zu jenem selbst-eigenen und inneren Wesen 
der Dinge, bis zu welchem wir von Aussen nicht 
dringen können, uns ein Weg von Innen offen steht, 
gleichsam ein unterirdischer Gang, eine geheime Ver- 
bindung, die uns, wie durch Verrath, mit Einem Male 
in die Festung versetzt, welche durch Angriff von 
aussen zu nehmen unmöglich war. — Das Ding an 
sich kann, eben als solches, nur ganz unmittelbar ins 
Bewusstseyn kommen, nämlich dadurch, dass es selbst 
sich seiner bewusst wird: es objektiv erkennen wollen, 
heissl etwas Widersprechendes verlangen. Alles Ob- 
jektive ist Vorstellung, mithin, Erscheinung, ja blosses 
Gehirnphänomen . 
Kants Hauptresultat lässt sich Wesentlichen so resu- 
miren: „Alle Begriffe, denen nicht eine Anschauung 
in Raum und Zeit (sinnliche Anschauung) zum Grunde 
liegt, d. h. also die nicht aus einer solchen Anschau- 
ung geschöpft worden, sind schlechterdings leer, d. h. 
geben keine Erkenntniss. Da nun aber die Anschau- 
ung nur Eischeinioigen, nicht Dinge an sich, Hefern 
kann, so haben wir auch von Dingen an sich gar 
keine Erkenntniss". — Ich gebediesvon Allem zu, nur 
nicht von der Erkenntniss, die Jeder von seinem eige- 
nen Wollen hat: diese ist weder eine Anschauung 
(denn alle Anschauung ist räumlich) noch ist sie leer; 
vielmehr ist sie realer, als irgend eine andere. Auch 
ist sie nicht a priori, wie die bloss formale, sondern 
ganz und gar a posteriori; daher eben wir sie auch 
nicht, im einzelnen Eall, anticipiren können, sondern 
hiebei oft des Irrthums über uns selbst überführt 
werden. — In der Tat ist unser Wollen die einzige 
Gelegenheit, die wir haben, irgend einen sich äusser- 
lich darstellenden Vorgang zugleich aus seinem Innern 
zu verstehen, mithin das einzige uns umnittelbar Be- 
kannte und nicht, wie alles üebrige, bloss in der 
Vorstellung Gegebene. Hier also liegt das Datum, 
welches allein tauglich ist, der Schlüssel zu allem 
Andern zu werden, oder, wie ich gesagt habe, die 
einzige, enge Pforte zur Wahrheit. Demzufolge müssen 
wir die Natur verstehen lernen aus uns seilest, nicht 
umgekehrt uns selbst aus der Natur. Das uns unmittel- 
l)ar Bekannte muss uns die Auslegung zu dem nur 
mittelbar Bekannten geben; nicht umgekehrt. Ver- 
steht man etwan das Fortrollen einer Ku{;el auf er- 
haltenen Stoss gründlicher, als seine eigene Bewe- 
gung auf ein wahrgenommenes Motiv? Mancher 
mag es wähnen: aber ich sage: es ist umgekehrt. 
Wir werden jedoch zu der Einsicht gelangen, dass 
in den beiden so eben erwähnten Vorgängen das 
Wesentliche identisch ist, wiewohl so identisch, wie 
der tiefste noch hörbare Ton der Harmonie mit dem 
zehn Oktaven höher liegenden gleichnamigen der 
selbe ist. 
Inzwischen ist wohl zu beachten, und ich habe es im- 
mer festgehalten, dass auch die innere Wahrnehmung, 
welche wir von unserm eigenen Willen haben, noch 
keineswegs eine erschöpfende imd adäquate Erkennt- 
nis» des Dinges an sich liefert. Dies würde der Fall 
seyn, wenn sie eine ganz unmittelbare wäre: weil sie 
:>46 
nun aber dadurch vermittelt ist, dass der Wille, mit 
und mittelst der Korporisation, sich auch einen In- 
tellekt (zunx Behuf seiner Beziehungen zur Aussen- 
welt) schafft und durch diesen nunmehr im Selbst- 
bewusstseyn (dem nothwendigen Widerspiel der 
Aussenwelt) sich als Willen erkennt; so ist diese Er- 
kenntniss des Dinges an sich nicht vollkonmmen ad- 
äquat. Zunächst ist sie an die F'orm der Vorstellung 
gebunden, ist Wahrnehmung und zerfällt, als solche, 
in Subjekt und Objekt. Denn auch im Selbstbevvusst- 
seyn ist das Ich nicht schlechthin einfach, sondern 
besteht aus einem Erkennenden, Intellekt, und einem 
Erkannten, Wille: jener wird nicht erkannt, und 
dieser ist nicht erkennend, wenn gleich Beide in das 
Bewusstseyn Eines Ich zusananenlliessen. Aber eben 
deshalb ist dieses Ich sich nicht durch und durch intim, 
gleichsam durchleuchtet, sondern ist opak und bleibt 
daher sich selber ein Räthsel. Also auch in der innern 
Erkenntniss findet noch ein Unterschied Statt zwischen 
dem Seyn an sich ihres Objekts und der Wahrneh- 
mung desselben im erkennenden Subjekt. Jedoch ist 
die innere Erkenntniss von zwei Formen frei, welche 
der äussern anhängen, nämlich von der des Raums 
und von der alle Sinnesanschauung vermittelnden 
Form der Kausalität. Hingegen bleibt noch die Form 
der Zeit, wie auch die des Erkanntwerdens und Er- 
kennens überhaupt. Demnach hat in dieser innern 
Erkenntniss das Ding an sich seine Schleier zwar 
grossen Theils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht 
ganz nackt auf. In Folge der ihm noch anhängenden 
Form der Zeit erkennt Jeder seinen Willen nur in 
dessen successiven einzelnen Akten, nicht aber im 
Ganzen, an und für sich: daher eben Keiner seinen 
Charakter a priori kennt, sondern ihn erst erfahrungs- 
mässig und stets unvollkommen kennen lernt. Aber 
dennoch ist die Wahrnehmung, in der wir die Re- 
gungen und Akte des eigenen Willens erkennen, bei 
Weitem unmittelbarer, als jede andere: sie ist der 
Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in 
die Erscheinung tritt, und in grösster Nähe vom er- 
kennenden Subjekt beleuchtet wird; daher eben der 
247 
also intim erkannte Vorgangder Ausleger jedesanderen 
zu werden einzig und allein geeignet ist. 
Denn bei jedem Hervortreten eines Willensaktes aus 
der dunklen Tiefe unsers Innern in das erkennende 
Bewusstseyn geschieht ein unmittelbarer Uebergang 
des ausser der Zeit liegenden Dinges an sich in die 
Erscheinung. Demnach ist zwar der Willensakt nur 
die nächste und deutlichste Erscheinung des Dinges 
an sich; doch folgt hieraus, dass wenn alle übrigen 
Erscheinungen eben so unmittelbar und innerlich von 
uns erkannt werden könnten, wir sie für eben das 
ansprechen müssten, was der Wille in uns ist. In diesem 
Sinne also lehre ich, dass das innere Wesen eines jeden 
Dinges ff'^ille ist, und nenne den Willen das Ding an 
sich. Hiedurch wird Kants Lehre von der üneikenn- 
barkeit des Dinges an sich dahin modifizirt, dass das- 
selbe nur nicht schlechthin und von Grund aus er- 
kennbar sei, dass jedoch die bei Weitem unmittelbarste 
seiner Erscheinungen, welche durch diese Unmittel- 
barkeitsich von allen übrigen totogenere unterscheidet, 
es für uns vertritt, und wir sonach die ganze Welt 
der Erscheinungen zurückzuführen haben auf die- 
jenige, in welcher das Ding an sich in der allerleich- 
testen Verhüllung sich darstellt und nur noch insofern 
Erscheinung bleibt, als mein Intellekt, der allein das 
der Erkenntniss Fähige ist, von mir als dem Wol- 
lenden noch immer unterschieden bleibt und auch die 
Erkenntnissform der Zeit, selbst bei der inne?n Per- 
ception, nicht ablegt. 
Demzufolge lässt, auch nach diesem letzten und 
äussersten Schritt, sich noch die Frage aufwerfen, was 
denn jener Wille, der sich in der Welt und als die 
Welt darstellt, zuletzt schlechthin an sich selbst sei? 
d. h. was er sei, ganz abgesehen davon, dass er sich 
als /Fi7/e darstellt, oder überhaupt erscheitit, d. h. über- 
haupt erkannt, wird. — Diese Frage ist me zu beant- 
worten: weil, wie gesagt, das Erkanntwerden selbst 
schon dem Ansichseyn widerspricht und jedes Erkannte 
schon als solches nur Erscheinung ist. Aber die Mög- 
lichkeit dieser Frage zeigt an, dass das Ding an sich, 
welches wir am unmittelbarsten im Willen erkennen, 
^48 
ganz ausserhalb aller möglichen Erscheinung, Bestim- 
mungen, Eigenschaften, Daseynsweisen haben mag, 
welche für uns schlechthin unerkennbar und unfass- 
lieh sind, und welche eben dann als das Wesen des 
Dinges an sich übrig bleiben, wann sich dieses, wie 
im vierten Buche dargelegt wird, als Wille frei auf- 
gehoben hat, daher ganz aus der Erscheinung heraus- 
getreten und für unsere Erkennlniss, d. h. hinsichtlich 
der Welt der Erscheinungen, ins leere Nichts überge- 
gangen ist. W^äre der Wille das Ding an sich schlecht- 
hin und absolut; so wäre auch dieses Nichts ein abso- 
lutes; statt dass es sich eben dort uns ausdrücklich nur 
als ein relatives ergiebt. 
Indem ich nun daran gehe, die, sowohl in unserm 
zweiten Buche, als auch in der Schrift „Ueber den 
Willen in der Natur" gelieferte Begründung der Lehre, 
dass in siimmtlichen Erscheinungen dieser Welt sich, 
auf verschiedenen Stufen, eben Das objektivirt, was 
in der unmittelbarsten Erkenntniss sich als Wille kund 
giebt, noch durch einige dahin gehörige Betrachtungen 
zu ergänzen, will ich damit anfangen, eine Reihe 
psychologischer Thatsachen vorzuführen, welche dar- 
thun, dass zunächst in unserm eigenen Bewusstseyn 
der Wille stets als das Primäre und Fundamentale 
auftritt und durchaus den Vorrang behauptet vor dem 
Intellekt, welcher sich dagegen durchweg als das Se- 
kundäre, Untergeordnete und Bedingte erweist. Diese 
Nach Weisung ist um so nöthiger, als alle mir vorher- 
gegangenen Philosophen, vom ersten bis zum letzten, 
das eigentliche Wesen, oder den Kern des Menschen 
in das erkennende Bewusstseyn setzen, und demnach 
das Ich, oder bei Vielen dessen transscendente Hypo- 
stase, genannt Seele, als zunächst und wesentlicn ei- 
hennend, ja denkend, und erst in Folge hievon, sekun- 
därer und abgeleiteter Weise, als wollend aufgefasst 
und dargestellt habend. Dieser uralte und ausnahms- 
lose Grundirrthum, dieses enorme irptu-ov (l^eoSo? und 
fundamentale uoxspov Trpoxepov ist, vor allen Dingen, 
zu beseitigen und dagegen die naturgemässe Beschaf- 
fenheit der Sache zum völlig deutlichen Bewusstseyn 
zu bringen. Da aber Dieses, nach Jahrtausenden des 
2 49 
Philosophirens, liier /um ersten Male geschieht, wird 
einige Ausrührlichkeit dabei an ihrer »Stelle seyn. Das 
aui'fallende Phänomen, dass in diesem grundwesent- 
liohen Punkte alle Philosophen geirrt, ja, die Wahr- 
heit auf den Kopf gestellt haben, möchte, zumal bei 
denen der Christlichen Jahrhimderte, zum Theil dar- 
aus zu erklären seyn, dass sie sammtlich die Absicht 
batten, den Menschen als vom Thiere möglichst weit 
verschieden darzustellen, dabei jedoch dunkel fühlten, 
dass die Verschiedenheit Beider im Intellekt liegt, 
nicht im Willen; woraus ihnen unbewusst die Neigung 
hervorging, den Intellekt zum Wesentlichen und zur 
Hauptsache zu machen, ja, das Wollen als eine blosse 
Funktion des Intellekts darzustellen. Daher ist auch der 
Begriff einer Seele nicht nur, wie durch die Kritik der 
reinen Vernunft feststeht, als transscendente Hypostase, 
unstatthaft; sondern er wird zur Quelle unheilbarer 
Irrthümer, dadurch, dass er, in seiner „einfachen Sub- 
stanz", eine untheilbare Einheit der Erkenntniss und 
des Willens vorweg feststellt, deren Trennung gerade 
der Weg zur Wahrheit ist. Jener Begriff darf daher 
in der Philosophie nicht mehr vorkommen, sondern 
ist den Deutschen Medicinern und Physiologen zu 
überlassen, welche, nachdem sie Skalpel und Spatel 
weggelegt haben, mit ihren bei der Konfirmation 
überkommenen Begriffen zu philosophiren unterneh- 
men. Sie mögen allenfalls ihr Glück damit in England 
versuchen. Die französischen Physiologen und Zooto- 
men haben sich (bis vor Kurzem) von jenem VorAvurf 
durchaus frei gehalten. 
Die nächste, allen jenen Philosophen sehr unbeque- 
me Folge ihres gemeinschaftlichen Grundirrthums ist 
diese: da im Tode das erkennende Bewusstseyn augen- 
fällig untergeht; so müssen sie entweder den Tod als 
Vernichtung des Menschen gelten lassen, wogegen 
unser Inneres sich auflehnt; oder sie müssen zu der 
Annahme einer Fortdauer des erkennenden Bevvusst- 
seyns greifen, zu welcher ein starker Glaube gehört, 
da jedem seine eigene Erfahrun(; die durchgängige 
und gänzliche Abhängigkeit des erkennenden Bewusst- 
seyns vom Gehirn sattsam bewiesen hat, und man 
:>. f) o 
eben so leicht eine V^erdaoung ohne Magen glauben 
kann wie ein erkennendes Bewusstseyn ohne Gehirn. 
Avis diesem Dilemma führt allein meine Philosophie, 
als welche zuerst das eigentliche Wesen des Menschen 
nicht in das Bewusstsevn, sondern in den Willen setzt, 
der nicht wesentlich mit Bewusstseyn verbunden ist, 
sondern sich zum Bewusstseyn, d. h. zur Erkenntniss, 
verhält wie Substanz zu Accidenz, wie ein Beleuchtetes 
zum Licht, wie die Saite zum Resonanzboden, und 
der von Innen in das Bewusstseyn fällt, wie die Körper- 
welt von Aussen. Nunmehr können wir die ünzer- 
störbarkeit dieses unsers eigentlichen Kernes und 
wahren Wesens fassen, trotz dem offenbaren Unter- 
gehen des Bevvusstseyns im Tode und dem entsprechen- 
den Nichtvorhandenseyn desselben vor der Geburt. 
Denn der Intellekt ist so vergänglich, wie das Gehirn, 
dessen Produkt, oder vielmehr Aktion er ist. Das 
Gehirn aber ist, wie der gesammte Organismus, Pro- 
dukt, oder Erscheinung, kurz Sekundäres, des Willens, 
welcher allein das Unvergängliche ist. 
KAPITEL 19*). 
VOM PRIMAT DES WILLENS IM SELBST- 
BEWUSSTSEYN. 
DER Wille, als das Ding an sich, macht das innere 
wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen 
aus: an sich selbst ist er jedoch bewusstlos. Denn das 
Bewusstseyn ist bedingt durch den Intellekt, und dieser 
ist ein blosses Accidenz unsers Wesens: denn er ist 
eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm 
anhängenden Nerven und Rückenmark, eine blosse 
Frucht, ein Produkt, ja, in sofern ein Parasit des übrigen 
Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen 
') Dieses Kapitel steht in Beziehung zu 5- '9 des ersten 
Bandes. [S. 129 d. A.] 
inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbster- 
hakun{jblossdadurcli dient, dass es die Verhältnissedes- 
selben zur Aussenwelt refjulirt. DerOrganisiniis selbst 
hingegen ist die Sichtbarkeit, Objektität, des indivi- 
duellen Willens, das Bild desselben, wie es sich dar- 
stellt in eben jenem Gehirn (welches wir im ersten 
Buch, als die Bedingung der objektiven Welt über- 
haupt, kennen gelernt haben), daher eben auch ver- 
mittelt durch dessen Erkenntnissformen, Raum, Zeit 
und Kausalität, folglich sich darstellend als ein Aus- 
gedehntes, successiv Agireudes und Materielles, d. h. 
Wirkendes. Sowohl direkt empfunden als mittelst der 
Sinne angeschaut werden die Glieder nur im Gehirn. — 
Diesem zufolge kann man sagen: der Intellekt ist das 
sekundäre Phänomen, der Oiganismus das primäre, 
nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens; — 
derWille ist metaphvsisch, der Intellekt physisch; — 
der Intellekt ist, wie seine Objekte, blosse Erscheinung; 
Ding an sich ist allein derWille: — sodann in einem 
mehr und mehr hildliclwn Sinne, mithin gleichniss- 
weise: der Wille ist die Substanz des Menschen, der 
Intellekt das Accidenz: — der Wille ist die Materie, 
der Intellekt die Form: — der Wille ist die Wärme, 
der Intellekt das Licht. 
Diese Thesis wollen wir nun zunächst durch fol- 
gende, dem innern Leben des Menschen angehörende 
Thatsachen dokumentieren und zugleich erläutern; 
bei welcher Gelegenheit für die Kenntniss des innern 
Menschen vielleicht mehr abfallen wird, als in vielen 
systematischen Psychologien zu finden ist. 
i) Nicht nur das Bewusstseyn von anderen Dingen, 
d. i. die Wahrnehmung der Aussenwelt, sondern auch 
das Selbstbetvusstsevn enthält, wie schon oben erwähnt, 
ein Erkennendes und ein Erkanntes: sonst wäre es 
kein Betuusstseyn. Demi BetvusstseYn besteht im Er- 
kennen: aber dazu gehört ein Erkennendes und ein 
Erkanntes; daher auch das Selbstbewusstseyn nicht 
Statt haben könnte, wenn nicht auch in ihm dem Er- 
kennenden gegenüber ein davon Verschiedenes Er- 
kanntes wäre. Wie nändich kein Objekt ohne Subjekt 
sevn kann, so auch kein Subjekt ohne Objekt, d. h. 
■i5i 
kein Erkennendes ohne ein von ihm Verschiedenes, 
welches erkannt wird. Daher ist ein Bewusstseyn, wel- 
ches durch und durch reine Intelligenz wäre, un- 
möglich. Die Intelligenz gleicht der Sonne, welche 
den Raum nicht erleuchtet, wenn nicht ein Gegenstand 
da ist, von dem ihre Strahlen zurückgeworfen werden. 
Das Erkennende selbst kann, eben als solches, nicht 
erkannt werden: sonst wäre es das Erkannte eines an- 
dern Erkennenden. Als das Erkannte im Selbstbe- 
wusstseyn finden wir nun aber ausschliesslich den 
Willen. Denn nicht nur das Wollen und Beschliessen 
im engsten Sinne, sondern auch alles Streben, Wün- 
schen, Fliehen, Hoffen, Fürchten, Lieben, Hassen, 
kurz Alles, was das eigene Wohl vind Wehe, Lust 
und Unlust, unmittelbar ausmacht, ist offenbar nur 
Affektion des Willens, ist Regung, Modifikation des 
WoUens und Nichtwollens, ist eben Das, was, wenn 
es nach aussen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt 
darstellt*). Nun aber ist in aller Erkenntniss das Er- 
kannte das Erste und Wesentliche, nicht das Erken- 
nende; sofern Jenes der TrpcoTOxuTro? dieses der extutio? 
ist. Daher muss auch im Selbstbewusstseyn das Er- 
kannte, mithin der Wille, das Erste und Ursprüng- 
liche seyn; das Erkennende hingegen nur das Sekun- 
däre, das Hinzugekommene, der Spiegel. Sie verhalten 
sich ungefähr wie der selbstleuchtende Körper zum 
reflektirenden ; oder auch wie die vibrirende Saite 
zum Resonanzboden, wo dann der also entstehende 
Ton das Bewusstseyn wäre. — Als ein solches Sinn- 
bild des Bewusstseyns können wir auch die Pflanze 
betrachten. Diese hat bekanntlich zwei Pole, Wurzel 
und Krone: jene ins Finstere, Feuchte, Kalte, diese ins 
*) Merkwürdig ist es, dass scfion ^«^urfmi« dieses erkannt hat. 
Nämlich im vierzelinten Buche De civ. Dei, c. 6. redet er von 
den afFectionibus animi, welche er, im vorhergehenden Buche, 
unter vier Kategorien, cupiditas, timor, laetitia, tristitia, ge- 
bracht hat, und sagt; voluntas est quippe in omnibus, imo 
omnes nihil aliud, quam voluntates sunt: nam quid est cupi- 
ditas et laetitia, nisi voluntas in eorum consensionem, quae 
volumus? et quid est metus atque tristitia, nisi voluntas in 
dissensionem ab bis, quae nolumus? cet. 
253 
Helle, Trockene, Warme strebend, sodann, als den 
Indifferenzpunkt beider Pole, da wo sie auseinander- 
treten, hart am Boden, den Wurzelstock (rhi/oma, 
!e collet). Die Wurzel ist das Wesentliche, Ursprüng- 
liche, Perennirende, dessen Absterben das der Krone 
nach sich zieht, ist also das Primäre; die Krone hin- 
j'jegen ist das Ostensible, aber Entsprossene und, ohne 
dass die Wurzel stirbt. Vergehende, also das Sekun- 
däre. Die Wurzel stellt den Willen, die Krone den 
Intellekt vor, und der Indifferenzpunkt Beider, der 
Wurzelstock wäre das Ich, welches als gemeinschaft- 
licher Endpunkt, Beiden angehört. Dieses Ich ist das 
pro tempore identische Subjekt des Erkennens und 
Wollens, dessen Identität ich schon in meiner aller- 
ersten Abhandlung (Ueber den Satz vom Grunde) und 
in meinem ersten philosophischen Erstaunen, das Wun- 
der -/ax' £;o)(7]v genannt habe. Es ist der zeitliche An- 
fangs- und Anknüpfungspunkt der gesammten Er- 
scheinung, d. h. derObjektivation des Willens: es be- 
dingt zwar die Erscheinung, aber ist auch durch sie 
bedingt. — Das hier aufgestellte Gleichniss lässt sich 
sogar bis auf die individuelle Beschaffenheit der Men- 
schen durchführen. Wie nämlich eine grosse Krone 
nur einer grossen Wurzel zu entspriessen pflegt; so 
finden die grössten intellektuellen Fähigkeiten sich 
nur bei heftigem, leidenschaftlichem Willen. Ein Ge- 
nie von phlegmatischem Charakter und schwachen 
Leidenschaften würde den Saftpflanzen, die bei an- 
sehnlicher, aus dicken Blättern bestehender Krone, 
sehr kleine Wurzeln haben, gleichen ; wird jedoch 
nicht gefunden werden. Dass Heftigkeit des Willens 
und Leidenschaftlichkeit des Charakters eine Beding- 
ungder erhöhten Intelligenz ist, stellt sich phvsiologisch 
dadurch dar, dass die Thätigkeit des Gehirns bedingt 
ist durch die Bewegung, welche die grossen, nach der 
basis cerebri laufenden Arterien ihm mit jedem Puls- 
schlage mittheilen; daher ein energischer Herzschlag, 
ja sogar, nach Bichat, ein kurzer Hals, ein Erforder- 
niss grosser Gehirnthäti{jkeit ist. Wohl aber findet sich 
das Gegentheil des Obigen: heftige Begierden, leiden- 
schaftlicher, ungestümer Charakter, bei schwachem 
254 
Intellekt, d. h. bei kleinem und übel konformirteni 
Gehirn, in dicker Schaale; eine so häußpe, als widrige 
Erscheinung; man könnte sie allenfalls den Runkel- 
rüben vergleichen. 
2) Um nun aber das Bewusstseyn nicht bloss bild- 
lich zu beschreiben, sondern gründlich zu erkennen, 
haben wir zuvörderst aufzusuchen, was in jedem Be- 
wusstseyn sich auf gleiche Weise vorfindet und daher, 
als das (yemeinsame und Konstante, auch das Wesent- 
liche seyn wird. Sodann werden wir betrachten, was 
ein Bewusstseyn von dem andern unterscheidet, wel- 
ches demnach das Hinzugekommene und Sekundäre 
seyn wird. 
Das Bewusstseyn ist uns schlechterdings nur als 
Eigenschaft animalischer Wesen bekannt: folglich 
dürfen, ja können wir es nicht anders, denn als ani- 
malischem Bewusstseyn denken; so dass dieser Ausdruck 
schon tautologisch ist. — Was nun also in jedem 
thierischen Bewusstseyn, auch dem unvollkommensten 
und schwächsten, sich stets vorfindet, ja ihm zum 
Grunde liegt, ist das unmittelbare Innewerden eines 
Ferlaiigens und der wechselnden Befriedigung und 
Nichtbefriedigung desselben, in sehr verschiedenen 
Graden. Dies wissen wir gewissermassen a priori. Denn 
so wundersam verschieden auch die zahllosen Arten 
der Thiere seyn mögen, so fremd uns auch eine neue, 
noch nie gesehene Gestalt derselben entgegentritt; so 
nehmen wir doch vorweg das Innerste ihres Wesens, 
mit Sicherheit, als wohlbekannt, ja uns völlig vertraut 
an. Wir wissen nämlich, dass das Thier ivill, sogar 
auch ivas es will, nämlich Daseyn, Wohlseyn, Leben 
und Fortpflanzung: und indem wir hierin Identität 
mit vms völlig sicher voraussetzen, nehmen wir keinen 
Anstand, alle Willensaffektionen, die wir an uns selbst 
kennen, auch ihm unverändert beizulegen, und spre- 
chen, ohne Zaudern, von seiner Begierde, Abscheu, 
Furcht, Zorn, Hass, Liebe, Freude, Trauer, Sehnsucht 
u. s. f. Sobald hingegen Phänomene der blossen Er- 
kenntniss zur Sprache kommen, gerathen wir in Un- 
gewissheit. Dass das Thier begreife, denke, urtheile, 
wisse, wagen wir nicht zu sagen: nur Vorstellungen 
255 
überhaupt lejjen wir ihm siclier bei; weil ohne solche 
sein JVille nicht in jene obigen Bewegungen gerathen 
könnte. Aber hinsichtlich der bestimmten Erkennt- 
nissweise der Thiere und der genauen Gränzen der- 
selben in einer gegebenen Species, haben wir nur 
unbestimmte Begriffe und machen Konjekturen; daher 
auch unsere Verständigung mit ihnen oft schwierig 
ist imd nur in Folge von Erfahrung und Uebung 
künstlich zu Stande kommt. Hier also liegen Un- 
terschiede des Bewusstseyns. Hingegen ein Verlangen, 
Begehren, Wollen, oder Verabscheuen, Fliehen, Nicht- 
wollen, ist jedem Bewusstseyn eigen: der Mensch hat 
es mit dem Polypen gemein. Dieses ist demnach das 
Wesentliche und die Basis jedes Bewusstseyns. Die 
Verschiedenheit der Aeusserungen desselben, in den 
verschiedenen Geschlechtern thierischer Wesen, be- 
ruhtauf der verschiedenen Ausdehnung ihrer Erkennt- 
nisssphären, als worin die Motive jener Aeusserungen 
liegen. Alle Handlungen und Gebehrden der Thiere, 
welche Bewegungen des Willens ausdrücken, verstehen 
wir unmittelbar aus unserm eigenen Wesen; daher 
wir, so weit, auf mannigfaltige Weise mit ihnen sym- 
pathisiren. Hingegen die Kluft zwischen uns und ihnen 
entsteht einzig und allein durch die Verschiedenheit 
des Intellekts. Eine vielleicht nicht viel geringere, als 
zwischen einem sehr klugen Thiere und einem sehr 
beschränkten Menschen ist, liegt zwischen einem 
Dummkopf und einem Genie; daher auch hier die 
andererseits aus der Gleichheit der Neigungen und 
Affekte entspringende und Beide wieder assimilirende 
Aehnlichkeit zwischen ihnen bisweilen überraschend 
hervortritt und Erstaunen erregt — Diese Betrach- 
tung macht deutlich, dass der JVUle in allen thierischen 
Wesen das Primäre und Substantiale ist, der Intellekt 
hingegen ein Sekundäres, Hinzugekommenes, ja, ein 
blosses Werkzeug zum Dienste des P3rsteren, welches, 
nach den Erfordernissen dieses Dienstes, mehr oder 
weniger vollkommen und komplicirt ist. Wie, den 
Zwecken des Willens einer Thiergattung gemäss, sie 
mit Huf, Klaue, Hand, Flügeln, Geweih oder Gebiss 
versehen auftritt, so auch mit einem mehr oder we- 
256 
niger entwickelten Gehirn, dessen Funktion die zu 
ihrem Bestand erforderliche Intelligenz ist. Je kom- 
plicirter nämlich, in deraufsteigendenKeihederThiere, 
die Organisation wird, desto vielfacher werden auch 
ihre Bedürfnisse, und desto mannigfaltiger und speciel- 
1er bestimmt die Objekte, welche zur Befriedigung 
derselben taugen, desto verschlungener und entfernter 
mithin die Wege, zu diesen zu gelangen, welche jetzt 
alle erkannt und gefunden werden müssen: in dem- 
selben Maasse müssen daher auch die Vorstellungen 
des Thieres vielseitiger, genauer, bestimmter und zu- 
sammenhängender, wie auch seine Aufmerksamkeit 
gespannter, anhaltender und erregbarer werden, folg- 
lich sein Intellekt entwickelter und vollkommener 
seyn. Demgemäss sehen wir das Organ der Intelligenz, 
also das Cerebralsystem, sammt den Sinneswerkzeu- 
gen, mit der Steigerung der Bedürfnisse und der 
Komplikation des Organismus gleichen Schritt halten, 
und die Zunahme des vorstellenden Theiles des Be- 
wusstseyns (im Gegensatz des luollenden) sich körper- 
lich darstellen im immer grösser werdenden Verhält- 
niss des Gehirns überhaupt zum übrigen Nervensystem, 
und sodann des grossen Gehirns zum kleinen; da 
{nach FlourenzJ Ersteres die Werkstätte der Vorstel- 
lungen; Letzteres der Lenker und Ordner der Be- 
wegungen ist. Der letzte Schritt, den die Natur in 
dieser Hinsicht gethan hat, ist nun aber unverhält- 
nissmässig gross. Denn im Menschen erreicht nicht 
nur die bis hierher allein vorhandene anschauende 
Vorstellungskraft den höchsten Grad der Vollkommen- 
heit; sondern die abstrakte Vorstellung, das Denken, 
d. i. die Vernunft^ und mit ihr die Besonnenheit, 
kommt hinzu. Durch diese bedeutende Steigerung des 
Intelleks, also des sekundären Theiles des Bewusst- 
seyns, erhält derselbe über den primären jetzt in sofern 
ein Uebergewicht, als er fortan der vorwaltend thätige 
wird. Während nämlich beim Thiere das unmittel- 
bare Innewerden seines befriedigten oder unbefriedig- 
ten Begehrens bei Weitem das Hauptsächliche seines 
Bewusstseyns ausmacht, und zwar um so mehr, je 
tiefer das Thier steht, so dass die untersten 'i'hiere 
iy Schopenhauer II 2 5'y 
nur durch die Zugabe einer dumpfen Vorstellung sich 
von den Pflanzen unterscheiden; so tritt beim Men- 
schen das Gegentheil ein. So heftig, selbst heftiger als 
die irgend eines Thieres, seine Begehrungen, als welche 
zu Leidenschaften anwachsen, auch sind ; so bleibt 
dennoch sein Bewusstseyn fortwahrend und vorwal- 
tend mit Vorstellungen und Gedanken beschäftigt und 
erfüllt. Ohne Zweifel hat hauptsächlich dieses den 
Anlass gegeben zu jenem Grundirrthum aller Philo- 
sophen, vermöge dessen sie als das Wesentliche und 
Primäre der sogenannten Seele, d. h. des innern oder 
geistigen Lebens des Menschen, das Denken setzen, 
es allemal voranstellend, das Wollen aber, als ein 
blosses Ergebniss desselben, erst sekundär hinzukom- 
men und nachfolgen lassen. Wenn aber das Wollen 
bloss aus dem Erkennen hervorgienge; wie könnten 
denn die Thiere, sogar die unteren, bei so äusserst 
geringer Erkenntniss, einen oft so unbezwinglich hef- 
tigen Willen zeigen? Weil demnach jener Grundirr- 
thum der Philosophen gleichsam das Accidenz zur 
Substanz macht, führt er sie auf Abwege, aus denen 
nachher kein Herauslenken mehr ist. — Jenes beim 
Menschen nun also eintretende relative üeberwiegen 
des erkennenden Bewusstsevns über das hegehi^ende, 
mithin des sekundären Theiles über den primären^ 
kann in einzelnen, abnorm begünstigten Individuen 
so weit gehen, dass, in den Zeitpunkten der höchsten 
Steigerung, der sekundäre oder erkennende Theil des 
Bewusstseyns sich vom wollenden ganz ablöst und 
für sich selbst in freie, d. h. vom Willen nicht ange- 
regte, also ihm nicht mehr dienendeThätigkeit geräth, 
wodurch er rein objektiv und zum klaren Spiegel der 
Welt wird, woraus dann die Konceptionen des Genies 
hervorgehen, welche der Gegenstand unseres dritten 
Buches sind. 
3) Wenn wir die Stufenreihe der Thiere abwärts 
durchlaufen, sehen wir den Intellekt immer schwächer 
und unvollkommener werden: aber keineswegs be- 
merken wir eine entsprechende Degradation des Wil- 
lens. Vielmehr behält dieser überall sein identisches 
Wesen und zeigt sich als grosse Anhänglichkeit an> 
258 
Leben, Sorge für Individuum und Gattung, Egoismus 
und Rücksichtslosigkeit gegen alle Andern, nebst den 
hieraus entspringenden Affekten. Selbst im kleinsten 
Insekt ist der Wille vollkommen und ganz vorhanden: 
es will was es will, so entschieden und vollkommen 
wie der Mensch. Der Unterschied liegt bloss in dem 
was es will, d. h. in den Motiven, welche aber Sache 
des Intellekts sind. Dieser freilich, als Sekundäres und 
an körperliche Organe Gebundenes, hat unzählige 
Grade der Vollkommenheit und ist überhaupt wesent- 
lich beschränkt und unvollkommen. Hingegen der 
Wille, als Ursprüngliches und Ding an sich, kann nie 
unvollkommen seyn; sondernjeder Willensakt ist ganz 
was er seyn kann. Vermöge der Einfachheit, die dem 
Willen als dem Ding an sich, dem Metaphysischen 
in der Erscheinung, zukommt, lässt sein Wesen keine 
Grade zu, sondern ist stets ganz es selbst: bloss seine 
Erregung hat Grade, von der schwächsten Neigung 
bis zur Leidenschaft, und eben auch seine Erregbar- 
keit, also seine Heftigkeit, vom phlegmatischen bis 
zum cholerischen Temperament. Der Intellekt hin- 
gegen hat nicht bloss Grade der Erregung, von der 
Schläfrigkeit bis zur Laune und Begeisterung, sondern 
auch Grade seines Wesens selbst, der Vollkommenheit 
desselben, welche demnach stufenweise steigt, vom 
niedrigsten, nur dumpf wahrnehmenden Thiere bis 
zum Menschen, und da wieder vom Dummkopf bis 
zum Genie. Der Wille allein ist überall ganz er selbst. 
Denn seine Funktion ist von der grössten Einfachheit : 
sie besteht im Wollen und Nichtwollen, welches mit 
der grössten Leichtigkeit, ohne Anstrengung von Stat- 
ten geht und keiner Üebung bedarf; während hingegen 
das Erkennen mannigfaltige Funktionen hat und nie 
ganz ohne Anstrengung vor sich geht, als welcher es 
zum Fixiren der Aufmerksamkeit und zum Deutlich- 
machen des Objekts, weiter aufwärts noch gar zum 
Denken und üeberlegen, bedarf; daher es auch grosser 
Vervollkommnung durch Uebung und Bildung fähig 
ist. Hält der Intellekt dem Willen ein einfaches An- 
schauliches vor; so spricht dieser sofort sein Genehm 
oder Nichtgenehm darüber aus: und eben so, wenn 
der Intellekt mühsam gegrübelt und abgewogen hat, 
um aus zahlreichen Datis, mittelst schwieriger Kom- 
binationen, endlich das Resultat herauszubringen, wel- 
ches dem Interesse des Willens am meisten gemäss 
scheint; da hat dieser unterdessen müssig geruht und 
tritt, nach erlangtem Resultat, herein, wie der Sultan 
in den Diwan, um wieder nur sein eintöniges Genehm 
oder Nichtgenehm auszusprechen, welches zwar dem 
Grade nach verschieden ausfallen kann, dem Wesen 
nach stets das selbe bleibt. 
Diese grundverschiedene Natur des Willens und 
des Intellekts, die jenem wesentliche Einfachheit und 
Ursprünglichkeit, im Gegensatz der komplicirten und 
sekundären Beschaffenheit dieses, wird uns noch deut- 
licher, wenn wir ihr sonderbares Wechselspiel in un- 
serm Innern beobachten und nun im Einzelnen zu- 
sehen, wie die Bilder und Gedanken, welche im In- 
tellekt aufsteigen, den Willen in Bewegung setzen, 
und wie ganz gesondert und verschieden die Rollen 
Beider sind. Dies können wir nun zwar schon wahr- 
nehmen bei wirklichen Begebenheiten, die den Willeis 
lebhaft erregen, während sie zunächst und an sich 
selbst bloss Gegenstände des Intellekts sind. Allein 
theils ist es hiebei nicht so augenfällig, dass auch diese 
Wirklichkeit als solche zunächst nur im Intellekt vor- 
handen ist; theils geht der Wechsel dabei meistens 
nicht so rasch vor sich, wie es nöthig ist, wenn die 
Sache leicht übersehbar und dadurch recht fasslich 
werden soll. Beides ist hingegen der Fall, wenn es 
blosse Gedanken und Phantasien sind, die wir auf den 
Willen einwirken lassen. Wenn wir z. B., mit uns 
selbst allein, unsere persönlichen Angelegenheiten 
überdenken und nun etwan das Drohende einer wirk- 
lich vorhandenen Gefahr und die Möglichkeit eines 
unglücklichen Ausganges uns lebhaft vergegenwärti- 
gen; so presst alsbald Angst das Herz zusammen und 
das Blut stockt in den Adern. Geht dann aber der 
Intellekt zur Möglichkeit des entgegengesetzten Aus- 
{fanges über und lässt die Phantasie das lang gehoffte, 
dadurch erreichte Glück ausmalen: so gerathen als- 
bald alle Pulse in freudige Bewegung und das Herz 
260 
liihlt sich federleicht; bis der Intellekt aus seinem 
Traum erwacht. Darauf nun führe etwan irgend ein 
Anlass die Erinnerung an eine längst ein Mal erlittene 
Beleidigung oder Beeinträchtigung herbei: sogleich 
durchstürmt Zorn und Groll die eben noch ruhige 
Brust. Dann aber steige, zufallig angeregt, das Bild 
einer längst verlorenen Geliebten auf, an welches sich 
der ganze Roman, mit seinen Zauberscenen, knüpft; 
da wird alsbald jener Zorn der tiefen Sehnsucht und 
Wehmuth Platz machen. Endlich falle uns noch irgend 
ein ehemaliger beschämender Vorfall ein : wir schrum- 
pfen zusammen, möchten versinken, die Schaamröthe 
steigt auf, und wir suchen oft durch irgend eine laute 
Aeusserung uns gewaltsam davon abzulenken und zu 
zerstreuen, gleichsam die bösen Geister verscheu- 
chend. — Man sieht, der Intellekt spielt auf und der 
Wille muss dazu tanzen: ja, jener lässt ihn die Rolle 
eines Kindes spielen, welches von seiner Wärterin, 
durch Vorschwatzen und Erzählen abwechselnd er- 
freulicher und trauriger Dinge, beliebig in die ver- 
schiedensten Stimmungen versetzt wird. Dies beruht 
darauf, dass der Wille an sich erkenntnisslos, der ihm 
zugesellte Verstand aber willenlos ist. Daher verhält 
sich jener wie ein Körper, welcher bewegt wird, dieser 
wie die ihn in Bewegung setzenden Ursachen: denn 
er ist das Medium der Motive. Bei dem Allen jedoch 
wird das Primat des Willens wieder deutlich, wenn 
dieser dem Intellekt, dessen Spiel er, wie gezeigt, so- 
bald er ihn walten lässt, wird, ein Mal seine Ober- 
herrschaft in letzter Instanz fühlbar macht, indem er 
ihm gewisse Vorstellungen verbietet, gewisse Gedan- 
kenreihen gar nicht aufkommen lässt, weil er weiss, 
d. h. von eben demselben Intellekt erfährt, dass sie 
ihn in irgend eine der oben dargestellten Bewegungen 
versetzen würden: er zügelt jetzt den Intellekt und 
zwingt ihn sich auf andere Dinge zu richten. So schwer 
dies oft seyn mag, muss es doch gelingen, sobald es 
dem Willen Ernst damit ist: denn das Widerstreben 
dabei geht nicht von dem Intellekt aus, als welcher 
stets gleichgültig bleibt; sondern vom Willen selbst, 
der zu einer Vorstellung, die er in einer Hinsicht ver- 
abscheuet, in anderer Hinsicht eine Neigung hat, Sie 
ist ihm nämhch an sich interessant, eben weil sie ihn 
bewegt; aber zugleich sagt ihm die abstrakte Erkennt- 
niss, dass sie ihn zwecklos in qualvolle, oder unwür- 
dige Erschütterung versetzen wird : dieser letztern Er- 
kenntniss gemäss entscheidet er sich jetzt und zwingt 
den Intellekt zum Gehorsam. Man nennt dies ,,Herr 
über sich seyn": offenbar ist hier der Herr der Wille, 
der Diener der Intellekt; da jener in letzter Instanz 
stets das Regiment behalt, mithin den eigentlichen 
Kern, das Wesen an sich des Menschen ausmacht. In 
dieser Hinsicht würde der Titel 'Hyeul&vixov dem Willen 
gebühren: jedoch scheint derselbe wiederum dem /n- 
tellekt zuzukommen, sofern dieser der Leiter und Füh- 
rer ist, wie der Lohnbediente, der vor dem Fremden 
hergeht. In Wahrheit aber ist das treffendeste Gleich- 
niss für das Verbal tniss Beider der starke Blinde, der 
den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt. 
Das hier dargelegteVerhältniss des Willens zum In- 
tellekt ist ferner auch darin zu erkennen, dass der In- 
tellekt den Beschlüssen des Willens ursprünglich ganz 
fremd ist. Er liefert ihm die Motive; aber wie sie ge- 
wirkt haben, erfahrt er erst hinterher, völlig a posteri- 
ori ; wie wer ein chemisches Experiment macht, die Rea- 
genzien heranbringt und dann den Erfolg abwartet. 
Ja, der Intellekt bleibt von den eigentlichen Entschei- 
dungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Wil- 
lens so sehr ausgeschlossen, dass er sie bisweilen, wie 
die eines fremden, nur durch Belauschen und Leber- 
raschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner 
Aeusserungen ertappen muss,um nur hinter seine wah- 
ren Absichten zu kommen. Z. B. ich habe einen Plan 
entworfen, dem aber bei mir selbst noch ein Skrupel 
entgegensteht, und dessen Ausführbarkeit andererseits, 
ihrer Möglichkeit nach, völlig ungewiss ist, indem sie 
von äussern, noch unentschiedenen Umständen ab-r 
hängt; daher es vor der Hand jedenfalls unnöthig wäre, 
darüber einen Entschluss zu fassen; weshalb ich die 
Sache für jetzt auf sich beruhen lasse. Da weiss ich 
nun oft nicht, wie fest ich schon mit jenem Plan im 
Geheimen verbrüdert bin, und wie sehr ich, trotz dem 
262 
Skrupel, seine Ausführung wünsche: d. h. mein In- 
tellekt weiss es nicht. Aber jetzt komme nur eine der 
Ausführbarkeit günstige Nachricht: sogleich steigt in 
meinem Innern eine jubelnde, unaufhaltsame Freudig- 
keit, auf, die sich über mein ganzes Wesen verbreitet 
und es in dauernden Besitz nimmt, zu meinem eigenen 
Erstaunen. Denn jetzt erst erfährt mein Intellekt, wie 
fest bereits mein Wille jenen Plan ergriffen hatte und 
wie gänzlich dieser ihm gemäss war, während der In- 
tellekt ihn noch für ganz problematisch und jenem 
Skrupel schwerlich gewachsen gehalten hatte. — Oder, 
in einem andern Fall, ich bin mit grossem Eifer eine 
gegenseitige Verbindlichkeit eingegangen, die ich mei- 
nen Wünschen sehr angemessen glaubte. Wie nun, 
beim Fortgang der Sache, die Nachtheile und Beschwer- 
den fühlbar werden, werfe ich auf mich den Verdacht, 
dass ich, was ich so eifrig betrieben wohl gar bereue: 
jedoch reinige ich mich davon, indem ich mir die Ver- 
sicherung gebe, dass ich, auch ungebunden, auf dem 
selben VV^ege fortfahren würde. Jetzt aber löst sich 
unerwartet die Verbindlichkeit von der andern Seite 
auf und mit Erstaunen nehme ich wahr, dass dies zu 
meiner grossen Freude und Erleichterung geschieht. 
— Oft wissen wir nicht was wir wünschen, oder was 
wir fürchten. Wir können Jahre lang einen Wunsch 
hegen, ohne ihn uns einzugestehen, oder auch nur zum 
klaren Bevvusstseyn kommen zu lassen; weil der In- 
tellekt nichts davon erfahren soll; indem die gute Mei- 
nung, welche wir von uns selbst haben, dabei zu lei- 
den hätte: wird er aber erfüllt, so erfahren wir an 
unserer Freude, nicht ohne Beschämung, dass wir Dies 
gewünscht haben: z. B. den Tod eines nahen Anver- 
wandten, den wir beerben. Und was wir eigentlich 
fürchten, wissen wir bisweilen nicht; weil uns der 
Muth fehlt, es uns zum klaren Bewusstseyn zu brin- 
gen. — Sogar sind wir oft über das eigentliche Motiv, 
aus dem wir etwas thun oder unterlassen, ganz im 
Irrthum, — bis etwan endlich ein Zufall uns das Ge- 
heimniss aufdeckt und wir erkennen, dass was wir für 
das Motiv gehalten, es nicht war, sondern ein anderes, 
welches wir uns nicht hatten eingestehen wollen, weil 
263 
es der guten Meinung, die wir von uns selbst hegen, 
keineswegs entspricht. Z. B. wir unterlassen etwas, 
aus rein moralischen Gründen, wie wir glauben; er- 
fahren jedoch hinterher, dass bloss die Furcht uns ab- 
hielt, indem wir es thun, sobald alle Gefahr beseitigt 
ist. In einzelnen Fällen kann es hiemit so weit gehen, 
dass ein Mensch das eigentliche Motiv seiner Hand- 
lung nicht ein Mal muthmaasst, ja, durch ein solches 
bewogen zu werden sich nicht für fähig hält: dennoch 
ist es das eigentliche Motiv seiner Handlung. — Bei- 
läufig haben wir an allem Diesen eine Bestätigung und 
Erläuterung der Regel des Larochefoucauld : Tamour- 
propre est plus habile que le plus habile homme du 
monde; ja, sogar einen Kommentar zum Delphischen 
Yvo>&i oauTov und dessen Schwierigkeit. — Wenn nun 
hingegen, wie alle Philosophen wähnten, der Intellekt 
unser eigentliches Wesen ausmachte und die Willens- 
beschlüsse ein blosses Ergebniss der Erkenntniss wä- 
ren; so müsste für unsern moralischen Werth gerade 
nur das Motiv, aus welchem wir zu handeln ivähnen, 
entscheidend seyn; auf analoge Art, wie die Absicht, 
nicht der Erfolg, hierin entscheidend ist. Eigentlich 
aber wäre alsdann der unterschied zwischen gewähn- 
tem und wirklichem Motiv unmöglich — Alle hier 
dargestellten Fälle also, dazu jeder Aufmerksame Ana- 
loga an sich selbst beobachten kann, lassen uns sehen, 
wie der Intellekt dem Willen so fremd ist, dass er von 
diesem bisweilen sogar mystifizirt wird: denn er lie- 
fert ihm zwar die Motive, aber in die geheime Werk- 
stätte seiner Beschlüsse dringt er nicht. Er ist zwar 
ein Vertrauter des Willens, jedoch ein Vertrauter, der 
nicht Alles erfährt. Eine Bestätigung hievon giebt auch 
noch die Thatsache, welche fast Jeder an sich zu beob- 
achten ein Mal Gelegenheit haben wird, dass bis- 
weilen der Intellekt dem Willen nicht recht traut. 
Nämlich wenn wir irgend einen grossen und kühnen 
Entschluss gefasst ha ben, — der als solcher doch eigent- 
lich nur ein vom Willen dem Intellekt gegebenes Ver- 
sprechen ist; — so bleibt oft in imserm Innern ein 
leiser, nicht eingestandener Zweifel, ob es auch ganz 
ernstlich damit gemeint sei, ob wir auch bei der Aus- 
führung nicht wanken oder zurückweichen, sondern 
Festigkeit und Beharrlichkeit genug haben werden, 
es zu vollbringen. Es bedarf daher der That, um uns 
selbst von der Aufrichtigkeit des Entschlusses zu über- 
zeugen. — 
Alle diese Thalsachen bezeugen die gänzliche Ver- 
schiedenheit des Willens vom Intellekt, das Primat 
des Ersteren und die untergeordnete Stellung des Letz- 
teren. 
4) Tier Intellekt ermüdet; der Wille ist unermüdlich. 
— Nach anhaltender Kopfarbeit fühlt man die Er- 
müdung des Gehirnes, wie die des Armes, nach an- 
haltender Körperarbeit. Alles Erkennen ist mit An- 
strengung verknüpft: /^o//en hingegen ist unser selbst- 
eigenes Wesen, dessen Aeusserungen ohne alle Mühe 
und völlig von selbst vor sich gehen. Daher, wenn 
unser Wille stark aufgeregt ist, wie in allen Affekten, 
also im Zorn, Furcht, Begierde, Betrübniss u. s. w., 
und man fordert uns jetzt zum Erkennen, etwan in 
der Absicht der Berichtigung der Motive jener Affekte, 
auf; so bezeugt die Gewalt, die wir uns dazu anthuu 
müssen, den Uebergang aus der ursprünglichen, natür- 
lichen und selbsteigenen, in die abgeleitete, mittelbare 
und erzwungene Thätigkeit. — Denn der Wille allein 
ist aoTO|xa-o<; und daher axa^iaxoc, xai aYrjpaTo? 7][xata 
Travia (lassitudinis et senii expers in sempiternum). Er 
allein ist unaufgefordert, daher oft zu früh und zu 
sehr, thätig, und kennt kein Ermüden. Säuglinge, die 
kaum die erste schwache Spur von Intelligenz zeigen, 
sind schon voller Eigenwillen: durch unbändiges, 
zweckloses Toben und Schreien zeigen sie den Willens- 
drang, von dem sie strotzen, während ihr Wollen noch 
kein Objekt hat, d. h. sie wollen, ohne zu wissen was 
sie wollen. Hieher gehört auch was Cabanis bemerkt: 
Toutes ces passions, qui se succedent d'une mani<>re 
si rapide, et se peignent avec tant de naivete, sur le 
visage mobile des enfans.Tandis que les faibles muscles 
de leurs bras et de leurs jambes savent encore a peine 
former quelques mouvemens indecis, les muscles de 
la face expriment deja par des mouvemens distincts 
presque toute la suite des affections generales propres 
265 
a la naturehumaiue: etTobservateur attentif reconnait 
tacilement dans ce tableau les traits caracteristiques 
de rii Olli ine futur. (Ra])ports du physique et moral, 
Vol. I, p. 1 23.) — Der Intellekt hin^jegen entwickelt 
sich langsam, der Vollendung des Gehirns und der 
Reife des ganzen Orgaiiismus folgend, welche seine 
Bedingungen sind; eben weil er nur eine somatische 
Funktion ist. Weil das Gehirn schon mit dem sieben- 
ten Jahre seine volle Grösse erlangt hat, werden die 
Kinder von dem an, so auffallend intelligent, wiss- 
begierig und vernünftig. Danach aber kommt die 
Pubertät : sie erteilt dem Gehirn gewisserniaassen einen 
Widerhalt, oder einen Resonanzboden, und hebt mit 
Einem Male den Intellekt um eine grosse Stufe, gleich- 
sam um eine Oktave, entsprechend ihrem Herabsetzen 
der Stimme um eine solche. Aber zugleich wider- 
streben jetzt die auftietenden thierischen Begierden 
und Leidenschaften der Vernünftigkeit, welche vor- 
her herrschte, und Dies nimmt zu. Von der Unermüd- 
lichkeit des Willens zeugt ferner der Fehler, welcher, 
mehr oder weniger, wohl allen Menschen von Natur 
eigen ist und nur durch Bildung bezwungen wird: 
die Voj^eiligkeit. Sie besteht darin, dass der Wille vor 
der Zeit an sein Geschäft eilt. Dieses nämlich ist das 
rein Aktive und Exekutive, welches erst eintreten soll, 
nachdem das Explorative und Deliberative, also das 
Erkennende, sein Geschäft völlig und ganz beendigt 
hat. Aber selten wird diese Zeit wirklich abgewartet. 
Kaum sind über die vorliegenden Umstände, oder die 
eingetretene Begebenheit, oder die mitgetheilte fremde 
Meinung, einige wenige Data von der Erkenntniss 
obenhin aufgefasst und flüchtig zusammengerafft; so 
tritt schon aus der Tiefe des Gemüths der stets bereite 
und nie müde Wille unaufgefordert hervor und zeigt 
sich als Schreck, Furcht, Hoffnung, Freude, Begierde, 
Neid, Betrübniss, Eifer, Zorn, Wuth, und treibt zu 
raschen Worten oder Thaten, auf welche meistens 
Reue folgt, nachdem die Zeit gelehrt hat, dass das 
Hegemonikon, der Intellekt, mit seinem Geschäft des 
Auffassens der Umstände, Ueberlegens ihres Zusam- 
menhanges und Beschliessens des Rathsamen, nicht 
2G6 
hat auch nur halb zu Ende kommen können, weil der 
Wille es nicht abwartete, sondern lange vor seiner 
Zeit vorsprang mit „jetzt ist die Reihe an mir!" und 
sofort die Aktive ergriff, ohne dass der Intellekt Wider- 
stand leistete, als welcher ein blosser Sklave und Leib- 
eigener des Willens, nicht aber, wie dieser, auxojjLaxo?, 
noch aus eigener Kraft und eigenem Drange thätig 
ist; daher er vom Willen leicht bei Seite geschoben 
und durch einen Wink desselben zur Ruhe gebracht 
wird; während er seinerseits, mit der äussersten An- 
strengung, kaum vermag, den Willen auch nur zu 
einer kurzen Pause zu bringen, um zum Wort zu 
kommen. Dieserhalb sind die Leute so selten und 
werden fast nur unter Spaniern, Türken und allen- 
falls Engländern gefunden, welche, auch unter den 
provocirendsten Umständen, den Kopf oben behalten, 
die Auffassung und Untersuchung der Sachlage imper- 
turbirt fortsetzen und, wo Andre schon ausser sich 
wären, con mucho sosiego, eine fernere Frage thun; 
welches etwas ganz anderes ist, als die auf Phlegma 
und Stumpfheit beruhende Gelassenheit vieler Deut- 
schen und Holländer. Eine unübertreffliche Veran- 
schaulichung der belobten Eigenschaft pflegte Ij^land 
zu geben, als Hetmann der Kosaken, im Benjowski, 
wann die Verschworenen ihn in ihr Zelt gelokt haben 
und nun ihm eine Büchse vor den Kopf halten, mit 
dem Bedeuten, sie würde abgedrückt, sobald er einen 
Schrei thäte: IJfland blies in dieMündung der Büchse, 
um zu erproben, ob sie auch geladen sei. — Von zehn 
Dingen, die uns ärgern, würden neun es nicht ver- 
mögen, wenn wir sie recht gründlich, aus ihren Ur- 
sachen, verständen und daher ihre Nothwendigkeit 
und wahre Beschaffenheit erkennten: dies aber wür- 
den wir viel öfter, wenn wir sie früher zum Gegen- 
stand der Ueberlegung, als des Eifers und Verdrusses 
machten. — Denn was, für ein unbändiges Boss, Zü- 
gel und Gebiss ist, dass ist für den Willen im Men- 
schen der Intellekt: an diesem Zügel muss er gelenkt 
werden, mittelst Belehrung, Ermahnung, Bildung 
u. s. w.; da er an sich selbst ein so wilder, ungestümer 
Drang ist, wie die Kraft, die im herabstürzenden 
26- 
Wasserfall erscheint, — ja, wie w'iv wissen, im tief- 
sten Grunde, identisch mit dieser. Im höchsten Zorn, 
im Rausch, in der Verzweiflung, hat er das Gebiss 
zwischen die Zähne genommen, ist dur(;h gegangen 
und folgt seiner ursprünglichen Natur. In der Mania 
sine delirio hat er Zaum und Gebiss ganz verloren, 
und zeigt nun am deutlichsten sein ursprüngliches 
Wesen und dass der Intellekt so verschieden von ihm 
ist, wie der Zaum vom Pferde: auch kann man ihn, 
in diesem Zustande, der Uhr vergleichen, welche nach 
Wegnahme einer gewissen Schraube, unaufhaltsam 
abschnurrt. 
Also auch diese Betrachtung zeigt uns den Willen 
als das Ursprüngliche und daher Metaphysische, den 
Intellekt hingegen als ein Sekundäres und Physisches. 
Denn als solches ist dieser, wie alles Physische, der 
Vis inertiae unterworfen, mithin erst thätig, wenn er 
getrieben wird von einem Andern, vom Willen, der 
ihn beherrscht, lenkt, zur Anstrengung aufmuntert, 
kurz, ihm die Thätigkeit verleiht, die ihm ursprüng- 
lich nicht einwohnt. Daher ruht er willig, sobald es 
ihm gestattet wird, bezeugt sich oft ti-äge und unauf- 
gelegt zur Thätigkeit: durch fortgesetzte Anstrengung 
ermüdet er bis zur gänzlichen Abstumpfung, wird er- 
schöpft, wie die Volta'sche Säule durch wiederholte 
Schläge. Darum erfordert jede anhaltende Geistesar- 
beit Pausen und Ruhe: sonst erfolgt Stumpfheit und 
Unfähigkeit; freilich zunächst nur einstweilige. Wird 
aber diese Ruhe dem Intellekt anhaltend versagt, wird 
er übermässig und unausgesetzt angespannt; so ist die 
Folge eine bleibende Abstumpfung desselben, welche 
im Alter übergehen kann in gänzliche Unfähigkeit, 
in Kindischwerden, in Blödsinn und Wahnsinn. Nicht 
dem Alter an und für sich, sondern der lange fortge- 
setzten tyrannischen Ueberanstrengung des Intellekts, 
oder Gehirns, ist es zuzuschreiben, wenn diese Uebei 
in den letzten Jahren des Lebens sich einfinden. Dar- 
aus ist es zu erklären, dass Swift wahnsinnig, Kant 
kindisch wurde, Walter Scott, auch fVordsworth, Sou- 
they und viele minorum gentium stumpf und unfähig. 
Goethe ist bis an sein Ende klar, geisteskräftig und 
268 
geistesthätig geblieben; weil er, der stets Welt- und 
Hofmann war, niemals seine geistigen Beschäftigungen 
mit Selbstzwang getrieben hat. Das Selbe gilt von 
Wieland und dem einundneunzigjährigen Knebel^ wie 
auch von Voltaire. Dieses Alles nun aber beweist, wie 
sehr sekundär, physisch und ein blosses Werkzeug der 
Intellekt ist. Eben deshalb auch bedarf er, auf fast ein 
Drittel seiner Lebenszeit, der gänzlichen Suspension 
seiner Thätigkeit, im Schlafe, d. h, der Ruhe des Ge- 
hirns, dessen blosse Funktion er ist, welches ihm da- 
her ebenso vorhergängig ist, wie der Magen der Ver- 
dauung, oder die Körper ihrem Stoss, und mit welchem 
er, im x\lter, verwelkt und versiegt. — Der Wille hin- 
gegen, als das Ding an sich, ist nie träge, absolut un- 
ermüdlich, seine Thätigkeit ist seine Essenz, er hört 
nie auf zu wollen, und wann er, während des tiefen 
Schlafs, vom Intellekt verlassen ist und daher nicht, 
auf Motive, nach aussen wirken kann, ist er als Lebens- 
kraft thätig, besorgt desto ungestörter die innere 
Oekonomie des Organismus und bringt auch, als vis 
naturae medicatrix, die eingeschlichenen Unregel- 
mässigkeiten desselben wieder in Ordnung. Denn er 
ist nicht, wie der Intellekt, eine Funktion des Leibes; 
sondern der Leib ist seine Funktion: daher ist er diesem 
ordine rerum vorgängig, als dessen metaphysisches 
Substrat, als das Ansich der Erscheinung desselben. 
Seine Unermüdlichkeit theilt er, auf die Dauer des 
Lebens, dem Heizen mit, diesem prinmm mobile des 
Organismus, welches deshalb sein Symbol und Syno- 
nym geworden ist. Auch schwindet er nicht, im Alter, 
sondern will noch immer, was er gewollt hat, ja wird 
fester und unbiegsamer, als er in der Jugend gewesen, 
unversöhnlicher, eigensinniger, unlenksamer, weil der 
Intellekt unempfänglicher geworden : daher dann nur 
durch Benutzung der Schwäche dieses ihm allenfalls 
beizukommen ist. 
Auch die durchgängige iSchwäche und Unvollkom- 
menheit des Intellekts, wie sie in der Urtheilslosigkeit, 
Beschränktheit, Verkehrtheit, Thorheit der allermei- 
sten Menschen zu Tage liegt, wäre ganz unerklärlich, 
wenn der Intellekt nicht ein Sekundäres, Hinzuge- 
269 
kommenes, bloss Instrumentales, sondern das unmit- 
telbare vmd ursprüngliche Wesen der sogenannten 
Seele, oder überbaupt des inneren Menschen wäre; 
wie alle bisherigen Philosophen es angenommen haben. 
Denn wie sollte das ursprüngliche Wesen, in seiner 
unmittelbaren und eigenthümlichen Funktion, so 
häufig irren und fehlen? — Das wirklich Ursprüng- 
liche im menschlichen Bewusstseyn, das Wollen, geht 
eben auch allemal vollkommen von Statten: jedes 
Wesen will unablässig, tüchtig und entschieden. Das 
Unmoralische im Willen als eine Unvollkommenheit 
desselben anzusehen, wäre ein grundfalscher Gesichts- 
punkt: vielmehr hat die Moralität eine Quelle, welche 
eigentlich schon über die Natur hinaus liegt, daher 
sie mit den Aussagen derselben in W^iderspruch steht. 
Darum eben tritt sie dem natürlichen Willen,als welcher 
an sich schlechthin egoistisch ist, geradezu entgegen, 
ja, die Fortsetzung ihres Weges führt zur Aufhebung 
desselben. Hierüber verweise ich auf unser viertes 
Buch und auf meine Preisschrift „Ueber das Funda- 
ment der Moral". 
5) Dass der Wille das Reale und Essentiale im 
Menschen, der Intellekt aber nur das Sekundäre, Be- 
dingte, Hervorgebrachte sei, wird auch daran ersicht- 
lich, dass dieser seine Funktion nur solange ganz rein 
und richtig vollziehen kann, als derWille schweigt und 
pausirt; hingegen durch jede merkliche Erregung 
desselben die Funktion des Intellekts gestört, und 
durch seine Einmischung ihr Resultat verfälscht wird : 
nicht aber wird auch umgekehrt der Intellekt auf 
ähnliche Weise dem Willen hinderlich. So kann der 
Mond nicht wirken, wann die Sonne am Himmel 
steht; doch hindert jener diese nicht. 
Ein grosser -Sc/i/ecA- benimmt uns oft die Besinnung 
dermaassen, dass wir versteinern, oder aber das Ver- 
kehrteste thun, z. B. bei ausgebrochenem Feuer gerade 
in die Flammen laufen. Der Zorn lässt uns nicht mehr 
wissen was wir thun, noch weniger was wir sagen. 
Der Eifer, deshalb blind genannt, macht uns unfähig 
die fremden Argumente zu erwägen, oder selbst unsere 
eigenen hervorzusuchen und geordnet aufzustellen. 
270 
Die F?'eude macht unüberlegt, rücksichtslos und ver- 
wegen: fast ebenso wirkt die Begierde. Die Furcht ver-^ 
hindert uns die noch vorhandenen, oft nahe liegenden 
Rettungsniittel zu sehen und zu ergreifen. Deshalb 
sind zum Bestehen plötzlicher Gefahren, wie auch 
zum Streit mit Gegnern und Feinden, Kaltblütigkeit 
und Geistesgegenwart die wesentlichste Befähigung. 
Jene besteht im Schweigen des Willens, damit der 
Intellekt agiren könne; diese in der ungestörten Thä- 
tigkeit des Intellekts, unter dem Andrang der auf den 
Willen wirkenden Begebenheiten: daher eben ist jene 
ihre Bedingung, und Beide sind nahe verwandt, sind 
selten, und stets nur komparativ vorhanden, Sie sind 
aber von unschätzbarem Vortheil, weil sie den Ge- 
brauch des Intellekts, gerade zu den Zeiten, wo man 
seiner am meisten bedarf, gestatten und dadurch ent- 
schiedene Ueberlegenheit verleihen. Wer sie nicht hat, 
erkennt erst nach verschwundener Gelegenheit was 
zu thun, oder zu sagen gewesen. Sehr treffend sagt 
man von Dem, der in Affekt geräth, d. h. dessen Wille 
so stark aufgeregt ist, dass er die Reinheit der Funktion 
des Intellekts aufhebt, er sei entrüstet: denn die rich- 
tige Erkenntniss der Umstände und Verhältnisse ist 
unsere Wehr und Waffe im Kampf mit den Dingen 
und den Menschen. In diesem Sinne sagt Balthazar 
Gracian: es la passion enemiga declarada de la cor- 
dura (die Leidenschaft ist der erklärte Feind der Klug- 
heit). — W^äre nun der Intellekt nicht etwas vom 
Willen völlig Verschiedenes, sondern, wie man es 
bisher ansah, Erkennen und Wollen in der Wurzel 
Eins und gleich ursprüngliche Funktionen eines 
schlechthin einfachen Wesens; so müsste mit der 
Aufregung und Steigerung des Willens, darin der 
Affekt besteht, auch der Intellekt mit gesteigert wer- 
den : allein er wird, wie wir gesehen haben, vielmehr 
dadurch gehindert und deprimirt, weshalb die Alten 
den Affekt animi perturbatio nannten. Wirklich gleicht 
der Intellekt der Spiegelfläche des Wassers, dieses 
selbst aber dem Willen, dessen Erschütterung daher 
die Reinheit jenes Spiegels und die Deutlichkeit seiner 
Bilder sogleich aufhebt. Der Organismus ist der Wille 
271 
selbst, ist verkörperter, d. h. objektiv im Gebirn an- 
gescbauter fVille: deshalb werden durch die freudigen 
und überhaupt die rüstigen Affekte manche seiner 
Funktionen, wie Respiration, Blutumlauf, Gallenab- 
sonderung, Muskelkraft, erhöht und beschleunigt. 
Der Intellekt hingegen ist die blosse Funktion des 
Gehirns, welches vom Organismus nur parasitisch 
genährt und getragen wird: deshalb miiss jede Per- 
turbation des Willens, und mit ihm des Organismus, 
die für sich bestehende und keine andern Bedürfnisse, 
als nur die der Ruhe und Nahrung kennende Funktion 
des Gehirnes stören oder lähmen. 
Dieser störende Einfluss der Thätigkeit des Willens 
auf den Intellekt ist aber nicht allein in den durch 
die Affekle herbeigeführten Perturbationen nachzu- 
weisen, sondern ebenfalls in manchen andern, allmä- 
ligeren und daher anhaltenderen Verfälschungen des 
Denkens durch unsere Neigungen. Die Hoffnung lässt 
uns was wir wünschen, die Furcht was wir besorgen, 
als wahrscheinlich und nahe erblicken und beide ver- 
grössern ihren Gegenstand. Pinto (nach Aelian, V. H., 
1 3, 28) hat sehr schön die Hoßfnung den Traum des 
Wachenden genannt. Ihr Wesen liegt darin, dass der 
Wille seinen Diener, den Intellekt, wann dieser nicht 
vermag das Gewünschte herbeizuschaffen, nöthigt, es 
ihm wenigstens vorziunalen, überhaupt die Rolle des 
Trösters zu übernehmen, seinen Herrn, wie die Amme 
das Kind, mit Mährchen zu beschwichtigen und diese 
aufzustutzen, dass sie Schein gewinnen; wobei nun 
der Intellekt seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit 
gerichtet ist, Gewalt anthun muss, indem er sich 
zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, 
oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zu- 
wider, für wahr zu halten, um nur den unruhigen 
und unbändigen Willen auf eine Weile zu beschwich- 
tigen, zu beruhigen und einzuschläfern. Hier sieht 
man deutlich, wer Herr und wer Diener ist. — W^ohl 
Manche mögen die Beobachtung gemacht haben, dass 
wenn eine für sie wichtige Angelegenheit mehrere 
Entwickelungen zulässt, und sie nun diese alle, in ein, 
ihrer Meinung nach, vollständiges disjunktives ürtheil 
111 
fi^ebracht haben, dennoch der AusganjO ein ganz anderer 
und ihnen völhg unerwarteter wird: aber vielleicht 
werden sie nicht darauf geachtet haben, dass dieser 
dann fast immer der für sie ungünstigste war. Dies 
ist daraus zu erklären, dass, während ihr Intellekt die 
Möglichkeiten vollständig zu überschauen vermeinte, 
die schlimmste von allen ihm ganz unsichtbar blieb; 
weil der Wille sie gleichsam mit der Hand verdeckt 
hielt, d. h. den Intellekt so bemeisterte, dass er auf 
den allerschlimmsten Fall zu blicken gar nicht fähig 
war, obwohl dieser, da er wirklich wurde, auch wohl 
der wahrscheinlichste gewesen. Jedoch in entschieden 
melancholischen, oder aber durch diese nämliche Er- 
fahrung gewitzigten Gemüthern kehrt sich der Her- 
gang wohl auch um, indem hier die Besorgniss die 
Rolle spielt, welche dort die Hoffnung. Der erste 
Schein einer Gefahr versetzt sie in grundlose Angst. 
Fängt der Intellekt an, die Sachen zu untersuchen; 
so wird er als inkompetent, ja als trügerischer Sophist 
abgewiesen, weil dem Herzen zu glauben sei, dessen 
Zagen jetzt geradezu als Argument für die Realität 
und Grösse der Gefahr geltend gemacht wird. So darf 
dann der Intellekt die guten Gegengründe gar nicht 
suchen, welche er, sich selber überlassen, bald er- 
kennen würde; sondern wird genöthigt, sogleich den 
unglücklichsten Ausgang ihnen vorzustellen, wenn 
auch er selbst ihn kaum als möglich denken kann: 
Such as we know is false, yet dread in sooth, 
Because the worst is ever nearest truht*). 
(Byron, Lara. C. i .) 
Liebe und Hass verfälschen unser Urtheil gänzlich : 
an unsern Feinden sehen wir nichts, als Fehler, an 
unsern Lieblingen lauter Vorzüge, und selbst ihre Feh- 
ler scheinen uns liebenswürdig. Eine ähnliche geheime 
Macht übt unser Vortheil, welcher Art er auch sei, 
über unser Urtheil aus: was ihm gemäss ist, erscheint 
uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zuwider 
*) Etwas, das wir als falsch erkennen, dennoch ernstlich furch- 
ten; weil das Schlimmste stets der Wahrheit am nächsten liegt. 
i8 Schopenhauer II 2*^3 
läuft, stellt sich uns, im vollen fernst, als unjjerecht 
und abscheulich, oder zweckwidrif;^ und absurd dar. 
Daher so viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, 
der Nation, der Sekte, der Relijjion. Eine gefasste 
Hypothese {jieht uns Luchsaugen für alles sie Bestä- 
tigende, und macht uns blind für alles ihr Wider- 
vSpreehende. Was unserer Partei, unserm Plane, unserm 
Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können 
wir oft {jar nicht fassen und begreifen, während es 
allen Andern klar vorliegt: das jenen Günstige hin- 
gegen springt uns von ferne in die Augen. Was dem 
Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein. Manche 
Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und 
hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloss aus 
einer uns selber unbewussten Furcht, die Entdeckung 
machen zu können, dass wir so lange und so oft das 
Falsche geglaubt und behauptet haben. — So wird 
denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der 
Neigung bethört und bestochen. Sehr schön hat dies 
Bako von Veriilani ausgedrückt in den W^orten: In- 
tellectus Imninir, sicci non est; sed recipit infusionem a 
voluntate et affectibus: id quod generat ad quod vult 
scientias: quod enim mavult homo, id potius credit. 
Innumeris modis, iisque interdum imperceptibilibus, 
affectus intellectum imbuit et inficit (Org. nov., I, i4). 
Offenbar ist es auch Dieses, was allen neuen Grund- 
ansichten in den Wissenschaften und allen Wider- 
legungen sanktionirter Frrthümer entgegensteht: denn 
nicht leicht wird Einer die Richtigkeit Dessen ein- 
sehen, was ihn unglaublicher Gedankenlosigkeit über- 
führt. Hieraus allein ist es erklärlich, dass die so klaren 
und einfachen Wahrheiten der Goethe'schen Farben- 
lehre von den Physikern noch immer geleugnet wer- 
den; wodurch denn selbst Goethe hat erfahren müssen, 
einen wieviel schwereren Stand man hat, wenn man 
den Menschen Belehrung, als wenn man ihnen Un- 
terhaltung verheisst; daher es viel glücklicher ist, zum 
Poeten, als zum Philosophen geboren zu seyn. Je hart- 
näckiger nun aberandererseits ein Irrthum festgehalten 
wurde, desto beschämender wird nachher die Ueber- 
führung. Bei einem umgestossenen Svstem wie bei 
274 
einer geschlagenen Armee, ist der Klügste, wer zuerst 
davonläuft. 
Von jener geheimen und unmittelbaren Gewalt, 
welche der Wille über den Intellekt ausübt, ist ein 
kleinliches und lächerliches, aber frappantes Beispiel 
dieses, dass wir, bei Rechnungen, uns viel öfter zu 
unserm Vorteil als zu unserm Nachtheil verrechnen, 
und zwar ohne die mindeste unredliche Absicht, bloss 
durch den unbewussten Hang, unser Debet zu ver- 
kleinern und unser Credit zu vergrössern. 
Hieher gehört endlich noch die Thatbache, dass, bei 
einem zu ertheilenden Rath, die geringste Absicht des 
Berathers meistens seine auch noch so grosse Einsicht 
überwiegt; daher wir nicht annehmen dürfen, dass 
er aus dieser spreche, wo wir jene vermuthen. Wie 
wenig, selbst von sonst redlichen Leuten, vollkommene 
Aufrichtigkeit zu erwarten steht, sobald ihr Interesse 
irgendwie dabei im Spiel ist, können wir eben daran 
ermessen, dass wir so oft uns selbst belügen, wo Hoff- 
nung uns besticht, oder Furcht bethört, oder Argwohn 
uns quält, oder Eitelkeit uns schmeichelt, oder eine 
Hypothese uns verblendet, oder ein nahe liegender 
kleiner Zweck dem grösseren, aber entfernteren Ab- 
bruch thut: denn daran sehen wir den unmittelbaren 
und unbewussten nachtheiligen Einfluss des Willens 
auf die Erkenntniss. Demnach darf es uns nicht wun- 
dern, wenn, bei Fragen um Rath, der Wille des Be- 
fragten unmittelbar die Antwort diktirt, ehe die Frage 
auch nur bis zum Forum seines Urtheils durchdringen 
konnte. 
Nur mit Einem Worte will ich hier auf Dasjenige 
deuten, was im folgenden Buche ausführlich erörtert 
wird, dass nämlich die vollkommenste Erkenntniss, 
also die rein objektive, d. h. die geniale Auffassung 
der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen 
des Willens, dass, so lange sie anhält, sogar die Indi- 
vidualität aus dem Bewusstseyn verschwindet und der 
Mensch als reines Subjekt des Erkennens, welches das 
Korrelat der Idee ist, übrig bleibt. 
Der durch alle jene Phänomene belegte, störende 
Einfluss des Willens auf den Intellekt, und dagegen 
i8' 275 
die Zartheit und Hinfallifjkeit dieses, verinö{j^e deren 
er unfahifj wird, richtiff zu operiren, sobald der Wille 
irgendwie in Bewefjung geriith, giebt uns also einen 
abermali{;en Beweis davon, dass der Wille das Radi- 
kale unsers Wesens sei und mit ursprünglicher Ge- 
walt wirke, während der Intellekt, als ein Hinzuge- 
kommenes und vielfach Bedingtes, nur sekundär und 
bedingterweise wirken kann. 
Eine der dargelegten Störung und Trübung der 
Erkenntniss durch den Willen entsprechende, un- 
mittelbare Störung dieses durch jene giebt es nicht: 
ja, wir können uns von einer solchen nicht wohl einen 
Begriff machen. Dass falsch aufgefasste Motive den 
Willen irre leiten, wird Niemand dahin auslegen 
wollen; da dies ein Fehler des Intellekts in seiner eige- 
nen Funktion ist, der rein auf seinem Gebiete be- 
gangen wird, und der Einfluss desselben auf den Willen 
ein völlig mittelbarer ist. Scheinbarer wäre es, die 
Unschlüssig keit dahin zu ziehen, als bei welcher, durch 
den Widerstreit der Motive, die der Intellekt dem 
Willen vorhält, dieser in Stillstand geräth, also ge- 
hemmt ist. Allein bei näherer Betrachtung wird es 
sehr deutlich, dass die Ursache dieser Hemmung nicht 
in der Thätigkeit des Intellekts als solcher liegt, son- 
dern ganz allein in den durch dieselbe vermittelten 
äusseren Gegenständen, als welche dieses Mal zu dem 
hier betheiligten Willen gerade in dem Verhältniss 
stehen, dass sie ihn nach verschiedenen Richtungen 
mit ziemlich gleicher »Stärke ziehen: diese eigentliche 
Ursache wirkt bloss durch den Intellekt, als das Me- 
dium der Motive, hindurch; wiewohl freilich nur 
unter der Voraussetzung, dass er scharf genug sei, die 
Gegenstände und ihre vielfachen Beziehunjjen genau 
aufzufassen. Unentschlossenheit, als Charakterzug, ist 
eben sosehr durch Eigenschaften des W^illens, als des 
Intellekts bedingt. Aeusserst beschränkten Köpfen ist 
sie freilich nicht eigen; weil ihr schwacher Verstand 
sie theils nicht so vielfache Eigenschaften und Ver- 
hältnisse an den Dingen entdecken lässt, theils auch 
der Anstrengung des Nachdenkens und Grübelns über 
jene und demnächst über die muthmaasslichen Folgen 
276 
jedes Schrittes so wenig gewachsen ist, dass sie lieber 
nach dem ersten Eindrucke, oder nach irgend einer 
einfachen Verhaltungsregel, sich sofort entschliessen. 
Das Umgekehrte hievon findet Statt bei Leuten von be- 
deutendem Verstände: sobald daher bei diesen eine 
zarte Vorsorge für das eigene W^ohl, d. h. ein sehr 
empfindlicher Egoismus, der durchaus nicht zu kurz 
kommen und stets geborgen seyn will, hinzukommt; 
so führt dies eine gewisse Aengstlichkeit bei jedem 
Schritt und dadurch die Unentschlossenheit herbei. 
Diese Eigenschaft deutet also durchaus nicht auf 
Mangel an Verstand, wohl aber an Muth. Sehr emi- 
nente Köpfe jedoch übersehen die Verhältnisse und 
deren wahrscheinliche Entwickelungen mit solcher 
Schnelligkeit und Sicherheit, dass sie, wenn nur noch 
von einigem Muth unterstützt, dadurch diejenige 
rasche Entschlossenheit und Festigkeit erlangen, wel- 
che sie befähigt, eine bedeutende Rolle in den Welt- 
händeln zu spielen, falls Zeit und Umstände hiezu 
Gelegenheit bieten. 
Die einzige entschiedene, unmittelbare Hemmung 
und Störung, die der Wille vom Intellekt als solchem 
erleiden kann, möchte wohl die ganz exceptionelle 
seyn, welche die Folge einer abnorm überwiegenden 
Entwickelung des Intellekts, also derjenigen hohen Be- 
gabung ist, die man als Genie bezeichnet. Eine solche 
nämlich ist der Energie des Charakters und folglich 
derThatkraft entschieden hinderlich. Daher eben sind 
es nicht die eigentlich grossen Geister, welche die 
historischen Charaktere abgeben, indem sie, die Masse 
der Menschheit zu lenken und zu beherrschen fähig, 
die Welthändel durchkämpften; sondern hiezu taugen 
Leute von viel geringerer Kapacität des Geistes, aber 
grosser Festigkeit, Entschiedenheit und Beharrlichkeit 
des Willens, wie sie bei sehr hoher Intelligenz gar 
nicht bestehen kann; bei welcher demnach wirklich 
der Fall eintritt, dass der Intellekt den Willen direkt 
hemmt. 
6) Im Gegensatz der dargelegten Hindernisse und 
Hemmungen, welche der Intellekt vom Willen er- 
leidet, will ich jetzt an einigen Beispielen zeigen, wie, 
277 
auch uni{jekehrt, die Funktionen des Intellekts durch 
den Antrieb und Sporn des Willens bisweilen befördert 
und erhöht werden; damit wir auch hieran die pri- 
märe Natur des Einen vmd die sekundäre ddi Andern 
erkennen, und sichtbar werde, dass der Intellekt zum 
Willen im Verhältnisse eines Werkzeuges steht. 
Ein stark wirkendes Motiv, wie der sehnsüchtige 
Wunsch, die dringende Noth, steigert bisweilen den 
Intellekt zu einem Grade, dessen wir ihn vorher nie 
fähig geglaubt hatten. Schwierige Umstände, welche 
uns die Noth wendigkeit gewisser Leistungen auflegen, 
entwickeln ganz neue Talente in uns, deren Keime 
uns verborgen geblieben waren und zu denen wir uns 
keine Fähigkeit zutrauten. — Der Verstand des stum- 
pfesten Menschen wird scharf, wann es sehr ange- 
legene Objekte seines Wollens gilt: er merkt, beachtet 
und unterscheidet jetzt mit grosser Feinheit auch die 
kleinsten Umstände, welche auf sein Wünschen oder 
Fürchten Bezug haben. Dies trägt viel bei zu der oft 
mit Ueberraschung bemerkten Schlauheit der Dum- 
men. Eben deshalb sagt Jesaias mit Recht vexatio dat 
intellectum, welches daher auch sprichwörtlich ge- 
braucht wird: ihm verwandt ist das deutsche Sprich- 
wort „die Noth ist die Mutter der Künste", — wobei 
jedoch die schönen Künste auszunehmen sind; weil 
der Kern jedes ihrer Wei'ke, nämlich die Konception, 
aus einer völlig willenlosen und nur dadurch rein ob- 
jektiven Anschauung hervorgehen muss, wenn sie 
acht seyn sollen. — Selbst der Verstand der Thiere 
wird durch die Noth bedeutend gesteigert, so dass sie 
in schwierigen Fällen Dinge leisten, über die wir er- 
staunen: z. B. fast alle berechnen, dass es sicherer ist, 
nicht zu fliehen, wann sie sich ungesehen glauben: 
daher Hegt der Hase still in der Furche des Feldes 
und lässt den Jäger dicht an sich vorbeigehen ; Insek- 
ten, wenn sie nicht entrinnen können, stellen sich 
todt u. s. f. Genauer kann man diesen Einfluss kennen 
lernen durch die specielle Selbstbildungsgeschichte 
des Wolfes, unter dem Sporn der grossen Schwierig- 
keit seiner Stellung im civilisirten Europa: sie ist zu 
finden im zweiten Briefe des vortrefflichen Buches 
278 
von Leroy, Lettres sur rintellij^fence et la perfectibilite 
des aniniaux. Gleich darauf folgt, im dritten Briefe, 
die hohe Schule des Fuchses, welcher, in gleich 
schwieriger Lage, viel geringere Körperkräfte hat, die 
bei ihm durch grösseren Verstand ersetzt sind, der aber 
doch erst durch den beständigen Kampf mit der Noth 
einerseits und der Gefahr andererseits, also unter dem 
Sporn des Willens, den hohen Grad von Schlauheit 
erreicht, welcher ihn, besonders im Alter, auszeichnet. 
Bei allen diesen Steigerungen des Intellekts spielt der 
Wille die Rolle des Reiters, der durch den Sporn das 
Pferd über das natürliche Maass seiner Kräfte hinaus 
treibt. 
Eben so wird auch das Gedächtniss durch den Drang 
des Willens gesteigert. Selbst wenn es sonst schwach 
ist, bewahrt es vollkommen, was für die herrschende 
Leidenschaft Werth hat. Der Verliebte vergisst keine 
ihm günstige Gelegenheit, der Ehrgeizige keinen Um- 
stand, der zu seinen Plänen passt, der Geizige nie den 
erlittenen Verlust, der Stolze nie die erlittene Ehren- 
kränkung, der Eitele behält jedes Wort des Lobes und 
auch die kleinste ihm widerfahrene Auszeichnung. 
Auch dies erstreckt sich auf die Thiere : das Pferd 
bleibt vor dem Wirtshause stehen, in welchem es längst 
ein Mal gefüttert worden : Hunde haben ein treffliches 
Gedächtniss für alle Gelegenheiten, Zeiten und Orte, 
die gute Bissen abgeworfen haben; und Füchse für 
die verschiedenen Verstecke, in denen sie einen Raub 
niedergelegt haben. 
Zu feineren Bemerkungen in dieser Hinsicht giebt 
die Selbstbeobachtung Gelegenheit. Bisweilen ist mir, 
durch eine Störung, ganz entfallen, worüber ich 
soeben nachdachte, oder sogar, welche Nachricht 
es gewesen, die mir soeben zu Ohren gekommen war. 
Hatte nun die Sache irgendwie ein auch noch so ent- 
ferntes, persönliches Interesse; so ist von der Einwir- 
kung, die sie dadurch auf den Willen hatte, der Nach- 
klang geblieben : ich bin mir nämlich noch genau be- 
wusst, wie weit sie mich angenehm, oder unangenehm 
afFizirte, und auch aufweiche specielle Weise dies ge- 
schah, nämlich ob sie, wenn auch in schwachem Grade, 
mich krankte, oder än{^.sti(jte, oder erbitterte, oder be- 
trübte, oder al)cr die diesen entjjegengesetzten AfFektio- 
nen hervorrief. Also bloss die Beziehung der Sache auf 
meinen Willen hat sich, nachdem sie selbst mir ent- 
schwunden ist, im Gedächtniss erhalten, und oft wird 
diese nun wieder der Leitfaden, um auf die Sache 
selbst zurückzukommen. Auf analoge Art wirkt bis- 
weilen auf uns der Anblick eines Menschen, indem 
Avir uns nur im Allgemeinen erinnern, mit ihm zu 
thun gehabt zu haben, ohne jedoch zu wissen, wo, 
wann und was es gewesen, noch wer er sei ; hingegen 
ruft sein Anblick noch ziemlich genau die Empfindung 
zurück, welche ehemals seine Angelegenheit in uns 
erregt hat, nämlich ob sie unangenehm oder angenehm, 
auch in welchem Grad und in welcher Art sie es ge- 
wesen: also bloss den Anklang des Willens hat das 
Gedächtniss aufbewahrt, nicht aber Das, was ihn her- 
vorrief. Man könnte Das, was diesem Hergange zum 
Grunde liegt, das Gedächtniss des Herzens nennen: 
dasselbe ist viel intimer, als das des Kopfes. Im Grunde 
jedoch geht es mit dem Zusanunenhange Beider so 
weit, dass, wenn man der Sache tief nachdenkt, man 
zu dem Ergebniss gelangen wird, dass das Gedächt- 
niss überhaupt der Unterlage eines Willens bedarf, 
als eines Anknüpfungspunktes, oder vielmehr eines 
Fadens, auf welchen sich die Erinnerungen reihen, 
und der sie fest zusammenhält, oder dass der Wille 
gleichsam der Grund ist, auf welchem die einzelnen 
Erinnerungen kleben, und ohne den sie nicht haften 
könnten; und dass daher an einer reinen Intelligenz, 
d. h. au einem bloss erkennenden und ganz willen- 
losen Wesen, sich ein Gedächtniss nicht wohl denken 
lässt. Demnach ist die oben dargelegte Steigerung 
des Gedächtnisses durch den Sporn der herrschenden 
Leidenschaft nur der höhere Grad Dessen, was bei 
allem Behalten und Erinnern Statt findet; indem 
dessen Basis und Bedingung stets der W^ille ist — Also 
auch an allem Diesen wird sichtbar, wie sehr viel 
innerlicher uns der Wille ist, als der Intellekt. Dies zu 
bestätigen können auch noch folgende Thatsachen 
dienen. 
280 
Der Intellekt gehorcht oft dem Willen : z. B. wenn 
wir uns auf etwas besinnen wollen, und dies nach 
einiger Anstrengung gelingt: — eben so, wenn wir 
jetzt etwas genau und bedächtig überlegen wollen, 
u. dgl. m. Bisweilen wieder versagt der Intellekt dem 
Willen den Gehorsam, z. B. wenn wir vergebens uns 
auf etwas zu flxiren streben, oder wenn wir vom Ge- 
dächtniss etwas ihm Anvertrautes vergeblich zurück- 
fordern: den Zorn des Willens gegen den Intellekt, 
bei solchen Anlässen, macht sein Verhältniss zu diesem 
und die Verschiedenheit Beider sehr kenntlich. Sogar 
bringt der durch diesen Zorn gequälte Intellekt das 
von ihm Verlangte bisweilen nach Stunden, oder gar 
am folgenden Morgen, ganz unerwartet und zur Un- 
zeit, diensteifrij; nach. — Hingegen gehorcht eigent- 
lich nie der Wille dem Intellekt; sondern dieser ist 
bloss der Ministerrath jenes Souverains: er legt ihm al- 
lerlei vor, wonach dieser erwählt, was seinem Wesen 
gemäss ist, wiewohl sich dabei mit Nothwendigkeit 
bestimmend ; weil dies Wesen unveränderlich fest steht 
und die Motive jetzt vorliegen. Darum eben ist keine 
Ethik möglich, die den Willen selbst modelte und 
besserte. Denn jede Lehre wirkt bloss auf die fr/iennf- 
niss: diese aber bestimmt nie den W^illen selbst, d. h. 
den Gymnd-Charakter des Wollens, sondern bloss des- 
sen Anwendung auf die vorliegenden Umstände. Eine 
berichtigte Erkenntniss kann das Handeln nur in so 
weit modifiziren, als sie die dem Willen zugänglichen 
Objekte seiner Wahl genauer nachweist und richtiger 
beurtheilen lässt; wodurch er nunmehr sein Verhält- 
niss zu den Dingen richtiger ermisst, deutlicher sieht, 
was er will, und demzufolge dem Irrthum bei der 
Wahl weniger unterworfen ist. Aber über das Wollen 
selbst, über die Hauptrichtung, oder die Grundmaxime 
desselben hat der Intellekt keine Macht. Zu glauben, 
dass die Erkenntniss wirklich und von Grund aus den 
Willen bestimme, ist wie glauben, dass die Laterne, 
die Einer bei Nacht trägt, das primum mobile seiner 
Schritte sei. — Wer, durch Erfahrung oder fremde 
Ermahnung belehrt, einen Grundfehler seines Charak- 
ters erkennt und beklagt, fasst wohl den festen und 
2ÖI 
redlichen Vorsatz, sich zu bessern und ihn abzulegen: 
trotz Dem aber erhält, bei nächster Gelejjenheit, der 
Fehler freien Lauf. Neue Reue, neuer Vorsatz, neues 
Vergehen. Wann dies einige Male so durchgemacht 
ist, wird er inne, dass er sich nicht bessern kann, dass 
der Fehler in seiner Natur und Persönlichkeit liegt, 
ja mit dieser Eins ist. Jetzt wird er seine Natur und 
Persönlichkeit missbilligen und verdammen, ein 
schmerzliches Gefühl haben, welches bis zur Gewis- 
senspein steigen kann: aber jene zu ändern vermag er 
nicht. Hier sehen wir Das, was verdammt, und Das, 
was verdammt wird, deutlich auseinandertreten: wir 
sehen Jenes, als ein bloss theoretisches Vermögen, den 
zu lobenden und daher wünschenswerthen Lebens- 
wandel vorzeichnen und aufstellen ; das Andere aber, 
als ein Reales und unabänderlich Vorhandenes, Jenem 
zum Trotz, einen ganz andern Gang gehen; und dann 
wieder das Erste mit ohnmächtigen Klagen über die 
Beschaffenheit des Andern zurückbleiben, mit welchem 
es sich durch eben diese Betrübniss wieder identifizirt. 
Wille und Intellekt treten hier sehr deutlich ausein- 
ander. Dabei zeigt sich der Wille als das Stärkere, Un- 
bezwingbare, Unveränderliche, Primitive, und zugleich 
auch als das Wesentliche, darauf es ankommt; indem 
der Intellekt die Fehler desselben bejanmiert und 
keinen Trost findet an der Richtigkeit der Erkenntniss, 
als seiner eigenen Funktion. Dieser zeigt sich also als 
ganz sekundär, nämlich theils als Zuschauer fremder 
Thaten, die er mit ohnmächtigem Lobe imd Tadel 
begleitet, und theils als von aussen bestimmbar, in- 
dem er, durch die Erfahrung belehrt, seine Vorschrif- 
ten abfasst und ändert. Specielle Erläuterungen dieses 
Gegenstandes findet man in den Parergis, Bd. 2, §. 1 18. 
— Demgemäss wird auch, bei der Vergleichung un- 
serer Denkungsart in verschiedenen Lebensaltern, sich 
uns ein sonderbares Gemisch von Beharrlichkeit und 
Veränderlichkeit darbieten. Einerseits ist die morali- 
sche Tendenz des Mannes und Greises noch die selbe, 
welche die des Knaben war: andererseits ist ihm Vie- 
les so entfremdet, dass er sich nicht mehr kennt und 
sich wundert, wie er einst Dieses und Jenes thuu oder 
282 
sagen gekonnt. Inder ersten Lebenshälfte lacht meistens 
das Heute über das Gestern, ja sieht wohl gar ver- 
ächtlich darauf hinab; in der zweiten hingegen mehr 
und mehr mit Neid darauf zurück. Bei näherer Unter- 
suchung aber wii'd man finden, dass das Veränderliche 
der Intellekt war, mit seinen Funktionen der Einsicht 
und Erkenntniss, als welche, täglich neuen Stoff von 
aussen sich aneignend, ein stets verändertes Gedanken- 
system darstellen; während zudem auch er selbst, mit 
dem Aufblühen und Welken des Organismus, steigt 
und sinkt. iVls das Unabänderliche im Bewusstseyn 
hingegen weist sich gerade die Basis desselben aus, 
der Wille, also die Neigungen, Leidenschaften, Affekte, 
der Charakter; wobei jedoch die Modifikationen in 
Rechnung zu bringen sind, welche von den körper- 
lichen Fähigkeiten zum Genüsse und hiedurch vom 
Alter abhängen. So z. B. wird die Gier nach sinnlichem 
Genuss im Knabenalter als Naschhaftigkeit auftreten, 
im Jünglings- und Mannesalter als Hang zur Wollust, 
und im Greisenalter wieder als Naschhaftigkeit. 
7) Wenn der allgemeinen Annahme gemäss, der 
Wille aus der Erkenntniss hervorginge, als ihr Resul- 
tat oder Produkt; so müsste, wo viel W^ille ist, auch 
viel Erkenntniss, Einsicht, Verstand seyn. Dem ist 
aber ganz und gar nicht so: vielmehr finden wir, in 
vielen Menschen, einen starken, d. h. entschiedenen, 
entschlossenen, beharrlichen, unbiegsamen, eigensin- 
nigen und heftigen Willen, verbunden mit einem sehr 
schwachen und unfähigen Verstände; wodurch eben 
wer mit ihnen zu thun hat zur Verzweiflung gebracht 
wird, indem ihr Wille allen Gründen und Vorstel- 
lungen unzugänglich bleibt und ibm nicht beizukom- 
men ist; so dass er gleichsam in einem Sack steckt, von 
wo aus er blindlings will. Die Thiere haben, bei oft 
heftigem, oft starrsinnigem Willen, noch viel weniger 
Verstand; die Pflanzen endlich blossen Willen ohne 
alle Erkenntniss. 
Entspränge das Wollen bloss aus der Erkenntniss; 
so müsste unser Zorn seinem jedesmaligen Anlass, 
oder wenigstens unserm Verständniss desselben, genau 
angemessen seyn; indem auch er nichts weiter, als 
283 
das Resultat der {gegenwärtigen Erkenntniss wäre. 
So fällt es aber sehr selten aus: vielmehr geht der Zorn 
meistens weit über den Anlass hinaus. Unser Wüthen 
und Rasen, der furor brevis, oft bei geringen Anlässen 
und ohne Irrlhum hinsichtlich derselben, gleicht dem 
Toben eines bösen Dämons, welcher, eingesperrt, nur 
auf die Gelegenheit wartete, losbrechen zu dürfen, 
und nun jubelt, sie gefunden zu haben. Dem könnte 
nicht so seyn, wenn der Grund unsers Wesens ein 
Erkennendes und das Wollen ein blosses Resultat der 
Erkenntniss wäre: denn wie käme in das Resultat, was 
nicht in den Elementen desselben lag? Kann doch die 
Konklusion nicht mehr enthalten, als die Prämissen. 
Der Wille zeigt sich also auch hier als ein von der 
Erkenntniss ganz verschiedenes Wesen, welches sich 
ihrer nur zur Kommunikation mit der Aussenwelt 
bedient, dann aber den Gesetzen seiner eigenen Natur 
folgt, ohne von jener mehr als den Anlass zu nehmen. 
Der Intellekt, als blosses Werkzeug des Willens, ist 
von ihm so verschieden, wie der Hammer vom Schmid. 
So lange, bei einer Unterredung, der Intellekt allein 
thätig ist, bleibt solche kalt. Es ist fast als wäre der 
Mensch selbst nicht dabei. Auch kann er dann sich 
eigentlich nicht kompromittiren, sondern höchstens 
blamiren. Erst wann der Wille ins Spiel kommt, ist 
der Mensch wirklich dabei: jetzt wird er warm, ja, 
es geht oft heiss her. Immer ist es der Wille, dem 
man die Lebenswärme zuschreibt: hingegen sagt 
man der kalte Verstand, oder eine Sache kalt unter- 
suchen, d. h. ohne Einfluss des Willens denken. — 
Versucht man das Verhältniss umzukehren und den 
Willen als Werkzeug des Intellekts zu betrachten; so 
ist es, als machte man den Schmid zumW^erkzeug des 
Hammers. 
Nichts ist verdriesslicher, als wenn man, mit Grün- 
den und Auseinandersetzungen gegen einen Menschen 
streitend, sich alle Mühe giebt, ihn zu überzeugen, in 
der Meinung, es bloss mit seinem Ferstande zu thun 
zu haben, — und nun endlich entdeckt, dass er nicht 
verstehen will; dass man also es mit seinem Willen 
zu thun hatte, welcher sich der Wahrheit verschliesst 
284 
und muthwillig Missverständnisse, Schikanen und 
Sophismen ins Feld stellt, sich hinter seinem Ver- 
stände und dessen vorgeblichem Nichteinsehen ver- 
schanzend. Da ist ihm freilich so nicht beizukommen: 
denn Gründe und Beweise^ 9^9^^^ ^^" Willen angewandt, 
sind wie die Stösse eines Hohlspiegelphantoms gegen 
einen festen Körper. Daher auch der so oft wieder- 
holte Ausspruch: Stat pro ratione voluntas. — Belege 
zu dem Gesagten liefert das gemeine Leben zur Ge- 
nüge. Aber auch auf dem Wege der Wissenschaf- 
ten sind sie leider zu finden. Die Anerkennung 
der wichtigsten Wahrheiten, der seltensten Leistun- 
gen, wird man vergeblich von Denen erwarten, die 
ein Interesse haben, sie nicht gelten zu lassen, wel- 
ches nun entweder daraus entspringt, dass solche Dem 
widersprechen, was sie selbst täglich lehren, oder 
daraus, dass sie es nicht benutzen und nachlehren 
dürfen, oder, wenn auch dies Alles nicht, schon weil 
allezeit die Losung der Mediokren seyn wird: Si quel- 
qu'un excelle parmi nous, qu'il aille exceller ailleurs; 
wie Helvetius den Ausspruch der Epheser, in Cicero \s 
fünftem Tuskulanischen Buche (c. 36), allerliebst wie- 
dergegeben hat; oder, wie ein Spruch des Abyssiuiers 
Fit Araii es giebt : „Der Demant ist unter den Quarzen 
verfehmt". Wer also von dieser stets zahlreichen 
Schaar eine gerechte Würdigung seiner Leistungen 
erwartet, wird sich sehr getäuscht finden und vielleicht 
ihr Betragen eine Weile gar nicht begreifen können; 
bis auch er endlich dahinterkommt, dass, während 
er sich an die Erkenntniss wendete, er es mit dem 
Willen zu thun hatte, also ganz in dem oben beschrie- 
benen Fall sich befindet, ja, eigentlich Dem gleicht, 
der seine Sache vor einem Gerichte führt, dessen 
Beisitzer sämmtlich bestochen sind. In einzelnen 
Fällen jedoch wird er davon, dass ihr Wille^ nicht 
ihre Einsicht, ihm entgegenstand, sogar den vollgül- 
tigsten Beweis erhalten; wenn nämlich Einer und der 
Andere von ihnen sich zum Plagiat entschliesst. Da 
wird er mit Erstaunen sehen, wie feine Kenner sie sind, 
welchen richtigen Takt sie für fremdes Verdienst ha- 
ben und wie trejffend sie das Beste herauszufinden 
285 
wissen; den Sperlinjjen gleich, welche die reifsten 
Kirschen nicht verfehlen. — 
Das Widerspiel des hier dargestellten siegreichen 
Widerstrebens des Willens gegen die Erkenn tniss 
tritt ein, wenn man, bei der Darlegung seiner Grün- 
de und Beweise, den Willen der Angeredeten für sich 
hat: da ist Alles gleich überzeugt, da sind alle Argu- 
mente schlagend und die Sache ist sofort klar, wie 
der Tag. Das wissen die Volksredner. — Im einen, 
wie im andern Fall, zeigt sich der Wille als das Ur- 
kräfiige, gegen welches der Intellekt nichts vermag. 
8) Jetzt aber wollen wir dieindividuellen Eigenschaf- 
ten, also Vorzüge und Fehler, einerseits des Willens und 
Charakters, andererseits des Intellekts, in Betrachtung 
nehmen, um auch an ihrem Verhältniss zu einander 
und an ihrem relativen Werth die gänzliche Ver- 
schiedenheit beider Grundvermögen deutlich zu ma- 
chen. Geschichte und Erfahrung lehren, dass Beide 
völlig unabhängig von einander auftreten. Dass die 
grösste Trefflichkeit des Kopfes mit einer gleichen 
des Charakters nicht leicht im Verein gefunden wird, 
erklärt sich genugsam aus der unaussprechlich gros- 
sen Seltenheit Beider; während ihre Gegen theile durch- 
gängig an der Tagesordnung sind: daher man diese 
auch täglich im Verein antrifft. Inzwischen schliesst 
man nie von einem vorzüglichen Kopf auf einen gu- 
ten Willen, noch von diesem auf jenen, noch vom 
Gegentheil auf das Gegentheil : sondern jeder Unbe- 
fangene nimmt sie als völlig gesonderte Eigenschaften, 
deren Vorhandenseyn jedes für sich, durch Erfahrung 
auszumachen ist. Grosse Beschränktheit des Kopfes 
kann mit grosser Güte des Herzens zusammenbestehen, 
und ich glaube nicht, dass Balthazar Gracian (Discre- 
to, p. 4oö) Recht hat zu sagen: No ay simple, que no 
sea malicioso (Es giebt keinen Tropf, der nicht bos- 
haft wäre), obwohl er das spanische Sprichwort: Nun- 
ca la necedad anduvo sin malicia (Nie geht die Dumm- 
heit ohne die Bosheit), für sich hat. Jedoch mag es 
seyn, dass manche Dumme, aus dem selben Grunde 
wie manche Bucklichte, boshaft werden, nämlich aus 
Erbitterung über die von der Natur erlittene Zurück- 
286 
Setzung und indem sie gelegentlich was ihnen an Ver- 
Stande abgeht durch Heimtücke zu ersetzen vermei- 
nen, darin einen kurzen Triumph suchend. Hieraus 
wird beiläufig auch begreiflich, warum einem sehr 
überlegenen Kopfe gegenüber, fast Jeder leicht bos- 
haft wird. Andererseits wieder stehen die Dummen 
sehr oft im Ruf besonderer Herzensgüte, der sich je- 
doch so selten bestätigt, dass ich mich habe wundern 
müssen, wie sie ihn erlangten, bis ich den Schlüssel 
dazu in Folgendem gefunden zu haben mir schmei- 
cheln durfte. Jeder wählt, durch einen geheimen Zug 
bewogen, zu seinem nähern Umgange am liebsten 
Jemanden, dem er an Verstände ein wenig überlegen 
ist: denn nur bei diesem fühlt er sich behaglich, weil, 
nach Hohbes, omnis animi voluptas, omnisque alacri- 
tas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum con- 
ferens se, possit magnifice sentire de se ipso (de Cive, 
I, 5.) Aus dem selben Grunde flieht Jeder Den, der 
ihm überlegen ist; weshalb Lichtenberg ganz richtig 
bemerkt: „Gewissen Menschen ist ein Mann von 
Kopf ein fataleres Geschöpf, als der deklarirteste 
Schurke": dem entsprechend sagst Helvetius: Les 
gens mediocres ont un instinct sür et prompt, pour 
connaitre et fuir les gens d'esprit; und Dr. Johnson 
versichert uns, dass there is nothing by which a man 
exasperates most people more, than by displaying a 
superior ability of brilliancy in conversation. They 
seem pleased at the time; but their envy makes them 
curse him at their hearts*) (Boswell; aet anno 74). 
Um diese so allgemein und sorgfältig verhehlte Wahr- 
heit noch schonungsloser an das Licht zu ziehen, füge 
ich Mercks, des berühmten Jugendfreundes Goethe\s, 
Ausdruck derselben hinzu, aus seiner Erzählung Lin- 
dor: „Er besass Talente, die ihm die Natur gegeben 
und die er sich durch Kenntnisse erworben hatte, und 
diese brachten zuwege, dass er in den meisten Gesell- 
) Durch nichts erbittert Einer die meisten Menschen mehr, 
als dadurch, dass er seine üeberlegenheit in der Konversation 
zu {glänzen an den Tag legt. Für den Augenblick scheinen sie 
Wohlgefallen daran zu haben: aber in ihrem Herzen verflu 
chen sie ihn, aus Neid. 
28 
7 
Schäften die werthen Anwesenden weit hinter sich 
Hess. Wenn das PubUkuin, in dem Moment von Au- 
genweide an einem ausserordenthchen Menschen, diese 
Vorzüge auch hinunterschhickt, ohne sie gerade so- 
gleich arg auszulegen; so bleibt doch ein gewisser 
Eindruck von dieser Erscheinung zurück, der, wenn 
er oft wiederholt wird, für Denjenigen, der daran 
Schuld ist, bei ernsthaften Gelegenheiten künftig un- 
angenehme Folgen haben kann. Ohne dass sich es 
Jeder mit Bewusstseyn hinters Ohr schreibt, dass er 
dies Mal beleidigt war, so stellt er sich doch bei einer 
Beförderung dieses Menschen, nicht ungern stummer 
Weise in den Wejj."- — Dieserhalbalso isolirt grosse gei- 
stige Ueberlegenheit mehr, als alles Andere, und macht, 
wenigstens im Stillen, verhasst. Das Gegentheil nun ist 
es, was die Dummen so allgemein beliebt macht; 
zumal da mancher nur bei ihnen finden kann, was 
er nach dem oben erwähnten Gesetze seiner Natur, 
suchen muss. Diesen wahren Grund einer solchen 
Zuneigung wird jedoch Keiner sich selber, geschwei- 
ge Andern gestehen, und wird daher, als plausibeln 
Vorwand für dieselbe, seinem Auserwählten eine be- 
sondere Herzensgüte andichten, die, wie gesagt, höchst 
selten und nur zufällig ein Mal neben der geistigen 
Beschränktheit wirklich vorhanden ist. — - Der Un- 
verstand ist demnach keineswegs der Güte des Cha- 
rakters günstig oder verwandt. Aber andererseits 
lässt sich nicht behaupten, dass der grosse Verstand 
dies sei: vielmehr ist ohne einen solchen noch kein 
Bösewicht im Grossen gewesen. Ja sogar die höchste 
intellektuelle Eminenz kann zusammenbestehen mit 
der ärgsten moralischen Verworfenheit. Ein Beispiel 
hievon gab Bako v. Feridam: undankbar, herrsch- 
süchtig, boshaft und niederträchtig, gieng er endlich 
so weit, dass er, als Lord Grosskanzler und höchster 
Richter des Reichs, sich bei Civilprocessen oft beste- 
chen Hess: angeklagt vor seinen Pairs bekannte er 
sich schuldig, wurde von ihnen ausjjestossen aus dem 
Hause der Lords und zu vierzigtausend Pfund Strafe, 
nebst Einsperrung in den Tower verurlheilt. (Siehe 
die Recension der neuen Ausgabe der Werke Bako's 
288 
in der Edinburgh Review, August iSSy.) Deshalb 
nennt ihn auch Pope the wisest, brightest, mea- 
nest of mankind*). Essay on man, IV, 282. Ein ähn- 
liches Beispiel Hefert der Historiker Guicciardini, von 
welchem Rosini, in den, seinem Geschichtsroman 
Luisa Strozzi beigegebenen, aus guten, gleichzeitigen 
Quellen geschöpften Notizie storiche sagt: Da coloro, 
che pongono l'ingegno e il sapere al di sopra di tutte 
le umane qualitä, questo uomo sarä riguardato come 
fra i piii grandi del suo secolo: ma da quelli, che re- 
putano la virtvi dovere andare innanzi a tutto, non 
potra esecrarsi abbastanza la sua memoria. Esso fu il 
piü crudele fra i cittadini a perseguitare, uccidere e 
confinare etc**). 
Wenn nun von einem Menschen gesagt wird: „er 
hat ein gutes Herz, wiewohl einen schlechten Kopf"; 
von einem andern aber: „er hat einen sehr guten 
Kopf, jedoch ein schlechtes Herz"; so fühlt Jeder, 
dass beim Ersteren das Lob den Tadel weit überwiegt; 
beim Andern umgekehrt. Dem entsprechend sehen 
wir, wenn Jemand eine schlechte Handlung begangen 
hat, seine Freunde und ihn selbst bemüht, die Schuld 
vom Willen auf den Intellekt zu wälzen und Fehler 
des Herzens für Fehler des Kopfes auszugeben ; schlech- 
te Streiche werden sie Fe}-irrungen nennen, werden 
sagen, es sei blosser Unverstand gewesen, Unüberlegt- 
heit, Leichtsinn, Thorheit; ja, sie werden zur Noth 
Paroxysmus, momentane Geistesstörung und, wenn 
es ein schweres Verbrechen betrifft, sogar Wahnsinn 
vorschützen, um nur den fVillen von der Schuld zu 
befreien. Und eben so wir selbst, wenn wir einen Un- 
fall oder Schaden verursacht haben, werden, vor An- 
dern und vor uns selbst, sehr gern unsere stultitia 
*) Den weisesten,glänzentlesten, niederträchtigsten derMenschen. 
'*) Von Denen, welche Geist und Gelehrsamkeit über alle an- 
dern menschlichen Eigenschaften stellen, wird dieser Mann 
den grossesten seines Jahrhunderts beigezählt werden : aber 
von Denen, welche die Tugend allem Andern vorgehen lassen, 
wird sein Andenken nie genug verflucht werden können. Er 
war der grausamste unter den Bürgern, im Verfolgen, Tödten 
und Verbannen. 
19 Schopenhauer II 289 
anklagen, um nur dem Vorwurf der malitia auszu- 
weichen. Dem entsprechend ist, bei gleich ungerech- 
tem Unheil des Richters, der Unterschied, ob er ge- 
irrt habe, oder bestochen gewesen sei, so himmelweit. 
Alles Dieses bezeugt genugsam, dass der Wille allein 
das Wirkliche und das Wesentliche, der Kern des 
Menschen ist, der Intellekt aber bloss sein Werkzeug, 
welches immerhin fehlerhaft seyn mag, ohne dass er 
dabei betheiligt wäre. Die Anklage des Unverstandes 
ist, vor dem moralischen Richterstuhle, ganz und gar 
keine; vielmehr giebt sie hier sogar Privilegien. Und 
eben so vor den weltlichen Gerichten ist es, um einen 
Verbrecher von aller Strafe zu befreien, überall hin- 
reichend, dass man die Schuld von seinem Willen auf 
seinen Intellekt wälze, indem man entweder unver- 
meidlichen Irrthum, oder Geistesstörung nachweist: 
denn da hat es nicht mehr auf sich, als wenn Hand 
oder Fuss wider Willen ausgeglitten wären. Dies 
habe ich ausführlich erörtert in dem meiner Preis- 
schrift über die Freiheit des Willens beigegebenen 
Anhang „über die intellektuale Freiheit", wohin ich, 
um mich nicht zu wiederholen, hier verweise. 
Ueberall berufen sich Die, welche irgend eine Lei- 
stung zu Tage fördern, im Fall solche ungenügend 
ausfällt, auf ihren guten Willen, an dem es nicht ge- 
fehlt habe. Hiedurch glauben sie das Wesentliche, 
das, wofür sie eigentlich verantwortlich sind, und 
ihr eigentliches Selbst sicher zu stellen : das Unzurei- 
reichende der Fähigkeiten hingegen sehen sie an als 
den Mangel an einem tauglichen Werkzeug. 
Ist Einer dumm, so entschuldigt man ihn damit, 
dass er nicht dafür kann: aber wollte man Den, der 
schlecht ist, eben damit entschuldigen ; so würde man 
ausgelacht werden. Und doch ist das Eine, wie das 
Andere angeboren. Dies beweist, dass der Wille der 
eigentliche Mensch ist, der Intellekt bloss sein Werk- 
zeug. 
Immer also ist es nur unser fVollen was als von 
uns abhängig, d. h. als Aeusscrung unsers eigentli- 
chen W^esens betrachtet wird und wofür man uns 
daher verantwortlich macht. Dieserhalb eben ist es 
290 
absurd und ungerecht, wenn man uns für unsern 
Glauben, also für unsere Erkenntniss, zur Rede stel- 
len will: denn wir sind genötbigt diese, obschon sie 
in uns waltet, anzusehen als etwas, das so wenig in 
unserer Gewalt steht, wie die Vorgänge der Aussen- 
welt. Auch hieran also wird deutUch, dass der Wille 
allein das Innere und Eigene des Menschen ist, der 
Intellekt hingegen, mit seinen, gesetzmässig wie die 
Aussenwelt vor sich gehenden Operationen, zu jenem 
sich als ein Aeusseres, ein blosses Werkzeug verhält. 
Hohe Geistesgaben hat man allezeit angesehen als 
ein Geschenk der Natur, oder der Götter: ebendeshalb 
hat man sie Gaben, Begabung, ingenii dotes, gifts (a 
man highly gifted) genannt, sie betrachtend als etwas 
vom Menschen selbst Verschiedenes, ihm durch Be- 
günstigung Zugefallenes. Nie hingegen hat man es 
mit den moralischen Vorzügen, obwohl auch sie an- 
geboren sind, eben so genommen: vielmehr hat man 
diese stets angesehen als etwas vom Menschen selbst 
Ausgehendes, ihm wesentlich Angehöriges, ja, sein 
eigenes Selbst Ausmachendes. Hieraus nun folgt aber- 
mals, dass der Wille das eigentliche Wesen des Men- 
schen ist. der Intellekt hingegen sekundär, ein Werk- 
zeug, eine Ausstattung. 
Diesem entsprechend verheissen alle Religionen 
für die Vorzüge des Willens, oder Herzens, einen Lohn 
jenseit des Lebens, in der Ewigkeit ; keine aber für 
die Vorzüge des Kopfes, des Verstandes. Die Tugend 
erwartet ihren Lohn in jener Welt; die Klugheit 
hofft ihn dieser; das Genie weder in dieser, noch 
in jener; es ist sein eigener Lohn. Demnach ist der 
Wille der ewige Theil, der Intellekt der zeitliche. 
Verbindung, Gemeinschaft, Umgang zwischen Men- 
schen gründet sich, in der Regel, auf Verhältnisse, 
die den Willen, selten auf solche, die den Intellekt 
betreffen: die erstere Art der Gemeinschaft kann man 
die tnateriale, die andere die formale nennen. Jener 
Art sind die Bande der Familie und Verwandtschaft, 
ferner alle auf irgend einem gemeinschaftlichen 
Zwecke, oder Interesse, wie das des Gewerbes, Stan- 
des, der Korporation, Partei, Faktion usw. beruhenden 
19* 291 
Verbindungen. Bei diesen nämlich kommt es bloss 
auf die Gesinnung, die Absicht an; wobei die grösste 
Verschiedenheit der intellektuellen Fähigkeiten und 
ihrer Ausbildung bestehen kann. Daher kann Jeder 
mit Jedem nicht nur in Frieden und Einigkeit leben, 
sondern auch zum gemeinsamen Wohl Beider mit 
ihm zusammen wirken und ihm verbündet seyn. 
Auch die Ehe ist ein Bund der Herzen, nicht der 
Köpfe, Anders aber verhält es sich mit der bloss ybr- 
wa/eHGemeinschaft, als welche nurGedankenaustausch 
bezweckt: diese verlangt eine gewisse Gleichheit der 
intellektuellen Fähigkeiten und der Bildung. Grosse 
Unterschiede hierin setzen zwischen Mensch und 
Mensch eine unübersteigbare Kluft: eine solche liegt 
z. B. zwischen einem grossen Geist und einem Dumm- 
kopf, zwischen einem Gelehrten und einem Bauern, 
zwischen einem Hofmann und einem Matrosen. Der- 
gleichen heterogene Wesen haben daher Mühe, sich 
zu verständigen, so lange es auf die Mittheilung von 
Gedanken, Vorstellungen und Ansichten ankommt. 
Nichtsdestoweniger kann enge materiale Freundschaft 
zwischen ihnen Statt finden, und sie können treue 
Verbündete, Verschworene und Verpflichtete seyn. 
Denn in Allem, was allein den fVillen betrifft, wohin 
Freundschaft, Feindschaft, Bedlichkeit, Treue, Falsch- 
heit und Verrath gehört, sind sie völlig homogen, 
aus demselben Teig geformt, und weder Geist noch 
Bildung machen darin einen Unterschied: ja, oft be- 
schämt hier der Bohe den Gelehrten, der Matrose 
den Hofmann. Denn bei den verschiedensten Graden 
der Bildung bestehen die selben Tugenden und La- 
ster, Aifekte und Leidenschaften, und, wenn auch in 
ihren Aeusserungen etwas modificirt, erkennen sie 
sich doch, selbst in den heterogensten Individuen sehr 
bald gegenseitig, wonach die gleichgesinnten zusam- 
mentreten, die entgegengesetzten sich anfeinden. 
Glänzende Eigenschaften des Geistes erwerben Be- 
wunderung, aber nicht Zuneigung: diese bleibt den 
moralischen, den Eigenschaften des Charakters, vor- 
behalten. Zu seinem Freunde wird wohl Jeder lieber 
den Bedlichen, den Gutmüthigen, ja selbst den Ge- 
fälligen, Nachgiebigen und leicht Beistimmenden wäh- 
len, als den bloss Geistreichen. Vor diesem wird so- 
par durch unbedeutende, zufällige äussere Eigenschaf- 
ten, welche gerade der Neigung eines Andern ent- 
sprechen. Mancher den Vorzug gewinnen. Nur wer 
selbst viel Geist hat, w-ird den Geistreichen zu seiner 
Gesellschaft wünschen; seine Freundschaft hingegen 
wird sich nach den moralischen Eigenschaften rich- 
ten: denn auf diesen beruht seine eigentliche Hoch- 
schätzung eines Menschen, in welcher ein einziger 
guter Charakterzug grosse Mängel des Verstandes be- 
deckt und auslischt. Die erkannte Güte eines Charak- 
ters macht uns geduldig und nachgiebig gegen Schwä- 
chen des Verstandes, wie auch gegen die Stumpfheit 
und das kindische Wesen des Alters. Ein entschieden 
edler Charakter, bei gänzlichem Mangel intellektuel- 
ler Vorzüge und Bildung, steht da, wie Einer, dem 
nichts abgeht; hingegen wird der grösste Geist, wenn 
mit starken moralischen Fehlern behaftet, noch im- 
mer tadelhaft erscheinen. — Denn wie Fackeln und 
Feuerwerk vor der Sonne blass und unscheinbar wer- 
den, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schön- 
heit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des 
Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann 
sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, 
dass man solche vermisst zu haben sich schämt. So- 
gar der beschränkteste Verstand, wie auch die gro- 
teske Hässlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte 
des Herzens sich in ihrer Begleitung kund gethan, 
gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit 
höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit 
spricht, vor der jede andere verstummen muss. Denn 
die Güte des Herzens ist eine transscendente Eigen- 
schaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichen- 
den Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern 
Vollkommenheit inkommensurabel. Wo sie in hohem 
Grade vorhanden ist, macht sie das Herz so gross, 
dass es die Welt umfasst, so dass jetzt Alles in ihm, 
nichts mehr ausserhalb liegt; da sie ja alle Wesen 
mit dem eigenen identificirt. Alsdann verleiht sie 
auch gegen Andere jene gränzenlose Nachsicht, die 
293 
sonst Jeder nur sich selber widerfahren lässt. Ein sol- 
cher Mensch ist nicht fähig, sich zu erzürnen: sofjar 
wenn etwan seine eigenen, intellektuellen oder kör- 
perlichen Fehler den boshaften Spott und Hohn An- 
derer hervorgerufen haben, wirft er, in seinem Her- 
zen, nur sich selber vor, zu solchen Aeusserungen der 
Anlass gewesen zu seyn, und fährt daher, ohne sich 
Zwang anzuthun, fort, Jene auf das liebreichste zu 
behandeln, zuversichtlich hoffend, dass sie von ihrem 
Irrthum hinsichtlich seiner zurückkommen und auch 
in ihm sich selber wiedererkennen werden. — Was 
ist dagegen Witz und Genie? was Bako von Verulam;' 
Auf das selbe Ergebniss, welches wir hier aus 
der Betrachtung vmserer Schätzung Anderer er- 
halten haben, führt auch die der Schätzung des eige- 
nen Selbst. Wie ist doch die in moralischer Hinsicht 
eintretende Selbstzufriedenheit so grundverschieden 
von der in intellektualer Hinsicht! Die erstere entsteht, 
indem wir, beim Rückblik auf unsern Wandel, sehen, 
dass wir mit schweren Opfern Treue und Redlichkeit 
geübt, dass wir Manchem geholfen, Manchem ver- 
ziehen haben, besser gegen Andere gewesen sind, als 
diese gegen uns, so dass wir mit König Lear sa- 
gen dürfen: ,,Ich bin ein Mann, gegen den mehr ge- 
sündigt worden, als er gesündigt hat"; und vollends 
wenn vielleicht gar irgend eine edle That in unserer 
Rückerinnerung glänzt! Ein tiefer Ernst wird die 
stille Freude begleiten, die eine solche Musterung 
uns giebt: und wenn wir dabei Andere gegen uns 
zurückstehen sehen; so wird uns dies in keinen Jubel 
versetzen, vielmehr werden wir es bedauern und 
werden aufrichtig wünschen, sie wären alle wie wir. 
— Wie ganz anders wirkt hingegen die Erkenntniss 
unserer intellektuellen üeberlegenheit! Ibr Grund- 
bass ist ganz eigentlich der oben angeführte Aus- 
spruch des Ilobbes: Omnis animi voluptas, omnisque 
alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum 
conferens se, possit magnifice sentire de se ipso, üeber- 
müthige, triumphirende Eitelkeit, stolzes, höhnisches 
Herabsehen auf Andere, wonnevoller Kitzel des Be- 
wusstseyns entschiedener und bedeutender Ueberle- 
-i94 
f^enheit, dem Stolz auf körperliche Vorzüge verwandt, 
— das ist hier das Ergebniss. — Dieser Gegensatz 
zwischen beiden Arten der Selbstzufriedenheit zeigt 
an, dass die eine unser wahres inneres und ewiges 
Wesen, die andere einen mehr äusserlichen, nur zeit- 
lichen, ja fast nur körperlichen Vorzug betrifft. Ist 
doch in der That der Intellekt die blosse Funktion 
des Gehirns, der Wille hingegen Das, dessen Funk- 
tion der ganze Mensch, seinem Seyn und Wesen 
nach, ist. 
Erwägen wir, nach Aussen blickend, dass 6 ßto? 
ßpaj(u?, r[ o£ TSXV7) [xaxpa (vita brevis, ars longa), und 
betiachten, wie die grössten und schönsten Geister, 
oft wann sie kaum den Gipfel ihrer Leistungsfähig- 
keit erreicht haben, imgleichen grosse Gelehrte, wann 
sie eben erst zu einer gründlichen Einsicht ihrer Wis- 
senschaft gelangt sind, vom Tode hinweggerafft wer- 
den; so bestätigt uns auch Dieses, dass der Sinn und 
Zweck des Lebens kein intellektualer, sondern ein 
moralischer ist. 
Der durchgreifende Unterschied zwischen den gei- 
stigen und den moralischen Eigenschaften giebt sich 
endlich auch dadurch zu erkennen, dass der Intellekt 
höchst bedeutende V^eränderungen durch die Zeit er- 
leidet, während der Wille und Charakter von dieser 
unberührt bleibt. — Das Neugeborene hat noch gar 
keinen Gebrauch seines Verstandes, erlangt ihn je- 
doch, innerhalb der ersten zwei Monate, bis zur An- 
schauung und Apprehension der Dinge in der Aussen- 
welt; welchen Vorgang ich in der Abhandlung 
„Ueber das Sehn und die Farben", S. lO der zweiten 
Auflage, näher dargelegt habe. Diesem ersten und 
wichtigsten Schritte folgt viel langsamer, nämlich 
meistens erst im dritten Jahre, die Ausbildung der 
Vernunft, bis zur Sprache und dadurch zum Denken. 
Dennoch bleibt die frühe Kindheit unwiderruflich 
der Albernheit und Dummheit preisgegeben: zunächst 
weil dem Gehirn noch die physische Vollendung fehlt, 
welche es sowohl seiner Grösse als seiner Textur 
nach, erst im siebenten Jahre erreicht. Sodann aber 
ist zu seiner energischen Thätigkeit noch der Antago- 
295 
nismus des Genitalsystenis erforderlich; daher jene erst 
mit der Pubertät anfangt. Durch dieselbe aber hat 
alsdann der Intellekt erst die blosse Fähigkeit zu sei- 
ner psychischen Ausbildung erlangt: diese selbst kann 
allein durch Uebung, Erfahrung und Belehrung ge- 
wonnen werden. Sobald daher der Geist sich der 
kindischen Albernheit entwunden hat, geräth er in 
die Schlingen zahlloser Irrthümer, Vorurtheile, Chi- 
mären, mitunter von der absurdesten und krassesten 
Art, die er eigensinnig festhält, bis die Erfahrung sie 
ihm nach und nach entwindet, manche auch un- 
vermerkt abhanden kommen : dieses Alles geschieht 
erst im Laufe vieler Jahre; so dass man ihm zwar die 
Mündigkeit bald nach dem zwanzigsten Jahre zuge- 
steht, die vollkommene Reife jedoch erst ins vierzig- 
ste Jahr, das Schwaben alter, versetzt bat. Allein wäh- 
rend diese psychische, auf Hülfe von aussen beruhende 
Ausbildung noch im Wachsen ist, fängt die innere 
physische Energie des Gehirns bereits an wieder zu 
sinken. Diese nämlich hat, vermöge ihrer Abhängig- 
keit vom Blutandrang und der Einwirkung des Puls- 
schlages auf das Gehirn, und dadurch wieder vom 
Uebergewicht des arteriellen Systems über das ve- 
nöse, wie auch von der frischen Zartheit der Gehirn- 
fasern, zudem auch durch die Energie des Genital- 
systems ihren eigentlichen Kulminationspunkt um 
das dreissigste Jahr: schon nach dem fünfunddreis- 
sigsten wird eine leise Abnahme derselben merklich, 
die durch das allmälig herankommende Uebergewicht 
des venösen Systems über das arterielle, wie auch 
durch die immer fester und spröder werdende Kon- 
sistenz der Gehirn fasern, mehr und mehr eintritt und 
viel merklicher sein würde, wenn nicht andererseits 
die psychische Vervollkommung, durch Uebung, Er- 
fahrung, Zuwachs der Kenntnisse und erlangte Fer- 
tigkeit im Handhaben derselben, ihr entgegenwirkte; 
welcher Antagonismus glücklicherweise bis ins späte 
Alter fortdauert, indem mehr und mehr das Gehirn 
einem ausgespielten Instrumente zu vergleichen ist. 
Aber dennoch schreitet die Abnahme der ursprüng- 
lichen, ganz auf organischen Bedingungen beruhenden 
2q6 
Energie des Intellekts zwar langsam, aber unaufhalt- 
sam weiter: das Vermögen ursprünglicher Koncep- 
tion, die Phantasie, die Bildsamkeit, das Gedächtniss, 
werden merklich schwächer, und so geht es Schritt 
vor Schritt abwärts, bis hinab in das geschwätzige, 
gedächtnisslose, halb bewusstlose, endlich ganz kin- 
dische Alter. 
Der Wille hingegen wird von allem diesem Wer- 
den, Wechsel und Wandel nicht mitgetrotfen, sondern 
ist, vom Anfang bis zum Ende, unveränderlich der 
selbe. Das Wollen braucht nicht, wie das Erkennen, 
erlernt zu werden, sondern geht sogleich vollkommen 
von Statten. Das Neugeborene bewegt sich ungestüm, 
tobt und schreit: es will auf das heftigste; obschon es 
noch nicht weiss, was es will. Denn das Medium der 
Motive, der Intellekt, ist noch ganz unentwickelt; der 
Wille ist über die Aussenwelt, wo seine Gegenstände 
liegen, im Dunkeln, und tobt jetzt wie ein Gefangener 
gegen die Wände und Gitter seines Kerkers. Doch all- 
mälig wird es Licht: alsbald geben die Grundzüge des 
allgemeinen menschlichen Wollens und zugleich die 
hier vorhandene individuelle Modifikation derselben 
sich kund. Der schon hervortretende Charakter zeigt 
sich zwar erst in schwachen und schwankenden Zü- 
gen, wegen der mangelhaften Dienstleistung des In- 
tellekts, der ihm die Motive vorzuhalten hat; aber für 
den aufmerksamen Beobachter kündigt er bald seine 
vollständige Gegenwart an, und in Kurzem wird sie 
unverkennbar. Die Charakterzüge treten hervor, wel- 
che auf das ganze Leben bleibend sind: Die Haupt- 
richtungen des Willens, die leicht erregbaren Affekte, 
die vorherrschende Leidenschaft, sprechen sich aus. Da- 
her verhalten die Vorfalle in der Schule sich zu denen 
des künftigen Lebenslaufes meistens wie das stumme 
Vorspiel, welches dem im Hamlet bei Hofe aufzufüh- 
renden Drama vorhergeht und dessen Inhalt panto- 
mimisch verkündet, zu diesem selbst. Keineswegs aber 
lassen sich eben so aus den im Knaben sich zeigenden 
intellektuellen Fähigkeiten die künftigen prognosti- 
ciren : vielmehr werden die ingenia praecocia,die Wun- 
derkinder, in der Regel Flachköpfe; das Genie hin- 
297 
(jegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen 
lind fasst schwer, eben weil es tief fasst. Diesem ent- 
spricht es, dass Jeder lachend und ohne Rückhalt die 
Albernheiten und Dummheiten seiner Kindheit erzählt, 
z, B. Goethe, wie er alles Kochgeschirr zum Fenster 
hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit, Bd. i, S. 7): 
denn man weiss, dass alles Dieses nur das Veränder- 
liche betrifft. Hingegen die schlechten Züge, die bos- 
haften und hinterlistigen Streiche seiner Jugend wird 
ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn er 
fühlt, dass sie auch von seinem gegenwärtigen Cha- 
rakter noch Zeugniss ablegen. Man hat mir erzählt, 
dass der Kranioskop und Menschenforscher Gall, wann 
er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Ver- 
bindung zu treten hatte, diesen auf seine Jugendjahre 
und Jugendstreiche zu sprechen brachte, um, wo mög- 
lich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulau- 
schen ; weil dieser auch jetzt noch derselbe seyn musste. 
Eben hierauf beruht es, dass, während wir auf die 
Thorheiten und den Unverstand unserer Jugendjahre 
gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen zurück- 
sehen, die schlechten Charakterzüge eben jener Zeit, 
die damals begangenen Bosheiten und Frevel, selbst 
im späten Alter als unauslöschliche Vorwürfe dastehen 
und unser Gewissen beängstigen. — Wie nun also der 
Charakter sich fertig einstellt, so bleibt er auch bis 
ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters, 
welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, 
lässt die moralischen Eigenschaften unberührt. Die 
Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt und 
geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, 
die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. 
Sanftmuth, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, ün- 
eigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit u. s. w. er- 
halten sich durch das ganze Leben und gehen nicht 
durch Altersschwäche verloren: in jedem hellen Au- 
genblick des abgelebten Greises treten sie unvermin- 
dert hervor, wie die Sonne aus Winter wölken. Und 
andererseits bleibt Bosheit, Tücke, Habsucht, Hart- 
herzigkeit, F'alschheit, Egoismus und Schlechtigkeit 
jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert. 
398 
Wir würden Dem nicht glauben, sondern ihn aus- 
lachen, der uns sagte: „In früheren Jahren war ich ein 
boshafter Schurke, jetzt aber bin ich ein redhcher und 
edelmüthiger Mann." Recht schön hat daher Walter 
Scott in Nigels fortunes am alten Wucherer gezeigt, 
wie brennender Geiz, Egoismus und Ungerechtigkeit 
noch in voller Blüthe stehen, gleich den Giftpflanzen 
im Herbst, und sich noch heftig äussern, nachdem 
der Intellekt schon kindisch geworden. Die einzigen 
Veränderungen, welche in unsern Neigungen vor- 
gehen, sind solche, welche unmittelbare Folgen der 
Abnahme unserer Körperkräfte und damit der Fähig- 
keiten zum Geniessen sind: so wird die Wollust der 
Völlerei Platz machen, die Prachtliebe dem Geiz, und 
die Eitelkeit der Ehrsucht; eben wie der Mann, wel- 
cher, ehe er noch einen Bart hatte, einen falschen an- 
klebte, späterhin seinen grau gewordenen Bart braun 
färben wird. Während also alle organischen Kräfte, 
die Muskelstärke, die Sinne, das Gedächtniss, Witz, 
Verstand, Genie, sich abnutzen und im Alter stumpf 
werden, bleibt der Wille allein unversehrt und un- 
verändert: der Drang und die Richtung des Wollens 
bleibt die selbe. Ja, in manchen Stücken zeigt sich im 
Alter der Wille noch entschiedener: so, in der An- 
hänglichkeit am Leben, welche bekanntlich zunimmt ; 
sodann in der Festigkeit und Beharrlichkeit bei Dem, 
was er ein Mal ergriffen hat, im Eigensinn; welches 
daraus erklärlich ist, dass die Empfänglichkeit des In- 
tellekts für andere Eindrücke und dadurch die Be- 
weglichkeit des Willens durch hinzuströmende Mo- 
tive abgenommen hat: daher die Unversöhnlichkeit 
des Zorns und Hasses alter Leute: 
The young man's wrath is like light stravv on fire; 
But like red-hot steel is the old man's ire. (Old Ballad.) ') 
Aus allen diesen Betrachtungen wird es dem tiefem 
Blicke unverkennbar, dass, während der Intellekt eine 
lange Reihe allmäliger Ent Wickelungen zu durchlau- 
fen hat, dann aber, wie alles Physische, dem Verfall 
*) Dem Strohfeu'r gleich, ist Jünglings Zorn nicht schlimm : 
Rothglüh'ndem Eisen gleicht des Alten Grimra. 
entgegengeht, der fVille hieran keinen Theil nimmt, 
als nur sofern er Anfangs mit der Unvollkommenheit 
seines Werkzeuges, des Intellekts, und zuletzt wieder 
mit dessen Ahgenutztheit zu kämpfen hat, selbst aber 
als ein Fertiges auftritt und unverändert bleibt, den 
Gesetzen der Zeit und des Werdens und Vergehus in 
ihr nicht unterworfen. Hiedurch also giebt er sich als 
das Metaphysische, nicht selbst der Erscheinungswelt 
Angehörige, zu erkennen. 
9) Die allgemein gebrauchten und durchgängig sehr 
wohl verstandenen x\usdrücke Herz und Kopfsiud aus 
einem richtigen Gefühl des hier in Rede stehenden 
fundamentalen Unterschiedes entsprungen; daher sie 
auch treifend und bezeichnend sind und in allen Spra- 
chen sich wiederfinden. Nee cor nee caput habet, sagt 
Seneka vom Kaiser Klaudiiis. (Ludus de morte Claudii 
Caesaris, c. 8.) Mit vollem Recht ist das Herz, dieses 
primum mobile des thierischen Lebens, zum Symbol, 
ja zum Svnonym des fFille?is, als des Urkerns unserer 
Erscheinung, gewählt worden und bezeichnet diesen, 
im Gegensatz des Intellekts^ der mit dem Kopf gerade- 
zu identisch ist. Alles, was, im weitesten Sinne, Sache 
des Willens ist, wie Wunsch, Leidenschalt, Freude, 
Schmerz, Güte, Rosheit, auch was man unter „Ge- 
müth" zu verstehen pflegt, und was Homer durch 
cpiX.ov T^Top ausdrückt, wird dem Herzeti beigelegt. Dem- 
nach sagt man : er hat ein schlechtes Herz; — er hängt 
sein Herz an diese Sache; — es geht ihm vom Her- 
zen; ■ — CS war ihm ein Stich ins Herz; — es bricht 
ihm das Herz; — sein Herz blutet; — das Herz hüpft 
vor Freude; — wer kann dem Menschen ins Herz 
sehen? — es ist herzzerreissend, herzzermalmend, 
herzbrechend, herzerhebend, herzrührend; — er ist 
herzensgut, — hartherzig, — herzlos, herzhaft, feig- 
herzig u. a. m. Ganz s[)eciell aber heissen Liebeshän- 
del Herzensangelegenheiten, affaires de coeur, weil 
<ler Geschlechtstrieb der Brennpunkt des Willens ist 
und die Auswahl in Bezug auf denselben die Haupt- 
angelegenheit des natürlichen menschlichen W^ollens 
ausmacht, wovon ich den Grund in einem ausführ- 
lichen Kapitel ziun vierten Buche nachweisen werde. 
3oo 
Byron, im „Don Juan", C. 1 1 , v. 34, satyrisirt darüber, 
dass den Damen die Liebe, statt Sache des Herzens, 
Sache des Kopfes sei. — Hingegen bezeichnet der Kopf 
Alles, was Sache der Erkenntniss ist. Daher: ein Mann 
von Kopf, ein kluger Kopf, feiner Kopf, schlechter 
Kopf, den Kopf verlieren, den Kopf oben behalten 
u. s. w. Herz und Kopf bezeichnet den ganzen Men- 
schen. Aber der Kopf ist stets das Zweite, das Abge- 
leitete: denn er ist nicht das Zentrum, sondern die 
höchste Efflorescenz des Leibes. Wann ein Held stirbt, 
balsamirt man sein Herz ein, nicht sein Gehirn: hin- 
gegen bewahrt man gern den Schädel der Dichter, 
Künstler und Philosophen. So wurde in der Academia 
di S. Luca zu Rom Raphaels Schädel aufbewahrt, ist 
jedoch kürzlich als unächt nachgewiesen worden: in 
Stockholm wurde 1820 der Schädel des Cartesius in 
Auktion verkauft*). 
Ein gewisses Gefühl des wahren Verhältnisses 
zwischen Willen, Intellekt, Leben, ist auch in der 
Lateinischen Sprache ausgedrückt. Der Intellekt ist 
mens, vou?; der W^ille hingegen ist animus; welches 
von anima kommt, und dieses von avstjLcuv. Anima ist 
das Leben selbst, der Athem, '^^y[r\ : animus aber ist 
das belebende Princip und zugleich der Wille, das 
Subjekt der Neigungen, Absichten, Leidenschaften 
und Affekte: daher auch est mihi animus, — fert ani- 
mus, — für „ich habe Lust", auch animi causa u. a. m., 
es ist das Griechische öuao?, also Gemiith, nicht aber 
Kopf. Animi perturbatio ist der Affekt, mentis per- 
turbatio würde Verrücktheit bedeuten. Das Prädikat 
immortalis wird dem animus beigelegt, nicht der 
mens. Alles dies ist die aus der grossen Mehrzahl der 
Stellen hervorgehende Regel; wenn gleich, bei so 
nahe verwandten Begriffen, es nicht fehlen kann, 
dass die Worte bisweilen verwechselt werden. Unter 
tj;ü)(7j scheinen die Griechen zunächst und ursprüng- 
lich die Lebenskraft verstanden zu haben, das bele- 
bende Princip; wobei sogleich die Ahndung aufstieg, 
dass es ein Metaphysisches seyn müsse, folglich vom 
Tode nicht mitgetrofifen würde. Dies beweisen, unter 
') Times vom 18. Oktober i845; nach dem Athenaeiim. 
3oi 
Anderm, die von Stobäos aufbewahrten Untersu- 
chungen des Verhältnisses zwischen vou? und 4"^y7]. 
(Ed., Lib. I, c. 5i,§. 7,8.) 
lo) Worauf beruht die Identität der Person? — 
Nicht auf der Materie des Leibes: sie ist nach weni- 
gen Jahren eine andere. Nicht auf der Form dessel- 
ben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Theilen; 
bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man da- 
her auch nach vielen Jahren einen Mensch noch erkennt ; 
welches beweist, dass trotz allen Veränderungen, die 
an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm da- 
von völlig unberührt bleibt: es ist eben Dieses, woran 
wir, auch nach dem längsten Zwischenräume, ihn 
wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wie- 
derfinden; eben so auch uns selbst: denn wenn man 
auch noch so alt wird: so fühlt man doch im Innern 
sich ganz und gar als den selben, der man war, als 
man jung, ja, als man noch ein Kind war. Dieses, 
was unverändert stets ganz das Selbe bleibt und nicht 
mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher 
nicht in der Zeit liegt. — Man nimmt an, die Identi- 
tät der Person beruhe auf der des Bewusstseyns. Ver- 
steht man aber unter dieser bloss die zusammenhän- 
gende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht 
ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf al- 
lenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen 
Roman ; dennoch nur das Allerwenigste. Die Haupt- 
begebenheiten, die interessanten Scenen haben sich 
eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge ver- 
gessen, gegen einen, der behalten worden. Je älter 
wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber. Hohes 
Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, kön- 
nen das Gedächtniss ganz rauben. Aber die Identität 
der Person ist damit nicht verloren gegangen. Sie be- 
ruht auf dem identischen Witten und dem unverän- 
derlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, 
der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. 
Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf. Zwar 
sind wir, in Folge unserer Relation mit der Aussen- 
welt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Sub- 
jekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrach- 
3o2 
ten, welches am Abend ermattet, im Schlafe ver- 
schwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller 
strahlt. Dieses ist jedoch die blosse Gehirnfunktion 
und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst, 
der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem 
steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen 
und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, 
mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, 
Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was 
jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wann 
jenes schläft, und ebenso, wann dasselbe im Tode 
untergeht, unversehrt bleibt. — Alles hingegen, was 
der Erkeimtniss angehört, ist der Vergessenheit aus- 
gesetzt: selbst die Handlungen von moralischer Be- 
deutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht 
vollkommen erinnerlich, und wir wissen nicht mehr 
genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen 
Fall gehandelt haben. Aber der Clmrakter selbst, von 
dem die Thaten bloss Zeugniss ablegen, kann von 
uns nicht vergessen werden : er ist jetzt noch ganz 
derselbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für 
sich, beharrt; denn er allein ist unveränderlich, un- 
zerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern 
metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, son- 
dern das Erscheinende selbst. Wie auf ihm auch die 
Identität des Bewusstseyns, so weit sie geht, beruht, 
habe ich oben, Kapitel i5, nachgewiesen, brauche 
mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten. 
il) Arifitoteles sagt beiläufig, im Buch über die 
Vergleichung des Wünschenswerthen : „gut leben ist 
besser als leben" (ßeXxiov tou C^ßv xo eu C^jv, Top. HI, 2). 
Hieraus Hesse sich, mittelst zweimaliger Kontraposi- 
tion, folgern: nicht leben ist besser als schlecht leben. 
Dies ist dem Intellekt auch einleuchtend: dennoch 
leben die Allermeisten sehr schlecht, lieber als gar 
nicht. Diese Anhänglichkeit an das Leben kann also 
nicht im Objekt derselben ihren Grund haben, da das 
Leben, wie im vierten Buche gezeigt worden, eigent- 
lich ein stetes Leiden, oder wenigstens, wie weiter 
unten, Kapitel 28 dargethan wird, ein Geschäft ist, 
welches die Kosten nicht deckt : also kann jene An- 
io:> 
hjinglichkeit nur im Subjekt derselben {je{^riindet seyn, 
Sie ist aber nicht im Intellekt begründet, ist keine 
Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache 
der Wahl; sondern dies Lebenwollen ist etwas, das 
sich von selbst versteht; es ist ein prius des Intellekts 
selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben : daher 
müssen wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, 
dass diese Anhänglichkeit an ein Leben, welches ih- 
rer so wenig werth ist, ganz a priori und nicht a pos- 
teriori ist, erklilrt sich die allem Lebenden einwoh- 
nende, überschwängliche Todesfurcht, welche Roche- 
foucauld mit seltener Freimüthigkeit und Naivetät, 
in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen hat, und 
auf der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und 
Heldenthaten zuletzt beruht, als welche wegfallen 
würde, wenn wir das Leben nur nach seinem objekti- 
ven Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen 
horror mortis gründet sich auch der Lieblingssatz 
aller gewöhnlichen Köpfe, dass wer sich das Leben 
nimmt, verrückt seyn müsse, nicht weniger jedoch 
das mit einer gewissen Bewunderung verknüpfte Er- 
staunen, welches diese Handlung, selbst in denkenden 
Köpfen, jedes Mal hervorruft, weil dieselbe der Na- 
tur alles Lebenden so sehr entgegenläuft, dass wir 
Den, welcher sie zu vollbringen vermochte, in ge- 
wissem Sinne bewundern müssen, ja sogar eine ge- 
wisse Beruhigung darin finden, dass, auf die schlimm- 
sten Fälle, dieser Ausweg wirklich offen steht, als 
woran wir zweifeln könnten, wenn es nicht die Er- 
fahrung bestätigte. Denn der Selbstmord geht von 
einem Beschlüsse des Intellekts aus: unser Leben- 
wollen aber ist ein prius des Intellekts. — Auch die- 
se Betrachtung also, welche Kapitel r»,8 ausführlich 
zur Sprache kommt, bestätigt das Primat des Willens 
im Selbstbewusstseyn. 
1 a) Hingegen beweist nichts deutlicher die sekun- 
däre, abhängi{je, bedingte Natur des Intellekts, als 
seine periodische Intermittenz. Im tiefen Schlaf hört 
Alles Erkennen und Vorstellen gänzlich auf. Allein 
der Kern unsers W^esens, das Metaphvsische desselben, 
welches die organischen Funktionen als ihr primum 
.So4 
mobile nothwendiff voraussetzen, darf nie pausiren, 
wenn nicht das Leben aufhören soll, und ist auch, 
als ein Metaphysisches, mithin Unkörperliches, keiner 
Ruhe bedürftig. Daher haben die Philosophen, wel- 
che als diesen metaphysischen Kern eine Seele, d. h. 
ein ursprünglich und wesentlich erkennendes Wesen 
aufstellten, sich zu der Behauptung genöthigt gesehen, 
dass diese Seele in ihrem Vorstellen und Erkennen 
ganz unermüdlich sei, solches mithin auch im tiefsten 
Schlafe fortsetze; nur dass uns, nach dem Erwachen, 
keine Erinnerung davon bliebe. Das Falsche dieser 
Behauptung einzusehen wurde aber leicht, sobald 
man, in Folge der Lehre Kants, jene iSeele bei Seite 
gesetzt hatte. Denn Schlaf und Erwachen zeigen dem 
unbefangenen Sinn auf das deutlichste, dass das Er- 
kennen eine sekundäre und durch den Organismus 
bedingte Funktion ist, so gut wie irgend eine andere. 
Unermüdlich ist allein das Herz; weil sein Schlag 
und der Blutumlauf nicht unmittelbar durch Nerven 
bedingt, sondern eben die ursprüngliche Aeusserung 
des Willens sind. Auch alle andern, bloss durch 
Gangliennerven, die nur eine sehr mittelbare und 
entfernte Verbindung mit dem Gehirn haben, gelenk- 
te, physiologische Funktionen werden im Schlafe 
fortgesetzt, wiewohl die Sekretionen langsamer ge- 
schehen: Selbst der Herzschlag wird, wegen seiner 
Abhängigkeit von der Respiration, als welche durch 
das Cerebralsystem (medulla oblongata) bedingt ist, 
mit dieser ein wenig langsamer. Der Magen ist vielleicht 
im Schlaf am thätigsten, welches seinem speciellen, 
gegenseitige Störungen veranlassenden Consensus mit 
dem jetzt feiernden Gehirn zuzuschreiben ist. Das Ge- 
hirn allein, und mit ihm das Erkennen, pausirt im 
tiefen Schlafe ganz. Denn es ist bloss dass Ministeri- 
um des Aeussern, wie das Gangliensystem das Mini- 
sterium des Innern ist. Das Gehirn, mit seiner Funk- 
tion des Erkennens, ist nichts weiter, als eine vom 
Willen, zu seinen draussen liegenden Zwecken auf- 
gestellte Vedette, welche oben, auf der Warte des 
Kopfes, durch die Fenster der Sinne umherschaut, 
aufpasst, von wo Unheil drohe und wo Nutzen abzu- 
20 Schopenliauer II JOi) 
sehen sei, und nach deren Bericht der Wille sich 
entscheidet. Diese Fedette ist dabei, wie jeder 
im aktiven Dienst Begriffene, in einem Zustande der 
Spannung und Anstrengung, daher sie es gern sieht, 
wenn sie, nach verrichteter Wacht, wieder eingezo- 
gen wird; wie jede Wache gern wieder vom Posten 
abzieht. Dies Abziehn ist das Einschlafen, welches 
daher so süss und angenehm ist und zu welchem wir 
so willtahrig sind: hingegen ist das Aufgerütteltwer- 
den unwillkommen, weil es die Fedette plötzlich wie- 
der auf den Posten ruft: man fühlt dabei ordentlich 
die nach der wohlthätigen Systole wieder eintretende 
beschwerliche Diastole, das Wiederauseinanderfahren 
des Intellekts vom Willen. Einer sogenannten Seele, 
die ursprünglich und von Hause aus ein ei-kennendes 
Wesen wäre, müsste, im Gegentheil, beim Erwachen 
zu Muthe seyn, wie dem Fisch, der wieder ins Was- 
ser kommt. Im Schlafe, wo bloss das vegetative Leben 
fortgesetzt wird, wirkt der Wille allein nach seiner 
ursprünglichen und wesentlichen Natur, ungestört 
von aussen, ohne Abzug seiner Kraft durch die Thä- 
tigkeit des Gehirns und Anstrengung des Erkennens, 
welches die schwerste organische Funktion, für den 
Organismus aber bloss Mittel, nicht Zweck ist: daher 
ist im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Er- 
haltung und, wo es nöthig ist, Ausbesserung des Or- 
ganismus gerichtet; weshalb alle Heilung, alle wohl- 
thätigen Krisen, im Schlaf erfolgen; indem die vis 
naturae medicatrix erst dann freies Spiel hat, wann 
sie von der Last der Erkenntnissfunktion befreit ist. 
Der Embryo, welcher gar erst den Leib noch zu bil- 
den hat, schläft daher fortwährend und das Neuge- 
borene den grössten Theil seiner Zeit. In diesem Sin- 
ne erklärt auch Bwdach (Physiologie, Bd. 3, S. 4^4) 
ganz richtig den Schlaf für den ursprünglichen Zustand. 
In Hinsicht auf das Gehirn selbst erkläre ich mir 
die Nothwendigkeit des Schlafes näher durch eine 
Hypothese, welche zuerst aufgestellt zu seyn scheint 
in Neumanns Buch „Von den Krankheiten des Men- 
schen", 1834, Bd. 4, §• 2>6. Es ist diese, dass die Nu- 
trition des Gehirns, also die Erneuerung seiner Sub- 
3 06 
stanz aus dem Blute, während des Wachens nicht vor 
sich gehen kann; indem die so höchst eminente, or- 
ganische Funktion des Erkennens und Denkens von 
der so niedrigen und materiellen der Nutrition gestört 
oder aufgehoben werden würde. Hieraus erklärt sich, 
dass der Schlaf nicht ein rein negativerZustand, blosses 
Pausiren der Gehirnthätigkeit, ist, sondern zugleich 
einen positiven Charakter zeigt. Dieser gibt sich schon 
dadurch kund, dass zwischen Schlaf und Wachen kein 
blosser Unterschied des Grades, sondern eine feste 
Gränze ist, welche, sobald der Schlaf eintritt, sich 
durch Traumbilder ankündigt, die unsern dicht vor- 
hergegangenen Gedanken völlig heterogen sind. Ein 
fernerer Beleg desselben ist, dass wann wir beängsti- 
gende Träume haben, wir vergeblich bemüht sind, zu 
schreien, oder Angriffe abzuwehren, oder den Schlaf 
abzuschütteln ; so dass es ist, als ob das Bindeglied 
zwischen dem Gehirn und den motorischen Nerven, 
oder zwischen dem grossen und kleinen Gehirn (als 
dem Regulator der Bewegungen) ausgehoben wäre: 
denn das Gehirn bleibt in seiner Isolation, und der 
Schlaf hält uns wie mit ehernen Klauen fest. Endlich 
ist der positive Charakter des Schlafes daran ersicht- 
lich, dass ein gewisser Grad von Kraft zum Schlafen 
erfordert ist; weshalb zu grosse Ermüdung, wie auch 
natürliche Schwäche, uns verhindern ihn zu erfassen, 
capere somnum. Dies ist daraus zu erklären, dass der 
Nutritions process eingeleitetet werden muss, wenn 
Schlaf eintreten soll : das Gehirn muss gleichsam an- 
beissen. Auch das vermehrte Zuströmen des Blutes ins 
Gehirn, während des Schlafes, ist aus dem Nutritions- 
process erklärlich, wie auch die, weil sie dieses beför- 
dert, instinktmässig angenommene Lage der über den 
Kopf zusammengelegten Arme; desgleichen, warum 
Kinder, so lange das Gehirn noch wächst, sehr vielen 
Schlafes bedürfen, im Greisenalter hingegen, wo eine 
gewisse Atrophie des Gehirns, wie allerTheile, eintritt, 
der Schlaf karg wird; endlich sogar, warum über- 
mässiger Schlaf eine gewisse Dumpfheit des Bewusst- 
seyns bewirkt, nämlich in Folge einer einstweiligen 
Hypertrophie des Gehirns, welche, bei habituellem 
20* 307 
Uebermaass des Schlafes, auch zu einer dauernden 
werden und Blödsinn erzeugen kann : aviTj xai iroXu? 
üirvoi; (noxae est etiam multus somnus). Od. i5, 394. 
— Das Bedürfniss des Schlafes steht demgemäss in 
geradem Verhältniss zur Intensität des Gehirnlebens, 
also zur Klarheit des Bewusstseyns. Solche Thiere, 
deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen 
wenig und leicht, z. B. Reptilien und Fische: wobei 
ich erinnere, dass der Winterschlaf fast nur dem Na- 
men nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion 
des Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, 
also eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender In- 
telligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen be- 
dürfen um so mehr Schlaf, je entwickelter, der Quan- 
tität und Qualität nach, und je thätiger ihr Gehirn ist. 
Montaigne erzählt von sich, dass er stets ein Langschlä- 
fer gewesen, einen grossen Theil seines Lebens ver- 
schlafen habe und noch im höhern Alter acht bis neun 
Stunden in Einem Zuge schlafe (Liv. III, eh. i3). 
Auch von Cartesins wird uns berichtet, dass er viel 
geschlafen habe (Bailler, Vie de Descartes, 1693, p. 
288). Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden aus- 
gesetzt: aber damit auszukommen wurde ihm so 
schwer, dass er seinem Bedienten befohlen hatte, ihn 
wider Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hö- 
ren, zur bestimmten Zeit zum Aufstehen zu zwingen 
(Jachmann, Immanuel Kant, S. 162). Denn je voll- 
kommener wach Einer ist, d. h. je klärer und aufge- 
weckter sein Bewusstseyn, desto grösser ist für ihn 
die Nothwendigkeit des Schlafes, also desto tiefer und 
länger schläft er. Vieles Denken, oder angestrengte 
Kopfarbeit wird demnach das Bedürfniss des Schlafes 
vermehren. Dass auch fortgesetzte Muskelanstrengung 
schläfrig macht, ist daraus zu erklären, dass bei dieser 
das Gehirn fortdauernd, mittelst der meduUa oblon- 
gata, des Rückenmarks und der motorischen Nerven, 
den Muskeln den Reiz ertheilt, der auf ihre Irritabili- 
tät wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft: 
die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen 
spüren, hat denmach ihren eigenen Sitz im Gehirn; 
eben wie der Schmerz, den eben diese Theile fühlen, 
3o8 
eigentlich im Gehirn empfunden wird: denn es ver- 
hält sich mit den motorischen, wie mit den sensibeln, 
Nerven. Die Muskeln, welche nicht vom Gehirn aktuirt 
werden, z. B. die des Herzens, ermüden eben deshalb 
nicht. Aus dem selben Grunde ist es erklärlich, dass 
man sowohl während, als nach grosser Muskelanstren- 
gung nicht scharf denken kann. Dass man im Som- 
mer viel weniger Energie des Geistes hat, als im Win- 
ter, ist zum Theil daraus erklärlich, dass man im Som- 
mer weniger schläft: denn je tiefer man geschlafen 
hat, desto vollkommener wach, desto „aufgeweckter" 
ist man nachher. Dies darf uns jedoch nicht verleiten, 
den Schlaf über die Gebühr zu verlängern ; weil er 
alsdann an Intension, d. h. Tiefe und Festigkeit, ver- 
liert, was er an Extension gewinnt ; wodurch er zum 
blossen Zeitverlust wird. Das meintauch Goethe, wenn 
er (im zweiten Theil des „ Faust") vom Morgenschlum- 
mer sagt: „Schlaf ist Schaale: wirf sie fort." — Ueber- 
haupt also bestäti{jt das Phänomen des Schlafes ganz 
vorzüglich, dass Bewusstseyn, Wahrnehmen, Erken- 
nen, Denken, nichts Ursprüngliches in uns ist, son- 
dern ein bedingter, sekundärer Zustand. Es ist ein 
Aufwand der Natur, und zwar ihr höchster, den sie 
daher, je höher er getrieben worden, desto weniger 
ohne Unterbrechung fortführen kann. Es ist das Pro- 
dukt, die Efflorescenz des cerebralen Nervensystems, 
welches selbst, wie ein Parasit, vom übrigen Organis- 
mus genährt wird. Dies hängt auch mit Dem zusam- 
men, was in unserm dritten Buche gezeigt wird, dass 
das Erkennen um so reiner und vollkommener ist, je 
mehr es sich vom Willen losgemacht und gesondert 
hat, wodurch die rein objektive, die ästhetische Auf- 
fassung eintritt; eben wie ein Extrakt um so reiner 
ist, je mehr er sich von dem, woraus er abgezogen 
worden, gesondert und von allem Bodensatz geläutert 
hat. Den Gegensatz zeigt der Wille, dessen unmittel- 
barste Aeusserung das ganze organische Leben und zu- 
nächst das unermüdliche Herz ist. 
Diese letzte Betrachtung ist schon dem Thema des 
folgenden Kapitels verwandt, zu dem sie daher den 
Uebergang macht: ihr gehört jedoch noch folgende 
3o9 
Bemerkung an. Im magnetischen Somnambulismus 
verdoppelt sich das Bewusstseyn : zwei, jede in sich 
selbst zusammenhängende, von einander aber völlig 
geschiedene Erkenntnissreihen entstehen; das wachen- 
de Bewusstseyn weiss nichts vom somnambulen. Aber 
der Wille behält in beiden denselben Charakter und 
bleibt durchaus identisch : er äussert in beiden die sel- 
ben Neigungen und Abneigungen. Denn die Funktion 
lässt sich verdoppeln, nicht das Wesen an sich. 
KAPITEL 20*). 
OBJEKTIVATION DES WILLENS IM 
THIERISCHEN ORGANISMUS. 
ICH verstehe unter Ohjektivation das Sichdarstellen 
in der realen Körperwelt. Inzwischen ist diese selbst, 
wie im ersten Buch und dessen Ergänzungen ausführ- 
lich dargethan, durchaus bedingt durch das erken- 
nende Subjekt, also den Intellekt, mithin ausserhalb 
seiner Erkenntniss, schlechterdings als solche undenk- 
bar: denn sie ist zunächst nur anschauliche Vorstel- 
lung und als solche Gehirnphänomen. Nach ihrer 
Aufhebung würde das Ding an sich übrig bleiben. 
Dass dieses der Wille sei, ist das Thema des zweiten 
Buchs, und wird daselbst zuvörderst am menschlichen 
und thierischen Organismus nachgewiesen. 
Die Erkenntniss der Aussenwelt kann auch bezeich- 
net werden als das Bewusstseyn anderer Dinge, im Ge- 
gensatz des Selbstbewusstseyns. Nachdem wir nun in 
diesem letztern den Willen als das eigentliche Objekt 
oder den Stoff desselben gefunden haben, werden wir 
jetzt, in derselben Absicht, das Bewusstseyn von an- 
dern Dingen, also die objektive Erkenntniss, in Be- 
*) Dieses Kapitel liezielit sich auf §.20 des ersten Bandes. 
[S. i33 d. A.] 
3 IG 
tracht nehmen. Hier ist nun meine Thesis diese: tvas 
im Selbstbetviisstseyn, also subjektiv, der Intellekt ist, 
das stellt im Bewusstseyn anderer Dinge, also objektiv, 
sich als das Gehirn dar: und was im Selbstbewusstseyn, 
also subjektiv, der Wille ist, das stellt im Bewusstseyn 
anderer Dinge, also objektiv, sich als der gesammte Or- 
ganismus dar. 
Zu den für diesen Satz, sowohl in unserm zweiten 
Buche, als in den beiden ersten Kapiteln der Abhand- 
lung „Ueber den Willen in der Natur", gelieferten 
Beweisen füge ich die folgenden Ergänzungen und 
Erläutervmgen. 
Zur Begründung des ersten Theiles jener Thesis 
ist das Meiste schon im vorhergehenden Kapitel bei- 
gebracht, indem an der Nothwendigkeit des Schlafes, 
an den Veränderungen durch das Alter, und an den 
Unterschieden der anatomischen Konformation nach- 
gewiesen wurde, dass der Intellekt, als sekundärer 
Natui, durchgängig abhängt von einem einzelnen Or- 
gan, dem Gehirn, dessen Funktion er ist, wie das Grei- 
fen Funktion der Hand; dass er mithin physisch ist, 
wie die Verdauung, nicht metaphysisch, wie der Wille. 
Wie gute Verdauung einen gesunden, starken Magen, 
wie Athletenkraft muskulöse, sehnige Arme erfordert; 
so erfordert ausserordentliche Intelligenz ein unge- 
wöhnlich entwickeltes, schön gebautes, durch feine 
Textur ausgezeichnetes und durch energischen Puls- 
schlag belebtes Gehirn. Hingegen ist die Beschaffen- 
heit des Willens von keinem Organ abhängig und aus 
keinem zu prognosticiren. Der grösste Irrthum in Gulls 
Schädellehre ist, dass er auch für moralische Eigen- 
schaften Organe des Gehirns aufstellt. — Kopfver- 
letzungen mit Verlust von Gehirnsubstanz wirken, in 
der Regel, sehr nachtheilig auf den Intellekt: sie ha- 
ben gänzlichen oder theilweisen Blödsinn zur Folge, 
oder Vergessenheit der Sprache, auf immer oder auf 
eine Zeit, bisweilen jedoch von mehreren gewussten 
Sprachen nur einer, bisweilen wieder bloss der Eigen- 
namen, imgleichen den Verlust anderer besessener 
Kenntnisse u. dgl. m. Hingegen lesen wir nie, dass 
nach einem Unglücksfall solcher Art der Charakter 
3li 
eine Veränderung erlitten hätte, dass der Mensch et- 
wan moralisch schlechter oder besser geworden wäre, 
oder gewisse Neigungen oder Leidenschaften verloren, 
oder auch neue angenommen hätte; niemals. Denn 
der Wille hat seinen Sitz nicht im Gehirn, und über- 
dies ist er, als das Metaphysische, das prius des Ge- 
hirns, wie des ganzen Leibes, daher nicht durch Ver- 
letzungen des Gehirns veränderlich. — Nach einem 
von Spallanzani gemachten und von Voltaire wieder- 
holten Versuch*) bleibt eine Schnecke, der man den 
Kopf abgeschnitten, am Leben, und nach einigen 
Wochen wächst ihr ein neuer Kopf, nebst Fühlhör- 
nern : mit diesem stellt sich Bewusstseyn und Vorstel- 
lung wieder ein ; während bis dahin das Thier, durch 
ungeregelte Bewegungen, blossen blinden Willen zu 
erkennen gab. Auch hier also finden wir den Willen 
als die Substanz, welche beharrt, den Intellekt hin- 
gegen bedingt durch sein Organ, als das wechselnde 
Accidenz. Er lässt sich bezeichnen als der Regulator 
des Willens. 
Vielleicht ist es Tiedemann, welcher zuerst das cere- 
brale Nervensystem mit einem Parasiten verglichen 
hat (Tiedemann und Treviranus Journal für Physio- 
logie, Bd. I, S. 62). Der Vergleich ist treffend, sofern 
das Gehirn, nebst ihm anhängenden Rückenmark und 
Nerven, dem Organismus gleichsam eingepflanzt ist 
und von ihm genährt wird, ohne selbst seinerseits zur 
Erhaltung der Oekonomie desselben direkt etwas bei- 
zutragen ; daher das Leben auch ohne Gehirn bestehen 
kann, wie bei den hirnlosen Missgeburten, auch bei 
Schildkröten, die nach abgeschnittenem Kopfe noch 
drei Wochen leben; nur muss dabei die medulla ob- 
longata, als Organ der Respiration, verschont seyn. So- 
gar eine Henne, der Floiaens das ganze grosse Gehirn 
weggeschnitten hatte, lebte noch zehn Monate und ge- 
dieh. Selbst beim Menschen führt die Zerstörung des 
Gehirns nicht direkt, sondern erst durch Vermittlung 
') Spallanzani, Risultati di esperienze sopra la riproduzione 
della testa nelle lumache terrestri; in den JMemorie di mati- 
matica e fisica della Societä Italiana, Tom. I, p. r>8 i . — Voltaire, 
Les colimacons du reverend pere lescarbotier. 
3l2 
der Lunge und dann des Herzens den Tod herbei 
(Bichat, Sur la vie et la niort, part. II, art. 1 1, §. i). 
Dagegen besorgt das Gehirn die Lenkung der Ver- 
hältnisse zur Aussen weit: dies allein ist sein Amt, und 
hiedurch trägt es seine Schuld an den es ernährenden 
Organismus ab; da dessen Existenz durch die äussern 
Verhältnisse bedingt ist. Demgemäss bedarf es, unter 
allen Theilen allein, des Schlafes: weil nämlich seine 
Thätigkeit von seiner Erhaltung völlig gesondert ist, 
jene bloss Kräfte und Substanz verzehrt, diese vom 
übrigen Organismus, als seiner Amme, geleistet wird: 
indem also seine Thätigkeit zu seinem Bestände nichts 
beiträgt, wird sie erschöpft, und erst wann sie pausirt, 
im Schlaf, geht seine Ernährung ungehindert von 
Statten. 
Der zweite Theil unserer obigen Thesis wird einer 
ausführlicheren Erörterung bedürfen, selbst nach Al- 
lem, was ich bereits in den angeführten Schriften dar- 
über gesagt habe. — Schon oben, Kapitel i8, habe 
ich nachgewiesen, dass das Ding an sich, welches je- 
der, also auch unserer eigenen Erscheinung zum Grun- 
de liegen muss, im Selbstbewusstseyn die eine seiner 
Erscheinungsformen, den Raum, abstreift, und allein 
die andere, die Zeit, beibehält; weshalb es hier sich 
unmittelbarer als irgendwo kund giebt, und wir es, nach 
dieser seiner unverhülltesten Erscheinung, als Willen 
ansprechen. Nun aber kann, in der blossen Zeit allein, 
sich keine beharrende Substanz, dergleichen die Ma- 
terie ist, darstellen; weil eine solche, wie §. 4 des er- 
sten Bandes dargethan, nur durch die innige Vereini- 
gung des Raumes mit der Zeit möglich wird. Daher 
wird, im Selbstbewusstseyn, der Wille nicht als das 
bleibende Substrat seiner Regungen wahrgenommen, 
mithin nicht als beharrende Substanz angeschaut; son- 
dern bloss seine einzelnen Akte, Bewegungen und Zu- 
stände, dergleichen die EntSchliessungen, Wünsche 
und Affekte sind, werden, successiv und während der 
Zeit ihrer Dauer, unmittelbar, jedoch nicht anschau- 
lich, erkannt. Die Erkenntniss des Willens im Selbst- 
bewusstseyn ist demnach keine Anschauung desselben, 
sondern ein ganz unmittelbares Innewerden, seiner 
3i3 
successiven Re{jun{;en. Hinge{jen für die nach aussen 
(jerichtete, durch die Sinne vermittehe und im Ver- 
stände vollzogene Erkenntniss, die neben der Zeit auch 
den Baivn zur Form hat, welche Beide sie, durch die 
Verstandesfunktion der Kausalität, aufs Innigste ver- 
knüpft, wodurch sie eben zur Anschauumj wird, stellt 
sich Dasselbe, was in der innern unmittelbaren Wahr- 
nehmung als Wille gefasst wurde, anschaulich dar, als 
organischer Leib, dessen einzelne Bewegungen die Akte, 
dessen Theile und Formen die bleibenden Bestrebun- 
gen, den Grundcharakter des individuell gegebenen 
Willens veranschaulichen, ja, dessen Schmerz und 
Wohlbehagen ganz unmittelbare Affektionen dieses 
Willens selbst sind. 
Zunächst werden wir dieser Identität des Leibes mit 
dem Willen inne in den einzelnen Aktionen Beider; 
da in diesen was im Selbstbewusstseyn als unmittel- 
barer, wirklicher Willensakt erkannt wird, zugleich 
und ungetrennt sich äusserlich als Bewegungdes Leibes 
darstellt, und Jeder seine, durch momentan eintre- 
tende Motive eben so momentan eintretenden Willens- 
beschlüsse alsbald in eben so vielen Aktionen seines 
Leibes so treu abgebildet erblickt, wie diese selbst in 
seinem Schatten; woraus dem Unbefangenen auf die 
einfachste Weise die Einsicht entspringt, dass sein Leib 
bloss die äusserliche Erscheinung seines Willens ist, 
d. h, die Art und Weise wie, in seinem anschauenden 
Intellekt, sein Wille sich darstellt; oder sein Wille 
selbst, unter der Form der Vorstellung. Nur w'enn 
wir dieser ursprünglichen und einfachen Belehrung 
uns gewaltsam entziehen, können wir, auf eine kurze 
Weile, den Hergang unserer eigenen Leibesaktion als 
ein Wunder anstaunen, welches dann darauf beruht, 
dass zwischen dem W^illensakt und der Leibesaktion 
wirklich keine Kausalverbindung ist: denn sie sind 
eben unmittelbar identisch, und ihre scheinbare Ver- 
schiedenheit entsteht allein daraus, dass hier das Eine 
und Selbe in zwei verschiedenen Erkenntnissweisen, 
der inneren und der äusseren, wahrgenommen wird. — 
Das wirkliche Wollen ist nämlich vom Thun unzer- 
trennlich, und ein Willensakt im engsten Sinn ist nur 
3.4 
der, welchen die That dazu stämpelt. Hingegen blosse 
Willensbeschlüsse sind, bis zur Ausführung, nur Vor- 
sätze und daher Sache des Intellekts allein: sie haben 
als solche ihre Stelle bloss im Gehirn und sind nichts 
weiter, als abgeschlossene Berechnungen der relativen 
Stärke der verschiedenen, sich entgegenstehenden Mo- 
tive, haben daher zwar grosse Wahrscheinlichkeit, 
aber nie Unfehlbarkeit. Sie können nämlich sich als 
falsch ausweisen, nicht nur mittelst Aenderung der 
Umstände, sondern auch dadurch, dass die Abschätz- 
ung der respektiven Wirkung der Motive auf den 
eigentlichen Willen irrig war, welches sich alsdann 
zeigt, indem die That dem Vorsatz untreu wird: daher 
eben ist vor der Ausführung kein Entschluss gewiss. 
Also ist allein im wirklichen Handeln der Wille selbst 
thätig, mithin in der Muskelaktion, folglich in der 
L'ritabilität: also objektivirt sich in dieser der eigent- 
liche Wille. Das grosse Gehirn ist der Ort der Motive, 
woselbst, durch diese, der Wille zur Willkür wird, 
d. h. eben durch Motive näher bestimmt wird. Diese 
Motive sind Vorstellungen, welche auf Anlass äusserer 
Reize der Sinnesoi'gane, mittelst der Funktionen des 
Gehirns entstehen und auch zu Begriffen, dann zu 
Beschlüssen verarbeitet werden. Wann es zum wirk- 
lichen Willensakt kommt, wirken diese Motive, deren 
Werkstätte das grosse Gehirn ist, unter Vermittelung 
des kleinen Gehirns, auf das Rückenmark und die von 
diesem ausgehenden motorischen Nerven, welche dann 
auf die Muskeln wirken, jedoch bloss als Reize der 
Irritabilität derselben; da auch galvanische, chemische 
und selbst mechanische Reize die selbe Kontraktion, 
die der motorische Nerv hervorruft, bewirken können. 
Also was im Gehirn Motiv war, wirkt, wenn es durch 
die Nervenleitung zum Muskel gelangt, als blosser 
Reiz. Die Sensibilität an sich ist völlig unvermögend 
einen Muskel zu kontrahiren: dies kann nur dieser 
selbst, und seine Fähigkeit hiezu heisst Irritabilität 
d. h. Reizbarkeit: sie ist ausschliessliche Eigenschaft 
des Muskels; wie Sensibilität ausschliessliche Eigen- 
schaft des Nerven ist. Dieser giebt zwar dem Muskel 
den Anlass zu seiner Kontraktion; aber keineswegs 
3i5 
ist er es, welcher, irgendwie meclianisch, den Muskel 
zusammenzöge: sondern dies geschieht ganz allein 
vermöge der Irritahilität, welche des Muskels selbst- 
eigene Kraft ist. Diese ist, von aussen aufgefasst eine 
Qualitas occulta; und nur das Selbstbewusstseyn re- 
velirt sie als den Willen. In der hier kurz dargelegten 
Kausalkette, von der Einwirkung des aussen liegenden 
Motivs bis zur Kontraktion des Muskels, tritt nicht 
etwan der Wille als letztes Glied derselben mit ein; 
sondern er ist das metaphysische Substrat der Irrita- 
bilität des Muskels: er spielt also hier genau dieselbe 
Rolle, welche, in einer physikalischen oder chemi- 
schen Kausalkette, diedabei dem Vorgange zum Grunde 
liegenden geheimnissvollen Naturkräftespielen, welche 
als solche nicht selbst als Glieder in der Kausalkette 
begriffen sind, sondern allen Gliedern derselben die 
Fähigkeit zu wirken verleihen; wie ich dies in §. 26 
des ersten Bandes ausführlich dargelegt habe. Daher 
würden wir eine dergleichen geheimnissvolle Natur- 
kraft eben auch der Kontraktion des Muskels unter- 
legen; wenn diese uns nicht durch eine ganz ander- 
weitige Erkenntnissquelle, das Selbstbewusstseyn, auf- 
geschlossen wäre, als Wille. Dieserhalb erscheint, wie 
oben gesagt, unsere eigene Muskelbewegung, wenn 
wir vom Willen ausgehen, uns als ein Wunder; weil 
zwar von dem aussen liegenden Motiv bis zur Muskel- 
aktion eine strenge Kausalkette fortgeht, der Wille 
selbst aber nicht als Glied in ihr begriffen ist, sondern 
als das metaphysische Substrat der Möglichkeit einer 
Aktuirung des Muskels durch Gehirn und Nerv, auch 
der gegenwärtigen Muskelaktion zum Grunde liegt: 
daher diese eigentlich nicht seine Wirkung, sondern 
seine Erscheinung ist. Als solche tritt sie ein in der, 
vom Willen an sich selbst ganz verschiedenen, Welt der 
Vorstellung, deren F'orm das Kausalitätsgesetz ist; wo- 
durch sie, wenn man vom /f'7//en ausgeht, für die auf- 
merksame Reflexion, das Ansehn eines Wunders er- 
hält, für die tiefere Forschung aber die unmittelbarste 
Beglaubigung der grossen Wahrheit liefert, dass was 
in der Erscheinung als Körper und ihr Wirken auf- 
tritt, an sich fi^ille ist. — Wenn mm etwan der mo- 
.3 16 
torische Nerv, der zu meiner Hand leitet, durchschnit- 
ten ist; so kann mein Wille sie nicht mehr bewegen. 
Dies liegt aber nicht daran, dass die Hand aufgehört 
hätte, wie jeder Theil meines Leibes, die Objektität, 
die blosse Sichtbarkeit, meines Willens zu seyn, oder 
mit andern Worten, dass dieirritabilität verschwunden 
wäre; sondern daran, dass die Einwirkung des Motivs, 
in Folge deren allein ich meine Hand bewegen kann, 
nicht zu ihr gelangen und als Reiz auf ihre Muskeln 
wirken kann, da die Leitung vom Gehirn zu ihr un- 
terbrochen ist. Also ist eigentlich mein Wille, in diesem 
Theil, nur der Einwirkung des Motivs entzogen. In 
der Irritabilität objektivirt sich der Wille unmittelbar, 
nicht in der Sensibilität. 
Um über diesen wichtigen Punkt allen Missver- 
ständnissen, besonders solchen, die von der rein em- 
pirisch betriebenen Physiologie ausgehen, vorzubeu- 
gen, will ich den ganzen Hergang etwas gründlicher 
auseinandersetzen. — Meine Lehre besagt, dass der 
ganze Leib der Wille selbst ist, sich darstellend in der 
Anschauung des Gehirns, folglich eingegangen in des- 
sen Erkenntnissformen. Hieraus folgt, dass der Wille 
im ganzen Leibe überall gleichmässig gegenwärtig 
sei; wie dies auch nachweislich der Fall ist; da die 
organischen Funktionen nicht weniger als die anima- 
lischen sein Werk sind. Wie nun aber ist es hiemit 
zu vereinigen, dass die %villk'ürlichen Aktionen, diese 
unleugbarsten Aeusserungen des Willens, doch offen- 
bar vom Gehirn ausgehen, sodann erst, durch das 
Mark, in die Nervenstämme gelangen, welche endlich 
die Glieder in Bewegung setzen, und deren Lähmung, 
oder Durchschneidung, daher die Möglichkeit der 
willkürlichen Bewegung aufhebt? Danach sollte man 
denken, dass der Wille, eben wie der Intellekt seinen 
Sitz allein im Gehirn habe und eben wie dieser, eine 
blosse Funktion des Gehirns sei. 
Diesem ist jedoch nicht so; sondern der ganze Leib 
ist und bleibt die Darstellung des Willens in der An- 
schauung, also der, vermöge der Gehirnfunktionen, 
objektiv angeschaute Wille selbst. Jener Hergang, bei 
den Willensakten, beruht aber darauf, dass der Wille, 
3.7 
welcher, nach meiner Tjehre, in jeder Erscheinnnjj 
der Natur, auch der ve{jetabili.scheu und unorgani- 
schen, sich äussert, im menschhchen inid thierischen 
Leibe als ein beivusster fVille auftritt. Ein Bewiisstseyn 
aber ist wesenthch ein einheitHches imd erfordert da- 
her stets einen centralen Einheitspunkt. Die Nothwen- 
digkeit des Bewusstseyns wird, wie ich oft auseinan- 
dergesetzt habe, dadurch herbeigeführt, dass, in Folge 
der gesteigerten Komplikation und dadurch der man- 
nigfaltigeren Bedürfnisse eines Organismus, die Akte 
seines Willens durch Motive gelenkt werden müssen, 
nicht mehr, wie auf den tieferen Stufen, durch blosse 
Reize. Zu diesem Behuf musste er hier mit einem er- 
kennenden Bewusstseyn, also mit einem Intellekt, als 
dem Medio und Ort der Motive, versehen auftreten. 
Dieser Intellekt, wenn selbst objektiv angeschaut, stellt 
sich dar als das Gehirn, nebst Dependenzien, also Rük- 
kenmark und Nerven. Er nun ist es, in welchem, auf 
Anlass äusserer Eindrücke, die Vorstellungen ent- 
stehen, welche zu Motiven für den Willen werden. 
Im vei'niinftigen Intellekt aber erfahren siehiezu über- 
dies noch eine weitere Verarbeitung durch Reflexion 
und Ueberlegung. Ein solcher Intellekt nun also muss 
zuvörderst alle Eindrücke, nebst deren Verarbeitung 
durch seine Funktionen, sei es zu blosser Anschauung, 
oder zu Begriffen, in ej/j^/iPunkt vereinigen, der gleich- 
sam der Brennpunkt aller seiner Strahlen wird, da- 
mit jene Einheit des Bewusstseyns entstehe, welche 
das theoretische Ich ist, der Träger des ganzen Bewusst- 
seyns, in welchem selbst es mit dem wollenden Ich, 
dessen blosse Erkenntnissfunktion es ist, als identisch 
sich darstellt. Jener Einheitspunkt des Bewusstseyns, 
oder das theoretische Ich, ist eben Kants synthetische 
Einheit der Apperception, auf welche alle Vorstel- 
lungen sich wie auf eine Perlenschnur reihen und ver- 
möge deren das ,,Ich denke", als Faden der Perlen- 
schnur, „alle unsere Vorstellungen muss begleiten 
können". — Dieser Sammelplatz der Motive also, wo- 
selbst ihr Eintritt in den einheitlichen Fokus des Be- 
wusstseyns Statt hat, ist das Gehirn. Hier werden sie 
im vermmftlosen Bewusstsevn bloss angeschauet, im 
3i8 
vernünftigen durch Begriffe verdeutlicht, also noch 
allererst in abstracto gedacht und verglichen; worauf 
der Wille sich, seinem individuellen und unwandel- 
baren Charakter gemäss, entscheidet, und so der Ent- 
5cA/u55 hervorgeht, welcher nunmehr, mittelst desCe- 
rebellums, des Marks und der Nervenstämme, die 
äusseren Glieder in Bewegung setzt. Denn, wenn 
gleich auch in diesen der Wille ganz unmittelbar 
gegenwärtig ist, indem sie seine blosse Erscheinung 
sind ; so bedurfte er, wo er nach Motiven^ oder gar 
nach üeberlegung, sich zu bewegen hat, eines solchen 
Apparats, zur x\uffassung und Verarbeitung der Vor- 
stellungen zu solchen Motiven, in deren Gemässheit 
seine Akte hier als Entschlüsse auftreten; — eben 
wie die Ernährung des Bluts, durch den Chylus, eines 
Magens und der Gedärme bedarf, in welchen dieser 
bereitet wird und dann als solcher ihm zufliesst durch 
den ductus thoracicus, welcher hier die Rolle spielt, 
die dort das Rückenmark hat. — Am einfachsten und 
allgemeinsten lässt die Sache sich so fassen: der Wille 
ist in allen Muskelfasern des ganzen Leibes als h'ri- 
tabilität unmittelbar gegenwärtig, als ein fortwäh- 
rendes Streben zur Thätigkeit überhaupt. Soll nun 
aber dieses Streben sich realisiren, also sich als Be- 
wegung äussern; so muss diese Bewegung, eben als 
solche, irgend eine Richtung haben: diese Richtung 
aber muss durch irgend etwas bestimmt werden : d. h. 
sie bedarf eines Lenkers: dieser nun ist das Nerven- 
system. Denn der blossen Irritabilität, wie sie in der 
Muskelfaser liegt und an sich purer Wille ist, sind 
alle Richtungen gleichgültig: also bestimmt sie sich 
nach keiner, sondern verhält sich wie ein Körper, 
der nach allen Richtungen gleichmässig gezogen wird; 
er ruht. Indem die Nerventhätigkeit als Motiv (bei 
Reflexbewegungen als Reiz) hinzutritt, erhält die stre- 
bende Kraft, d. i, die Irritabilität, eine bestimmte 
Richtung und liefert jetzt die Bewegungen. — Die- 
jenigen äusseren Willensakte jedoch, welche keiner 
Motive, also auch nicht der Verarbeitung blosser Rei^ 
ze zu Vorstellungen im Gehirn, daraus eben Motive 
werden, bedürfen, sondern unmittelbar auf Reize, 
3i9 
meistens innere, erfolgen, sind die Reflexbewegungen, 
ausgehend vom blossen Rückenmark, wie z. R. die 
Spasmen und Krämpfe, in denen der Wille ohne 
Theilnahme des Gehirns wirkt. — Auf analoge Weise 
betreibt der Wille das organische Leben, ebenfalls 
auf Nervenreiz, welcher nicht vom Gehirn ausgeht. 
Nämlich der Wille erscheint in jedem Muskel als 
Irritabilität und ist folglich für sich im Stande, diesen 
zu kontrahiren; jedoch nur überhaupt \ damit eine 
bestimmte Kontraktion, in einem gegebenen Augen- 
blick, erfolge, bedarf es, wie überall, einer Ursache, 
die hier ein Reiz seyn muss. Diesen giebt überall der 
Nerv, welcher in den Muskel geht. Hängt dieser Nerv 
mit dem Gehirn zusammen; so ist die Kontraktion 
ein bewusster Willensakt, d. h. geschieht auf Motive, 
welche, in Folge äusserer Einwirkung, im Gehirn, als 
Vorstellungen entstanden sind. Hängt der Nerv nicht 
mit dem Gehirn zusammen, sondern mit dem sym- 
pathicus maximus; so ist die Kontraktion unwillkür- 
lich und unbewusst, nämlich ein dem organischen 
Leben dienender Akt, und der Nervenreiz dazu wird 
veranlasst durch innere Einwirkung, z. R. durch den 
Drvick der eingenommenen Nahrung auf den Magen, 
oder des Chymus auf die Gedärme, oder des einströ- 
menden Rlutes auf die W^ände des Herzens: er ist 
denmach Magenverdauung, oder motus peristalticus, 
oder Herzschlag u. s. w. 
Gehen wir nun aber, in diesem Hergang, noch 
einen Schritt weiter zurück; so finden wir, dass die 
Muskeln das Produkt und Verdichtungswerk des Rlu- 
tes, ja gewissermaassen nur festgewordenes, gleichsam 
geronnenes oder krystallisirtes Rlut sind; indem sie 
den Faserstoff (Fibrine, Cruor) und den Färbestoff 
desselben fast unverändert in sich aufgenommen ha- 
ben (Rurdach, Physiologie, Rd. 5, S. 686). Die Kraft 
aber, welche aus dem Rlute den Muskel bildete, darf 
nicht als verschieden angenommen werden von der, 
die nachher, als Irritabilität, auf Nervenreiz, weichen 
das Gehirn liefert, denselben bewegt; wo sie alsdann 
dem Selbstbewusstseyn sich als Dasjenige kund giebt, 
was wir Willen nennen. Zudem beweist den nahen Zu- 
330 
samnienhan{5; zwischen dem Blut und der Irritabilität 
auch dieses, dass wo, wegen ünvollkommenheit des klei- 
nen Blutumlaufs, ein Theil des Blutes unoxydirt zum 
Herzen zurückkehrt, die Irritabilität sogleich unge- 
mein schwach ist; wie bei den Batrachiern. Auch ist 
die Bewegung des Blutes, eben wie die des Muskels, 
eine selbstständige und ursprüngliche, sie bedarf nicht 
ein Mal, wie die Irritabilität, des Nerveneinflusses, 
und ist selbst vom Herzen unabhängig; wie dies am 
deutlichsten der Rücklauf des Blutes durch die Venen 
zum Herzen kund giebt, da bei diesem nicht, wie 
beim Arterienlauf, eine vis a tergo es propellirt, und 
auch alle sonstigen mechanischen Erklärungen, wie 
etwan durch eine Saugekraft der rechten Herzkammer, 
durchaus zu kurz kommen, (Siehe Burdachs Physio- 
logie, Bd. 4, §• 763, und Rösch „Ueber die Bedeu- 
tung des Bluts", S. 1 1 fg.) Merkwürdig ist es zu sehen, 
wie die Franzosen, welche nichts, als mechanische 
Kräfte kennen, mit unzureichenden Gründen auf bei- 
den Seiten, gegen einander streiten, und Bichat den 
Rücklauf des Blutes durch die Venen dem Druck 
der Wände der Kapillargefässe, Magendie, dagegen 
dem noch immer fortwirkenden Impuls des Herzens 
zuschreibt (Precis de physiologie par Magendie, Vol. 
2, p. 389). Dass die Bewegung des Blutes auch vom 
Nervensystem, wenigstens vom cerebralen, unabhän- 
gig ist, bezeugen die F'ötus, welche (nach Müllers 
Physiologie) ohne Gehirn und Rückenmark, doch 
Blutumlauf haben. Und auch F/ow/ens sagt : Le mou- 
vement du coeur, pris en soi, et abstraction faite de 
tout ce qui n'est pas essentiellement lui, comme sa 
duree, son energie, ne depend ni immediatement, 
ni coinstantanement, du Systeme nerveu.v central, et 
consequemment c'est dans tout autre point de ce Sy- 
steme que dans les centres nerveux eux-memes, qu'il 
faut chercher le principe primitif et immediat de ce 
mouvement (Annales des sciences naturelles p. Au- 
douin et Brongniard, 1828, Vol. i3). — Auch Cuvier 
sagt: La circulation survit ä la destruction de tout 
Tencephale et de toute la moelle epiniaire (Mem. de 
l'acad. d. sc, 1823, Vol. 6; Hist. d. Tacad. p. Cuvier, 
2 I Schopenhauer II j 2 I 
p. cxxx). Cor primuin vivens et ultimum moriens, 
sagt Haller. Der Herzschlag hört im Tode zuletzt auf. 
— Die Gefässe selbst hat das Blut gemacht; da es im 
Ei früher als sie erscheint, sie sind nur seine freiwil- 
lig eingeschlagenen, dann gebahnten, endlich allmä- 
lig kondensirten und umschlossenen Wege; wie dies 
schon Kaspar JVoljff gelehrt hat : „Theorie der Gene- 
ration", §. 3o — 35. Auch die von der des Blutes un- 
zertrennliche Bewegung des Herzens ist, wenn gleich 
durch das Bedürfniss Blut in die Lunge zu senden 
veranlasst, doch eine ursprüngliche, sofern sie vom 
Nervensystem und der Sensibilität unabhängig ist: 
wie Burdach dies ausführlich darthut. „Im Herzen", 
sagt er, „erscheint, mit dem Maximum von Irritabi- 
lität, ein Minimum von Sensibilität" (1. c, §. 769). 
Das Herz gehört sowohl dem Muskel- als dem Blut- 
oder Gefäss-System an; woran abermals ersichtlich 
ist, dass Beide nahe verwandt, ja ein Ganzes sind. 
Da nun das metaphysische Substrat der Kraft, die den 
Muskel bewegt, also der Irritabilität, der Wille ist; so 
muss dasselbe es auch von der seyn, welche der Be- 
wegung und den Bildungen des Blutes zum Grunde 
liegt, als durch welche der Muskel hervorgebracht 
worden. Der Lauf der Arterien bestimmt zudem die 
Gestalt und Grösse aller Glieder: folglich ist die ganze 
Gestalt des Leibes durch den Lauf des Blutes bestimmt. 
Ueberhaupt also hat das Blut, wie es alle Theile des 
Leibes ernährt, auch schon, als Urflüssigkeit des Or- 
ganismus, dieselben ursprünglich aus sich erzeugt 
und gebildet; und die Ernährung der Theile, welche 
eingeständlich die Hauptfimktion des Blutes ausmacht, 
ist nur die Fortsetzung jener urprünglichen Erzeu- 
gung derselben. Diese Wahrheit findet man gründlich 
und vortretlflich auseinandergesetzt in der oben er- 
wähnten Schrift von Bosch: „Ueber die Bedeutung 
des Blutes", 1889. Er zeigt, dass das Blut das ur- 
sprünglich Belebte und die Quelle sowohl des Da- 
seyns, als der Erhaltung aller Theile ist; dass aus 
ihm sich alle Organe ausgeschieden haben, und zu- 
gleich mit ihnen zur Lenkung ihrer Fvmktionen das 
Nervensystem, welches theils als plastisches, dem Le- 
822 
ben der einzelnen Theile im Innein, theils als ce7e- 
brales, der Relation zur Aussenwelt ordnend und lei- 
tend vorsteht. „Das Blut", sagt er S. 26, „war Fleisch 
und JNerv zugleich und in demselben Augenblick, da 
der Muskel sich von ihm löste, blieb der Nerv, eben 
so getrennt, dem Fleische gegenüberstehen." Hiebei 
versteht es sich von selbst, dass das Blut, ehe jene 
festen Theile von ihm ausgeschieden sind, auch eine 
etwas andere Beschaffenheit hat als nachdem: es ist 
alsdann, wie Rösch es bezeichnet, die chaotische, be- 
lebte, schleimige Urflüssigkeit, gleichsam eine orga- 
nische Emulsion, in welcher alle nachherigen Theile 
implicite enthalten sind: auch die rothe Farbe hat 
es nicht gleich Anfangs. Dies beseitigt den Einwurf, 
den man daraus nehmen könnte, dass Gehirn und 
Rückenmark sich zu bilden anfangen, ehe die Cirku- 
lation des Blutes sichtbar ist und das Herz entsteht. 
In diesem Sinne sagt auch Schultz (System der Cirku- 
lation S. 297): „Wir glauben nicht, dass die Ansicht 
Baiimgärtnei^s, nach welcher sich das Nervensystem 
früher, als das Blut bildet, sich wird durchführen 
lassen; da Baumgärtner die Entstehung des Blutes 
nur von der Bildung der Bläschen an rechnet, wäh- 
rend schon viel früher, im Embryo und in der Thier- 
reihe Blut in Form von reinem Plasma erscheint." — 
Nimmt doch das Blut der wirbellosen Thiere nie die 
rothe Farbe an ; weshalb wir dennoch nicht, wie Ari- 
stoteles, es ihnen absprechen. — Es verdient wohl, 
angemerkt zu werden, dass, nach dem Berichte Justi- 
nus Kerner's (Geschichte zweier Somnambulen, S. 78) 
eine im höchsten Grade hellsehende Somnambule sagt : 
„Ich bin so tief in mir, als je ein Mensch in sich ge- 
führt werden kann : die Kraft meines irdischen Lebens 
scheint mir im Blute ihren Ursprung zu haben, wo- 
durch sie sich, durch das Auslaufen in die Adern, 
vermittelst der Nerven, dem ganzen Körper, das Edel- 
ste desselben aber, über sich, dem Gehirn mittheilt." 
Aus diesem Allen geht hervor, dass der Wille sich 
am unmittelbarsten im Blute objektivirt, als welches 
den Organismus ursprünglich schafft und formt, ihn 
durch Wachsthum vollendet und nachher ihn fort- 
21* 323 
während erhält, sowohl durch regelmässige Erneue- 
rung aller, als durch ausserordentliche Herstellung 
etwan verletzter Theile. Das erste Produkt des Blutes 
sind seine eigenen Gefässe und dann die Muskeln, in 
deren Irritabilität der Wille sich dem Selbsthewusst- 
seyn kund gieht, hiemit aber auch das Herz, als wel- 
ches zugleich Geläss und Muskel, und deshalb das 
wahre Centrum und primum mobile des ganzen Le- 
bens ist. Zum individuellen Leben und Bestehen in 
der Aussenwelt bedarf nun aber der Wille zweier 
Hülfssysteme: nämlich eines zur Lenkung und Ord- 
nung seiner innern und äussern Thätigkeit, und eines 
andern zur steten Erneuerung der Masse des Bluts ; 
also eines Lenkers und eines Erhalters. Daher schafft 
er sich das Nerven- und das Eingeweide-System: also, 
zu den functiones vitales, welche die ursprünglichsten 
und wesentlichsten sind, gesellen sich subsidiarisch 
die functiones animales und die functiones naturales. 
Im Nei'vcnsystem objektivirt der Wille sich demnach 
nur mittelbar und sekundär; sofern nämlich dieses 
als ein blosses Hülfsorgan auftritt, als eine Veranstal- 
tung, mittelst welcher die theils inneren, theils äusse- 
ren Veranlassungen, auf welcher der Wille sich, sei- 
nen Zwecken gemäss, zu äussern hat, zu seiner Kunde 
gelangen: die innere?! empfängt das plastische Nerven- 
system, also der sympathische Nerv, dieses cerebrum 
abdominale, als blosse Reize, und der Wille reagirt 
darauf an Ort und Stelle, ohne Bewusstseyn des Ge- 
hirns; die äusseren empfängt das Gehirn, als Motive, 
und der Wille reagirt durch bewusste, nach aussen 
gerichtete Handlungen. Mithin macht das ganze Ner- 
vensystem gleichsam die Fühlhörner des Willens aus, 
die er nach innen und aussen streckt. Die Gehirn- 
und Rückenmarks-Nerven zerfallen, an ihren Wur- 
zeln, in sensibele und motorische. Die sensibeln emp- 
fangen die Kunde von aussen, welche nun sich im 
Heerde des Gehirns sammelt und daselbst verarbeitet 
wird, woraus Vorstellungen, zunächst als Motive, 
entstehen. Die motorischen Nerven aber hinterbrin- 
gen, wie Kouriere, das Resultat der Gehirnfunktion 
dem Muskel, auf welchen dasselbe als Reiz wirkt und 
324 
dessen Irritabilität die unmittelbare Erscheinung des 
Willens ist. Vermutlilich zerfallen die plastischen 
Nerven ebenfalls in sensibele und motorische, wiewohl 
auf einer untergeordneten Skala. — Die Rolle, welche 
im Organismus die Ganglien spielen, haben wir als 
eine diminutive Gehirnrolle zu denken, wodurch die 
eine zur Erläuterung der andern wird. Die Ganglien 
liegen überall, wo die organischen Funktionen des 
vegetativen Systems einer Aufsicht bedürfen. Es ist 
als ob daselbst der Wille, um seine Zwecke durch- 
zusetzen, nicht mit seinem direkten und einfachen 
Wirken ausreichen konnte, sondern einer Leitung 
und deshalb einer Kontrole desselben bedurfte; wie 
wenn man, bei einer Verrichtung, nicht mit seiner 
blossen Besinnung ausreicht, sondern was man thut 
allemal notiren muss. Hiezu reichen, für das Innere 
des Organismus, blosse Nervenknoten aus; eben weil 
alles im eigenen Bereich desselben vorgeht. Hingegen 
für das x\eussere bedurfte es einer sehr komplicirten 
Veranstaltung derselben Art: diese ist das Gehirn 
mit seinen Fühlföden, welche es in die Aussenwelt 
streckt, den Sinnesnerven. Aber selbst in den mit die- 
sem grossen Nervencentro kommunizirenden Orga- 
nen braucht, in sehr einfachen Fällen, die Angelegen- 
heit nicht vor die oberste Behörde gebracht zu wer- 
den; sondern eine untergeordnete reicht aus, das Nö- 
thige zu verfügen; eine solche ist das Rückenmark, 
in den von Marshall Hall entdeckten Reflexbewegun- 
gen, wie das Niesen, Gähnen, Erbrechen, die zweite 
Hälfte des Schlingens u. a. m. Der Wille selbst ist im 
ganzen Organismus gegenwärtig, da dieser seine blosse 
Sichtbarkeit ist: das Nervensystem ist überall bloss 
da, um eine Direktion seines Thuns möglich zu machen, 
durch eine Kontrole desselben, gleichsam dem Willen 
als Spiegel zu dienen, damit er sehe was er thue; wie 
wir beim Rasiren uns eines Spiegels bedienen. Da- 
durch entstehen kleine Sensoria im Innern, für speci- 
elle und deshalb einfache Verrichtungen, die Gang- 
lien: das Hauptsensorium aber, das Gehirn, ist der 
grosse und künstliche Apparat für die komplicirten 
lind vielseitigen, auf die unaufhörlich und unregel- 
325 
massig wechselnde Aussenwelt bezüglichen Verrich- 
tungen. Wo im Organismus Nervenfäden in ein Gang- 
lion zusammenlaufen, da ist gevvissermaassen ein 
eigenes Thier vorhanden und abgeschlossen, welches 
mittelst des Ganglions, eine Art von schwacher Er- 
kenntniss hat, deren Sphäre jedoch beschränkt ist 
auf die Theile, aus denen diese Nerven unmittelbar 
kommen. Was nun aber diese Theile auf solche quasi 
Erkenntniss aktuirt, ist oÜ'euhav fFille, ja, wir vermö- 
gen gar nicht es anders auch nur zu denken. Hier- 
aufberuht die vita propria jedes Tlieils, wie auch, bei 
Insekten, als welche, statt des Rückenmarks, einen 
doppelten Nervenstrang mit Ganglien in regehnässi- 
gen Entfernungen haben, die Fähigkeit jedes Theils, 
nach Trennung vom Kopf und übrigen Rumpf, noch 
tagelang zu leben ; endlich auch die, in letzter Instanz, 
nicht vom Gehirn aus motivirten Handlungen, d. i. 
Instinkt und Kunsttrieb. Marshall Hall, dessen Ent- 
deckung der Reflexbewegungen ich oben erwähnte, 
hat in derselben uns eigentlich die Theorie der innvill- 
kürlichen Bewegungen geliefert. Diese sind theils nor- 
male oder physiologische: dahin gehören die Ver- 
schliessung der Ein- und Ausgänge des Leibes, also 
der sphincteres vesicae et ani (ausgehend von Rücken- 
marksnerven), der Augenlider im Schlaf (vom fünften 
Nervenpaare aus), des Larynx (vom N. vagus aus), 
wenn Speisen an ihm vorübergehen, oder Kohlensäure 
eindringen will, sodann das Schlucken, vom Pharynx 
an, das Gähnen, Niesen, die Respiration, im Schlafe 
ganz, im Wachen zum Theil, endlich die Erektion, 
Ejakulation, wie auch die Konception u. a. m.: theils 
sind sie abnormale und pathologische: dahin gehören 
das Stottein, der Schluchzen, das Erbrechen, wie 
auch die Krämpfe und Konvulsionen aller Art, zumal 
in der Epilepsie, im Tetanus, in der Hydrophobie und 
sonst, endhch die durch galvanischen oder anderen 
Reiz hervorgerufenen, ohne Gefühl und Bewusstseyn 
geschehenden Zuckungen paralysirter, d. h. ausser 
Verbindung mit dem Gehirn gesetzter Glieder, eben 
so die Zuckungen enthaupteter Thiere, endlich alle 
Bewegungen und Aktionen hirnlos geborener Kinder. 
326 
Alle Krämpfe sind eine Rebellion der Nerven der Glie- 
der gegen die Souveränität des Gehirns: hingegen 
sind die normalen Reflexbewegungen die legitime 
Autokratie untergeordneter Beamten. Diese sämmtli- 
chen Bewegungen also sind unwillkürlich, weil sie 
nicht vom Gehirn ausgehen und daher nicht auf Mo- 
tive geschehen, sondern auf blosse Reize. Die sie ver- 
anlassenden Reize gelangen bloss zum Rückenmark, 
oder zur meduUa oblongata, und von da aus geschieht 
immittelbar die Reaktion, welche die Bewegung be- 
wirkt. Das selbe Verhältniss, welches das Gehirn zu 
Motiv und Handlung hat, hat das Rückenmark zu 
jenen unwillkürlichen Bewegungen, und wasdersen- 
tient and voluntary nerv für jenes, ist für dieses der 
incident and motor nerv. Dass dennoch, in den Einen 
wie in den Andern, das eigenthch Bewegende der 
Wille ist, fällt um so deutlicher in die Augen, als die 
unwillkürlich bewegten Muskeln grossentheils die 
selben sind, welche, unter andern Umständen, vom 
Gehirn aus bewegt werden, in den willkürlichen Ak- 
tionen, wo ihr primum mobile uns durch das Selbst- 
bewusstseyn als JVilleininn bekannt ist. Marshall Halls 
vortreffliches Buch on the diseases of the nervous 
System ist überaus geeignet, den Unterschied zwischen 
Willkür und Wille deutlich zu machen und die Wahr- 
heit meiner Grundlehre zu bestätigen. 
Erinnern wir uns jetzt, zur Veranschaulichung alles 
hier Gesagten, an diejenige Entstehung eines Organis- 
mus, welche unserer Beobachtung am zugänglichsten 
ist. Wer macht das Hühnchen im Ei? etwaneine von 
aussen kommende und durch die Schaale dringende 
Macht und Kunst? O nein! das Hühnchen macht sich 
selbst, und eben die Kraft, welche dieses über allen Aus- 
druck koraplicirte, wohlberechnete und zweckmässige 
Werk ausführt und vollendet, durchbricht, sobald es 
fertig ist, die Schaale, und vollzieht nunmehr, unter 
der Benennung Wille, die äusseren Handlungen des 
Hühnchens. Beides zugleich konnte sie nicht leisten; 
vorher mit Ausarbeitung des Organismus beschäftigt, 
hatte sie keine Besorgung nach aussen. Nachdem nun 
aber jener vollendet ist, tritt diese ein, unter Leitung 
327 
des Gehirns und seiner Fühlfäden, der Sinne, als eines 
zu diesem Zweck vorhin hereiteten Werkzeuges, des- 
sen Dienst erst anfängt, wann es im Selbsthewusst- 
seyn als Intellekt aufwacht, der die Laterne der Schritte 
des Willens, sein VjYejiovixov, und zugleich der Träger 
der objektiven Aussenwelt ist, so beschränkt auch 
der Horizont dieser im Bewusstseyn eines Huhnes 
seyn mag. Was aber jetzt das Huhn, vinter Vermitte- 
lung dieses Organs, in der Aussenwelt zu leisten ver- 
mag, ist, als durch ein Sekundäres vermittelt, unend- 
lich geringfügiger, als was es in seiner Ursprünglich- 
keit leistete, da es sich selbst machte. 
Wir haben oben das cerebrale Nervensystem als 
ein Hülfsörgan des Willens kennen gelernt, in wel- 
chem dieser sich Aoher sekundär objektivirt. Wie also 
das Cerebralsystem, ob{jleich nicht direkt eingreifend 
in den Kreis der Lebensfunktionen des Organismus, 
sondern nur dessen Relationen nach aussen lenkend, 
dennoch den Organismus zur Basis hat und zum Lohn 
seiner Dienste von ihm genährt wird, wie also das 
cerebrale oder animale Leben als Produkt des orga- 
nischen Lebens anzusehen ist; so gehört das Gehirn 
und dessen Funktion, das Erkennen, also der Intellekt, 
mittelbar und sekundär zur Erscheinung des Willens: 
auch in ihm objektivirt sich der Wille und zwar als 
W^ille zur Wahrnehmung der Aussenwelt, also als ein 
Erkennenu'oUen. So gross und fundamental daher auch 
der Unterschied des Wollens vom Erkennen in uns 
ist; so bleibt dennoch das letzte Substrat Beider das 
selbe, nämlich der Mille, als das Wesen an sich der 
ganzen Erscheinung : das Erkennen aber, der Intellekt, 
welcher im Selbstbewusstseyn sich durchaus als das 
Sekundäre darstellt, ist nicht nur als sein Accidenz, 
sondern auch als sein Werk anzusehen und also durch 
einen Umweg, doch wieder auf ihn zurückzuführen 
Wie der Intellekt phvsiologisch sich ergiebt als die 
Funktion eines Organs des Leibes; so ist er metaphysisch 
anzusehen als ein Werk des Willens, dessen Objekti- 
vation, oder Si< htbarkeit, der ganze Leib ist. Aisoder 
Wille zu erkennen, objektiv angeschaut, ist das Gehirn ; 
wie derWille zu </^Ae?j, objektiv angeschaut, der Fussist; 
328 
der Wille zu greifen, die Hand ; der Wille zu verdauen 
der Magen ; zu zeugen, die Genitalien u. s. f. Diese ganze 
Objektivation ist freilich zuletzt nur für das Gehirn 
da, als seine Anschauung: in dieser stellt sich der 
Wille als organischer Leib dar. Aber sofern das Ge- 
hirn erkennt, wird es selbst nicht erkannt; sondern ist 
das Erkennende, das Subjekt aller Erkenntniss. Sofern 
es aber in der objektiven Anschauung, d. h. im Be- 
wusstseyn anderer Dinge, also sekundär, erkannt wii-d, 
gehört es, als Organ des Leibes, zur Objektivation des 
Willens. Denn der ganze Process ist die Selhsterkennt- 
niss des ffillens, geht von diesem aus und läuft auf 
ihn zurück, und macht Das aus, was Kant die Erschei- 
nung, im Gegensatz des Dinges an sich benannt hat. 
Was daher erkannt, was f^orstelhmg wii'd, ist der 
Wille: und diese Vorstellung ist, was wir den Leib 
nennen, der als ein räumlich Ausgedehntes und sich 
in der Zeit Bewegendes nur mittelst der Funktionen 
des Gehirns, also nur in diesem, existirt. Was hinge- 
gen erkennt, was jene Vorstellung hat, ist das Gehirn, 
welches jedoch sich selbst nicht erkennt, sondern nur 
als Intellekt, d. h. als Erkennendes, also nur subjektiv 
sich seiner bewusst wird. Was von Innen gesehen das 
Erkenntnissvermögen ist, das ist, von Aussen gesehen, 
das Gehirn. Dieses Gehirn ist ein Theil eben jenes 
Leibes, weil es selbst zur Objektivation des ffillens 
gehört, nämlich das Erkennenwollen desselben, seine 
Richtimg auf die Aussenwelt, in ihm objektivirt ist. 
Demnach ist allerdings das Gehirn, mithin der Intel- 
lekt, unmittelbar durch den Leib bedingt, und dieser 
■wiederum durch das Gehirn, -^ jedoch nur mittel- 
bar, nämlich als Räumliches und Körperliches, in der 
Welt der Anschauung, nicht aber an sich selbst, d. h. 
als Wille. Das Ganze also ist zuletzt der Wille, der 
sich selber Vorstellung wird, und ist jene Einheit, die 
wir durch Ich ausdrücken. Das Gehirn selbst ist, so- 
fern es vorgestellt ivii-d, — also im Bewusstseyn ande- 
rer Dinge, mithin sekundär, — selbst nur Vorstellung. 
An sich aber und sofern es vorstellt, ist es der Wille, 
weil dieser das reale Substrat der ganzen Erscheinung 
ist: sein Erkennenwollen objektivirt sich als Gehirn 
329 
und dessen Funktionen. — Als ein zwar unvollkom- 
menes, aber doch einigermaassen das Wesen der 
menschlichen Erscheinung, wie wir es hier betrachten, 
veranschaulichendes Gleichniss kann man allenfalls 
die Volta sehe Säule ansehen : die Metalle, nebst Flüssig- 
keit, wären der Leib ; die chemische Aktion, als Ba- 
sis des ganzen Wirkens, wäre der Wille, und die dar- 
aus hervorgehende elektrische Spannung, welche 
Schlag und Funken hervorruft, der Intellekt. Aber 
omne simile Claudicat. 
In der Pathologie hat sich in neuester Zeit endlich 
die physiatj'ische Ansicht geltend gemacht, welcher 
zufolge die Krankheiten selbst ein Heilprocess der Na- 
tur sind, den sie einleitet, um eine irgendwie im Or- 
ganismus eingerissene Unordnung durch Ueberwin- 
dung der Ursachen derselben zu beseitigen, wobei sie, 
im entscheidenden Kampf, der Krisis, entweder den 
Sieg davonträgt und ihren Zweck erreicht, oder aber 
unterliegt. Ihre ganze Rationalität gewinnt diese An- 
sicht erst von unserm Standpunkt aus, w elcher in der 
Lebenskraft, die hier als vis naturae medicatrix aul^ 
tritt, den Willen erkennen lässt, der im gesunden Zu- 
stand allen organischen Funktionen zum Grunde liegt, 
jetzt aber, bei eingetretenen, sein ganzes Werk be- 
drohenden Unordnungen, sich mit diktatorischer Ge- 
walt bekleidet, um durch ganz ausserordentliche Maass- 
regeln und völlig abnorme Operationen (die Krank- 
heit) die rebellischen Potenzen zu dämpfen und Alles 
ins Gleis zurückzuführen. Dass hingegen, w ie Brandis, 
in den Stellen seines Buches „Ueber die Anwendung 
der Kälte", die ich im ersten Abschnitt meiner Ab- 
handlung „Ueber den Willen in der Natur" ange- 
führt habe, sich wiederholt ausdrückt, der Wille selbst 
krank sei, ist ein grobes Missverständniss. Wenn ich 
dieses erwäge und zugleich bemerke, dass Brandis in 
seinem frühern Buch „Ueber die Lebenskraft", von 
1795, keine Ahndung davon verräth, dass diese Kraft 
an sich der Wille sei, vielmehr daselbst S. i3 sagt: 
„Unmöglich kann die Lebenskraft das Wesen seyn, 
welches wir nur durch unser Bewusstseyn kennen, da 
die meisten Bewegungen ohne unser Bewusstseyn vor- 
:s3o 
gehen. Die Behauptung, dass dieses Wesen, dessen 
einziger uns bekannter Charakter Bewusstseyn ist, 
auch ohne Bewusstseyn auf den Körper wirke, ist 
wenigstens ganz willkürhch und unbewiesen"; und 
S. i4: ,?Gegen die Meinung, dass alle lebendige Be- 
wegung Wirkung der Seele sei, sind, wie ich glaube, 
Haller \s Einwürfe unwiderleglich"; — wenn ich ferner 
bedenke, dass er sein Buch „lieber die Anwendung 
der Kälte", worin der Wille mit einem Male so ent- 
schieden als Lebenskraft auftritt, im siebzigsten Jahre 
geschrieben hat, einem Alter, in welchem wohl noch 
Niemand originelle Grundgedanken zuerst gefasst hat: 
— wenn ich dabei noch berücksichtige, dass er sich 
gerade meiner Ausdrücke ,, Wille und Vorstellung", 
nicht aber der sonst viel gebräuchlicheren ,,Begeh- 
rungs- und Erkenntniss-Vermögen" bedient: — bin 
ich, meiner frühern Voraussetzung entgegen, jetzt der 
Ueberzeugung, dass er seinen Grundgedanken von 
mir entlehnt und, mit der heut zu Tage in der ge- 
lehrten Welt üblichen Redlichkeit, davon geschwie- 
gen hat. Das Nähere hierüber findet man in der zwei- 
ten Auflage der Schrift ,, lieber den Willen in der 
Natur", S. 1 4. 
Die Thesis, welche uns in gegenwärtigem Kapitel 
beschäftigt, zu bestätigen und zu erläutern, ist nichts 
geeigneter, als Bichats mit Recht berühmtes Buch Sur 
la vie et la mort. Seine und meine Betrachtungen un- 
terstützen sich wechselseitig, indem die seinigen der 
physiologische Kommentar der meinigen, und diese der 
philosophische Kommentar der seinigen sind und man 
uns beiderseits zusammengelesen am besten verstehen 
wird. Vornehmlich ist hier von der ersten Hälfte seines 
Werkes, betitelt Recherches physiologiques sur la vie, 
die Rede. Seinen Auseinandersetzungen legte er den 
Gegensatz von organischem und animalischem Leben 
zum Grunde, welcher dem meinigen von Willen und 
Intellekt entspricht. Wer auf den Sinn, nicht auf die 
Worte sieht, wird sich nicht dadurch irre machen 
lassen, dass er den Willen dem animalischen Leben 
zuschreibt; da er darunter, wie gewöhnlich, bloss die 
bewusste Willkür versteht, welche allerdings vom 
33i 
Gehirn aiisgeht,\vosie jedoch, wieoben {gezeigt worden, 
noch kein wirkliches Wollen, sondern die blosse Ueber- 
le{jun{j lind Bereohnnn{j der Motive ist, deren Kon- 
klusion, oder Facit, zuletzt als Willensakt hervortritt. 
Alles was ich dem ei{jentlichen fVillen zuschreibe, 
legt er dem ot^ganischen Leben bei, imd Alles was ich 
als Intellekt fasse, ist bei ihm das animale Leben : dieses 
hat bei ihm seinen Sitz allein im Gehirn nebst An- 
hängen; jenes hingegen im ganzen übrigen Organis- 
mus. Der durchgangige Gegensatz, in welchem er 
Beide gegen einander nachweist, entspricht dem, wel- 
cher bei mir zwischen Willen und Intellekt voi'liegt. 
Er geht dabei, als Anatom und Physiolog, vom Ob- 
jektiven, d. h. vom Bewusstseyn anderer Dinge, aus; 
ich als Philosoph, vom Subjektiven, dem Selbstbe- 
wusstsevn: und da ist es nun eine Freude zu sehen, 
wie wir, gleich den zwei Stimmen im Duetto in Har- 
monie mit einander fortschreiten, obgleich Jeder etwas 
Anderes vernehmen lasst. Daher lese, wer mich ver- 
stehen will, ihn; und wer ihn gründlicher verstehen 
will, als er sich selbst verstand, lese mich. Da zeigt 
uns Bichat, im Artikel 4» dass das orgonische Leben 
früher anfangt und später erlischt als das animale^ 
folglich, da dieses auch im Schlafe feiert, beinahe eine 
doppelt so lange Dauer hat; dann im Artikel 8 und 9, 
dass das organische Leben Alles sogleich luid von 
selbst vollkommen leistet, das animale hingegen einer 
langen Uebung und Erziehung bedarf. Aber am in- 
teressantesten ist er im sechsten Artikel, wo er dar- 
thut, dass das animale Leben gänzlich auf die intellek- 
tuellen Operationen beschränkt ist, daher kalt und 
antheilslos vor sich geht, während die Affekte und 
Leidenschaften ihren Sitz im organischen Leben haben, 
wenn gleich die Anlässe dazu im animalen, d. h. cere- 
bralen Leben liegen: hier hat er zehn köstliche Seiten, 
die ich ganz abschreiben möchte. S. no sagt er: II est 
Sans doute etonnant, que les passions n'avent jamais 
leur terme ni leur origine dans les divers organes de 
la* vie animale; qu'au contraire les pariies servant aux 
fonctions internes, soient constamment affectces par 
elles, et mcme les determinent suivant Tetat oü elles 
332 
se trouvent. Tel est cependant ce que la stricte Ob- 
servation nous prouve. Je dis d'abord que Teffet de 
toute espece de passion, constaminent etranger a la 
vie animale, est de faire naitre un changement, une 
alteration quelconque dans la vie organique. Dann 
führt er aus, wie der Zorn auf Blutumlauf und Herz- 
schlag wirkt, dann wie die Freude, und endlich wie 
die Furcht; hierauf, wie die Lunge, der Magen, die 
Gedärme, Leber, Drüsen und Pankreas von eben jenen 
und den verwandten Gemüthsbewegungen affizirt wer- 
den, und wie der Gram die Nutrition vermindert; so- 
dann aber, wie das animale, d. h. das Gehirnleben, 
von dem Allen unl>erührt bleibt und ruhig seinen 
Gang fortgeht. Er beruft sich auch darauf, dass wir, 
um intellektuelle Operationen zu bezeichnen, die Hand 
zum Kopfe führen, diese hingegen an das Herz, den 
Magen, die Gedärme legen, wenn wir unsere Liebe, 
Freude, Trauer oder Hass ausdrücken wollen, und 
bemerkt, dass es ein schlechter Schauspieler seyn 
müsste, der, wenn er von seinem Grai« redete, den 
Kopf, und wenn von seiner Geistesanstrengung, das 
Herz berührte; wie auch dass, während die Gelehrten 
die sogenannte Seele im Kopfe wohnen Hessen, das 
Volk den wohlgefühlten Unterschied zwischen Intel- 
lekt und Willensaffektionen allemal durch richtige 
Ausdrücke bezeichne, indem es z. ß. von einem tüch- 
tigen, gescheuten, feinen Kopfe rede, hingegen sage: 
ein gutes Herz, ein gefühlvolles Herz; so auch ,,der 
Zorn kocht in meinen Adern, bewegt mir die Galle, — 
vor Freude hüpfen mir die Eingeweide, die Eifer- 
sucht vergiftet mein Blut" u. s. w. Les chants sont le 
langage des passions, de la vie organique, comme 
la parole ordinaire est celui de Tentendement, de 
la vie animale: la declamation tient le milieu, eile 
anime la langue froide du cerveau, par la langue 
expressive des organes interieurs, du coeur, du foie, 
de l'estomac etc. — Sein Resultat ist: La vie organique 
est le terme oü aboutissent, et le centre d'oü partent 
les passions. Nichts ist mehr als dieses vortreffliche 
und gründliche Buch geeignet, zu bestätigen und 
deutlich zu machen, dass der Leib nur der verkörperte 
333 
(d. h. mittelst der Gehirnfunktionen, also Zeit, Raum 
und Kausalität, angeschaute) Wille selbst ist, woraus 
folgt, dass der Wille das Primäre und Ursprüngliche, 
der Intellekt hingegen, als blosse Gehirn funktion, das 
Sekundäre und Abgeleitete ist. Aber das Bewunde- 
rungswürdigste und für mich Erfreulichste im Ge- 
dankengange Bichats ist, dass dieser grosse Anatom, 
auf dem Wege seiner rein physiologischen Betrach- 
tungen, sogar dahin gelangt, die Unveränderlichkeit 
des 7noralhchen Charakters daraus zu erklären, dass 
nur das animale Leben, also die Funktion des Gehirns, 
dem Einfluss der Erziehung, Uebung, Bildung und 
Gewohnheit unterworfen ist, der tnoraliache Charakter 
aber dem von aussen nicht modifikabeln organischen 
Leben, d. h. dem aller übrigen Theile, angehört. Ich 
kann mich nicht entbrechen, die Stelle herzusetzen: 
sie steht Artikel 9, §. 2. Teile est donc la grande dif- 
ference des deux vies de Fanimal (cerebrales oder ani- 
males, und organisches Leben) par rapport ä Tinega- 
lite de perfection des divers systemes de fonctions, 
dont chacune resulte; savoir, que dans Tune la predo- 
minance ou Tinferiorite d'un Systeme, relativement 
aux autres, tient presque toujours ä Tactivite ou ä 
rinertie plus grandes de ce Systeme, ä Thabitude d'agir 
ou de ne pas agir; que dans l'autre, au contraire, cette 
predominance ou cette inferiorite sont immediatement 
liees h la texture des organes, et jamais ä leur educa- 
tion. Voilä pourquoi le temperament physique et le 
caractere moral ne sont point susceptibles de changer 
par l'education, qui modifie si prodigieusement les 
actes de la vie animale; car, comme nous Tavons 
vu, tous deux appartienyient a la vie organique. Le ca- 
ractere est, si je puis m'exprimer ainsi, la physionomie 
des passions: le temperament est celle des fonctions 
internes: or les unes et les autres etant toujours les 
memes, ayant une direction que Thabitude et Texer- 
cise ne derangent jamais, il est manifeste que le tem- 
perament et le caractere doivent etre aussi soustraits 
ä Tempire de Teducation. Elle peut moderer Tinfluence 
du second, perfectionner assez le jugement et la re- 
flexion, pour rendre leur empire superieurausien, for- 
ifier la vie animale, afiii qu'elle resiste aux impulsions 
de Torganique. Mais vouloir par eile denaturer le ca- 
ractere, adoucir ou exalter les passions dont il est 
expression habituelle, agrandir ou resserrer leur 
sphere, c'est une entreprise analogue a celle d\m me- 
decin qui essaierait d'elever ou d'abaisser de quelques 
degres, et pour toute la vie, la Force de contraction 
ordinaire au coeur dans Tetat de sante, de precipiter 
ou de ralentir habituellement le mouvement naturel 
aux arteres, et qui est necessaire ä leur action etc. 
Nous observerions ä ce medecin, que la circulation, la 
respiration etc. ne sont point sous le domaine de la 
volonte (Willkür), qu'elles ne peuvent etre modifiees 
par rhomme, sans passer ä Tetat maladif etc. Faisons 
la meme Observation ä ceux qui croient qu'on change 
le caractere, et par-lä meine les passions, puisquecelles- 
ci sont im produit de V action de tous les organes inter- 
nes, ou qu'elles y ont au moins specialement leur siege. 
Der mit meiner Philosophie vertraute Leser mag sich 
denken, wie gross meine Freude gewesen ist, als ich 
in den auf einem ganz andern Felde gewonnenen lieber^ 
Zeugungen des der Welt so früh entrissenen, ausser- 
ordentlichen Mannes gleichsam die Rechnungsprobe 
zu den meinigen entdeckte. 
Einen speciellen Beleg zu der Wahrheit, dass der 
Organismus die blosse Sichtbarkeit des Willens ist, 
giebt uns auch noch die Thatsache, dass wenn Hun- 
de, Katzen, Haushähne, auch wohl noch andere Thiere, 
im heftigsten Zorn beissen, die Wunde tödtlich werden, 
ja, wenn von einem Hunde kommend, Hydrophobie 
im Menschen, den sie traf, hervorbringen kann, ohne 
dass der Hund toll sei, oder es nachher werde. Denn 
der äusserste Zorn ist eben nur der entschiedenste 
und heftigste Wille zur Vernichtung seines Gegen- 
standes: dies erscheint nun eben darin, dass alsdann 
augenblicklich der Speichel eine verderbliche, gewis- 
sermaassen magisch wirkende Kraft annimmt, und 
zeugt davon, dass Wille und Organismus in Wahrheit 
Eins sind. Eben Dies geht auch aus der Thatsache her- 
vor, dass heftiger Aerger der Muttermilch schleunig 
eine so verderbliche Beschaffenheit geben kann, dass 
335 
der Sau{jlin(} alsbald unter Zuckungen stirbt. {Most, 
lieber synipathetiscbe Mittel, S. i6.) 
ANMERKUNG ZU DEM UEBER BICHAT 
GESAGTEN. 
Bichat hat, wie oben dargelegt, einen tiefen Blick 
in die menschliche Natur gethan und in Folge des- 
selben eine überaus bewunderungswürdige Auseinan- 
dersetzung gegeben, welche zu dem Tiefgedachtesten 
der ganzen Französischen Litteratur gehört. Dagegen 
tritt jetzt, sechzig Jahre später, plötzlich Herr Flou- 
rens polemisirend auf, in seiner Schrift „De la vie et 
de rintelligence", und entblödet sich nicht, Alles, was 
Bichat über diesen wichtigen und ihm ganz eigen- 
thüm liehen Gegenstand zu Tage gefördert hat, ohne 
Umstände für falsch zu erklären. Und was stellt er 
gegen ihn ins Feld? Gegengründe? Nein Gegenbe- 
hauptungen*) und Auktoritäten, und zwar so unstatt- 
hafte, wie wunderliche: nämlich Kartesius — und 
Gall! — Herr Flourens ist nämlich seines Glaubens 
ein Kartesianer, und ihm ist, noch im Jahre i858, 
Descartes „le pbilosophe par excellence". — Nun ist 
allerdings Kartesius ein grosser Mann, jedoch nur als 
Bahnbrecher: an seinen sämmtlichen Dogmen hinge- 
gen ist kein wahres Wort; und sich heut zu Tage auf 
diese als Auktorität zu berufen, ist geradezu lächer- 
lich. Denn im 19. Jahrhundert ist ein Kartesianer 
in der Philosophie eben Das, was ein Ptolemäianer in 
der Astronomie, oder ein Stahlianer in der Chemie 
seyn würde. Für Herrn Flourens nun aber sind die 
Dogmen des Kartesius Glaubensartikel. Kartesius hat 
gelehrt: les volontes sont des pensees: also ist es so; 
*) „Tout ce qui est relatif ä rentendement appartient ä la vie 
animale", dit Bichat, et jusque-la point de doiite; „tout ce 
qiii est relatif aus passions appartient ä la vie organiquc", — 
et ceci est absolument faux. — So?! — decrevit Florentiu» 
magnus. 
336 
wenngleich Jeder in seinem Innern fühlt, dass Wollen 
und Denken verschieden sind, wie weiss vind schwarz; 
daher ich oben im neunzehnten Kapitel Dieses habe 
ausführlich, gründlich und stets am Leitfaden der 
Erfahrung darthun und verdeutlichen können. Vor 
Allem aber giebt es, nach Kartesius, dem Orakel des 
Herrn Flourens, zwei grundverschiedene Substanzen, 
Leib und Seele : folglich sagt Herr Flourens, als recht- 
gläubiger Kartesianer: Le premier point est de sepa- 
rer, meme par les mots, ce qui est du corps de ce qui 
est de Tarne (I, 72). Er belehrt uns ferner, dass diese 
ame reside uniquement et exclusivement dans lecer- 
veau (II, iSy); von wo aus sie, nach einer Stelle des 
Kartesius, die spiritus animales als Kouriere nach den 
Muskeln sendet, selbst jedoch nur vom Gehirn affizirt 
werden kann, daher die Leidenschaften ihren Sitz 
(siege) im Herzen, als welches von ihnen alterirt wird, 
haben, jedoch ihre Stelle (place) im Gehirn. So, so 
spricht wirklich das Orakel des Herrn Flourens, wel- 
cher davon so sehr erbaut ist, dass er es sogar zwei Mal 
(I, 33, und II, i35) nachbetet, zu unfehlbarer Besie- 
gung des unwissenden Bichat, als welcher weder 
Seele, noch Leib, sondern bloss ein animales und ein 
organisches Leben kennt, und den er dann hier her- 
ablassend belehrt, dass man gründlich unterscheiden 
müsse die Theile, wo die Leidenschaften ihren Sitz 
haben (siegent), von denen, welche sie ajfiziren. Da- 
nach wirken also die Leidenschaften an einei^ Stelle, 
während sie an einer andern sind. Körperliche Dinge 
pflegen nur wo sie sind zu wirken: aber mit so einer 
immateriellen Seele mag es ein anderes Bewandtniss 
haben. Was mag überhaupt er und sein Orakel sich 
bei dieser Unterscheidung von place und siege, von 
sieger und affecter wohl so eigentlich gedacht haben? 
— Der Grund irrthum des Herrn Flourens und seines 
Kartesius entspringt eigentlich daraus, dass sie die 
Motive, oder Anlässe der Leidenschaften, welche, als 
Vorstellungen, allerdings im Intellekt, d. i. dem Ge- 
hirn, liegen, verwechseln mit den Leidenschaften 
selbst, die, als Willensbewegungen, im gangen Leibe, 
welcher (wie wir wissen) der angeschaute Wille selbst 
22 Schopenhauer II JJ'7 
ist, liegen. — Herr Floiirens zweite Auktorität ist, wie 
(jesajjt, Gall. Ich freilich hahe am Anfan{» dieses 
zwanzi{|sten Kapitels (und zwar bereits in der frühern 
Auflage) gesagt: „Der grösste Irrthum in Galls Schä- 
dellehre ist, dass er auch für moralische Eigenschaf- 
ten Organe des Gehirns aufstellt." Aber was ich tadle 
und verwerfe, ist gerade was Herr Flourens lobt und 
bewundert: denn er trägt ja das les volontes sont des 
pensees des Kartesius im Herzen. Demjjemäss sagt er, 
S. i44- Le premier Service que Gall a rendu ä la 
Physiologie (?) a ete de rammener le moral ä Tintellec- 
tuel, et de faire voir que les facultas morales et les 
facultes intellectuelles sont des facultes du meme or- 
dre, et de les placer toutes, autant les unes que les 
autres, uniquement et exclusivement dans le cerveau. 
Gewissermaassen meine ganze Philosophie, besonders 
aber das neunzehnte Kapitel dieses Bandes besteht in 
der Widerlegung dieses Grundirrthums, Herr Flou- 
rens hingegen wird nicht müde, eben diesen als eine 
grosse Wahrheit und den Gall als ihren Entdecker 
zu preisen: z. B. S. i47- Si Jen etais ä classer les Ser- 
vices que nous a rendu Gall, je dirais que le premier 
a ete de rammener les qualites morales au cerveau, 
— S. i53: Le cerveau seul est Torgane de Fäme, et 
de Väme dans toute la plenitude deses fonctions (man 
sieht, die Kartesianische einfa( he ^See/e steckt, als Kern 
der Sache, noch immer dahinter); il est le siege de 
toutes les facultes morales, comme de toutes les facul- 
tes intellectuelles. Gall a rammene le moral 
a Vintellectuel^ il a rammene les qualites morales au 
meme siege, au meme organe, qne les facultes intel- 
lectuelles. — O wie müssen Bichat und ich uns schä- 
men vor solcher Weisheit! — Aber, ernstlich zu re 
den, was kann niederschlagender, oder vielmehr em- 
pörender seyn, als das Richtige und Tiefgedachte ver- 
worfen und da{jegen das Falsche und Verkehrte prä- 
konisirt zu sehen; zu erleben, dass tief verborgene, 
schwer und spät errungene, wichlijje Wahrheiten 
wieder herabgerissen und der alte, platte, spät besiegte 
Irrthum abermals an ihre Stelle gesetzt werden soll; 
ja, fürchten zu müssen, dass durch solches Verfahren 
338 
die so schweren Fortschritte des menschlichen Wis- 
sens wieder rückgängig gemacht werden ! Aber be- 
ruhigen wir uns : denn magna est vis veritatis et prae- 
valebit. — Herr Flourens ist unstreitig ein Mann von 
vielem Verdienst, hat sich jedoch dasselbe hauptsäch- 
lich auf dem experi mentalen Wege erworben. Nun 
aber sind gerade die wichtigsten Wahrheiten nicht 
durch Experimente herauszubringen, sondern allein 
durch Nachdenken und Penetration. So hat denn auch 
Bichat durch sein Nachdenken und durch seinen 
Tiefblick hier eine Wahrheit zu Tage gefördert, wel- 
che zu denen gehört, die den experimentalen Bemü- 
hungen des Herrn Flourens unerreichbar bleiben, 
selbst wenn er, als ächter und konsequenter Kartesi- 
aner, noch hundert Thiere mehr zu Tode martert. 
Er hätte aber hievon bei Zeiten etwas merken und 
denken sollen: „Hüte dich, Bock, denn es brennt." 
Nun aber die Vermessenheit und Süffisance, wie nur 
die mit falschem Dünkel verbundene Oberflächlich- 
keit sie verleiht, mit der jedoch Herr Flourens einen 
Denker, wie Bichat, durch blosse Gegenbehauptun- 
gen, Alte-Weiber-Üeberzeugungen und futile Auk- 
tori täten zu widerlegen, sogar ihn zurechtzuweisen, 
zu meistern, ja, fast zu verspotten unternimmt, hat 
ihren Ursprung im Akademienvvesen und dessen Fau- 
teuils, auf welchen thronend und sich gegenseitig als 
illustre confrere begrüssend die Herren gar nicht um- 
hin können, sich den Besten, die je gewesen, gleich 
zu setzen, sich für Orakel zu halten und demgemäss 
zu dekretiren, was falsch und was wahr seyn soll. 
Dies bewegt und berechtigt mich, ein Mal gerade 
heraus zu sagen, dass die wirklich überlegenen und 
privilegirten Geister, welche dann und wann ein Mal 
zur Erleuchtung der übrigen geboren werden, und 
zu welchen allerdings auch Bichat gehört, es ,,voa 
Gottes Gnaden" sind und demnach zu den Akademien 
(in welchen sie meistens nur den einundvierzigsten 
Fauteuil eingenommen haben) und zu deren illustres 
confreres sich verhalten wie geborene Fürsten zu den 
zahlreichen und aus der Menge gewählten Repräsen- 
tanten des Volkes. Daher sollte eine geheime Scheu 
22* 339 
(a secret awe) die Herren Akademiker warnen, ehe sie 
sich an einem solchen rieben, — es wäre denn, sie 
hätten die triftigsten Gründe aufzuweisen, nicht aber 
blosse Gegenbehauptungen und Berufungen auf pla- 
cita des Kartesius, als welches heut zu Tage durchaus 
lächerlich ist. 
KAPITEL 2 I . 
RÜCKBLICK UND ALLGEMEINERE 
BETRACHTUNG. 
WÄRE nicht, wie die beiden vorhergehenden 
Kapitel darthun, der Intellekt sekundärer Na- 
tur; so würde nicht Alles, was ohne denselben, d. h. 
ohne Dazwischenkunft der Vorstellung, zu Stande 
kommt, wie z. B. die Zeugung, die Entwickelung 
und Erhaltung des Organismus, die Heilung der 
Wunden, der Ersatz oder die vikarirende Ergänzung 
verstümmelter Theile, die heilbringende Krisis in 
Krankheiten, die Werke thierischer Kunsttriebe und 
das Schaffen des Instinkts überhaupt, so unendlich 
besser und vollkommener ausfallen, als Das, was mit 
Hülfe des Intellekts geschieht, nämlich alle bewussten 
und beabsichtigten Leistungen und Werke der Men- 
schen, als welche, gegen jene andern gehalten, blosse 
Stümperei sind. Ueberhaupt bedeutet iYa^wr das ohne 
Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende, 
Schaffende. Dass nun eben dieses identisch sei mit 
Dem, was wir in uns als Willen finden, ist das allge- 
meine Thema dieses zweiten Buchs, wie auch der Ab- 
handlung „Ueber den Willen in der Natur". Die Mög- 
lichkeit dieser Grunderkenntniss beruht darauf, dass 
dasselbe in uns unmittelbar vom Intellekt, der hier 
als Selbstbewusstseyn auftritt, beleuchtet wird; sonst 
wir es eben so wenig in uns, als ausser uns näher ken- 
nen lernen würden und ewig vor unerforsch heben 
Naturkräften stehen bleiben müssten. Die Beihülfe 
340 
des Intellekts haben wir wejjzudenken, wenn wir das 
Wesen des Willens an sich selbst erfassen und dadurch, 
so weit es möglich ist, ins Innere der Natur dringen 
wollen. 
Dieserhalb ist, beiläufig gesagt, mein direkter Anti- 
pode unter den Philosophen Anaxmjoras ; da er zum 
Ersten und Ursprünglichen, wovon Alles ausgeht, 
einen vou?, eine Intelligenz, ein Vorstellendes, beliebig 
annahm, und als der Erste gilt, der eine solche An- 
sicht aufgestellt hat. Derselben gemäss wäre die Welt 
früher in der blossen Vorstellung, als an sich selbst 
vorhanden gewesen ; während bei mir der erkenntniss- 
lose Wille es ist, der die Realität der Dinge begründet, 
deren Entwickelung schon sehr weit gediehen seyn 
muss, ehe es endlich, im animalen Bewusstseyn, zur 
Vorstellung und Intelligenz kommt; so dass bei mir 
das Denken als das Allerletzte auftritt. Inzwischen hat, 
nach dem Zeugniss des Aristoteles (Metaph., I, 4)» 
Anaxagoras selbst mit seinem voo? nicht viel anzufan- 
gen gewusst, sondern ihn nur aufgestellt und dann 
eben stehen lassen, wie einen gemalten Heiligen am 
Eingang, ohne zu seinen Ent Wickelungen der Natur 
sich desselben zu bedienen, es sei denn in Nothfällen, 
wann er sich ein Mal nicht anders zu helfen wusste. 
— Alle Physikotheologie ist eine Ausführung des, der 
(Anfang dieses Kapitels ausgesprochenen) Wahrheit 
entgegenstehenden, Irrthums, dass nämlich die voll- 
kommenste Art der Entstehung der Dinge die durch 
Vermittellung eines Intellekts sei. Daher eben schiebt 
dieselbe aller tiefern Ergründung der Natur einen 
Riegel vor. 
Seit Sokrates' Zeit und bis auf die unserige finden 
wir als einen Hauptgegenstand des unaufhörlichen 
Disputirens der Philosophen jenes ens rationis, ge- 
nannt Seele. Wir sehen die Meisten die Unsterblich- 
keit, welches sagen will, die metaphysische Wesen- 
heit, derselben behaupten. Andere jedoch, gestützt 
auf Tatsachen, welche die gänzliche Abhängigkeit des 
Intellekts von körperlichen Organen unwidersprech- 
lich darthun, den Widerspruch dagegen unermüdet 
aufrecht erhalten. Jene Seele wurde von Allen und 
341 
vor Allem als schlechthin einfach genommen: denn 
gerade hieraus wurde Ihr metaphysisches Wesen, ih- 
re Immaterialität und Unsterblichkeit bewiesen; ob- 
gleich diese gar nicht ein Mal nothwendig daraus 
folgt; denn, wenn wir auch die Zerstörung eines ge- 
formten Körpers uns nur durch Zerlegung in seine 
Theile denken können ; so folgt daraus nicht, dass 
die Zerstörung eines einfachen Wesens, von dem wir 
ohnehin keinen Begriff haben, nicht auf irgend eine 
andere Art, etwan durch allmäliges Schwinden, 
möglich sei. Ich hingegen gehe davon aus, dass ich 
die vorausgesetzte Einfachheit unsers subjektiv bewuss- 
ten Wesens, oder des Ichs, aufhebe, indem ich nach- 
weise, dass die Aeusserungen, aus welchen man die- 
selbe folgerte, zwei sehr verschiedene Quellen haben, 
und dass allerdings der Intellekt physisch bedingt, die 
Funktion eines materiellen Organs, daher von diesem 
abhängig, und ohne dasselbe so unmöglich sei, wie 
das Greifen ohne die Hand, dass er demnach zur 
blossen Erscheinung gehöre und also das Schicksal 
dieser theile, — dass hingegen der Wille an kein spe- 
cielles Organ gebunden, sondern überall gegenwärtig, 
überall das eigentlich Bewegende und Bildende, mit- 
hin das Bedingende des ganzen Organismus sei, dass 
er in der That das metaphysische Substrat der ge- 
sammten Erscheinung ausmache, folglich nicht, wie 
der Intellekt, ein Posterius, sondern das Prius dersel- 
ben, und diese von ihm, nicht er von ihr, abhängig 
sei. Der Leib aber wird sogar zu einer blossen Vor- 
stellung herabgesetzt, indem er nur die Art ist, wie 
in der Anschauung des Intellekts, oder Gehirns, der 
fFillesich darstellt. Der Wille hingegen, welcher in allen 
früheren, sonst noch so verschiedenen Systemen als ei- 
nes der letzten Ergebnisse auftritt, ist bei mir das Aller- 
erste. Der/nfe//eÄ^ wird, als blosse Funktion desGehirns, 
vom Untergang des Leibes mitgetroffen ; hingegen kei- 
neswegs der Wille. Aus dieser Heterogeneität Beider, 
nebst der sekundären Natur des Intellekts, wird es be- 
greiflich, dass der Mensch, in der Tiefe seines Selbstbe- 
wusstseyns, sich ewig luid unzerstörbar fühlt, den- 
noch aber keine Erinnerung, weder a parte ante noch 
342 
a parte post, über seine Lebensdauer hinaus haben 
kann. Ich will hier nicht der Erörterung der wahren 
t!ny.erstörbarkeit unsers Wesens, als welche ihre 
Stelle im vierten Buche hat, vorgreifen, sondern habe 
nur die Stelle, an welche sie sich knüpft bezeichnen 
wollen. 
Dass nun aber, in einem allerdings einseitigen, je- 
doch von unserm Standpunkt aus wahren Ausdrucke, 
der Leib eine blosse Vorstellung genannt wird, be- 
ruht darauf, dass ein Daseyn im Raum, als ein aus- 
gedehntes, und in der Zeit, als ein sich änderndes, in 
Beiden aber durch Kausalnexus näher bestimmtes, 
nur möglich ist in der Forstellung, als auf deren For- 
men jene Bestimmungen sämmtlich beruhen, also in 
einem Gehirn, in welchem demnach ein solches Da- 
seyn als ein objektives, d. h. ein fremdes, auftritt. 
Daher kann selbst unser eigener Leib diese Art von 
Daseyn nur in einem Gehirn haben. Denn die Er- 
kenntniss, welche ich von meinem Leibe als einem 
Ausgedehnten, Raumerfüllenden und Beweglichen 
habe, ist bloss mittelbar: sie ist ein Bild in meinem 
Gehirn, welches mittelst Sinne und Verstand zu Stan- 
de kommt. Unmittelbar gegeben ist mir der Leib allein 
in der Muskelaktion und im Schmerz oder Beha- 
gen, welche Beide zunächst und unmittelbar dem 
Willen angehören. — Das Zusammenbringen aber 
dieser beiden verschiedenen Erkenntnissweisen mei- 
nes eigenen Leibes vermittelt nachher die fernere Ein- 
sicht, dass alle andern Dinge, welche ebenfalls das 
beschriebene objektive Daseyn, welches zunächst nur 
in meinem Gehirn ist, haben, deshalb nicht ausser 
demselben gar nicht vorhanden seien, sondern eben- 
falls an sich zuletzt eben Das seyn müssen, was sich 
dem Selbstbewusstseyn als Wille kund giebt. 
343 
KAPITEL 2 2*). 
OBJEKTIVE AISSICHT DES IlSTELLEKTS. 
ES giebt zwei von Grund aus verschiedene Be 
trachtungsweisen des Intellekts, welche auf der 
Verschiedenheit des Standpunkts beruhen und, so 
sehr sie auch, in Folge dieser, einander entgegenge- 
setzt sind, dennoch in Uebereinstinunung gebracht 
werden müssen. — Die eine ist die subjektive, welche, 
von innen ausgehend und das Bewusstseyn als das Ge- 
gebene nehmend, uns darlegt, durch welchen Mecha- 
nismus in demselben die Welt sich darstellt, und wie 
aus den Materialien, welche Sinne und Verstand lie- 
fern, sie sich darin aufbaut. Als den Urheber dieser 
Betrachtungsweise haben wir Locke anzusehen: Kant 
brachte sie zu ungleich höherer Vollendung, und 
ebenfalls ist unser erstes Buch, nebst den Ergänzun- 
gen dazu, ihr gewidmet. 
Die dieser entgegengesetzte Betrachtungsweise des 
Intellekts ist die objektive, welche von aussen anhebt, 
nicht das eigene Bewusstseyn, sondern die in der 
äussern Erfahrung gegebenen, sich ihrer selbst und 
der Welt bewussten Wesen zu ihrem Gegenstande 
nimmt, und nun untersucht, welches Verhältniss der 
Intellekt derselben zu ihren übrigen Eigenschaften 
hat, wodurch er möglich, wodurch er nothwendig 
geworden, und was er ihnen leistet. Der Standpunkt 
dieser Betrachtungsweise ist der empirische: sie nimmt 
die Welt und die darin vorhandenen thierischen We- 
sen als schlechthin gegeben, indem sie von ihnen 
ausgeht. Sie ist demnach zunächst zoologisch, ana- 
tomisch, physiologisch, und wird erst durch die Ver- 
bindung mit jener erstem und von dem dadurch ge- 
wonnenen höhern Standpunkt aus philosophisch. Die 
bis jetzt allein gegebene Grundlage zu ihr verdanken 
wir den Zootomen und Physiologen, zumeist den 
Französischen. Besonders ist hier Cabanis zu nennen, 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf die letztere Hälfte des §.27 
des ersten Bandes. [S. 172 d. A.] 
dessen vortreffliches Werk, Des rapports du physique 
au moral, auf dem physiologischen Wege, für diese 
Betrachtungsweise bahnbrechend gewesen ist. Gleich- 
zeitig wirkte der berühmte Bic/iat, dessen Them je- 
doch ein viel umfassenderes war. Selbst Galt ist hier 
zu nennen; wenn gleich sein Hauptzweck verfehlt 
wurde. Unwissenheit und Vorurtheil haben gegen 
diese Betrachtungsweise die Anklage des Materiaiis- 
mus erhoben; weil dieselbe, sich rein an die Erfah- 
rung halten, die immaterielle Substanz, Seele, nicht 
kennt. Die neuesten Fortschritte in der Physiologie 
des Nervensystems, durch Charles Bell, Magendie^ 
Marshall Hall u. a., haben den Stoff dieser Betrach- 
tungsweise ebenfalls bereichert und berichtigt. Eine 
Philosophie, welche, wie die Kantische, diesen Ge- 
sichtspunkt für den Intellekt gänzlich ignorirt, ist ein- 
seitig und eben dadurch unzureichend. Sie lässt zwi- 
schen unserm philosophischen und unserm physiolo- 
gischen Wissen eine unübersehbare Kluft, bei der 
wir nimmermehr Befriedigung finden können. 
Obwohl schon Das, was ich in den beiden vorher- 
gegangenen Kapiteln über das Leben und die Thätig- 
keit des Gehirns gesagt habe, dieser Betrachtungs- 
weise angehört, imgleichen, in der Abhandlung über 
den Willen in der Natur, alle unter der Rubrik „Pflan- 
zenphysiologie" gegebenen Erörterungen und auch 
ein Theil der unter der Rubrik „Vergleichende Ana- 
tomie" befindlichen ihr gewidmet sind, wird die hier 
folgende Darlegung ihrer Resultate im Allgemeinen 
keineswegs überflüssig seyn. 
Des grellen Kontrastes zwischen den beiden im 
Obigen einander entgegengestellten Betrachtungs- 
weisen des Intellekts wird man am lebhaftesten inne 
werden, wenn man, die Sache auf die Spitze stellend, 
sich vergegenwärtigt, dass was die eine als besonnenes 
Denken und lebendiges Anschauen unmittelbar auf- 
nimmt und zu ihrem Stoffe macht, für die andere 
nichts weiter ist, als die physiologische Funktion eines 
Eingeweides, des Gehirns; ja, dass man berechtigt ist, 
zu behaupten, die ganze objektive Welt, so gränzen- 
los im Raum, so unendlich in der Zeit, so unergründ- 
lieh in der Vollkommenheit, sei eigentlich nur eine 
gewisse Bewegung oder Affekiion der Breimasse im 
Hirnschädel. Da fragt man erstaunt: was ist dieses 
Gehirn, dessen Funktion ein solches Phänomen aller 
Phänomene hervorbringt ? Was ist die Materie, die zu 
einer solchen Breimasse raffinirt und potenzirt wer- 
den kann, dass die Reizung einiger ihrer Partikeln 
zum bedingenden Träger des Daseyns einer objekti- 
ven Welt wird? Die Scheu vor solchen Fragen trieb 
zur Hypostase der einfachen Substanz einer immate- 
riellen Seele, die im Gehirn bloss wohnte. Wir sagen 
unerschrocken: auch diese Breimasse ist, wie jeder 
vegetabilische oder animahsche Theil, ein organi- 
sches Gebilde, gleich allen ihren geringeren Anver- 
wandten, in der schlechtem Behausung der Köpfe 
unserer unvernünftigen Brüder, bis zum geringsten, 
kaum noch apprehendirenden, herab; jedoch ist jene 
organische Breimasse das letzte Produkt der Natur, 
welches alle übrigen schon voraussetzt. An sich selbst 
aber und ausserhalb der Vorstellung ist auch das Ge- 
hirn, wie alles Andere, M'^ille. Denn Fw-ein-Anderes- 
daseyn ist vorgestellt werden^ ansichseyn ist wollen : hier- 
auf eben beruht es, dass wir auf dem rein objektiven 
Wege nie zum Innern der Dinge gelangen; sondern, 
wenn wir von aussen und empirisch ihr Inneres zu 
finden versuchen, dieses Innere, unter unsern Hän- 
den, stets wieder zu einem Aeussern wird, — das 
Mark des Baumes, so gut wie seine Rinde, das Herz 
des Thieres, so gut wie sein F'ell, die Keimhaut und 
der Dotter des Eies, so gut w ie seine Schaale. Hinge- 
gen auf dem subjektiven Wege ist das Innere uns je- 
den Augenblick zugänglich: da finden wir es als den 
Willen zunäcbst in uns selbst, und müssen, am Leit- 
faden der Analogie mit unserm eigenen Wesen, die 
übrigen enträthseln können, indem wir zu der Ein- 
sicht gelangen, dass ein Seyn an sich, unabhängig 
vom Erkanntwerden, d. h. Sichdarstellen in einem 
Intellekt, nur als ein Wollen denkbar ist. 
Gehen wir nun, in der objektiven Auffassung des 
Intellekts, so weit wir irgend können, zurück; so 
werden wir finden, dass die iNothwendigkeit oder das 
346 
Bedürfniss der Erkenntyiiss überhaupt entsteht aus der 
Vielheit und dem getrennten Daseyn der Wesen, also 
aus der Individuation. Denn denkt man sich, es sei 
nur em einziges Wesen vorhanden; so bedarf ein sol- 
ches keiner Erkenntniss; weil nichts da ist, was von 
ihm selbst verschieden wäre, und dessen Daseyn es 
daher erst mittelbar, durch Erkenntniss, d. h. Bild 
und Begriff in sich aufzunehmen hätte. Es wäre eben 
selbst schon Alles in Allem, mithin bliebe ihm nichts 
zu erkennen, d. h. nichts Fremdes, das als Gegenstand, 
Objekt, aufgefasst werden könnte, übrig. Bei der Viel- 
heit der Wesen hingegen befindet jedes Individuum 
sich in einem Zustande der Isolation von allen übri- 
gen, und daraus entsteht die Noth wendigkeit der Er- 
kenntniss. Das Nervensystem, mittelst dessen das thie- 
rische Individuum zunächst sich seiner selbst bewusst 
wird, ist dui'ch seine Haut begränzt; jedoch, im Ge- 
hirn bis zum Intellekt gesteigert, überschreitet es 
diese Gränze, mittelst seiner Erkenntnissform der 
Kausalität, und so entsteht ihm die Anschauung als 
ein Bewusstseyn anderer Dinge, als ein Bild von We- 
sen in Raum und Zeit, die sich verändern, gemäss der 
Kausalität. — In diesem Sinne wäre es richtiger zu 
sagen: „nur das Verschiedene wird vom Verschiede- 
nen erkannt", als wie Empedokles sagte, „nur das 
Gleiche vom Gleichen", welches ein gar schwanken- 
der und vieldeutiger Satz war; obgleich sich auch 
wohl Gesichtspunkte fassen lassen, von welchen aus 
er wahr ist; wie, beiläufig gesagt, schon der des Hel- 
vetiiis, wenn er so schön wie treffend bemerkt: II n'y 
a que Fesprit qui sente Tesprit: c'est une corde qui 
ne fremit qu ä Tunison ; — welches zusammentrifft 
mit dem Xenophanischen aocpov etvai Bei xov STiqvcDoo- 
}X£vov Tov oo(pov (sapicutcm esse oportet cum, qui sa- 
pientem agniturus sit), und ein grosses Herzeleid ist. 
— Nun aber wieder von der andern Seite wissen wir; 
dass, umgekehrt, die Vielheit des Gleichartigen erst 
möglich wird dui'ch Zeit und Raum, also durch die 
Formen unserer Erkenntniss. Der Raum entsteht erst, 
indem das erkennende Subjekt nach aussen sieht : er 
ist die Art und Weise, wie das Subjekt etwas als 
von sich verschieden auffasst. Soeben aber sahen wir 
die Erkcnntniss überhaupt durch Vielheit und Ver- 
schiedenheit bedingt. Also die Erkenntniss und die 
Vielheit, oder Individuation, stehen und lallen mit 
einander, indem sie sich gegenseitig bedingen. — 
Hieraus ist zu schliessen, dass jenseit der Erscheinung, 
im Wiesen an sich aller Dinge, welchem Zeit und 
Raum, und deshalb auch die Vielheit, fremd seyn 
muss, auch keine Erkenntniss vorhanden sein kann. 
Ein „Erkennen der Dinge an sich", im strengsten 
Sinne des Worts, wäre demnach schon darum un- 
möglich, weil wo das Wesen an sich der Dinge an- 
fängt, das Erkennen wegfällt, und alle Erkenntniss 
schon grundwesentlich bloss auf Erscheinungen geht. 
Denn sie entspringt aus einer Beschränkung, durch 
welche sie nöthig gemacht wird, um die Schranken 
zu erweitern. 
Für die objektive Betrachtung ist das Gehirn die 
Efflorescenz des Organismus; daher erst wo dieser 
seine höchste Vollkommenheit und Komplikation er- 
langt hat, es in seiner grössten Entwickelung auftritt. 
Den Organismus aber haben wir im vorhergehenden 
Kapitel als die Objektivation des W^illens kennen ge- 
lernt: zu dieser muss daher auch das Gehirn, als sein 
Theil gehören. Ferner habe ich daraus, dass der Orga- 
nismus nur die Sichtbarkeit des Willens, also an sich 
dieser selbst ist, abgeleitet, dass jede Affektion des 
Organismus zugleich und unmittelbar den Willen affi- 
zirt, d, h. angenehm oder schmerzlich empfunden 
wird. Jedoch tritt, durch die Steigerung der Sensibi- 
lität, bei höherer Entwickelung des Nervensystems, 
die Möglichkeit ein, dass in den edleren, d. h. den 
objektiven Sinnesorganen (Gesicht, Gehör) die ihnen 
angemessenen, höchst zarten AfFektionen empfunden 
werden, ohne an sich selbst und unmittelbar den Wil- 
len zu afhziren, d.h. ohne schmerzlich oder angenehm 
zu sein, dass sie mithin als an sich gleichgültige, bloss 
wahrgenommene Empfindungen ins Be wusstseyn treten . 
Im Gehirn erreicht nun aber diese Steigerung der Sen- 
sibilität einen so hohen Grad, dass auf empfangene 
Sinneseindrücke sogar eine Reaktion entsteht, welche 
348 
nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern zu- 
nächst eine Spontaneität der Verstandesfunktion ist, 
als welche von der unmittelbar wahrgenommenen 
Sinnesempfindung den Uebergang zu deren Ursache 
macht, wodurch, indem dabei das Gehirn zugleich die 
Form des Raumes hervorbringt, die Anschauungeines 
äussern Objektes entsteht. Man kann daher den Punkt, 
wo von der Empfindung auf der Retina, welche noch 
eine blosse Affektion des Leibes und insofern des Wil- 
lens ist, der Verstand den Uebergang macht zur Ur- 
sache jener Empfindung, die er mittelst seiner Form 
des Raumes als ein Aeusseres und von der eigenen 
Person Verschiedenes projiciert — als die Gränze be- 
trachten zwischen der Welt als Wille und der Welt 
als Vorstellung, oder auch als die Geburtsstätte die- 
ser letzteren. Beim Menschen geht nun aber die, in 
letzter Instanz freilich doch vom Willen verliehene, 
Spontaneität der Gehirnthätigkeit noch weiter, als zur 
blossen Anschauung und unmittelbaren Auffassung der 
Kausalverhältnisse; nämlich bis zum Bilden abstrak- 
ter Begriffe aus jenen Anschauungen, und zum Ope- 
riren mit diesen, d. h. zum Denken, als worin seine 
Vernunft besteht. Die Gedanken sind daher von den 
Affektionen des Leibes, welche, weil dieser die Objek- 
tivation des Willens ist, selbst in den Sinnesorganen, 
durch Steigerung, sogleich in Schmerz übergehen 
können, am entferntesten. Vorstellung und Gedanke 
können, dem Gesagten zufolge, auch als die Efflores- 
cenz des Willens angesehen werden, sofern sie aus der 
höchsten Vollendung und Steigerung des Organismus 
entspringen, dieser aber, an sich selbst und ausserhalb 
der Vorstellung, der Wille ist. Allerdings setzt, in mei- 
ner Erklärung, das Daseyn des Leibes die Welt der 
Vorstellung voraus, sofern auch er, als Körper oder 
reales Objekt, nur in ihr ist, und andererseits setzt die 
Vorstellung selbst eben so sehr den Leib voraus; da 
sie nur durch die Funktion eines Organs desselben 
entsteht. Das der ganzen Erscheinung zum Grunde 
Liegende, das allein an sich selbst Seiende und Ur- 
sprüngliche darin, ist ausschliesslich der Wille: denn 
er ist es, welcher eben durch diesen Process die Form 
349 
der Vorstellung annimmt, d. h. in das sekundäre Da- 
seyn einer gegenständlichen Welt, oder die Erkenn- 
barkeit, eingeht. — Die Philosophen vor Kant, wenige 
ausgenommen, haben die Erklärung des Hergangs 
unsers Erkennens von der verkehrten Seite angegrif- 
fen. Sie gingen nämlich dabei aus von einer sogenann- 
ten Seele, einem Wesen, dessen innere Natur und ei- 
genthümlicheFunktion im Denken bestände,und zwar 
ganz eigentlich im abstrakten Denken, mit blos- 
sen Begriffen, die ihr um so vollkommener angehör- 
ten, als sie von aller Anschaulichkeit ferner lagen. 
(Hier bitte ich, die Anmerkung am Ende des §. 6 mei- 
ner Preisschrift über das Fundament der Moral nach- 
zusehen.) Diese Seele sei unbegreiflicher Weise in den 
Leib geraten, woselbst sie in ihrem reinen Denken nur 
Störungen erleide, schon durch die Sinneseindrücke 
und Anschauungen, noch mehr durch die Gelüste, 
welche diese erregen, endlich durch die Affekte, ja 
Leidenschaften, zu welchen wieder diese sich ent- 
wickeln; während das selbsteigene und ursprüngliche 
Element dieser Seele lauteres, abstraktes Denken sei, 
welchem überlassen sie nur Universalia, angeborene 
Begriffe und aeternas veritates zu ihren Gegenständen 
habe und alles Anschauliche tief imter sich liegen 
lasse. Daher stammt denn auch die Verachtung, mit 
welcher noch jetzt von den Philosophieprofessoren die 
„Sinnlichkeit" und das „Sinnliche" erwähnt, ja, zur 
Hauptquelle der Immoralität gemacht werden; wäh- 
rend gerade die Sinne, da sie im Verein mit den aprio- 
rischen Funktionen des Intellekts, die Anschauung 
hervorbringen, die lautere und unschuldige Quelle 
aller unserer Erkenntnisse sind, von welcher alles 
Denken seinen Gehalt erst erborgt. Man könnte wahr- 
lich glauben, jene Herren dächten bei der Sinnlich- 
keit stets nur an den vorgeblic hcn sechsten Sinn der 
Franzosen. — Besagtermaassen also machte man, beim 
Process des Erkennens, das allerletzte Produkt des- 
selben, das abstrakte Denken, zum Ersten und Ur- 
sprünglichen, griff denuiach, wie gesagt, die Sache 
am verkehrten Ende an. — Wie nun, meiner Dar- 
stellung zufolge, der Intellekt aus dem Organismus 
35o 
und dadurch aus dem Willen entspringt, mithin ohne 
diesen nicht seyn könnte; so fände er ohne ihn auch 
keinen Stoff und Beschäftigung: weil alles Erkenn- 
hare eben nur die Objektivation des Willens ist. 
Aber nicht nur die Anschauung der Aussenwelt, 
oder das Bewusstseyn anderer Dinge, ist durch das 
Gehirn und seine Funktionen bedingt, sondern auch das 
Selbstbewusstseyn. Der Wille an sich selbst ist be- 
wusstlos und bleibt es im grössten Theile seiner Er- 
scheinungen. Die sekundäre Welt der V^orstellung 
muss hinzutreten, damit er sich seiner bewusst wer- 
de; wie das Licht erst durch die es zurückwerfenden 
Körper sichtbar wird imd ausserdem sich wirkungslos 
in die Finsternis verliert. Indem der Wille, zum Zweck 
der Auffassung seiner Beziehungen zur Aussenwelt, 
im thierischen Individuo, ein Gehirn hervorbringt, 
entsteht erst in diesem das Bewusstseyn des eigenen 
Selbst, mittelst des Subjekts des Erkennens, welches 
die Dinge als daseiend, das Ich als wollend auffasst. 
Nämlich die im Gehirn aufs Höchste gesteigerte, je- 
doch in die verschiedenen Theile desselben ausgebrei- 
tete Sensibilität muss zuvörderst alle Strahlen ihrer 
Thätigkeit zusammenbringen, sie gleichsam in einen 
Brennpunkt koncentriren, der jedoch nicht, wie bei 
Hohlspiegeln, nach aus'^en, sondern, wie bei Konvex- 
spiegeln, nach innen fällt: mit diesem Punkte nun 
beschreibt sie zunächst die Linie der Zeit, auf der da- 
her Alles, was sie vorstellt, sich darstellen muss und 
welche die erste nnd wesentlichste Form alles Erken- 
nens, oder die Form des innern Sinnes ist. Dieser 
Brennpunkt der gesammten Gehirnthätigkeit ist Das, 
was Kant die synthetische Einheit der Apperception 
nannte: erst mittelst desselben wird der Wille sich 
seiner selbst bewusst, indem dieser Fokus der Gehirn- 
thätigkeit, oder das Erkennende, sich mit seiner eige- 
nen Basis, daraus er entsprungen, dem Wollenden, 
als identisch auffasst und so das Ich entsteht. Dieser 
Fokus der Gehirnthätigkeit bleibt dennoch zunächst 
ein blosses Subjekt des Erkennens und als solches fä- 
hig, der kalte und antheilslose Zuschauer, der blosse 
Lenker und Berather des Willens zu seyn, wie auch, 
35i 
ohne Rücksicht auf diesen und sein Wohl oder Weh, 
die Aussenwelt rein objektiv autzufassen. Aber sobald 
er sich nach innen richtet, erkennt er als die Basis 
seiner eigenen Erscheinung; den Willen, und fliesst 
daher mit diesem in das ßevvusstseyn eines Ich zu- 
sammen. Jener Brennpunkt der Gehirnthätigkeit (oder 
das Subjekt der Erkenntniss) ist, als imlhtnlbarer 
Punkt, zwar einfach, deshalb aber doch keine Sub- 
stanz (Seele), sondern ein blosser Zustand. Das, dessen 
Zustand er selbst ist, kann nur indirekt, gleichsam 
durch Reflex, von ihm erkannt werden: aber das Auf- 
hören des Zustandes darf nicht angesehen werden als 
die Vernichtung dessen, von dem es ein Zustand ist. 
Dieses et^kennende und bewusste Ich verhält sich zum 
Willen, welcher die Basis der Erscheinung desselben 
ist, wie das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem 
selbst, und hat, wie jenes, nur eine bedingte, ja eigent- 
lich bloss scheinbare Realität. Weit entfernt, das 
schlechthin Erste zu seyn (wie z. B. Fichte lehrte), ist 
es im Grunde tertiär, indem es den Organismus vor- 
aussetzt, dieser aber den Willen. — Ich gebe zu, dass 
alles hier Gesagte doch eigentlich nur Bild und Gleich- 
niss, auch zum Theil hypothetisch sei : allein wir ste- 
hen bei einem Punkte, bis zu welchem kaum die Ge- 
danken, geschweige die Beweise reichen. Ich bitte da- 
her, es mit dem zu vergleichen, was ich im zwan- 
zigten Kapitel über diesen Gegenstand ausführlich 
beigebracht habe. 
Obgleich nun das Wesen an sich jedes Daseienden 
in seinem Willen besteht, und die Erkenntniss, nebst 
dem Bewusstseyn, nur als ein Sekundäres, auf den 
höheren Stufen der Erscheinung hinzukommt; so fin- 
den wir doch, dass der Unterschied, den die Anwesen- 
heit und der verschiedene Grad des Bewusstseyns und 
Intellekts zwischen Wesen und Wesen setzt, überaus 
gross und folgenreich ist. Das subjektive Daseyn der 
Pflanze müssen wir uns denken als ein schwaches 
Analogon, einen blossen Schatten von Behagen und 
Unbehagen: und selbst in diesem äusserst schwachen 
Grade weiss die Pflanze allein von sich, nicht von ir- 
gend etwas ausser ibr. Hingegen schon das ihr am 
352 
oächsten stehende, unterste Thier ist durch gesteigerte 
und genauer specificirte Bedürfnisse veranlasst, die 
Sphäre seines Daseyns über die Gränze seines Leibes 
hinaus zu erweitern. Dies geschieht durch die Erkennt- 
niss: es hat eine dumpfe Wahrnehmung seiner näch- 
sten Umgebung, aus welcher ihm Motive für sein 
Thun, zum Zweck seiner Erhaltung, erwachsen. Hie- 
durch tritt sonach das Medium der Motive ein: und 
dieses ist — die in Zeit und Raum objektiv dastehende 
Welt, die Welt als Vorstellung ; so schwach, dumpf 
und kaum dämmernd auch dieses erste und niedrigste 
Exemplar derselben seyn mag. Aber deutlicher und 
immer deutlicher, immer weiter und immer tiefer, 
prägt sie sich aus, in dem Maasse, wie in der aufstei- 
genden Reihe thierischer Organisationen das Gehirn 
immer vollkommener producirt wird. Diese Steigerung 
der Gehirnentwickelung, also des Intellekts und der 
Klarheit der Vorstellung, auf jeder dieser immer hö- 
heren Stufen, wird aber herbeigeführt durch das sich 
immer mehr erhöhende und komplicirende Bedür^fniss 
dieser Erscheinungen des Willens. Dieses rnuss immer 
erst den Anlass dazu geben: denn ohne Noth bringt 
die Natur (d. h. der in ihr sich objektivirende Wille) 
nichts, am wenigsten die schwierigste ihrer Produk- 
tionen, ein vollkommeneres Gehirn hervor; in Folge 
ihrer lexparsiinoniae: natura nihil agit frustra et nihil 
facit supervacaneum. Jedes Thier hat sie ausgestattet 
mit den Organen, die zu seiner Erhaltung, den Waf- 
fen, die zu seinem Kampfe nothwendig sind; wie ich 
dies in der Schrift „Vom Willen in der Natur" unter 
der Rubrik „Vergleichende Anatomie" ausführlich 
dargestellt habe: nach dem nämlichen Maassstabe 
daher ertheilte sie jedem das wichtigste der nach aus- 
sen gerichteten Organe, das Gehirn, mit seiner Funk- 
tion, dem Intellekt. Je komplicirter nämlich, durch 
höhere Entwickelung, seine Organisation wurde, desto 
mannigfaltiger und specieller bestimmt wurden auch 
seine Bedürfnisse, folglich desto schwieriger und von 
der Gelegenheit abhän{figer die Herbeischaffung des sie 
Befriedigenden. Da bedurfte es also eines weitern 
Gesichtskreises, einer genauem Auffassung, einer rich- 
1 3 Schopenhauer II o 5 J 
tigern Unterscheidung der Dinge in der Aussenwelt, 
in allen ihren Umständen und Beziehungen. Demge- 
mass sehen wir die Vorstellungskräfte und ihre Or- 
gane, Gehirn, Nerven und Sinneswerkzeuge, immer 
vollkommener hervortreten, je höher wir in der Stu- 
fenleiter der Thiere aufwärts gehen: und in dem 
Maasse, wie das Cerebral system sich entwickelt, stellt 
sich die Aussenwelt immer deutlicher, vielseitiger, 
vollkommener, im Bewusstseyn dar. Die Auffassung 
derselben erfordert jetzt immer mehr Aufmerksam- 
keit, und zuletzt in dem Grade, dass bisweilen ihre 
Beziehung auf den Willen momentan aus den Augen 
verloren werden muss, damit sie desto reiner und 
richtiger vor sich gehe. Ganz entschieden tritt dies 
erst beim Menschen ein: bei ihm allein findet eine 
reine Sondey^ng des Ej^kennens vom Wollen Statt. Dies 
ist ein wichtiger Punkt, den ich hier bloss berühre, um 
seine Stelle zu bezeichnen und weiter unten ihn wie- 
der aufnehmen zu können. — Aber auch diesen letz- 
ten Schritt in der Ausdehnung und Vervollkommnung 
des Gehirns, und damit in der Erhöhung der Erkennt- 
nisskräfte, thut die Natur, wie alle übrigen, bloss in 
Folge der erhöhten Bedürfnisse^ also zum Dienste des 
Willens. Was dieser im Menschen bezweckt und er- 
reicht, ist zwar im Wesentlichen das Selbe und nicht 
mehr, als was auch im Thiere sein Ziel ist : Ernährung 
und Fortpflanzung. Aber durch die Organisation des 
Menschen wurden die Erfordernisse zur Erreichung 
jenes Ziels so sehr vermehrt, gesteigert und specificirt, 
dass, zur Erreichung des Zwecks, eine ungleich be- 
trächtlichere Erhöhung des Intellekts, als die bisheri- 
gen Stufen darboten, nothwenig, oder wenigstens das 
leichteste Mittel war. Da nun aber der Intellekt, sei- 
nem Wesen zufolge, ein Werkzeug von höchst viel- 
seitigem Gebrauch und auf die verschiedenartigsten 
Zwecke gleich anwendbar ist; so konnte die Natur, 
ihrem Geist der Sparsamkeit getreu, alle Forderungen 
der so mannigfach gewordenen Bedürfnisse nunmehr 
ganz allein durch ihn decken: daher stellte sie den 
Menschen ohne Bekleidung, ohne natürliche Schutz- 
wehr, oder Angriffswaffe, ja mit verhältnissmässig 
geringer Muskelkraft, bei grosser Gebrechlichkeit und 
geringer Ausdauer gegen widrige Einflüsse und Man- 
gel hin, im Verlass auf jenes eine grosse Werkzeug, 
zu welchem sie nur noch die Hände, von der nächsten 
Stufe unterihm, dem Affen, beizubehalten hatte. Durch 
den also hier auftretenden überwiegenden Intellekt 
ist aber nicht nur die Auffassung der Motive, die 
Mannigfaltigkeit derselben und überhaupt der Hori- 
zont der Zwecke unendlich vermehrt, sondern auch 
die Deutlichkeit, mit welcher der Wille sich seiner 
selbst bewusst wird, aufs höchste gesteigert, in Folge 
der eingetretenen Klarheit des ganzen Bewusstseyns, 
welche, durch die Fähigkeit des abstrakten Erkennens 
unterstützt, jetzt bis zur vollkommenen Besonnenheit 
geht. Dadurch aber, wie auch durch die als Träger 
eines so erhöhten Intellekts noth wendig vorausge- 
setzte Vehemenz des Willens, ist eine Erhöhung aller 
Affekte eingetreten, ja die Möglichkeit der Leiden- 
schaften^ welche das Thier eigentlich nicht kennt. 
Denn die Heftigkeit des Willens hält mit der Erhö- 
hung der Intelligenz gleichen Schritt, eben weil diese 
eigentlich immer aus den gesteigerten Bedürfnissen 
und dringendem Forderungen des Willens entspringt: 
zudem aber unterstützen beide sich wechselseitig. Die 
Heftigkeit des Charakters nämlich hängt zusammen 
mit grösserer Energie des Herzschlags und Blutum- 
laufs, welche physisch die Thäti^okeit des Gehirns er- 
höht. Andererseits wieder erhöht die Klarheit der In- 
telligenz, mittelst der lebhafteren Auffassung der 
äussern Umstände, die durch diese hervorgerufenen 
Affekte. Daher z. B. lassen junge Kälber sich ruhig 
auf einen Wagen packen und fortschleppen: junge 
Löwen aber, wenn nur von der Mutter getrennt, blei- 
ben fortwährend unruhig und brüllen unablässig, vom 
Morgen bis zum Abend ; Kinder, in einer solchen La- 
ge, würden sich fast zu Tode schreien und quälen. 
Die Lebhaftigkeit vmd Heftigkeit des Affen steht mit 
seiner schon sehr entwickelten Intelligenz in genauer 
Verbindung. Auf eben diesem Wechselverhältniss be- 
ruht es, dass der Mensch überhaupt viel grösserer 
Leiden fähig ist, als das Thier; aber auch grösserer 
.3* 355 
Freudigkeit, in den befriedif^^ten und frohen Affekten. 
Eben so macht der erhöhte Intellekt ihm die Lange- 
weile fühlbarer, als demThier, wird aber auch, wenn 
er individuell sehr vollkommen ist, zu einer uner- 
schöpflichen Quelle der Kur/Aveil. Im Ganzen also 
verhält sich die Erscheinung des Willens im Men- 
schen zu der im Thier der obern Geschlechter wie ein 
angeschlagener Ton zu seiner zwei bis drei Oktaven 
tiefer gegegriffenen Quinte. Aber auch zwischen den 
verschiedenen Thierarten sind die Unterschiede des 
Intellekts und dadurch des Bevvusstseyns gross und 
endlos abgestuft. Das blosse Analogon von Bewusst- 
seyn, welches wir noch der Pflanze zuschreiben müs- 
sen, wird sich zu dem noch viel dumpferen subjek- 
tiven Wesen eines unorganischen Körpers ungefähr 
verhalten wie das Bewusstseyn des untersten Thieres 
zu jenem quasi Bewusstseyn der Pflanze. Man kann 
sich die zahllosen Abstufungen im Grade des Bevvusst- 
seyns veranschaulichen unter dem Bilde der verschie- 
denenGeschwindigkeit, welchedievomCentroungleich 
entfernten Punkte einer drehenden Scheibe haben. Aber 
das richtigste, ja, wie unser drittes Buch lehrt, das 
natürliche Bild jener Abstufung liefert die Tonleiter, 
in ihrem ganzen Umfang, vom tiefsten noch hörbaren 
bis zum höchsten Ton. Nun aber ist es der Grad des 
Bevvusstseyns, welcher den Grad des Daseyns eines 
Wesens bestimmt. Denn alles unmittelbare Daseyn 
ist ein subjektives: das objektive Daseyn ist im Be- 
wusstseyn eines Andern vorhanden, also nur für die- 
ses, mithin ganz mittelbar. Durch den Grad des Be- 
wusstseyns sind die Wesen so verschieden, wie sie 
durch den Willen gleich sind, sofern dieser das Ge- 
meinsame in ihnen allen ist. 
Was wir aber jetzt zwischen Pflanze und Thier, 
und dann zwisihen den verschiedenen Thiergeschlech- 
tern betrachtet haben, findet auch noch zwischen 
Mensch und Mensch Statt. Auch hier nämlich be- 
gründet das Sekundäre, der Intellekt, mittelst der von 
ihm abhängigen Klarheit des Bewusstseyns und Deut- 
lichkeit des Erkennens, einen fundamentalen und un- 
absehbar grossen Unterschied in der ganzen W^eise 
356 
desDaseyns, und dadurch im Grade desselben. Je höher 
gesteigert das Bewusstseyn ist, desto deutlicher und 
zusammenhängender die Gedanken, desto klärer die 
Anschauungen, desto inniger die Empfindungen. Da- 
durch gewinnt Alles mehr Tiefe: die Rührung, die 
Wehmuth, die Freude und der Schmerz. Die gewöhn- 
lichen Flachköpfe sind nicht ein Mal rechter Freude 
fähig: sie leben in Dumpfheit dahin. Während dem 
Einen sein Bewusstseyn nur das eigene Daseyn, nebst 
den Motiven, welche zum Zweck der Erhaltung und 
Erheiterung desselben apprehendirt werden müssen, 
in einer dürftigen Auffassung der Aussenwelt ver- 
gegenwärtigt, ist es dem Andern eine camera obscura, 
in welcher sich der Makrokosmos darstellt: 
„Er fühlet, dass er eine kleine Welt 
In seinem Gehirne brütend hält, 
Dass die fangt an zu wirken und zu leben, 
Dass er sie gerne möchte von sich geben." 
Die Verschiedenheit der ganzen Art des Daseyns, wel- 
che die Extreme der Gradation der intellektuellen 
Fähigkeiten zwischen Mensch und Mensch feststellen, 
ist so gross, dass die zwischen König und Tagelöhner 
dagegen gering erscheint. Und auch hier ist, wie bei 
den Thiergeschlechtern, ein Zusammenhang zwischen 
der Vehemenz des Willens und der Steigerung des 
Intellekts nachweisbar. Genie ist durch ein leiden- 
schaftliches Temperament bedingt, und ein phleg- 
matisches Genie ist undenkbar: es scheint, dass ein 
überaus heftiger, also gewaltig verlangender Wille 
daseyn musste, wenn die Natur einen abnorm erhöhten 
Intellekt, als jenem angemessen, dazugeben sollte; 
während die bloss physische Rechenschaft hierüber 
auf die grössere Energie, mit der die Arterien des 
Kopfes das Gehirn bewegen und die Turgescenz des- 
selben vermehren, hinweist. Freilich aber ist die Quan- 
tität, Qualität und Form des Gehirns selbst die andere 
und ungleich seltenere Bedingung des Genies. Ande- 
rerseits sind die Phlegmatici in der Regel von sehr 
mittelmässigen Geisleskräften : und eben so stehen die 
nördlichen, kaltblütigen und phlegmatischen Völker, 
im Allgemeinen, den südlichen, lebhaften und leiden- 
schaftlichen an Geist merklich nach; ob{}leich, wie 
Bako*) überaus treffend bemerkt hat, wenn ein Mal 
ein Nordländer von der Natur hochbegabt wird, dies 
alsdann einen Grad erreichen kann, bis zu welchem 
kein Südländer je gelangt. Demnach ist es so verkehrt 
als gewöhnlich, zum Maassstab der Vergleichung der 
Geisteskräfte verschiedener Nationen die grossen Gei- 
ster derselben zu nehmen: denn das heisst, die Regel 
durch die Ausnahmen begründen wollen. Vielmehr 
ist es die grosse Pluralität jeder Nation, die man zu 
betrachten hat: denn eine Schwalbe macht keinen 
Sommer. — Noch ist hier zu bemerken, dass eben die 
Leidenschaftlichkeit, welche Bedingung des Genies 
ist, mit seiner lebhaften Auffassung der Dinge ver- 
bimden, im praktischen Leben, wo der Wille ins Spiel 
kommt, znmal bei plötzlichen Ereignissen, eine so 
grosse Aufregung der Affekte herbeiführt, dass sie den 
Intellekt stört und verwirrt; während der Phlegma- 
tikus auch dann noch den vollen Gebrauch seiner, 
wenngleich viel geringern, Geisteskräfte behält und 
damit alsdann viel mehr leistet, als das grösste Genie 
vermag. Sonach begünstigtem leidenschaftliches Tem- 
perament die ursprüngliche Beschaffenheit des Intel- 
lekts, ein j)hlegmatisches aber dessen Gebrauch. Des- 
halb ist das eigentliche Genie durchaus nur zu theore- 
tischen Leistungen, als zu welchen es seine Zeit wählen 
und abwarten kann; welches gerade die seyn wird, 
woder Wille gänzlich ruht und keine Welle den reinen 
Spiegel der Weltauffassung trübt; hingegen ist zum 
praktischen Leben das Genie ungeschickt und un- 
brauchbar, daher auch meistens unglücklich. In diesem 
Sinn ist Goethe s Tasso gedichtet. Wie nun das eigent- 
liche Genie auf der absoluten Stärke des Intellekts be- 
ruht, welche durch eine ihr entsprechende, übermäs- 
sige Heftigkeit des Gemüths erkauft werden muss; so 
beruht hingegen die grosse Ueberlegenheit im prak- 
tischen Leben, welche Feldherren und Staatsmänner 
macht, auf der relativen Stärke des Intellekts, nämlich 
auf dem höchsten Grad desselben, der ohne eine zu 
*) Uc augm. scient., L, VI, c. 3. 
358 
I 
grosse Erregbarkeit der Affekte, nebst zu grosser Hef- 
tigkeit des Charakters erreicht werden kann und daher 
auch im Sturm noch Stand hält. Viel Festigkeit des 
Willens und Unerschütterlichkeit des Gemüths, bei 
einem tüchtigen und feinen Verstände, reicht hier 
aus; und was darüber hinausgeht, wirkt schädlich: 
denn die zu grosse Entwickelung der Intelligenz steht 
der Festigkeit des Charakters und Entschlossenheit 
des Willens geradezu im Wege. Deshalb ist auch diese 
Art der Eminenz nicht so abnorm und ist hundert 
Mal weniger selten, als jene andere: demgemäss sehen 
wir grosse Feldherrn und grosse Minister zu allen 
Zeiten, sobald nur die äussern Umstände ihrer Wirk- 
samkeit günstig sind, auftreten. Grosse Dichter und 
Philosophen hingegen lassen Jahrhunderte auf sich 
warten: doch kann die Menschheit auch an diesem 
seltenen Erscheinen derselben sich genügen lassen; 
da ihre Werke bleiben und nicht bloss für die Gegen- 
wart da sind, wie die Leistungen jener Anderen. — 
Dem oben erwähnten Gesetze der Sparsamkeit der 
Natur ist es auch völlig gemäss, dass sie die geistige 
Eminenz überhaupt höchst Wenigen, und das Genie 
nur als die seltenste aller Ausnahmen ertheilt, den 
grossen Haufen des Menschengeschlechts aber mit nicht 
mehr Geisteskräften ausstattet, als die Erhaltung des 
Einzelnen und der Gattung erfordert. Denn die grossen 
und, durch ihre Befriedigung selbst, sich beständig 
vermehrenden Bedürfnisse des Menschengeschlechts 
machen es nothwendig, dass der bei weitem grösste 
Theil desselben sein Leben mit grob körperlichen und 
ganz mechanischen Arbeiten zubiingt: wozu sollte 
nun diesem ein lebhafter Geist, eine glühende Phan- 
tasie, ein subtiler Verstand, ein tief eindringender 
Scharfsinn nutzen? Dergleichen würde die Leute nur 
untauglich und unglücklich machen. Daher also ist 
die Natur mit dem kostbarsten aller ihrer Erzeugnisse 
am wenigsten verschwenderisch umgegangen. Von 
diesem Gesichtspunkt aus sollte man auch, um nicht 
unbillig zu urtheilen, seine Erwartungen von den gei- 
stigen Leistungen der Menschen überhaupt feststellen 
und z. B. auch Gelehrte, da in der Regel bloss äussere 
359 
Veranlassunfi^en sie zu solchen gemacht haben, zu- 
nächst betrachten als Männer, welche die Natur ei- 
gentlich zum Ackerbau bestimmt hatte: ja, selbst Phi- 
losophieprofessoren sollte man nach diesem Maassstabe 
abschätzen und wird dann ihre Leistungen allen bil- 
ligen Erwartungen entsprechend finden. — Beachtens- 
werth ist es, dass im Süden, wo die Noth des Lebens 
weniger schwer auf dem Menschengeschlechte lastet 
und mehr Müsse gestattet, auch die geistigen Fähig- 
keiten, selbst der Menge, sogleich regsamer und feiner 
werden. — Physiologisch merkwürdig ist, dass das 
Uebergewicht der Masse des Gehirns über die des 
Rückenmarks und der Nerven, welches nach Sömme- 
rmg\s scharfsinniger Entdeckung, den wahren näch- 
sten Maassstab für den Grad der Intelligenz, sowohl 
in den Thiergeschlechtern, als in den menschlichen 
Individuen, abgiebt, zugleich die unmittelbare Beweg- 
lichkeit, die Agilität der Glieder vermehrt; weil, durch 
die grosse Ungleichheit des Verhältnisses, die Abhän- 
gigkeit aller motorischen Nerven vom Gehirn ent- 
schiedener wird; wozu wohl noch kommt, dass an 
der qualitativen Vollkommenheit des grossen Gehirns 
auch die des kleinen, dieses nächsten Lenkers der Be- 
wegungen Theil nimmt; durch Beides also alle will- 
kürlichen Bewegungen grössere Leichtigkeit, Schnelle 
und Behändigkeit gewinnen, und durch die Koncen- 
tration des Ausgangspunktes aller Aktivität Das ent- 
steht, was Lichtenberg an Garrick lobt: ,,dass er all- 
gegenwärtig in den Muskeln seines Körpers schien". 
Daher deutet Schwerfälligkeit im Gange des Körpers 
auf Schwerfälligkeit im Gange der Gedanken und wird, 
so gut wie Schlaffheit der Gesichtszüge und Stumpf- 
heit des Blicks, als ein Zeichen von Geistlosigkeit be- 
trachtet, sowohl an Individuen, wie an Nationen. Ein 
anderes Symptom des angeregten physiologischen Sach- 
verhältnisses ist der Umstand, dass viele Leute, sobald 
ihr Gespräch mit ihrem Begleiter anfängt einigen Zu- 
sammenhang zu gewinnen, sogleich stillstehen müssen ; 
weil nämlich ihr Gehirn, sobald es ein Paar Gedanken 
an einander zu haken hat, nicht mehr so viel Kraft 
übrig behält, wie erforderlich ist, um durch die mo- 
36o 
I 
torischen Nerven die Beine in Bewegung zu erhalten: 
so knapp ist bei ihnen Alles zugeschnitten. 
Aus dieser ganzen objektiven Betrachtung des In- 
tellekts und seines Ursprungs geht hervor, dass der- 
selbe zur Auffassung der Zwecke, auf deren Errei- 
chung das individuelle Leben und die Fortpflanzung 
desselben beruht, bestimmt ist, keineswegs aber das 
vom Erkennenden unabhängig vorhandene Wesen 
an sich der Dinge und der Welt wiederzugeben. Was 
der Pflanze die Empfänglichkeit für das Licht ist, in 
Folge derer sie ihr Wachsthum der Richtung dessel- 
ben entgegen lenkt, das Selbe ist, der Art nach, die 
Erkenntniss des Thieres, ja, auch des Menschen, wenn 
gleich, dem Grade nach, in dem Maasse gesteigert, 
wie die Bedürfnisse jedes dieser Wesen es heischen. 
Bei ihnen allen bleibt die Wahrnehmung ein blosses 
Innewerden ihrer Relation zu andern Dingen, und 
ist keineswegs bestimmt, das eigentliche, schlechthin 
reale Wesen dieser im Bewusstseyn des Erkennenden 
noch ein Mal darzustellen. Vielmehr ist der Intellekt, 
als aus dem Willen stammend, auch nur zum Dien- 
ste dieses, also zur Auffassung der Motive, bestimmt: 
darauf ist er eingerichtet, mithin von durchaus prak- 
tischer Tendenz. Dies gilt auch insofern, als wir die 
metaphysische Bedeutung des Lebens als eine ethische 
begreifen : denn auch in diesem Sinne finden wir den 
Menschen nur zum Behufe seines Handelns erken- 
nend. Ein solches, ausschliesslich zu praktischen 
Zwecken vorhandenes Erkenntnissvermögen wird, sei- 
ner Natur nach, stets nur die Relationen der Dinge 
zu einander auffassen, nicht aber das eigene Wesen 
derselben, wie es an sich selbst ist. Nun aber den 
Komplex dieser Relationen für das schlechthin und 
an sich selbst vorhandene Wesen der Welt, und die 
Art und Weise, wie sie sich, nach den im Gehirn 
präformirten Gesetzen, nothwendig darstellen, für 
die ewigen Gesetze des Daseyns aller Dinge zu halten, 
und nun danach ontoloj^ie, Kosmologie und Theolo- 
gie zu konstruiren, — dies war eigentlich der uralte 
Grund-Irrthum, dem Kants Lehre ein Ende gemacht 
hat. Hier also kommt unsere objektive und daher 
36l 
grossentheils physiologische Betrachtung des Intellekts 
seiner transscendentalen entgegen, ja, tritt, in gewissem 
Sinne, sogar als eine Einsicht a priori in dieselhe auf, 
indem sie, von einem ausserhalb derselben genomme- 
nen Standpunkt, uns genetisch und daher als noth- 
xvendig erkennen lässt, was jene, von Thatsachen des 
Bewusstseyns ausgehend, auch nur thatsächlich dar- 
legt. Denn in Folge unserer objektiven Betrachtung 
des Intellekts ist die Welt als Vorstellung, wie sie, 
in Raum und Zeit ausgebreitet, dasteht und nach 
der strengen Regel der Kausalität sich gesetzmässig 
fortbewegt, zunächst nur ein physiologisches Phäno- 
men, eine Funktion des Gehirns, welche dieses, zwar 
auf Anlass gewisser äusserer Reize, aber doch seinen 
eigenen Gesetzen gemäss vollzieht. Demnach versteht 
es sich zum voraus, dass was in dieser Funktion selbst, 
mithin durch sie und für sie vorgeht, keineswegs für 
die Beschaffenheit unabhängig von ihr vorhandener 
und ganz von ihr verschiedener /)»2^e an sich gehalten 
werden darf, sondern zunächst bloss die Art und 
Weise dieser Funktion selbst darstellt, als welche im- 
mer nur eine sehr untergeordnete Modifikation durch 
das von ihr völlig unabhängig Vorhandene, welches 
als Reiz sie in Bewegung setzt, erhalten kann. Wie 
demnach Locke Alles, was mittelst der Empfindung 
in die Wahrnehmung kommt, den Sinnesorganen 
vindicirte, um es den Dingen an sich abzusprechen; 
so hat Kant, in gleicher Absicht und auf demselben 
Wege weitergehend. Alles was die eigentliche ^n- 
schauung möglich macht, nämlich Raum, Zeit und 
Kausalität, als Gehirnfunktion nachgewiesen; wenn 
gleich er dieses physiologischen Ausdrucks sich ent- 
halten hat, zu welchem jedoch unsere jetzige, von 
der entgegengesetzten, realen Seite kommende Be- 
trachtungsweise uns nothwendig hinführt. Kayit kam, 
auf seinem analytischen Wege, zu dem Resultat, dass 
was wir erkennen blosse Erscheinungen seien. W^as 
dieser räthselhafte Ausdruck eigentlich besage, wird 
aus unserer objektiven und genetischen Betrachtung 
des Intellekts klar: es sind die Motive, für die Zwek- 
ke eines individuellen Willens, wie sie in dem, zu 
36?. 
diesem Behuf von ihm hervorgehrachten Intellekt 
(welcher seihst, objektiv, als Gehirn erscheint) sich 
darstellen, und welche, so weit man ihre Verkettung 
verfolgen mag, aufgefasst, in ihrem Zusammenhange 
die in Zeit und Raum sich objektiv ausbreitende Welt 
liefern, welche ich die Welt als Vorstellung nenne. 
Auch verschwindet, von unserm Gesichtspunkt aus, 
das Anstössige, welches in der Kantischen Lehre dar- 
aus entsteht, dass, indem der Intellekt, statt der Din- 
ge, wie sie an sich sind, blosse Erscheinungen erkennt, 
ja, in Folge derselben zu Paralogismen und unge- 
gründeten Hypostasen verleitet wird, mittelst „So- 
phistikationen, nicht der Menschen, sondern der Ver- 
nunft selbst, von denen selbst der Weiseste sich nicht 
losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung 
den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn un- 
aufhörlich zwackt und äfft, niemals los werden kann", 
— es das Ansehen gewinnt, als sei unser Intellekt 
absichtlich bestimmt, uns zu Irrthümern zu verleiten. 
Denn die hier gegebene objektive Ansicht des Intellekts, 
welche eine Genesis desselben enthält, macht begreif- 
lich, dass er, ausschliesslich zu praktischen Zwecken 
bestimmt, das blosse Medium der Motive ist, mithin 
durch richtige Darstellung dieser seine Bestimmung 
erfüllt, und dass, wenn wir aus dem Komplex und 
der Gesetzmässigkeit der hiebei sich uns objektiv dar- 
stellenden Erscheinungen das Wesen der Dinge an 
sich selbst zu konstruiren unternehmen, dieses auf 
eigene Gefehr und Verantwortlichkeit geschieht. Wir 
haben nämlich erkannt, dass die ursprünglich er- 
kenntnisslose und im Finstern treibende innere Kraft 
der Natur, welche, wenn sie sich bis zum Selbstbe- 
wusstseyn emporgearbeitet hat, sich diesem als Wille 
entschleiert, diese Stufe nur mittelst Produktion eines 
animalischen Gehirns und der Erkenntniss, als Funk- 
tion desselben, erreicht, wonach in diesem Gehirn 
das Phänomen der anschaulichen Welt entsteht. Nun 
aber dieses blosse Gehirnphänomen, mit der seinen 
Funktionen unwandelbar anhängenden Gesetzmässig 
keit für das, unabhängig von ihm, vor ihm und nach 
ihm vorhandene, objektive Wesen an sich selbst der 
363 
Welt und der Dinge in ihr zu erklären, ist offenbar 
ein Sprung, zu welchem nichts uns berechtigt. Aus 
diesem mundus phäenomenon, aus dieser, unter so 
vielfachen Bedingungen entstehenden Anschauung 
sind nun aber alle unsere Begriffe geschöpft, haben 
allen Gehalt nur von ihr, oder doch nur in Beziehung 
auf sie. Daher sind sie, wie Kant sagt, nur von im- 
manentem, nicht von transscendeniem Gebrauch: 
d. h. diese unsere Begriffe, dieses erste Material des 
Denkens, folglich noch mehr die durch ihre Zusam- 
mensetzung entstehenden Urtheile, sind der Aufgabe, 
das Wesen der Dinge an sich und den wahren Zu- 
sammenhang der Welt und des Daseyns zu denken, 
unangemessen ; ja, dieses Unternehmen ist dem, den 
stereometrischen Gehalt eines Körpers in Quadratzollen 
auszudrücken, analog. Denn unser Intellekt, virsprüng- 
lich nur bestimmt, einem individuellen Willen seine 
kleinlichen Zwecke vorzuhalten, fasstdemgemäss blosse 
Relationen der Dinge auf und dringt nicht in ihr Inne- 
res, in ihr eigenes Wesen: er ist demnach eine blosse 
Flächenkraft, haftet an der Oberfläche der Dinge 
und fasst blosse species transitivas, nicht das wahre 
Wesen derselben. Hieraus eben entspringt es, dass 
wir kein einziges Ding, auch nicht das einfachste und 
geringste, durch und durch verstehen und begreifen 
können; sondern an jedem etwas uns völlig Unerklär- 
liches übrig bleibt. — Eben weil der Intellekt ein Pro- 
dukt derMatur und daher nur auf ihre Zwecke berech- 
net ist, haben die Christlichen Mystiker ihn recht artig 
das ,, Licht der Natur'' benannt und in seine Schran- 
ken zurückgewiesen: denn die Natur ist das Objekt, 
zu welchem allein er das Subjekt ist. Jenem Ausdruck 
liegt eigentlich schon der Gedanke zum Grunde, aus 
dem die Kritik der reinen Vernunft entsprungen ist. 
Dass wir auf dem unmittelbaren Wege, d. h. durch 
die unkritische, direkte Anwendung des Intellekts 
und seiner Data, die Welt nicht begreifen können, 
sondern beim Nachdenken über sie uns immer tiefer 
in unauflösliche Rathsel verstricken, rührt eben da- 
her, dass der Intellekt, also die Erkenntniss selbst, 
schon ein sekundäres, ein blosses Produkt ist, herbei- 
364 
I 
I 
geführt durch dieEntwickelung des Wesens der Welt, 
die ihm folghch bis dahin vorhergängig war, und er 
zuletzt eintrat, als ein Durchbruch aus Licht aus der 
dunkeln Tiefe des erkenntnisslosen Strebens, dessen 
Wesen sich in dem zugleich dadurch entstehenden 
Selbstbevvusstseyn als ^«7/e darstellt. Das der Erkennt- 
niss als ihre Bedingung Vorhergängige, wodurch sie 
allererst möglich wurde, also ihre eigene Basis, kann 
nicht unmittelbar von ihr gefasst werden; wie das 
Auge nicht sich selbst sehen kann. Vielmehr sind die 
auf der Oberfläche der Dinge sich darstellenden Ver- 
hältnisse zwischen Wesen und Wesen allein ihre 
Sache, und sind es nur mittelst des Apparats des In- 
tellekts, nämlich seiner Eormen, Raum, Zeit, Kausa- 
lität. Eben weil die Welt ohne Hülfe der Erkenntniss 
sich gemacht hat, geht ihr ganzes Wesen nicht in die 
Erkenntniss ein, sondern diese setzt das Daseyn der 
Welt schon voraus; weshalb der Ursprung desselben 
nicht in ihrem Bereiche liegt. Sie ist demnach 
beschränkt auf die Verhältnisse zwischen dem Vor- 
handenen, und damit für den individuellen Willen, 
'ZU dessen Dienst allein sie entstand, ausreichend. 
Denn der Intellekt ist, wie gezeigt worden, durch die 
Natur bedingt, Hegt in ihr, gehört zu ihr, und kann 
daher nicht sich ihr als ein ganz Fremdes gegen- 
überstellen, um so ihr ganzes Wesen schlechthin ob- 
jektiv und von Grund aus in sich aufzunehmen. Er 
kann, wenn das Glück gut ist. Alles in der Natur 
verstehen, aber nicht die Natur selbst, wenigstens 
nicht unmittelbar. 
So entmutigend für die Metaphysik diese aus der 
Beschaflenheit und dem Ursprung des Intellekts her- 
vorgehende wesentliche Beschränkung desselben auch 
seyn mag; so hat eben diese doch auch eine andere, 
sehr tröstliche Seite. Sie benimmt nämlich den un- 
mittelbaren Aussagen der Natur ihre unbedingte Gül- 
tigkeit, in deren Behauptung der eigentliche Natura- 
lismus besteht. Wenn daher auch die Natur uns jedes 
Lebende als aus dem Nichts hervorgehend und, nach 
einem ephemeren Daseyn, auf immer dahin zurück- 
kehrend darstellt, und sie sich daran zu vergnügen 
365 
scheint, unaufhörlich von Neuem hervorzubringen, 
um unaufhörlich zerstören zu können, hingegen nichts 
Bestehendes zu Tage zu fördern vermag; wenn wir 
demnach als das einzig Bleibende die Materie aner- 
kennen müssen, welche, unentstanden und unvergäng- 
lich. Alles aus ihrem Schoosse gebiert, weshalb ihr 
Name aus mater rerum entstanden scheint, und neben 
ihr, als dem Vater der Dinge, die Form^ welche, eben 
so flüchtig, wie jene beharrlich, eigentlich jeden Au- 
genblick wechselt und sich nur erhalten kann, so lange 
sie sich der Materie parasitisch anklammert (bald die- 
sem, bald jenem Theil derselben), aber wenn sie die- 
sen Anhalt ein Mal ganz verliert, untergeht, wie die 
Paläotherien und Ichthyosauren bezeugen; so müssen 
wir dies zwar als die unmittelbare und unverfälschte 
Aussage der Natur anerkennen; aber, wegen des oben 
auseinandergesetzten Ursprungs und daraus sich er- 
gebender Beschaffenheit des Intellekts^ können wir die- 
ser Aussage keine unbedingte Wahrheit zugestehen, viel- 
mehr nur eine durchweg bedingte^ welche Kant tref- 
fend als eine solche bezeichnet hat, indem er sie die 
Erscheinung im Gegensatz des Dinges an sich nannte. — 
Wenn es, trotz dieser wesentlichen Beschränkung 
des Intellekts, möglich wird, auf einem Umwege, näm- 
lich mittelst der weit verfolgten Reflexion und durch 
künstliche Verknüpfung der nach aussen gerichteten, 
objektiven Erkenntniss mit den Datis des Selbsbe- 
wusstseyns, zu einem gewissen Verständniss der Welt 
und des Wesens der Dinge zu gelangen ; so wird die- 
ses doch nur ein sehr limitirtes, ganz mittelbares und 
relatives, nämlich eine parabolische Uebersetzung in 
die Formen der Erkenntniss, also ein quadam prodire 
tenus seyn, welches stets noch viele Probleme unge- 
löst übrig lassen muss. — Hingegen war der Grund- 
fehler des alten, durch Katit zerstörten Dogmatismus, 
in allen seinen Formen, dieser, dass er schlechthin 
von der Erken?ittiiss, d. i. der fVelt als Forstellung, 
ausgieng, um aus deren Gesetzen das Seyende über- 
haupt abzuleiten und aufzubauen, wobei er jene Welt 
der Vorstellung, nebst ihren Gesetzen, als etwas 
schlechthin Vorhandenes und absolut Reales nahm; 
366 
während das ganze Daseyn derselben von Grund aus 
relativ und ein blosses Resultat oder Phänomen des 
ihr zum Grunde liegenden Wesens an sich ist, — oder, 
mit andern Worten, dass er eine ontologie konstru- 
irte, wo er bloss zu einer Dianoiologie Stoff hatte. 
Kant deckte das subjektiv Bedingte und deshalb 
schlechterdings Immanente, d. h. zum transscenden- 
ten Gebrauch Untaugliche, der Erkenntniss, aus der 
eigenen Gesetzmässigkeit dieser selbst, auf: weshalb 
er seine Lehre sehr treffend Kritik der Veimunft nann- 
te. Er führte dies theils dadurch aus, dass er den be- 
trächtlichen und durchgängigen apriorischen Theil 
aller Erkenntniss nachwies, welcher, als durchaus 
subjektiv, alle Objektivität verkümmert; theils da- 
durch, dass er angeblich darthat, dass die Grundsätze 
der als rein objektiv genommenen Erkenntniss, wenn 
bis ans Ende verfolgt, auf Widersprüche leiteten. Nur 
aber hatte er voreilig angenommen, dass ausser der 
objektiven Erkenntniss, d. h. ausser der Welt als Vor- 
stellung^ uns nichts gegeben sei, als etwan noch das 
Gewissen, aus welchem er das Wenige, was noch von 
Metaphysik übrig blieb, konstruirte, nämlich die Mo- 
raltheologie, welcher er jedoch auch schlechterdings 
nur praktische, durchaus nicht theoretische Gültig- 
keit zugestand. — Er hatte übersehen, dass, wenn 
gleich allerdings die objektive Erkenntniss, oder die 
Welt als Vorstellung, nichts, als Erscheinungen, nebst 
deren phänomenalen Zusammenhang und Regressus 
liefert; dennoch unser selbsteigenes Wesen nothwen- 
dig auch der Welt der Dinge an sich angehört, indem 
es in dieser wurzeln muss: hieraus aber müssen, wenn 
auch die Wurzel nicht gerade zu Tage gezogen wer- 
den kann, doch einige Data zu erfassen seyn, zur Auf- 
klärung des Zusammenhangs der Welt der Erschei- 
nungen mit dem Wesen an sich der Dinge. Hier also 
liegt der Weg, auf welchem ich über Kant und die 
von ihm gezogene Gränze hinausgegangen bin, jedoch 
stets auf dem Boden der Reflexion, mithin der Red- 
lichkeit, mich haltend, daher ohne das windbeutelnde 
Vorgeben intellektualer Anschauung, oder absoluten 
Denkens, welches die Periode der Pseudophilosophie 
367 
zwischen Kant und mir charakterisirt. Kant gieng, bei 
seiner Nachweisung des Unzulänglichen der vernünf- 
tigen Erkenntniss zur Ergründung des Wesens der 
Welt, von der Erkenntniss, als einer Thatsache, die 
unser Bewusstseyn liefert, aus, verfuhr also, in diesem 
Sinne, a posteriori. Ich aber habe in diesem Kapitel, 
wie auch in der Schrift ,,Ueber den Willen in der Na- 
tur", nachzuweisen gesucht, was die Erkenntniss ihrem 
Weseniind U7'sprung nach sei, nämlich ein Sekundäres, 
zu individuellen Zwecken Bestimmtes: woraus folgt, 
dass sie zur Ergründung des Wesens der Welt unzu- 
länglich seyn muss; bin also, insofern, zum selben 
Ziel a priori gelangt. Man erkennt aber nichts ganz 
und vollkommen, als bis man darum herumgekom- 
men und nun von der andern Seite zum Ausgangs- 
punkt zurückgelangt ist. Daher muss man, auch bei der 
hier in Betracht genommenen, wichtigen Grunder- 
kenntniss, nicht bloss, wie Kant gethan, vom Intellekt 
zur Erkenntniss der Welt gehen, sondern auch, wie ich 
hier unternommen habe, von der als vorhanden ge- 
nommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese, im 
weitern Sinn, physiologische Betrachtung die Ergän- 
zung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, 
richtiger transscendentalen. 
Im Obigen habe leb, um den Faden der Darstellung 
nicht zu unterbrechen, die Erörterung eines Punktes, 
den ich berührte, hinausgeschoben: es war dieser, 
dass in dem Maasse als, in der aufsteigenden Thier- 
reihe, der Intellekt sich immer mehr entwickelt und 
vollkommener auftritt, das Erkentien sich immer deut- 
lichei' votn Wollen sondei't und dadurch reiner wird. 
Das Wesentliche hierüber findet man in meiner Schrift 
„Ueber den Willen in der Natur", unter der Rubrik 
Pflanzenphysiologie (S. 68 — 72 der zweiten Auflage), 
wohin ich, um mich nicht zu wiederholen, verweise 
und hier bloss einige Bemerkungen daran knüpfe. In- 
dem die Pflanze weder Irritabilität noch Sensibilität 
besitzt, sondern in ihr der Wille sich allein als Pla- 
sticität oder Reproduktionskraft objektivirt, so hat sie 
weder Muskel noch Nerv. Auf der niedrigsten Stufe 
des Thierreichs, in den Zoophyten, namentlich den 
368 
Polypen, können wir die Sonderung dieser beiden 
Bestandtheile noch nicht deutlich erkennen, setzen 
jedoch ihr Vorhandenseyn, wenn gleich in einem Zu- 
stande der Verschmelzung, voraus; weil wir Bewe- 
gungen wahrnehmen, die nicht, gleich denen der 
Pflanze, auf blosse Reize, sondern auf Motive, d. h. 
in Folge einer gewissen Wahrnehmung, vor sich ge- 
hen; daher eben wir diese Wesen als Thiere anspre- 
chen. In dem Maasse nun, als, in der aufsteigenden 
Thierreihe, das Nerven- und das Muskelsystem sich 
immer deutlicher von einander sondern, bis das erstere, 
in den Wirbelthieren und am vollkommensten im 
Menschen, sich in ein organisches und ein cerebrales 
Nervensystem scheidet und dieses wieder sich zu dem 
überaus zusammengesetzten Apparat von grossem und 
kleinem (Tchirn, verlängertem und Rücken-Mark, 
Cerebral- und Spinal-Nerven, sensibeln und motori- 
schen Nervenbündeln steigert, davon allein das grosse 
Gehirn, nebst den ihm anhängenden sensibeln Nerven 
und den hinteren Spinalnervenbündeln zur Aufnahme 
der Motive aus der Aussenwelt, alle übrigen Theile 
hingegen nur zur Transmission derselben an die Mus- 
keln, in denen der Wille sich direkt äussert, bestimmt 
sind; in demselben Maasse .wnr/eri sich im Bewusstseyn 
immer deutlicher das Motiv von dem Willensaht, den 
es hervorruft, also die Voi'stelhaig vom Willen: Adi- 
durch nun nimmt die Objektivität des Bewusstseyns 
beständig zu, indem die Vorstellungen sich immer 
deutlicher und reiner darin darstellen. Beide6bnrfe77/?^- 
gen sind aber eigentlich nur eine und die selbe, die 
wir hier von zwei Seiten betrachtet haben, nämlich 
von der objektiven und von der subjektiven, oder erst 
im Bewusstseyn anderer Dinge, und dann im Selbst- 
hewusstseyn. Auf dem Grade dieser Sonderung be- 
ruht, im tiefsten Grunde, der Unterschied und die 
Stufenfolge der intellektuellen Fähigkeiten, sowohl 
zwischen verschiedenen Thierarten, als auch zwischen 
menschlichen Individuen: er giebt also das Maass für 
<lie intellektuelle Vollkommenheit dieser Wesen. Denn 
die Klarheit des Bewusstseyns der Aussenwelt, die Ob- 
jektivität der Anschauung, hängt von ihm ab. In der 
2 4 Schopenhauer II -^^9 
oben angeführten Stelle habe ich gezeigt, dass das 
Thier die Dinge nur so weit wahrninnnt, als sie Mo- 
tive für seinen Willen sind, und dass selbst die intelli- 
gentesten Thiere diese Granze kaum überschreiten; 
weil ihr Intellekt noch zu fest am Willen haftet, aus 
dem er entsprossen ist. Hingegen fasst selbst der 
Stumpfeste Mensch die Dinge schon einigermaassen 
objektiv auf, indem er in ihnen nicht bloss erkennt, 
was sie in Bezug auf ihn, sondern auch Einiges von 
Dem, was sie in Bezug auf sich selbst und auf andere 
Dinge sind. Jedoch bei den Wenigsten erreicht dies 
den Grad, das sie im Stande wären, irgend eine Sache 
rein objektiv zu prüfen und zu beurtheilen: sondern 
„das muss ich thun, das muss ich sagen, das muss ich 
glauben" ist das Ziel, welchem, bei jedem Anlass, ihr 
Denken in gerader Linie zueilt und woselbst ihr Ver- 
stand alsbald die willkommene Rast findet. Denn dem 
schwachen Kopf ist das Denken so unerträglich, wie 
dem schwachen Arm das Heben einer Last: daher 
beide eilen niederzusetzen. Die Objektivität der Er- 
kenntniss, und zunächst der anschauenden, hat un- 
zählige Grade, die auf der Energie des Intellekts und 
seiner Sonderung vom Willen beruhen und deren 
höchster das Genie ist, als in welchem die Auffassung 
der Aussenwelt so rein und objektiv wird, dass ihm 
in den einzelnen Dingen sogar mehr als diese selbst, 
nämlich das Wesen ihrer ganzen Galtung, d. i. die 
Platonische Idee derselben, sich unmittelbar auf- 
schliesst; welches dadurch bedingt ist, dass hierbei 
der Wille gänzlich aus dem Bewusstseyn schwindet. 
Hier ist der Punkt, wo sich die gegenwärtige, von 
physiologischen Grundlagen ausgehende Betrachtung 
an den Gegenstand unseres dritten Buches, also an 
die Metaphysik des Schönen anknüpft, woselbst die 
eigentlich ästhetische Auffassung, die im höhern Gra- 
de nur dem Genie eigenthündich ist, als der Zustand 
des reinen, d. h. völlig willenlosen und eben dadurch 
vollkommen objektiven Erkennens ausführlich be- 
trachtet wird. Dem Gesagten zufolge ist die Steigerung 
der Intelligenz, vom dumpfesten thierischen Bewusst- 
seyn bis zu dem des Menschen, eine fortschreitende 
370 
Ablösung des Intellekts vorn Willen, welche vollkom- 
men, wiewohl nur ausnahmsweise, im Genie eintritt: 
daher kann man dieses als den höchsten Grad der 
Objektivität des Erkennens definiren. Die so selten 
voi'handene Bedingung zu demselben ist ein entschie- 
den grösseres Maass von Intelligenz, als zum Dienste 
des ihre Grundlage ausmachenden Willens erfordert 
ist: dieser demnach frei werdende Ueberschuss ist es 
erst, der recht eigentlich die Welt gewahr wird, d. h. 
sie vollkommen objektiv auffasst und nun danach 
bildet, dichtet, denkt. 
KAPITEL 2 3*). 
LIEBER DIE OBJEKTIVATION DES WILLENS 
IN DER ERKENNTNISSLOSEN NATUR. 
DASS dei" Wille, welchen wir in unserm Innern 
finden, nicht, wie die bisherige Philosophie an- 
nahm, allererst aus der Erkenntniss hervorgeht, ja, 
eine blosse Modifikation dieser, also ein Sekundäres, 
Abgeleitetes und, wie die Erkenntniss selbst, durch 
das Gehirn Bedingtes sei; sondern dass er das Prius 
derselben, der Kern unseres Wesens und jene Urkraft 
selbst sei, welche den thierischen Leib schafft und 
erhält, indem sie die unbewussten, so gut wie die be- 
wussten Funktionen desselben vollzieht; — dies ist 
der erste Schritt in der Grunderkenntniss meiner 
Metaphysik. So paradox es auch jetzt noch Vielen er- 
scheint, dass der Wille an sich selbst ein Erkenntniss- 
loses sei; so haben doch schon sogar die Scholastiker 
es irgendwie erkannt und eingesehen; da der in ihrer 
Philosophie durchaus bewanderte Jul. Cäs. Vaninus 
(jenes bekannte Opfer des Fanatismus und der Pfaf- 
fenwuth), in seinem Amphitheatro, p. i8l, sagt: Vo- 
luntas potentia coeca est, ex scholasticorum opinione. 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf §.2 3 des ersten Bandes. 
fS. 141 d. A.] 
24* 371 
— Dass nun ferner jener selbe Wille es sei, welcher 
auch in der Pflanze die Gemme ansetzt, um Blatt 
oder Bhnne aus ihr zu entwickeln, ja, dass die regel- 
mässige Form des Krystalls nur die zurückgelassene 
Spur seines momentanen Strebens sei, dass er über- 
haupt als das wahre und einzige au-ojxaxov, im eigent- 
lichen Sinne des Worts, auch allen Kräften der un- 
organischen Natur zum Grunde liege, in allen ihren 
mannigfaltigen Erscheinungen spiele, wirke, ihren 
Gesetzen die Macht verleihe, und selbst in der rohe- 
sten Masse sich noch als Schwere zu erkennen gebe; 
— diese Einsicht ist der zweite Schritt in jener Grund- 
erkenntniss, und schon durch eine fernere Reflexion 
vermittelt. Das gröbste aller Missverständnisse aber 
wäre es, zu meynen, dass es sich hiebei nur um ein 
f'Voi^t handle, eine unbekannte Grösse damit zu be- 
zeichnen : vielmehr ist es die realste aller Realerkennt- 
nisse, welche hier zur Sprache gebracht wird. Denn 
es ist die Zurückführung jenes unserer unmittelbaren 
Erkenntniss ganz Unzugänglichen, daher uns im We- 
sentlichen Fremden und Unbekannten, welches wir 
mit dem Worte Naturkraft bezeichnen, auf das uns 
am genauesten und intimsten Bekannte, welches jedoch 
nur in unser tn eigenen Wesen uns unmittelbar zu- 
gänglich ist; daher es von diesem aus auf die andern 
Erscheinungen übertragen werden muss. Es ist die 
Einsicht, dass das Innere und Ursprüngliche in allen, 
wenn gleich noch so verschiedenartigen Veränderun- 
gen und Bewegungen der Körper, dem Wesen nach, 
identisch ist; dass wir jedoch nur eine Gelegenheit 
haben, es näher und unmittelbar kennen zu lernen, 
nämlich in den Bewegungen unsers eigenen Leibes; 
in Folge welcher Erkenntniss wir es fVille nennen 
müssen. Es ist die Einsicht, dass was in der Natur 
wirkt und treibt und in immer voUkommneren Er- 
scheinungen sich darstellt, nachdem es sich so hoch 
emporgearbeitet hat, dass das Licht der Erkenntniss 
unmittelbar darauf fallt, d. h. nachdem es bis zum 
Zustande des Selbstbewusstseyns gelangt ist, — nun- 
mehr dasteht als jener fVille, der das uns am genaue- 
sten Bekannte und deshalb durch nichts Anderes fer- 
3-72 
ner zu Erklärende ist, welches vielmehr zu Allem An- 
deren die Erklärung giebt. Er ist demnach das Ding 
an sich, so weit dieses von der Erkenntniss irgend er- 
reicht werden kann. Folglich ist er Das, was in jedem 
Dinge auf der Welt, in irgend einer Weise, sich äussern 
muss : denn er ist das Wesen der Welt und der Kern 
aller Erscheinungen. 
Da meine Abhandlung „Ueber den Willen in der 
Natur" dem Gegenstande dieses Kapitels ganz eigent- 
lich gewidmet ist und auch die Zeugnisse unbefange- 
ner Empiriker für diesen Hauptpunkt meiner Lehre 
beibringt; so habe ich hier nur noch einige Ergänzun- 
gen zu dem dort Gesagten hinzuzufügen, welche da- 
her etwas fragmentarisch sich aneinander reihen. 
Zuvörderst also, in Hinsicht auf das Pflanzenleben, 
mache ich auf die merkwürdigen zwei ersten Kapitel 
der Abhandlung des Aristoteles über die Pflanzen auf- 
merksam. Das Interessanteste darin sind, wie so oft 
im Aristoteles, die von ihm angeführten Meinungen 
der früheren tiefsinnigeren Philosophen. Da sehen 
wir, das Anaxagoras und Empedokles ganz richtig ge- 
lehrt haben, die Pflanzen hätten die Bewegung ihres 
Wachsthums vermöge der ihnen einwohnenden Be- 
gierde (smöufjLia) ; ja, dass sie ihnen auch Freude und 
Schmerz, nüthin Empfindung, beilegten; P/aton aber 
die Begierde allein ihnen zuerkannte, und zwar wegen 
ihres starken Nahrungstriebes (vergl.Plato im Timäos, 
8. 4o3,Bip.). .</?7sfofe/e5 hingegen, seiner gewöhnlichen 
Methode getreu, gleitet auf der Oberfläche der Dinge 
hin, hält sich an vereinzelte Merkmale und durch 
gangbare Ausdrücke fixirte Begriffe, behauptet, dass 
ohne Empfindung keine Begierde seyn könne, jene, 
aber hätten doch die Pflanzen nicht, ist indessen, wie 
sein konfuses Gerede bezeugt, in bedeutender Ver- 
legenheit, bis denn auch hier, „wo die Begrifl-e fehlen, 
ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt", nämlich xo 
^psTTTUGV, das Ernährungs vermögen: dies hätten die 
Pflanzen, also einen Theil der sogenannten Seele, nach 
seiner beliebten Eintheilung in anima vegetativa, sen- 
sitiva, et intellectiva. Das ist aber eben eine scholasti- 
sche Quidditas und besagt: plantae nutriuntur, quia 
3-73 
habent facultatem nutritivam; ist mithin ein schlech- 
ter Ersatz für die tiefere Forschung seiner von ihm 
kritisirten Vorgän^^er. Auch sehen wir, im zweiten 
Kapitel, dass Empedohles sogar die Sexualität der Pflan- 
zen erkannt hatte; welches Aristoteles dann ebenfalls 
bekrittelt, und seinen Mangel an eigentlicher Sach- 
kenntniss hinter allgemeinen Principien verbirgt, wie 
dieses, dass die Pflanzen nicht beide Geschlechter im 
Verein haben könnten, da sie sonst vollkommener, 
als die Thiere sein würden. — Durch ein ganz ana- 
loges Verfahren hat er das richtige astronomische 
Weltsystem der Pythagoreer verdrängt und durch 
seine absurden Grundprincipien, die er besonders in 
den Büchern de coelo darlegt, das System des Ptole- 
mäos veranlasst, wodurch die Menschheit einer bereits 
gefundenen Wahrheit, von höchster Wichtigkeit, wie- 
der auf fast aooo Jahre verlustig ward. 
xVber den Ausspruch eines vortrefflichen Biologen 
unsrer Zeit, der genau mit meiner Lehre überein- 
stimmt, kann ich mich nicht entbrechen herzusetzen. 
G. R. Trevinvms ist es, der in seinem Werke „lieber 
die Erscheinungen und Gesetze des organischen Le- 
bens", i832, Bd. 2, Abth. i, S. 49? Folgendes sagt: 
„Es lässt sich aber eine Form des Lebens denken, 
wobei die Wirkung des Aeusseren auf das Innere 
blosse Gefühle von Lust und Unlust, und in deren 
Folge Begehi-ungeu veranlasst. Eine solche ist das 
Pflanzenleben. In den höheren Formen des thierischen 
Lebens wird das Aeussere als etwas Objektives emp- 
funden." Treviranus spricht hier aus reiner und un- 
befangener Naturauffassung, und ist sich der meta- 
physischen Wichtigkeit seines Ausspruchs so wenig 
bewusst, wie der contradictio in adjecto, die im Be- 
griff" eines „als Objektives Empfundenen" liegt, wel- 
ches er sogar noch weitläuftig ausführt. Er w^iss nicht, 
dass alle Empfindung wesentlich subjektiv, alles Ob- 
jektive aber Anschauung, mithin Produkt des Ver- 
standes ist. Dies thut jedoch dem Wahren und Wich- 
tigen seines Ausspruchs keinen Abbruch. 
In der That ist die Wahrheit, dass Wille auch ohne 
Erkenntniss bestehen könne, am Pflanzenleben äugen- 
37/, 
scheinlich, man möchte sagen handgreifHch erkenn- 
bar. Denn hier sehen wir ein entschiedenes Streben, 
durch Bedürfnisse bestimmt, mannigfahig modifizirt 
und der Verschiedenheit der Umstände sich anpassend, 
— dennoch offenbar ohne Erkenntniss. — Und eben 
weil die Pflanze erkenntnisslos ist, trägt sie ihre Ge- 
schlechtstheile prunkend zur Schau, in gänzlicher 
Unschuld: sie weiss nichts davon. Sobald hingegen, 
in der Wesenreihe, die Erkenntniss eintritt, verlegen 
die Geschlechtstheile sich an eine verborgene Stelle. 
Der Mensch aber, bei welchem dies wieder weniger 
der Fall ist, verhüllt sie absichtlich: er schämt sich 
ihrer. — 
Zunächst nun also ist die Lebenskraft identisch 
mit dem Willen: allein auch alle andern Naturkräfte 
sind es; obgleich dies weniger augenfällig ist. Wenn 
wir daher die Anerkennung einer Begierde, d. h. 
eines Willens, als Basis des Pflanzenlebens ^ zu allen 
Zeiten, mit mehr oder weniger Deutlichkeit des Be- 
griffs, ausgesprochen finden; so ist hingegen die Zu- 
rückführung der Kräfte der unorganischen Natur auf 
die selbe Grundlage in dem Maasse seltener, als die 
Entfernung dieser von unserm eigenen Wesen grösser 
ist. — In der That ist die Gränze zwischen dem Orga- 
nischen und dem Unorganischen die am schärfsten 
gezogene in der ganzen Natur und vielleicht die ein- 
zige, welche keine Übergänge zulässt; sodass das na- 
tura non facit saltus hier eine Ausnahme zu erleiden 
scheint. Wenn auch manche Krystallisationen eine 
der vegetabilischen ähnelnde äussere Gestalt zeigen; 
so bleibt doch selbst zwischen der geringsten Flechte, 
dem niedrigsten Schimmel, und allem Unorganischen 
ein grundwesentlicher Unterschied. Im unorganischen 
Körper ist das Wesentliche und Bleibende, also Das, 
worauf seine Identität und Integrität beruht, der Stoff, 
die Materie; das Unwesentliche und Wandelbare hin- 
gegen ist die Form. Beim organischen Körper verhält 
es sich gerade umgekehrt: denn eben im beständigen 
Wechsel des Stoßsj unter dem Beharren der Form, 
besteht sein Leben, d. h. sein Daseyn als eines Orga- 
nischen. Sein Wesen und seine Identität liegt also 
allein in der Fortn. Daher hat der unorganische Kör- 
per seinen Bestand durch Ruhe und Abgeschlossenheit 
von äussern Eintlüssen: hiebei allein erhält sich sein 
Daseyn, und, wenn dieser Zustand vollkommen ist, 
«st ein solcher Körper von endloser Dauer. Der orga- 
nische hingejjen hat seinen Bestand gerade durch die 
fortwährende Beivegung und stetes Empfangen äusse- 
rer Einflüsse: sobald diese wegfallen und die Bewe- 
gung in ihm stockt, ist er todt und hört damit auf 
organisch zu seyn, wenn auch die Spur des dagewe- 
senen Organismus noch eine Weile beharrt. — Dem- 
nach ist auch das in unsern Tagen so beliebte Gerede 
vom Leben des Unorganischen, ja sogar des Erdkör- 
pers, und dass dieser, wie auch das Planetensystem, 
ein Organismus sei, durchaus unstatthaft. Nur dem 
Organischen gebührt das Prädikat Leben. Jeder Or- 
ganismus aber ist durch vmd durch organisch, ist es 
in allen seinen Theilen und nirgend sind diese, selbst 
nicht in ihren kleinsten Partikeln, aus Unorganischem 
aggregativ zusammengesetzt. Wäre also die Erde ein 
Organismus; so müssten alle Berge und Felsen und 
das ganze Innere ihrer Masse organisch seyn und dem- 
nach eigentlich gar nichts Unorganisches existiren, 
mithin der ganze Begriff desselben wegfallen. 
Hingegen dass die Erscheinung eines Willens so 
wenig an das Leben und die Organisation, als an die 
Erkenntniss gebunden sei, mithin auch das Unorga- 
nische einen Willen habe, dessen Aeusserungen alle 
seine nicht weiter erklärlichen Grundeigenschaften 
sind, dies ist ein wesentlicher Punkt meiner Lehre; 
wenn gleich die Spur eines solchen Gedankens bei 
den mir vorhergegangenen Schriftstellern viel seltener 
zu finden ist, als die vom Willen in den Pflanzen, wo 
er doch auch schon erkenntnisslos ist. 
Im Anschiessen des Krystalls sehen wir gleichsam 
noch einen Ansatz, einen Versuch zum Leben, zu 
welchem es jedoch nicht kommt, weil die Flüssigkeit, 
aus der er, gleich einem Lebendigen, im Augenblick 
jener Bewegung besteht, nicht, wie stets bei diesem, 
in einer Haut eingeschlossen ist, und er demnach we- 
der Ge fasse hat, in denen jene Bewegunjj; sich fort- 
376 
setzen könnte, noch irgend etwas ihn von der Aussen- 
welt absondert. Daher ergreift die Erstarrung alsbald 
jene augenblickliche Bewegung, von der nur die Spur 
als Krystall bleibt. — 
Auen den „fVahivey^ivandtschaften^^ von GoefAe liegt, 
wie schon der Titel andeutet, wenn gleich ihm unbe- 
wusst, der Gedanke zum Grunde, dass der Wille, der 
die Basis unsers eigenen Wesens ausmacht, derselbe 
ist, welcher sich schon in den niedrigsten, unorgani- 
schen Erscheinungen kund giebt, weshalb die Gesetz- 
mässigkeit beider Erscheinungen vollkommene Ana- 
logie zeigt. 
Die Mechanik und Astronomie zeigen uns eigentlich, 
wie dieser Wille sich benimmt, so weit als er, auf der 
niedrigsten Stufe seiner Erscheinung, bloss als Schwere, 
Starrheit und Trägheit auftritt. Die Hydraulik zeigt 
uns das Selbe da, wo die Starrheit wegfällt, und nun 
der flüssige Stoff seiner vorherrschenden Leidenschaft, 
der Schwere, ungezügelt hingegeben ist. Die Hydrau- 
lik kann, in ihrem Sinne, als eine Charakterschilde- 
rung des Wassers aufgefasst werden, indem sie uns 
die Willensäusserungen angiebt, zu welchen dasselbe 
durch die Schwere bewogen wird : diese sind, da bei 
allen nichtindividuellen Wesen kein partikularer Cha- 
rakter neben dem generellen besteht, den äusseren 
Einflüssen stets genau angemessen, lassen sich also, 
durch Erfahrung dem Wasser abgemerkt, leicht auf 
feste Grundzüge, die man Gesetze nennt, zurückfüh- 
ren, welche genau angeben, wie das Wasser, vermöge 
seiner Schwere, bei unbedingter Verschiebbarkeit sei- 
ner Theile und Mangel der Elasticität, unter allen 
verschiedenen Umständen sich benehmen wird. Wie 
es durch die Schwere zur Buhe gebracht wird, lehrt 
die Hydrostatik, wie zur Bewegung, die Hydrodyna- 
mik, die hiebei auch Hindernisse, welche die Adhä- 
sion dem Willen des Wassers entgegensetzt, zu berück- 
sichtigen hat : Beide zusammen machen die Hydraulik 
aus. — Eben so lehrt uns die Chemie, wie sich der 
Wille benimmt, wann die inneren Qualitäten der 
Stoffe, durch den herbeigeführten Zustand der Flüs- 
sigkeit, freies Spiel erhalten, und nun jenes wundei- 
377 
bare Suchen und Fliehen, sich Trennen und Vereinen, 
Fahrenlassen des Einen, um das Andere zu ergreifen, 
wovon jeder Niederschlag zeugt, auftritt, welches 
Alles man als //rtA/verwandtschaft (einen ganz dem 
bewussten Willen entlehnten Ausdruck) bezeichnet. 
— Aber die Anotomie und Physiologie lässt uns sehen, 
wie sich der Wille benimmt, um das Phänomen des 
Lebens zu Stande zu bringen und eine Weile zu un- 
terhalten. — Der Poet endlich zeigt uns, wie sich der 
Wille unter dem Einfluss der Motive und der Rette- 
xion benimmt. Er stellt ihn daher meistens in der 
vollkommensten seiner Erscheinungen dar, in ver- 
nünftigen Wesen, deren Charakter individuell ist, und 
deren Handeln und Leiden gegen einander er uns als 
Drama, Epos, Roman u. s, w. vorführt. Je regelrech- 
rechter, je streng naturgesetzmässiger die Darstellung 
seiner Charaktere dabei ausfällt, desto grösser ist sein 
Ruhm; daher steht Shakespeare obenan. — Der hier 
gefasste Gesichtspunkt entspricht im Grunde dem 
Geist, in welchem Goethe die Naturwissenschaften 
trieb und liebte; wiewohl er sich der Sache nicht in 
absti'acto bewusst war. Mehr noch, als dies aus seinen 
Schriften hervorgeht, ist es mir aus seinen persönlichen 
Aeusserungen bewusst. 
Wenn wir den Willen da, wo ihn Niemand leugnet, 
also in den erkennenden Wesen betrachten; so fin- 
den wir überall, als seine Grundbestrebung, d\e Selbst- 
erhaltung eines jeden Wesens: omnis natura vult esse 
conservatrix sui. Alle Äusserungen dieser Grundbe- 
strebung aber lassen sich stets zurückführen auf ein 
Suchen, oder Verfolgen, und ein Meiden, oder Fliehen, 
je nach dem Anlass. Nun lässt eben Dieses sich noch 
nachweisen sogar auf der allerniedrigsten Stufe der 
Natur, also der Objektivation des Willens, da näm- 
lich, wo die Körper nur noch als Körper üherhaupt 
wirken, also Gegenstände der Mechanik sind, und bloss 
nach den Äusserimgen der Undurchdringlichkeit, 
Kohäsion, Starrheit, Elasticität und Schwere in Be- 
tracht kommen. Auch hier noch zeigt sich das .SucAe/t 
als Gravitation, das Fliehen aber als Empfangen von 
Bewegung, und die Beiveglichkeit der Körper durch 
3-8 
Druck oder Stoss, welche die Basis der Mechanik aus- 
macht, ist im Grunde eine Äusserung des auch ihnen 
einwohnenden Strebens URch Selbste?-haltung. Dieselbe 
nämlich ist, da sie als Körper undurchdringlich sind, 
das einzige Mittel, ihre Kohäsion, also ihren jedes- 
maligen Bestand, zu retten. Der gestossene oder ge- 
drückte Körper würde von dem stossenden oder drük- 
kenden zermalmt werden, wenn er nicht, um seine 
Kohäsion zu retten, der Gewalt desselben sich durch 
die Flucht entzöge, und wo diese ihm benommen ist, 
geschieht es wirklich. Ja, man kann die elastischen 
Körper als die muthigeren betrachten, welcheden Feind 
zurückzutreiben suchen, oder wenigstens ihm die wei- 
tere Verfolgung benehmen. So sehen wir denn in dem 
einzigen Geheimniss, welches (neben der Schwere) die 
so klare Mechanik übrig lässt, nämlich in der Mit- 
theilbarkeit derBewegung, eine Aeusseruug der Grund- 
bestrebung des Willens in allen seinen Erscheinun- 
gen, also des Triebes zur Selbsterhaltung, der als 
das Wesentliche sich auch noch auf der untersten Stufe 
erkennen lässt. 
In der unorganischen Natur objektivirt der Wille 
sich zunächst in den allgemeinen Kräften, und erst 
mittelst dieser in den durch Ursachen hervorgerufe- 
nen Phänomenen der einzelnen Dinge. Das Verhält- 
niss zwischen Ursache, Naturkraft und Willen als 
Ding an sich habe ich §. 26 des ersten Bandes hin- 
länglich auseinandergesetzt. Man sieht daraus, dass 
die Metaphysik den Gang der Physik nie unterbricht, 
sondern nur den Faden da aufnimmt, wo diese ihn 
liegen lässt, nämlich bei den ursprünglichen Kräften, 
an welchen alle Kausalerklärung ihre Gräuze hat. 
Hier erst hebt die metaphysische Erklärung aus dem 
Willen als Dinge an sich an. Bei jedem physischen 
Phänomen, jeder Veränderung materieller Dinge, ist 
zunächst ihre Ursache nachzuweisen, die eine eben 
solche einzelne, dicht zuvor eingetretene /^<?r«n(fe?*un^ 
ist; dann aber die ursprüngliche Naturkiaft^ vermöge 
welcher diese Ursache zu wirken fähig war; und al- 
lererst als das Wesen an sich dieser Kraft, im Gegen- 
satz ihrer Erscheinung, ist der Wille zu erkennen. 
379 
Dennoch {jiebt dieser sich eben so unmittelbar im Fal- 
len eines Steines kund, wie im Thun des Menschen: 
der Unterschied ist nur, dass seine einzelne Aeusserunfj 
hier durch ein Motiv, dort durch eine mechanisch 
wirkende Ursache, z. B. die Wegnahme seiner Stütze, 
hervorgerufen wird, jedoch in beiden Fällen mit glei- 
cher Noth wendigkeit, und dass sie dort auf einem in- 
dividuellen Charakter, hier auf einer allgemeinen Na- 
turkraft beruht. Diese Identität des Grund wesentlichen 
wird sogar sinnenfällig, wenn wir etwan einen 
aus dem Gleichgewicht gebrachten Körper, der ver- 
möge seiner besonderen Gestalt lange hin und he- 
rollt, bis er den Schwerpunkt wiederfindet, aufmerk- 
sam betrachten, wo dann ein gewisser Anschein des 
Lebens sich uns aufdringt und w ir unmittelbar füh- 
len, dass etwas der Grundlage des Lebens Analoges 
auch hier wirksam ist. Dieses ist freilich die allgemeine 
Naturkiaft, welche aber, an sich mit dem Willen iden- 
tisch,hier gleichsam die Seele eines sehr kurzen Quasi- 
Lebens wird. Also giebt das in den beiden Extremen 
der Erscheinung des Willens Identische sich hier so- 
gar der unmittelbaren Anschauung noch leise kund, 
indem diese ein Gefühl in uns erregt, dass auch hier 
ein ganz Ursprüngliches, wie wir es nur aus den Ak- 
ten unsers eigenen Willens kennen, unmittelbar zur 
Erscheinung gelangt. 
Auf eine ganz andere und grossartige Weise kann 
man zu einer intuitiven Erkenntniss vom Daseyn und 
Wirken des Willens in der unorganischen Natur ge- 
langen, wenn man sich in das Problem der drei Kör- 
per hineinstudirt und also den Lauf des Mondes um 
die Erde etwas {jenauer und specieller kennen lernt. 
Durch die verschiedenen Kombinationen, welche der 
beständige Wechsel der Stellung dieser drei Weltkör- 
per gegen einander herbcifülut, wird der Gang des 
Mondes bald beschleunigt, bald verlangsamt, und tritt 
er der Erde bald näher, bald ferner: dieses nun aber 
wieder anders im Perihelio, als im Aphelio der Erde; 
welches Alles zusammen in seinen Lauf eine solche 
Unregelmässigkeit bringt, dass derselbe ein wirklich 
kapriciöses Ansehen erhält, indem sogar das dritte 
.-»öo 
Kepplerische Gesetz nicht mehr umwandelbar gültig 
bleibt, sondern er in gleichen Zeiten ungleiche Flä- 
chen umschreibt. Die Betrachtung dieses Laufes ist 
ein kleines und abgeschlossenes Kapitel der himmli- 
schen Mechanik, welche von der irdischen sich durch 
die Abwesenheit alles Stosses und Druckes, also der 
uns so fasslich scheinenden vis a tergo, und sogar des 
wirklich vollbrachten Falles, auf erhabene Weise un- 
terscheidet, indem sie neben der vis inertiae keine 
andere bewegende und lenkende Kraft kennt, als bloss 
die Gravitation, diese aus dem eigenen Innern der 
Körper hervortretende Sehnsucht derselben nach Ver- 
einigung. Wenn man nun, an diesem gegebenen Fall, 
sich ihr Wirken bis ins Einzelne veranschaulicht; so 
erkennt man deutlich und unmittelbar in der hier be- 
wegenden Kraft eben Das, was im Selbstbewusstseyn 
uns als Wille gegeben ist. Denn die Aenderungen im 
Laufe der Erde und des Mondes, je nachdem eines 
derselben, durch seine Stellung, dem Einfluss der Son- 
ne bald mehr, bald weniger ausgesetzt ist, hat augen- 
fällige Analogie mit dem Einfluss neu eintretender 
Motive auf unsern Willen und mit den Modifikatio- 
nen unsers Handelns danach. 
Ein erläuterndes Beispiel anderer Art ist folgendes. 
Liehuj (Chemie in Anwendung auf Agrikultur, 8. 5oi) 
sagt: ,, Bringen wir feuchtes Kupfer in Luft, welche 
Kohlensäure enthält, so wird, durch den Kontakt mit 
dieser Säure, die Verwandtschaft des Metalls zum 
Sauerstoff der Luft in dem Grade gesteigert, dass sich 
beide mit einander verbinden; seine Oberfläche be- 
deckt sich mit grünem, kohlensaurem Kupferoxyd. — 
Nun aber nehmen zwei Körper, welche die Fähigkeit 
haben, sich zu verbinden, in dem Moment, da sie sich 
berühren, entgegengesetzte Elektricitätszustände an. 
Daher wird, wenn wir das Kupfer mit Eisen berühren, 
durch Erregung eines besonderen Elektricitätszustan- 
des, die Fähigkeit des Kupfers, eine Verbindung mit 
dem Sauerstoff einzugehen, vernichtet: es bleibt auch 
unter den obigen Bedingungen blank." — Die Sache 
ist bekannt und von technischem Nutzen. Ich führe 
sie an, um zu sagen, dass hier der Wille des Kupfers, 
.38 I 
durch den elektrischen Gegensatz zum Eisen in An- 
spruch genommen und heschäftigt, die für seine che- 
mische Verwandtschaft zum Oxygen und Kohlensäure 
sich darhietende Gelegenheit unbenutzt lasst. Er ver- 
hält sich demnach gerade so, wie der Wille in einem 
Menschen, der eine Handlung, zu der er sonst sich be- 
wogen fühlen würde, unterlässt, um eine andere, zu 
der ein stärkeres Motiv ihn auffordert, zu vollziehen. 
Im ersten Bande habe ich gezeigt, dass die Natur- 
kräfte ausserhalb der Kette von Ursachen und Wir- 
kungen liegen, indem sie die durchgängige Bedingung, 
die metaphysische Grundlage derselben ausmachen 
und sich daher als ewig und allgegenwärtig, d. h. von 
Zeit und Raum unabhängig, bewähren. Sogar in der 
unbestrittenen Wahrheit, dass das Wesentliche einer 
Uisache, als solcher, darin bestehe, dass sie die selbe 
Wirkung, wie jetzt, auch zu jeder künftigen Zeit her- 
vorbringen wird, ist schon enthalten, dass in der Ur- 
sache etwas liegt, das vom Laufe der Zeit unabhängig, 
d. h. ausser aller Zeit ist: dies ist die in ihr sich äus- 
sernde Naturkraft. Man kann selbst, indem man die 
Machtlosigkeit der Zeit, den Naturkräften gegenüber, 
ins Auge fasst, von der blossen Idealität dieser Form 
unserer Anschauung gewissermaassen sich empirisch 
und faktisch überzeugen. W^enn z. B. ein Planet, durch 
irgend eine äussere Ursache, in eine rotirende Bewe- 
gung versetzt ist; so wird diese, wenn keine neu hin- 
zukommende Ursache sie aufhebt, endlos dauern. 
Dem könnte nicht so seyn, wenn die Zeit etwas an 
sich selbst wäre und ein objektives, reales Daseyn hät- 
te: denn da müsste sie auch etwas wirken. W^ir sehen 
also hier einerseits die Naturkräfte, welche in jener 
Rotation sich äussern und sie, wenn einmal angefan- 
gen, endlos fortsetzen, ohne selbst zu ermüden, oder 
zu ersterben, sich als ewig oder zeitlos, mithin als 
schlechthin real und an sich selbst existirend bewäh- 
ren; und andererseits die Zeit, als etwas, das nur in 
der Art und W^eise, wie wir jene Erscheinung appre- 
hendiren, besteht, da es auf diese selbst keine Macht 
und keinen Einfluss ausübt: denn was nicht wirkty 
das ist auch nicht. 
382 
Wir haben einen natürlichen Hang, jede Naturer- 
scheinung wo möghch mechanisch zu erklären; ohne 
Zweifel weil die Mechanik die wenigsten ursprüng- 
lich und daher unerklärlichen Kräfte zur Hülfe nimmt, 
hingegen viel a priori Erkennbares und daher auf 
den Formen unsers eigenen Intellekts Beruhendes 
enthält, welches, eben als solches, den höchsten Grad 
von Verständlichkeit und Klarheit mit sich führt. In- 
dessen hat Kant^ in den Metaphysischen Anfangsgrün- 
den der Naturwissenschaft, die mechanische Wirk- 
samkeit selbst auf eine dynamische zurückgeführt. Hin- 
gegen ist die Anwendung mechanischer Erklärungs- 
hypothesen, über das nachweisbar Mechanische, wohin 
z, B. noch die Akustik gehört, hinaus, durchaus unbe- 
rechtigt, und nimmermehr werde ich glauben, dass 
jemals auch nur die einfachste chemische Verbindung, 
oder auch die Verschiedenheit der drei Aggregations- 
zustäude sich wird mechanisch erklären lassen, viel 
weniger die Eigenschaften des Lichts, der Wärme 
und der Elektricität. Diese werden stets nur eine 
dynamische Erklärung zulassen, d. h. eine solche, 
welche die Erscheinung aus ursprünglichen Kräften 
erklärt, die von denen des Stosses, Druckes, der Schwere 
u. s. w. gänzlich verschieden und daher höherer Art, 
d, h. deutlichere Objektivationen jenes Willens sind, 
der in allen Dingen zur Sichtbarkeit gelangt. Ich 
halte dafür, dass das Licht weder eine Emanation, 
noch eine Vibration ist: beide Ansichten sind ^«ver- 
wandt, welche die Durchsichtigkeit durch Poren er- 
klärt, und deren offenbare Falschheit beweist, dass 
das Licht keinen mechanischen Gesetzen unterworfen 
ist. Um hievon die unmittelbarste üeberzeugung zu 
erhalten, braucht man nur den Wirkungen eines 
Sturmwindes zuzusehen, der Alles beugt, umwirft 
und zerstreut, während dessen aber ein Lichtstrahl, 
aus einer Wolkenlücke herabschiessend, so ganz un- 
erschüttert und mehr als felsenfest dasteht, dass er 
recht unmittelbar zu erkennen giebt, er gehöre einer 
andern, als der mechanischen Ordnung der Dinge 
an: unbeweghch steht er da, wie ein Gespenst. Aber 
nun gar die von den Franzosen ausgegangenen Kon- 
383- 
struktionen des Lichts aus Molekülen und Atomen 
sind eine empörende Absurdität. Als einen schreien- 
den Ausdruck derselben, wie überhaupt der ganzen 
Atomistik, kann man einen im AprilheFt der Annales 
de chimie et pbysique von i835 P)efind lieben Aufsatz 
über Licht und Warme, von dem sonst so scharfsin- 
nigen yhiipcre, betrachten. Da besteht Festes, Flüssi- 
ges und Elastisches aus den selben Atomen, und aus 
deren Aggregation allein entspringen alle unterschie- 
de: ja, es Avird gesagt, dass zwar der Raum ins Un- 
endhche theilbar sei, aber nicht die Materie; weil, 
wenn die Theilung bis zu den Atomen gelangt sei, 
die fernere Theilung in die Zwischenräume der Ato- 
me fallen müsse! Da sind dann Licht und Wärme 
Vibrationen der Atome, der Schall hingegen eine Vi- 
bration der aus den Atomen zusammengesetzten Mo- 
lekülen. — In Wahrheit aber sind die Atome eine 
fixe Idee der französischen Gelehrten, daher diese 
eben von ihnen reden, als hätten sie sie gesehen. x\us- 
serdem müsste man sich wundern, dass eine so em- 
pirisch gesinnte Nation, eine solche matter of fect 
nation, wie die Franzosen, so fest an einer völlig 
transscendenten, alle Möglichkeit der Erfahrung über- 
fliegenden Hypothese halten und darauf getrost ins 
weite Blaue hineinbauen kann. Dies ist nun eben eine 
Folge des zurückgebliebenen Zustandes der von ihnen 
so sehr vermiedenen Metaphysik, welche durch den, 
bei allem guten Willen, seichten und mit Urtheils- 
kraft sehr dürftig begabten Herrn Cousin schlecht 
vertreten wird. Sie sind, durch den frühern Einfluss 
Condillacs, im Grunde immer noch Lockianer. Daher 
ist ihnen das Ding an sich eigentlich die Materie^ aus 
deren Grundeigenschaften ,wie Undurchdringlichkeit, 
Gestalt, Härte und sonstige primary qualities, Alles 
in der Welt zuletzt erklärbar seyn muss: das lassen 
sie sich nicht ausreden, und ihre stillschweigen- 
de Voraussetzung ist, dass die Materie nur durch me- 
chanische Kräfte bewegt werden kann. In Deutsch- 
land hat Knuts Lehre den Absurditäten der Atomistik 
und der durchweg mechanischen Physik auf die Dauer 
vorgebeugt; wenn gleich im gegenwärtigen Augen- 
384 
blick diese Ansichten auch hier grassiien; welches 
eine Fol{>e der durch Hegel herbeigeführten Seichtig- 
keit, Rohheit und Unwissenheit ist. — Inzwischen ist 
nicht zu leugnen, dass nicht nur die offenbar poröse 
Beschaffenheit der Naturkörper, sondern auch zwei 
specielle Lehren der neuern Physik dem Atomeniui- 
wesen scheinbar Vorschub gethan haben: nämlich 
Haujs Krystallographie, welche jeden Krystall auf 
seine Kerngestalt zurückführt, die ein Letztes, aber 
doch nur relativ Untheil bares ist; sodann Berzelius' 
Lehre von den chemischen Atomen, welche jedoch 
blosse Ausdrücke der Verbindungsverhältnisse, also 
nur arithmetische Grössen und imGrunde nicht mehr, 
als Rechenpfennige sind. - — Hingegen Kants, freilich 
nur zu dialektischem Behuf aufgestellte, die Atome 
vertheidigende Thesis der zweiten Antinomie, ist, 
wie ich in der Kritik seiner Philosophie nachgewiesen 
habe, ein blosses Sophisma, und keineswegs leitet un- 
ser Verstand selbst uns nothwendig auf die Annahme 
von Atomen hin. Denn so wenig ich genöthigt bin, 
die, vor meinen Augen vorgehende, langsame, aber 
stetige und gleichförmige Beiuegimg eines Körpers 
mir zu denken als bestehend aus unzähligen, absolut 
schnellen, aber abgesetzten und durch eben so viele 
absolut kurze Zeitpunkte der Ruhe unterbrochene 
Bewegungen, viel mehr recht wohl weiss, dass der 
geworfene Stein langsamer fliegt, als die geschossene 
Kugel, dennoch aber unterwegs keinen Augenblick 
ruht; eben so wenig bin ich genöthigt, mir dieMaasse 
eines Körpers als aus Atomen und deren Zwischen- 
räumen, d. h. dem absolut Dichten und dem absolut 
Leeren bestehend zu denken : sondern ich fasse, ohne 
Schwierigkeit, jene beiden Erscheinungen als stetige 
Continua auf, deren eines dieZeit, das andere den Baum, 
gleichmässig erfüllt. Wie aber dabei dennoch eine Be- 
wegung schnellej^ als die andere seyn, d. h. in gleicher 
Zeit mehr Raum durchlaufen kann; so kann auch ein 
Körper specifisch schwerer als der andere seyn, d. h. 
in gleichem Räume mehr Materie enthalten : der Un- 
terschied beruht nämlich in beiden Fällen auf der 
Intensität der wirkenden Kraft; da Kant (nach Priest- 
3 5 Schopenhauer II 
385 
ley^s Vor^jang) ganz richtig die Materie in Kräfte auf- 
gelöst hat. — Aber sogar wenn man die hier auf- 
gestelhe Analogie nicht gelten lassen, sondern darauf 
bestehen wollte, dass die Verschiedenheit des speci- 
fischen Gewichts ihren Grund stets nur in der Poro- 
sität haben könne; so würde diese Annahme noch 
immer nicht auf Atome, sondern bloss auf eine völ- 
lig dichte und in den verschiedenen Körpern ungleich 
vertheilte Materie leiten, die daher da, wo keine Po- 
ren mehr sie durchsetzten, zwar schlechterdings nicht 
weiter koinprhnabel wäre, aber dennoch stets, wie der 
Raum, den sie füllt, ins UnendUche theilbar bliebe; 
weil darin, dass sie ohne Poren wäre, gar nicht liegt, 
dass keine mögliche Kraft die Kontinuität ihrer räum- 
lichen Theile aufzuheben vermöchte. Denn, zu sagen, 
dass dies überall nur durch Erweiterung bereits vor- 
handener Zwischenräume möglich sei, ist eine ganz 
willkürliche Behauptung. 
Die Annahme der Atome beruht eben auf den bei- 
den angeregten Phänomenen, nämlich auf der Ver- 
schiedenheit des specifischen Gewichts der Körper 
und auf der ihrer Kompressibilität, als welche beide 
durch die Annahme der Atome bequem erklärt wer- 
den. Dann aber müssten auch beide stets in gleichem 
Maasse vorhanden seyn; — was keineswsgs der Fall 
ist. Denn z. B. Wasser hat ein viel geringeres specifi- 
sches Gewicht, als alle eigentlichen Metalle, müsste 
also weniger Atome und grössere Inierstizien dersel- 
ben haben und folglich sehr kompressibel seyn: allein 
es ist beinahe ganz inkompressibel. 
Die Vertheidigung der Atome liesse sich dadurch 
führen, dass man von der Porosität ausgienge und 
etwan sagte: alle Körper haben Poren, also auch alle 
Theile eines Körpers; gienge es nun hiemit ins Un- 
endliche fort, so würde von einem Körper zuletzt 
nichts, als Poren übrig bleiben. — Die Widerlegung 
wäre, dass das übrig Bleibende zwar als ohne Poren 
und insofern als absolut dicht anzunehmen sei; je- 
doch darum noch nicht als aus absolut imtheilbaren 
Partikeln, Atomen, bestehend: demnach wäre es wohl 
absolut inkompressibel, aber nicht absolut untheilbar; 
386 
man müsste denn die Theilung eines Körpers als al- 
lein durch Eindringen in seine Poren möglich be- 
haupten wollen; was aber ganz unerwiesen ist. Nimmt 
man es jedoch an, so hat man zwar Atome, d. h. ab- 
solut untheilbare Körper, also Körper von so starker 
Kohäsion ihrer räumlichen Theile,dass keine mögliche 
Gewalt sie trennen kann: solche Körper aber kann 
man alsdann so gut gross, wie klein annehmen, und 
ein Atom könnte so gross seyn, wie ein Ochs; wenn 
es nur jedem möglichen Angriffe widerstände. 
Denkt man sich zwei höchst verschiedenartige Kör- 
per durch Kompression, wie mittelst Hämmern, oder 
durch Pulverisation, aller Poren gänzlich entledigt; 
— würde dann ihr specifisches Gewicht das selbe 
seyn? — Dies wäre das Kriterium der Dynamik. 
KAPITEL 24.' 
VON DER MATERIE. 
BEREITS in den Ergänzungen zum ersten Ruche 
ist, im vierten Kapitel, bei Retrachtung des uns a 
priori bewussten Theiles unserer Erkenntniss, die 
Materie zur Sprache gekommen. Jedoch konnte sie 
daselbst nur von einem einseitigen Standpunkte aus 
betrachtet werden, weil wir dort bloss ihre Reziehung 
zu den Formen des Intellekts, nicht aber die zum 
Dinge an sich im Auge hatten, mithin wir sie nur 
von der subjektiven Seite, d. h. sofern sie unsere Vor- 
stellung ist, nicht aber auch von der objektiven Seite, 
d. h. nach dem was sie an sich seyn mag, untersuch- 
ten. In ersterer Hinsicht war unser Ergebniss, dass 
sie die objektiv, jedoch ohne nähere Restimmung auf- 
gefasste Wirksamkeit überhaupt sei; daher sie, auf der 
dort beigegebenen Tafel unserer Erkenntnisse a pri- 
ori, die Stelle der Kausalität einnimmt. Denn das Ma- 
terielle ist das Wirkende (Wirkliche) überhaupt und 
25* 387 
abgesehen von der specifischen Ai't seines Wirkens. 
Daher eben auch ist die Materie, bloss als solche, nicht 
Gegenstand der Amchanumj^ sondern allein des Den- 
kens, mithin eigentlich eine Abstraktion: in der An- 
schauung hingegen konunt sie nur in Verbindung 
mit der Form und Qualität vor, als Körper, d. h. als 
eine ganz bestimmte Art des Wirkens. Bloss dadurch, 
dass wir von dieser nähern Bestimmung abstrahiren, 
denken wir die Materie als solche, d. h. gesondert 
von der Form und Qualität: folglich denken wir un- 
ter dieser das Wirken schlechthin und überhaupt, also 
die JVirksamkeit in abstracto. Das näher bestimmte 
Wirken fassen wir alsdann als das Accidenz der Ma- 
terie auf: aber erst mittelst dieses wird dieselbe an- 
schaulich, d. ii. stellt sich als Körper und Gegenstand 
der Erfahrung dar. Die reine Materie hingegen, wel- 
che allein, wie ich in der Kritik der Kantischen Phi- 
losophie dargethan habe, den wirklichen und berech- 
tigten Inhalt des Begriffes der Substanz ausmacht, ist 
die Kausalität selbst, objektiv, mithin als im Raum 
und daher als diesen erfüllend, gedacht. Demgemäss 
besteht das ganze Wesen der Materie im Wirken: nur 
durch dieses erfüllt sie den Raum und beharrt in der 
Zeit: sie ist durch und durch lauter Kausalität. Mit- 
hin wo gewirkt wird, ist Materie, und das Materielle 
ist das Wirkende überhaupt. — Nun aber ist die 
Kausalität selbst die Form unsers Verstandes: denn 
sie ist, so gut wie Raum und Zeit, uns a priori be- 
wusst. Also gehört auch die Materie, insofern und bis 
hieher, dem formellen Theil unserer Erkenntniss an, 
und ist demnach die mit Raum und Zeit verbundene, 
daher objektivirte, d. h. als das Raum Erfüllende auf- 
gefesste, Verstandesform der Kausalität selbst. (Die 
nähere Auseinandersetzung dieser Lehre findet man 
in der zweiten Auflage der Abhandlung über den 
Satz vom Grunde, S. 77.) Insofern aber ist die Mate- 
rie eigentlich auch nicht Gegenstand, sondern Bedin- 
gung der Erfahrung; wie der reine Verstand selbst, des- 
sen F'unktion sie so weit ist. Daher giebt es von der blos- 
sen Materie auch nur einen Begriff, keine Anschauung : 
sie geht in alle äussere Erfahrung, als nothwendigerBe- 
388 
standtheil derselben, ein, kann jedoch in keiner gegeben 
werden ; sondern wird nur gedacht, und zwar als das 
absolut Träge, Unthätige, Formlose, Eigenschaftslose, 
welches jedoch der Träger aller Formen, Eigenschaf- 
ten und Wirkungen ist. Demzufolge ist die Materie das 
durch die Formen unsers Intellekts, in welchem die 
Welt als Vorstellung sich darstellt, nothwendig her- 
beigeführte, bleibende Substrat aller vorübergehenden 
Erscheinungen, also aller Aeusserungen der Natur- 
kräfte und aller lebenden Wesen. Als solches und als 
aus den Formen des Intellekts entsprungen verhält sie 
sich gegen jene Erscheinungen selbst durchaus m- 
diß'erent, d. h. sie ist eben so bereit, der Träger dieser, 
wie jener Naturkraft zu seyn, sobald nur, am Leitfa- 
den der Kausalität, die Bedingungen dazu eingetreten 
sind; während sie selbst, eben weil ihre Existenz 
eigentlich nur formal, d. h, im Intellekt gegründet 
ist, unter allem jenem Wechsel als das schlechthin 
Beharrende, also das zeitlich Anfangs- und End-lose 
gedacht werden muss. Hierauf beruht es, dass wir 
den Gedanken nicht aufgeben können, dass aus Jedem 
Jedes werden kann, z. B. aus Blei Gold; indem hiezu 
bloss erfordert wäre, dass man die Zwischenzustände 
herausfände und herbeiführte, welche die an sich in- 
differente Materie auf jenem Wege zu durchwandern 
hätte. Denn a priori ist nimmermehr einzusehen, war- 
um die selbe Materie, welche jetzt Träger der Quali- 
tät Blei ist, nicht einst Träger der Qualität Gold wer- 
den könnte. — Von den eigentlichen Anschauungen 
a priori unterscheidet die Materie, als welche bloss 
ein a priori Gedachtes ist, sich zwar dadurch, dass 
wir sie auch ganz wegdenken können; Raum und 
Zeit hingegen nimmermehr: allein dies bedeutet bloss, 
dass wir Raum vmd Zeit auch ohne die Materie vor- 
stellen können. Denn die einmal in sie hineingesetzte 
und demnach als vorhanden gedachte Materie können 
wir schlechterdings nicht mehr wegdenken, d. h. sie 
als verschwunden und vernichtet, sondern immer nur 
als in einen andern Raum versetzt uns vorstellen: in 
sofern also ist sie mit unserm Erkenntnissvermögen 
eben so unzertrennlich verknüpft, wie Raum und 
389 
Zeit selbst. Jedoch der Unterschied, dass sie dabei zu- 
erst behebig als vorhanden gesetzt seyn muss, deu- 
tet schon an, dass sie nicht so gänzhch und in jeder 
Hinsicht dem forvialeii Theil unserer Erkenntniss 
angehört, wie Raum und Zeit, sondern zugleich ein 
nur a posteriori gegebenes Element enthält. Sie ist in 
der That der Anknüpfungspunkt des empirischen, 
Theils unserer Erkenntniss an den reinen und aprio- 
rischen, mithin der eigenthümliche Grundstein der 
Erfahrungswelt. 
Allererst da, wo alle Aussagen a priori aufhören, 
mithin in dem ganz empirischen Theil unserer Erkennt- 
niss der Körper, also in der Form, Qualität und be- 
stimmten Wirkungsart derselben, offenbart sich jener 
fVille, den wir als das Wesen an sich der Dinge be- 
reits erkannt und festgestellt haben. Allein diese For- 
men und Qualitäten erscheinen stets nur als Eigen- 
schaften und Aeusserungen eben jener Mateine, deren 
Daseyn und Wesen auf den subjektiven Formen un- 
sers Intellekts beruht: d. h. sie werden nur an ihr, 
daher mittelst ihrer sichtbar. Denn, was immer sich 
uns darstellt ist stets nur eine auf speciell bestimmte 
Weise wirkende Materie. Aus den inneren und nicht 
weiter erklärbaren Eigenschaften einer solchen geht 
alle bestimmte Wirkungsart gegebener Körper her- 
vor; und doch wird die Materie selbst nie wahrge- 
nommen, sondern eben nur jene Wirkungen und die 
diesen zum Grunde liegenden bestimmten Eigenschaf- 
ten, nach deren Absonderung die Materie, als das 
dann noch übrig Bleibende, von uns uothwendig hin- 
zugedacht wird : denn sie ist, laut der oben gegebenen 
Auseinandersetzung, die objektivirte Ursächlichkeit 
selbst. — Demzufolge ist die Materie Dasjenige, wodurch 
der Wille, der das innere Wesen der Dinge ausmacht, 
in die Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar 
wird. In diesem Sinne ist also die Materie die blosse 
Sichtbarkeit des Willens, oder das Band der Welt als 
Wille mit der Welt als Vorstellung. Dieser gehört sie 
an, sofern sie das Produkt der Funktionen des Intel- 
lekts ist, jener, sofern das in allen materiellen Wesen, 
d. i. Erscheinungen, sich Manifestirende der Wille ist. 
390 
Daher ist jedes Objekt als Ding an sich Wille, und 
als Erscheinung Materie. Könnten wir eine gegebene 
Materie von von allen ihr a priori zukommenden 
Eigenschaften, d. h. von allen Formen unserer An- 
schauung und Apprehension entkleiden; so würden 
wir das Ding an sich übrig behalten, nämlich Dasje- 
nige, was, mittelst jener Formen, als das rein Empi- 
rische an der Materie auftritt, welche selbst aber als- 
dann nicht mehr als ein Ausgedehntes mid Wirken- 
des erscheinen würde: d. h. wir würden keine Materie 
mehr von uns haben, sondern den Willen. Eben die- 
ses Ding an sich, oder der Wille, tritt, indem es zur 
Erscheinung wird, d. h. in die Formen unsers Intel- 
lekts eingeht, als die Materie auf, d. h. als der selbst 
unsichtbare, aber nothwendig vorausgesetzte Träger 
nur durch ihn sichtbarer Eigenschaften: in diesem 
Sinn ist also die Materie die Sichtbarkeit des Willens. 
Demnach hatten auch Plotinos und Joi^danus B?unus, 
nicht nur in ihrem, sondern auch in unserm Sinne 
Recht, wenn sie, wie bereits Kap. 4 erwähnt wurde, 
den paradoxen Ausspruch thaten, die Materie selbst 
sei nicht ausgedehnt, sie sei folglich unkörperlich. 
Denn die Ausdehnung verleiht der Materie der Raum, 
welcher unsere Anschauungsform ist, und die Körper- 
lichkeit besteht im Wiiken, welches auf der Kausali- 
tät, mithin der Form unsers Verstandes, beruht. Hin- 
gegen alle bestimmte Eigenschaft, also alles Empirische 
an der Materie, selbst schon die Schwere, beruht auf 
Dem, was nur mittelst der Materie sichtbar wird, auf 
dem Dinge an sich, dem Willen. Die Schwere ist je- 
doch die allerniedrigste Stufe der Objektivation des 
Willens; daher sie sich an jeder Materie, ohne Aus- 
nahme, zeigt, also von der Materie überhaupt unzer- 
trennlich ist. Doch gehört sie, eben weil sie schon 
Willensmanifestation ist, der Eikenntniss a posteriori, 
nicht der a priori an. Daher können wir eine Materie 
ohne Schwere uns noch allenfalls vorstellen, nicht 
aber eine ohne Ausdehnung, Repulsionskraft und Be- 
harrlichkeit; weil sie alsdann ohne ündurchdring- 
lichkeit, mithin ohne Raumerfüllung, d. h. ohne fVirk- 
samheit wäre : allein eben im ff^'irken, d. h. in der Kau- 
3qi 
salität überhaupt, besteht das Wesen der Materie 
als solcher: und die Kausalität beruht auf der Form 
a priori unsers Verstandes, kann daher nicht wegge- 
dacht werden. 
Die Materie ist demzufolge der Wille selbst, aber 
nicht mehr an sich, sondern sofern er angeschaut wird, 
d. h. die Form der objektiven Vorstellung annimmt: 
also was objektiv Materie ist, ist subjektiv Wille. Dem 
ganz entsprechend ist, wie oben nachgewiesen, unser 
Leib nur die Sichtbarkeit, Objektität, unsers W^illens, 
und eben so ist jeder Körper die Objektität des Wil- 
lens auf irgend einer ihrer Stufen. Sobald der Wille 
sich der objektiven Erkenntniss darstellt, geht er ein 
in die Anschauungsformen des Intellekts, in Zeit, 
Raum und Kausalität: alsbald aber steht er, vermöge 
dieser, als ein materielles Objekt da. Wir können Form 
ohne Materie vorstellen; aber nicht umgekehrt: weil 
die Materie, von der Form entblösst, der Wille selbst 
wäre, dieser aber nur durch Eingehen in die Anschau- 
ungsweise unsers Intellekts, und daher nur mittelst 
Annahme der Form objektiv wird. Der Raum ist die 
Anschauungslorm der Mateiie, weil er der Stoff der 
blossen Form ist, die Materie aber nur in der Form 
erscheinen kann. 
Indem der Wille objektiv wird, d. h. in die Vorstel- 
lung übergeht, ist die Materie das allgemeine Sub- 
strat dieser Objektivation, oder vielmehr die Objek- 
tivation selbst in abstracto genommen, d. h. abgese- 
hen von aller Form. Die Materie ist demnach die 
Sichtbarkeit des Willens überhaupt, während der 
Charakter seiner bestimmten Erscheinungen an der 
Form und Qualität seinen Ausdruck hat. Was daher 
in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Mate- 
rie ist, das ist an sich selbst Wille. Daher gilt von ihr unter 
den Bedingungen der Erfahrung und Anschauung, 
was vom Willen an sich selbst gilt, und sie giebt alle 
seine Beziehungen und Eigenschaften im zeitlichen 
Bilde wieder. Demnach ist sie der Stoj^ der anschau- 
lichen Welt, wie der Wille das Wesen an sich aller 
Dinge ist. Die Gestalten sind unzählig, die Materie ist 
Eine; eben wie der Wille Einer ist in allen seinen 
3()2 
Objektivationen. Wie dieser sich nie als Allgemeines, 
d. b. als Wille schlechthin, sondei'n stets als Beson- 
deres, d. h. unter speciellen Bestimmungen und gege- 
benem Chaiakter, objektivirt; so erscheint die Mate- 
tie nie als solche, sondern stets in Verbindung mit 
irgend einer Form und Qualität. In der Erscheinung 
oder Objektivation des Willens repräsentirt sie seine 
Ganzheit, ihn selbst, der in Allen Einer ist, wie sie 
in allen Körpern Eine. Wie der Wille der innerste 
Kern aller erscheinenden Wesen ist; so ist sie die Sub- 
stanz, welche nachAufhebung aller Accidenzien übrig 
bleibt. Wie der Wille das schlechthin Unzerstörbare 
in allem Daseienden ist; so ist die Materie das in der 
Zeit Unvergängliche, welches unter allen Veränderun- 
gen beharrt. — Dass die Materie für sich, also ge- 
trennt von der Form, nicht angeschaut oder vorge- 
stellt werden kann, beruht darauf, dass sie an sich 
selbst und als das rein Substantielle der Körper eigent- 
lich der Wille selbst ist ; dieser aber nicht an sich selbst, 
sondern nur unter sämmtlichen Bedingungen der Vor- 
stellung und daher nur als Erscheinung objektiv wahr- 
genommen, oder angeschaut werden kann: unter die- 
sen Bedingungen aber stellt er sich sofort als Körper 
dar, d. h. als die in Form vmd Qualität gehüllte Ma- 
terie. Die Form aber ist durch den Baum, und die 
Qualität, oder Wirksamkeit, durch die Kausalität be- 
dingt: beide also beruhen auf den Funktionen des 
Intellekts. Die Materie ohne sie wäre eben das Ding 
an sich, d. i. der Wille selbst. Nur daher konnten, 
wie gesagt, Plotinos und Jordanus Bruyius^ auf ganz 
objektivem Wege, zu dem Ausspruch gebracht wer- 
den, dass die Materie an und für sich ohne Ausdeh- 
nung, folglich ohne Bäumlichkeit, folglich ohne Kör- 
perlichkeit sei. 
Weil also die Materie die Sichtbarkeit des Willens, 
jede Kraft aber an sich selbst Wille ist, kann keine 
Kraft ohne materielles Substrat auftreten, und umge- 
kehrt kein Körper ohne ihm inwohnende Kräfte seyn, 
die eben seine Qualität ausmachen. Dadurch ist er 
die Vereinigung von Materie und Form, welche Stoff 
heisst. Kraft und Stoff sind unzertrennlich, weil sie 
im Grunde Eines sind; da, wie /la«^ dar{;etlian hat, 
die Materie selbst uns nur als der Verein zweier Kräfte, 
der Expansions- und Attraktions-Kraft, gegeben ist. 
Zwischen Kraft und Stoff besteht also kein Gegensatz : 
vielmehr sind sie geradezu Eines. 
Durch den Gang unserer Betrachtung auf diesen 
Gesichtspunkt geführt und zu dieser metaphysischen 
Ansicht der Materie gelangt, werden wir ohne Wi- 
derstreben eingestehen, dass der zeitliche Urspi'ung 
der Formen, der Gestalten, oder Species, nicht füglich 
irgend wo anders gesucht werden kann, als in der 
Materie. Aus dieser müssen sie einst hervorgebrochen 
seyn ; eben weil solche die blosse Sichtbarkeit des Wil- 
lens ist, welcher das Wesen an sich aller Erscheinun- 
gen ausmacht. Indem er zur Erscheinung wird, d, h. 
dem Intellekt sich objektiv darstellt, nimmt die Ma- 
terie, als seine Sichtbarkeit, mittelst der Funktionen 
des Intellekts, die Fo7-tn an. Daher sagten die Schola- 
stiker: inateria appetit formam. Dass der Ursprung 
aller Gestalten der Lebendigen ein solcher war, ist 
nicht zu bezweifeln : es lässt sich nicht ein Mal anders 
denken. Ob aber noch jetzt, da die Wege zur Perpe- 
tuirung der Gestalten offen stehen und von der Natur 
mit gränzenloser Sorgfalt und Eifer gesichert und ei- 
halten werden, die generatio aequivoca Statt finde, 
ist allein durch die Erfahrung zu entscheiden; zumal 
da das natura nihil facit frustra, mit Hinweisung auf 
die Wege der regelmässigen Fortpflanzung, als Argu- 
ment dagegen geltend gemacht werden könnte. Doch 
halte ich die generatio aequivoca auf sehr niedrigen 
Stufen, der neuesten Einwendungen dagegen unge- 
achtet, für höchst wahrscheinlich, und zwar zunächst 
bei Entozoen und Epizoen, besonders solchen, welche 
in Folge specieller Kachexien der thierischen Orga- 
nismen auftreten; weil nämlich die Bedingungen zum 
Leben derselben nur ausnahmsweise Statt finden, ihre 
Gestalt sich also nicht auf dem regelmässigen Wege 
fortpflanzen kann und deshalb, bei eintretender Ge- 
legenheit, stets von Neuem zu entstehen hat. Sobald 
daher, in Folge gewisser chronischer Krankheiten, 
oder Kachexien, die Lebensbedingungen der Epizoen 
394 
eingetreten sind, entstehen, nach Maassgabe dersel- 
ben, pediculus capitis, oder pubis, oder corporis, ganz 
von selbst und ohne Ei; so komplicirt auch der Bau 
dieser Insekten seyn mag: denn die Fäulnisseines le- 
benden thierischen Körpers giebt Stoff zu höheren 
Produktionen, als die des Heues im Wasser, welche 
bloss Infusionsthieie liefert. Oder will man lieber, dass 
auch die Eier der Epizoen stets hoffnungsvoll in der 
Luft schweben ? — (Schrecklich zu denken !) Vielmehr 
erinnere man sich der auch jetzt noch vorkommenden 
Phtheiriasis. — Ein analoger Fall tritt ein, wann, 
durch besondere Umstände, die Lebensbedingungen 
eines Species, welche dem Or^e bis dahin fremd war, 
sich einfinden. So sah August St. Hilaire in Brasilien, 
nach dem Abbrennen eines Urwaldes, sobald die Asche 
nur eben kalt geworden, eine Menge Pflanzen aus ihr 
hervorwachsen, deren Art weit und breit nicht zu 
finden war; und ganz neuerlich berichtete der Admi- 
ral Petit-Tliouars, vor der Academie des sciences, dass 
auf den neu sich bildenden Korallen-Inseln in Poly- 
nesien allmählig ein Boden sich absetzt, der bald 
trocken, bald im Wasser liegt, und dessen die Vege- 
tation sich alsbald bemächtigt, Bäume hervorbringend, 
welche diesen Inseln ganz ausschliesslich eigen sind 
(Comptes rendus, 17. Jan, 1869, p. i47)- — Ueber- 
all wo Fäulniss entsteht, zeigen sich Schimmel, Pilze 
und, im Flüssigen, Infusorien. Die jetzt beliebte An- 
nahme, dass Sporen und Eier zu den zahllosen Species 
aller jener Gattungen überall in der Luft schweben 
und lange Jahre hindurch auf eine günstige Gelegen- 
heit warten, ist paradoxer, als die der generatio aequi- 
voca. Fäulniss ist die Zersetzung eines organischen 
Körpers, zuerst in seine näheren chemischen Bestand- 
theile: weil nun diese in allen lebenden Wesen mehr 
oder weniger gleichartig sind; so kann, in solchem 
Augenblick, der allgegenwärtige Wille zum Leben 
sich ihrer bemächtigen, um jetzt, nach Maassgabe der 
Umstände, neue Wesen daraus zu erzeugen, welche 
alsbald, sich zweckmässig gestaltend, d. h. sein jedes- 
maliges Wollen objektivirend, aus ihnen so gerinnen, 
wie das Hühnchen aus der Flüssigkeit des Eies. Wo 
3q5 
Dies nun aber nicht geschieht; da werden die faulen- 
den Stoffe in ihre entfernteren Bestandtheile zersetzt, 
welches die chemischen Grundstoffe sind, und gehen 
nunmehr über in den grossen Kreislauf der Natur. 
Der seit lO- — 15 Jahren geführte Krieg gegen die ge- 
neratioaequivoca, mit seinem voreiligen Siegesgeschrei, 
war das Vorspiel zum Ableugnen der Lebenskraft, und 
diesem verwandt. Man lasse sich nur ja nicht durch 
Machtsprüche und mit dreister Stirn gegebene Ver- 
sicherungen, dass die Sachen entschieden, abgemacht 
und allgemein anerkannt wären, übertölpeln. Viel- 
mehr geht die ganze mechanische und atomistisehe 
Naturansicht ihrem Bankrott entgegen, und die Ver- 
theidiger derselben haben zu lernen, dass hinter der 
Natur etwas mehr steckt, als Stoss und Gegenstoss. 
Die Realität der generatio aequivoca und die Nichtig- 
keit der abenteuerlichen Annahme, dass in der At- 
mosphäre überall und jederzeit Billionen Keime aller 
möglichen Schimmelpilze und Eier aller möglichen 
Infusorien herumschweben, bis ein Mal Eines und 
das Andei'c zufällig das ihm gemässe Medium findet, 
hat ganz neuerlich (1869) /*o?/c/ief vor der französi- 
schen Akademie, zum grossen Verdruss der übrigen 
Mitglieder derselben, gründlich und siegreich darge- 
than. 
Unsere Verwunderung bei dem Gedanken des Ur- 
sprungs der Formen aus der Materie gleicht im Grun- 
de der des Wilden, der zum ersten Mal einen Spiegel 
erbli<kt und über sein eigenes Bild, das ihm daraus 
entgegentritt, erstaunt. Denn unser eigenes Wesen 
ist der fVille, dessen blosse Sichtbarkeit die Materie 
ist, welche jedoch nie anders als mit dem Sichtbaren, 
d. h. unter der Hülle der Form und Qualität, auftritt, 
daher nie unmittelbar wahrgenommen, sondern stets 
nur hinzugedacht wird, als das in allen Dingen, un- 
ter aller Verschiedenheit der Qualität und Form, 
Identische, welches gerade das eigentlich Substan- 
tielle in ihnen allen ist. Eben deshalb ist sie mehr ein 
metaphysisches, als ein bloss physisches Erklärungs- 
princip der Dinge, und alle Wesen aus ihr entsprin- 
gen lassen, heisst wirklich sie aus einem sehrGeheim- 
396 
nissvollen erklären; wofür es nur Der nicht erkennt, 
welcher Angreifen mit Begreifen verwechselt. In 
Wahrheit ist zwar keineswegs die letzte und erschöp- 
fende Erklärung der Dinge, wohl aber der zeitliche 
Ursprung, wie der unorganischen Formen, so auch 
der organischen Wesen allerdings in der Materie zu 
suchen. — Jedoch scheint es, dass die Urerzeugung 
organischer Formen, die Hervorbringung der Gattun- 
gen selbst, der Natur fast so schwer fällt auszuführen, 
wie uns zu begreifen: dahin nämlich deutet die durch- 
weg so ganz übermässige Vorsorge derselben für die 
Erhaltung der ein Mal vorhandenen Gattungen. Auf 
der gegenwärtigen Oberfläche dieses Planeten hat 
dennoch der Wille zum Leben die Skala seiner Ob- 
jektivation drei Mal, ganz unabhängig von einander, 
in verschiedener Modulation, aber auch in sehr ver- 
schiedener Vollkommenheit und Vollständigkeit an- 
gespielt. Nämlich die alte Welt, Amerika und Austra- 
lien haben bekanntlich Jedes seine eigenthümliche, 
selbstständige und von der der beiden Andern gänz- 
lich verschiedene Thierreihe. Die Species sind auf 
jedem dieser grossen Kontinente durchweg andere, 
haben aber doch, weil alle drei dem selben Planeten 
angehören, eine durchgängige und parallel laufende 
Analogie mit einander ; daher die genera grösstentheils 
die selben sind. Diese Analogie lässt in Australien 
sich nur sehr unvollständig verfolgen; weil dessen 
Fauna an Säugethieren sehr arm ist und weder reis- 
sende Thiere, noch Affen hat: hingegen zwischen der 
alten Welt und Amerika ist sie augenfällig und zwar 
so, dass Amerika an Säugethieren stets das schlech- 
tere Analogon aufweist, dagegen aber an Vögeln und 
Reptilien das bessere. So hat es zwar den Kondor, die 
Aras, die Kolibrite und die grössten Batrachier und 
Ophidier voraus; aber z, B. statt des Elephanten nur 
den Tapir, statt des Löwen den Kuguar, statt des 
Tigers den Jaguar, statt des Kameeis das Lama, und 
statt der eigentlichen Affen nur Meerkatzen. Schon 
aus diesem letzteren Mangel lässt sich schliessen, dass 
die Natur es in Amerika nicht bis zum Menschen 
hat bringen können; da sogar von der nächsten Stufe 
unter diesem, dem Tschimpanse und dem Orangutan 
oder Pon^jo, der Schritt bis zuin Menschen noch ein 
unmässig grosser war. Dem entsprechend finden wir 
die drei, sowohl aus physiologischen, als linguisti- 
schen Gründen nicht zu bezweifelnden, gleich ur- 
sprünglichen Menschenrassen, die kaukasische, mon- 
golische und äthiopische, allein in der alten Welt zu 
Hause, Amerika hingegen von einem gemischten, oder 
klimatisch modifizirten, mongolischen Stamme be- 
völkert, der von Asien hinübergekommen seyn muss. 
Auf der der jetzigen Erdoberfläche zunächst vorher- 
gegangenen war es stellenweise bereits zu Affen, je- 
doch nicht bis zum Menschen gekommen. 
Von diesem Standpunkt unserer Betrachtung aus, 
welcher uns die Materie als die unmittelbare Sicht- 
barkeit des in allen Dingen erscheinenden Willens 
erkennen, ja sogar für die bloss physische, dem Leit- 
faden der Zeit und Kausalität nachgehende Forschung, 
sie als den Ursprung der Dinge gelten lässt, wird 
man leicht auf die Frage geführt, ob man nicht selbst 
in der Philosophie, eben so gut von der objektiven, 
wie von der subjektiven Seite ausgehen und demnach 
als die fundamentale Wahrheit den Satz aufstellen 
könnte: „es giebt überhaupt nichts als die Materie 
und die ihr inwohnenden Kräfte." — Bei diesen 
hier so leicht hingeworfenen „invvohnenden Kräften" 
ist aber sogleich zu erinnern, dass ihre Voraussetzung 
jede Erklärung auf ein völlig unbegreifliches Wun- 
der zurückführt und dann bei diesem stehen, oder 
vielmehr von ihm anheben lässt: denn ein solches ist 
wahrlich jede, den verschiedenartigen Wirkungen 
eines unorganischen Körpers zum Grunde liegende, be- 
stimmte und unerklärliche Naturkraft nicht minder, 
als die in jedem organischen sich äussernde Lebens- 
kraft; — wie ich dies Kap. 17 ausführlich auseinan- 
dergesetzt und daran dargethan habe, dass niemals 
die Phvsik auf den Thron der Metaphysik gesetzt 
werden kann, eben weil sie die erwähnte und noch 
viele andere V^oraussetzungen ganz unberührt stehen 
lässt: wodurch sie auf den Anspruch, eine letzte Erklä- 
rung der Dinge abzugeben, von vorne herein verzieh- 
398 
tet. Ferner habe ich hier an die, gegen das Ende des 
ersten Kapitels gegebene, Nach Weisung der Unzulässig- 
keit des Materialismus zu erinnern, sofern er, wie 
dort gesagt wurde, die Philosophie des bei seiner 
Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts ist. Diese 
sämmtlichen Wahrheiten aber beruhen darauf, dass 
alles Objektive^ alles Aeussere, da es stets nur ein 
Wahrgenommenes, Erkanntes ist, auch immer nur 
ein Mittelbares und Sekundäres bleibt, daher schlech- 
terdings nie der letzte Erklärungsgrund der Dinge, 
oder der Ausgangspunkt der Philosophie werden kann. 
Diese nämlich verlangt nothwendig das schlechthin 
Unmittelbare zu ihrem Ausgangspunkt: ein solches 
aber ist offenbar nur das dem Selbstbewusstseyn Ge- 
gebene, das Innere, das Subjektive. Daher eben ist es 
ein so eminentes Verdienst des Cartesius, dass er zu- 
erst die Philosophie vom Selbstbewusstseyn hat aus- 
gehen lassen. Auf diesem Wege sind seitdem die äch- 
ten Philosophen, vorzüglich Locke, Berkeley und Kant, 
jeder auf seine Weise, immer weiter gegangen, und 
in Folge ihrer Untersuchungen wuxde ich darauf ge- 
leitet, im Selbstbewusstseyn, statt eines, zwei völlig 
verschiedene Data der unmittelbaren Erkenntniss ge- 
wahr zu werden und zu benutzen, die Vorstellung 
und den Willen, durch deren kombinirte Anwendung 
man in der Philosophie in dem Maasse weiter gelangt, 
als man bei einer algebraischen Aufgabe mehr leisten 
kann, wenn man zwei, als wenn man nur eine be- 
kannte Grösse gegeben erhält. 
Das unausweichbar Falsche des Materialismus be- 
steht, dem Gesagten zufolge, zunächst darin, dass er 
von einer petitio principii ausgeht, welche näher be- 
trachtet, sich sogar als ein Trpcuxov (|ieuoo<; ausweist, 
nämlich von der Annahme, dass die Materie ein 
schlechthin und unbedingt Gegebenes, nämlich un- 
abhängig von derErkenntnissdesSubjekts Vorhandenes, 
also eigentlich ein Ding an sich sei. Er legt der Materie 
(und damitauchihrenVoraussetzungen,Zeit und Raum) 
eine absolute, d. h. vom wahrnehmenden Subjekt unab- 
hängige Existenz bei : dies ist sein Grundfehler. Nächst- 
dem muss er, wenn er redlich zu Werke gehen will, die 
den gegebenen Materien, d.h. den vStoffen, inhäriren- 
den Qualitäten, sauiint den in diesen sich äussernden 
Naturkräften, und endlich auch die Lebenskraft, als 
unergründliche qualitates occultas der Materie, un- 
erklärt dastehen lassen und von ihnen ausgehen; wie 
dies Physik und Physiologie wirklich thun, weil sie 
eben keine Ansprüche darauf machen, die letzte Er- 
klärung der Dinge zu seyn. Aber gerade um dies zu 
vermeiden, verfährt der Materialismus, wenigstens 
wie er bisher aufgetreten, nicht redlich: er leugnet 
nämlich alle jene ursprünglichen Kräfte weg, indem 
er sie alle, und am Ende auch die Lebenskraft, vor- 
geblich und scheinbar zurückführt auf die bloss me- 
chanische Wirksamkeit der Materie, also auf Aeusse- 
rungen der Undurchdringlichkeit, Form, Kohäsion, 
Stosskraft, Trägheit, Schwere u. s. w., welche Eigen- 
schaften freilich das wenigste Unerklärliche an sich 
haben, eben weil sie zum Theil auf dem a priori Ge- 
wissen, mithin auf den Formen unsers eigenen Intel- 
lekts beruhen, welche das Princip aller Verständlich- 
keit sind. Den Intellekt aber, als Bedingung alles Ob- 
jekts, mithin der gesammten Erscheinung, ignorirt 
der Materialisnms gänzlich. Sein Vorhaben ist nun, 
alles Qualitative auf ein bloss Quantitatives zurück- 
zuführen, indem er jenes zur blossen Form^ im Ge- 
gensatz der eigentlichen Materie zählt: dieser lässt er 
von den eigentlich empirischen Qualitäten allein die 
Schwere, weil sie an sich schon ein Quantitatives, näm- 
lich als das alleinige Maass der Quantität der Materie 
auftritt.DieserWeg führt ihn nothwendigaufdie Fiktion 
der Atome, welche nun das Material werden, daraus 
er die so geheimnissvollen Aeusserungen aller ur- 
sprünglichen Kräfte aufzubauen gedenkt. Dabei hat 
er es aber eigentlich gar nicht mehr mit der empi- 
risch gegebenen, sondern mit einer Materie zu thun, 
die in rerum natura nicht anzutreffen, vielmehr ein 
blosses Abstraktum jener wirklichen Materie ist, näm- 
lich mit einer solchen, die schlechthin keine andern, 
als jene tnechanischen Eigenschaften hätte, welche mit 
Ausnahme der Schwere, sich so ziemlich a priori 
konstruiren lassen, eben weil sie auf den Formen des 
4oo 
Raums, der Zeit und der Kausalität, mithin auf un- 
serm Intellekt, beruhen: auf diesen ärmlichen Stoff 
also sieht er sich bei Aufrichtung seines Luftgebäudes 
reducirt. 
Hiebei wird er unausweichbar zum Atoniistnus; wie 
es ihm schon in seiner Kindheit, beim Leukippos und 
Demokritos, begegnet ist, und ihm jetzt, da er vor 
Alter zum zweiten Male kindisch geworden, abermals 
begegnet: bei den F'ranzosen, weil sie die Kantische 
Philosophie nie gekannt, und bei den Deutschen, 
weil sie solche vergessen haben. Und zwar treibt er 
es, in dieser seiner zweiten Kindheit, noch bunter, 
als in der ersten: nicht bloss A\e Jesten Körper sollen 
aus Atomen bestehen, sondern auch die ßussigen, das 
Wasser, sogar die Luft, die Gase, ja, das Licht, als 
welches die ondulation eines völlig hypothetischen 
und durchaus unbewiesenen, aus Atomen bestehen- 
den Aethers seyn soll, deren verschiedene Schnelligkeit 
die Farben verursache; — eine Hypothese, welche, 
eben wie weiland die siebenfarbige Neutonische, von 
einer ganz arbiträr angenommenen und dann gewalt- 
sam durchgeführten Analogie mit der Musik ausgeht. 
Man mtiss wahrlich unerhört leichtgläubig seyn, um 
sich einreden zu lassen, dass die von der endlosen 
Mannigfaltigkeit farbiger Flächen, in dieser bunten 
Welt, ausgehenden, zahllos verschiedenen Aether- 
Tremulanten, immerfort und jeder in einem andern 
Tempo, nach allen Richtungen durcheinander laufen 
und überall sich kreuzen könnten, ohne je einander 
zu stören, vielmehr durch solchen Tumult und Wirr- 
warr den tiefruhigen Anblick beleuchteter Natur und 
Kunst lierA'orbrächten. Credat Judaeus Apella! Aller- 
dings ist die Natur des Lichtes uns ein Geheimniss: 
aber es ist besser, dies einzugestehen, als durch 
schlechte Theorien der künftigen Erkenntniss den 
Weg zu verrennen. Dass das Licht etwas ganz Ande- 
res sei, als eine bloss mechanische Bewegung, TJndu- 
lation oder Vibration und Tremulant, ja, dass es 
stoffartig sei, beweisen schon seine chemischen Wir- 
kungen, von welchen eine schöne Reihe kürzlich der 
Acad. des sciences vorgelegt worden ist von Chevreul^ 
26 Schopenhauer II l\0\ 
indem er das das Sonnenlicht auf verschiedene {ge- 
färbte Stoffe wirken hess; wobei das Schönste ist, 
dass eine weisse, dem Sonnenhcht ausgesetzt gewesene 
Papierrolle die selben Wirkungen hervorbringt, ja, 
dies auch noch nach 6 Monaten thut, wenn sie wäh- 
rend dieser Zeit in einer fest verschlossenen Blech- 
röhre verwahrt gewesen ist: hat da etwan der Tre- 
mulant 6 Monate pausirt und fällt jetzt a tempo wie- 
der ein ? (Comptes rendus vom 20. Dec. i858.) — Die- 
se ganze Aether-Atomen-Tremulanten-Hypothese ist 
nicht nur ein Hirngespinst, sondern thut es an täp- 
pischer Plumpheit den ärgsten Demokritischen gleich, 
ist aber unverschämt genug, sich heut zu Tage als 
ausgemachte Sache zu geriren, wodurch sie erlangt 
hat, dass sie von tausend pinselhaften Skribenten al- 
ler Fächer, denen jede Kenntniss von solchen Dingen 
abgeht, rechtgläubisch nachgebetet und wie ein Evan- 
gelium geglaubt wird. — Die Atomenlehre überhaupt 
geht aber noch weiter: bald nämlich heisst es Spar- 
tam, quam nactus es, orna ! Da werden dann sämmt- 
lichen Atomen verschiedene immerwährende Bewe- 
gungen, drehende vibrirende u. s. w., je nachdem ihr 
Amt ist, angedichtet: imgleichen hat jedes Atom seine 
Atmosphäre aus Aether, oder sonst was, und was der- 
gleichen Träumereien mehr sind. — Die Träume- 
reien der Schellingischen Naturphilosophie und ihrer 
Anhänger waren doch meistens geistreich, schwung- 
haft, oder wenigstens witzig: diese hingegen sind 
plump, platt, ärmlich und täppisch, die Ausgeburt 
von Köpfen, welche erstlich keine andere Realität zu 
denken vermögen, als eine gefabelte eigenschaftslose 
Materie, die dabei ein absolutes Objekt, d. h. ein Ob- 
jekt ohne Subjekt wäre, und zweitens keine andere 
Thätigkeit, als Bewegung und Stoss; diese zwei allein 
sind ihnen fasslich, und dass auf sie alles zurücklaufe, 
ist ihre Voraussetzung a priori: denn sie sind ihr Ditig 
an sich. Dieses Ziel ist zu erreichen, wird die Ijchens- 
kraft auf chemische Kräfte (welche insidiös und un- 
berechtigt Molekularkräfte genannt werden) und alle 
Processe der unorganischen Natur auf Mechanismus, 
d. h. Stoss und Gegenstoss zurückgeführt. Und so wäre 
4o2 
denn am Ende die ganze Welt, mit allen Dingen 
darin, bloss ein mechanisches Kunststück, gleich den 
durch Hebel, Räder und Sand getriebenen Spielzeugen, 
welche ein Bergwerk, oder ländlichen Betrieb dar- 
stellen. — Die Quelle des Uebels ist, dass durch die 
viele Handarbeit des Experimentirens die Kopfarbeit 
des Denkens aus der Uebung gekommen ist. Die Tie- 
gel und Volia'schen Säulen sollen dessen Funktionen 
übernehmen : daher auch der profunde Abscheu gegen 
alle Philosophie. — 
Man könnte nun aber die Sache auch so wenden, 
dass man sagte, der Materialismus, wie er bisher auf- 
getreten, wäre bloss dadurch misslungen, dass er die 
Materie^ aus der er die Welt zu konstruiren ge- 
dachte, nicht genugsam gekannt und daher, statt ihrer, 
es mit einem eigenschaftslosen Wechselbalg derselben 
zu thun gehabt hätte: wenn er hingegen, statt des- 
sen, die wirkliche und empirisch gegebene Materie 
(d. h. den Stoff, oder vielmehr die Stoffe) genommen 
hätte, ausgestattet, wie sie ist, mit allen physikali- 
schen, chemischen, elektrischen und auch mit den 
aus ihr selbst das Leben spontan hervortreibenden 
Eigenschaften, also die wahre mater rerum, aus deren 
dunkelm Schoosse alle Erscheinungen und Gestalten 
sich hervorwinden, um einst in ihn zurückzufallen; 
so hätte aus dieser, d. b. aus der vollständig gefass- 
ten und erschöpfend gekannten Materie, sich schon 
eine Welt konstruiren lassen, deren der Materialis- 
mus sich nicht zu schämen brauchte. Ganz recht: nur 
hätte das Kunststück dann darin bestanden, dass man 
die Quaesita in die Data verlegte, indem man angeb- 
lich die blosse Materie, wirklich aber alle die geheim- 
nissvollen Kräfte der Natur, welche an derselben haf- 
ten, oder richtiger, mittelst ihrer uns sichtbar wer- 
den, als das Gegebene nähme und zum Ausgangs- 
punkt der Ableitungen machte; — ungefähr wie wenn 
man unter dem Namen der Schüssel das Darauflie- 
gende versteht. Denn wirklich ist die Materie, für 
unsere Erkenntniss, bloss das Vehikel der Qualitäten 
und Naturkräfte, welche als ihre Accidenzien auftre- 
ten : und eben weil ich diese auf den Willen zurück- 
3G 
4o; 
geführt habe, nenne ich die Materie die blosse Sicht- 
barheit den Willens. Von diesen sämmtlichen QuaHtä- 
ten aber entblösst, bleibt die Materie 7Airück als das 
Eigenschaftslose, das caput mortuum der Natur, dar- 
aus sich ehrlicherweise nichts machen lässt. Lässt man 
ihr hingegen erwähntermaassen alle jene Eigenschaf- 
ten; so hat man eine versteckte petitio principii be- 
gangen, indem man die Quaesita sich als Data zum 
voraus geben Hess. Was nun aber damit zu Stande 
kommt, wird kein eigentlicher Mateinalismus mehr 
seyn, sondern blosser Natnralistyius, d. h. eine absolute 
Physik, welche, wie im schon erwähnten Kap. 1 7 ge- 
zeigt worden, nie die Stelle der Metaphysik einneh- 
men und ausfüllen kann, eben weil sie erst nach so 
vielen Voraussetzungen anhebt, also gar nicht ein 
Mal unternimmt, die Dinge von Grund aus zu erklä- 
ren. Der blosse Naturalismus ist daher wesentlich auf 
lauter Qualitates occultae basirt, über welche man nie 
anders hinauskann, als dadurch, dass man, wie ich ge- 
than, die subjektive Erkenntnissqiielle zu Hülfe nimmt, 
was dann freilich auf den weiten und mühevollen 
Umweg der Metaphysik führt, indem es die vollstän- 
dige Analyse des Selbstbewusstseyns und des in ihm 
gegebenen Intellekts und Willens voraussetzt. — In- 
zwischen ist das Ausgehen vom Objektiven, welchem 
die so deutliche und fassliche äMS.se?'e Anschanvng zum 
Grunde liegt, ein dem Menschen so natürlicher und 
sich von selbst darbietender Weg, dass Aer Naturalis- 
mus und in Folge dieses, weil er als nicht erschöpfend, 
nicht genügen kann, der Materialismus, Systeme sind, 
auf welche die spekulirende Vernunft nothwendig, 
ja, zu allererst gerathen muss: daher wir gleich am 
Anfang der Geschichte der Philosophie den Naturalis- 
mus, in den Systemen der Jonischen Philosophen, 
und darauf den Materialismus, in der Lehre des Leu- 
kippos und Demokritos, auftreten, ja, auch später von 
Zeit zu Zeit sich immer wieder erneuern sehen. 
4o4 
l 
KAPITEL 2 5. 
TRANSSCENDENTE BETRACHTUNGEN ÜBER 
DEN WILLEN ALS DING AN SICH. 
SCHON die bloss empirische Betrachtung der Na- 
tur erkennt, von der einfachsten und nothwen- 
digsten Aeusserung irgend einer allgemeinen Natur- 
kraft an, bis zum Leben und Bewusstseyn des Men- 
schen hinauf, einen stetigen Uebergang, durch all- 
mälige Abstufungen und ohne andere, als relative, ja 
meistens schwankende Gränzen. Das diese Ansicht 
verfolgende und dabei etwas tiefer eindringende Nach- 
denken Avird bald zu der Ueberzeugung geführt, dass 
in allen jenen Erscheinungen das innere Wesen, das 
sich Manifestirende, das Erscheinende, Eines und das 
Selbe sei, welches immer deutlicher hervortrete; und 
dass demnach was sich in Millionen Gestalten von 
endloser Verschiedenheit darstellt und so das bunteste 
und barockeste Schauspiel ohne Anfang und Ende 
aufiührt, dieses Eine Wesen sei, welches hinter allen 
jenen Masken steckt, so dicht verlarvt, dass es sich 
selbst nicht wiedererkennt, und daher oft sich selbst 
unsanft behandelt. Daher ist die grosse Lehre vom 
£V xai Ttav, im Orient wie im Occident, früh aufgetre- 
ten und hat sich, allem Widerspruche zum Trotz, be- 
hauptet, oder doch stets erneuert. Wir nun aber sind 
jetzt schon tiefer in das Geheimniss eingeweiht, indem 
wir durch das Bisherige zu der Einsicht geleitet worden 
sind, dass, wo jenem, allen Erscheinungen zum Grun- 
de liegenden Wesen, in irgend einer einzelnen dersel- 
ben, ein erkennendes ^etfr/,wfseyn beigegeben ist, wel- 
ches in seiner Richtung nach innen zum Selbsthe- 
wusstseyn wird, diesem sich dasselbe darstellt als jenes 
so Vertraute und so Geheimnissvolle, welches das 
Wort M^ille bezeichnet. Demzufolge haben wir jenes 
vmiverselle Grundwesen aller Erscheinungen, nach 
der Manifestation, in welcher es sich am unverschlei- 
ertesten zu erkennen giebt, den Willen benannt, mit 
welchem Worte wir demnach nichts weniger, als ein 
4o5 
UDbekanntes x, sondern im Gegentheil Dasjenige be- 
zeichnen, was uns, wenigstens von einer Seite, unend- 
lich bekannter und vertrauter ist, als alles Uebrige. 
Erinnern wir uns jetzt an eine Wahrheit, deren 
austührlichsten und gründlichsten Beweis man in 
meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens fin- 
det, an diese nämlich, dass, kraft der ausnahmslosen 
Gültigkeit des Gesetzes der Kausalität, das Thun oder 
Wirken aller Wesen dieser Welt, durch die dasselbe 
jedesmal hervorrufenden Ursachen, stets streng neces- 
sitirt eintritt; in welcher Hinsicht es keinen Unter- 
schied macht, ob es Ursachen im engsten Sinne des 
Worts, oder aber Reize, oder endlich Motive sind, 
welche eine solche Aktion hervorgerufen haben ; in- 
dem diese Unterschiede sich allein auf den Grad der 
Empfänglichkeit der verschiedenartigen Wesen be- 
ziehen. Hierüber darf man sich keine Illusion machen: 
das Gesetz der Kausalität kennt keine Ausnahme; son- 
dern Alles, von der Bewegung eines Sonnenstäubchens 
an, bis zum wohlüberlegten Thun des Menschen, ist 
ihm mit gleicher Strenge unterworfen. Daher konnte 
nie, im ganzen Verlauf der Welt, weder ein Sonnen- 
stäubchen in seinem Fluge eine andere Linie beschrei- 
ben, als die es beschrieben hat, noch ein Mensch ir- 
gend anders handeln, als er gehandelt bat: und keine 
Wahrheit ist gewisser als die, dass Alles was geschieht, 
sei es klein oder gross, völlig notinvendig geschieht. 
Demzufolge ist, in jedem gegebenen Zeitpunkt, der 
gesammte Zustand aller Dinge fest und genau be- 
stimmt, durch den ihm soeben vorhergegangenen; 
und so den Zeltstrom aufwärts, ins Unendliche hin- 
auf, und so ihn abwärts, ins Unendliche herab. Folg- 
lich gleicht der Lauf der Welt dem einer Uhr, nach- 
dem sie zusammengesetzt und aufgezogen worden: 
also ist sie, von diesem unabstreitbaren Gesichtspunkt 
aus, eine blosse Maschine, deren Zweck man nicht 
absieht. Auch wenn man, ganz unbefugter Weise, ja, 
im Grunde, aller Denkbarkeit, mit ihrer Gesetzlich- 
keit, zum Trotz, einen ersten Anfang annehmen woll- 
te; so wäre dadurch im Wesentlichen nichts geän- 
dert. Denn der willkürlich gesetzte erste Zustand der 
4o6 
Dinge, bei ihrem Ursprung, hätte den ihm zunächst 
folgenden, im Grossen und bis auf das Kleinste herab, 
unwiderruflich bestimmt und festgestellt, dieser wie- 
der den folgenden, und so fort, per secula seculorum; 
da die Kette der Kausalität, mit ihrer ausnahmslosen 
Strenge, — dieses eherne Band der Nothwendigkeit 
imd des Schicksals, — jede Erscheinung unwiderruf- 
lich und vmabänderlich, so wie sie ist, herbeiführt. 
Der Unterschied liefe bloss darauf zurück, dass 
wir, bei der einen Annahme, ein ein Mal aufgezoge- 
nes ührv/erk, bei der andern aber ein perpetuum mo- 
bile vor uns hätten, hingegen die Nothwendigkeit des 
Verlaufs bliebe die selbe. Dass das Thun des Men- 
schen dabei keine Ausnahme machen kann, habe ich 
in der angezogenen Preisschrift unwiderleglich be- 
wiesen, indem ich zeigte, wie es aus zwei Faktoren, 
seinem Charakter und den eintretenden Motiven, je- 
desmal streng nothwendig hervorgeht: jener ist an- 
geboren und unveränderlich, diese werden, am Faden 
der Kausalität, durch den streng bestimmten Welt- 
lauf nothwendig herbeigeführt. 
Demnach also erscheint, von einem Gesichtspunkt 
aus, welchem wir uns, weil er durch die objektiv und 
a priori gültigen Weltgesetze festgestellt ist, schlech- 
terdings nicht entziehen können, die Welt, mit Allem 
was darin ist, als ein zweckloses und darum unbe- 
greifliches Spiel einer ewigen Nothwendigkeit, einer 
unergründlichen und unerbittlichen ^/va-fx/j. Das An- 
stössige, ja Empörende dieser unausweich baren und 
unwiderleglichen Weltansicht kann nun aber durch 
keine andere Annahme gründlich gehoben werden, 
als durch die, dass jedes Wesen auf der Welt, wie 
es einerseits Erscheinung und durch die Gesetze der 
Erscheinung nothwendig bestimmt ist, andererseits 
an sich selbst Wille sei, und zwar schlechthin freier 
Wille^ da alle Nothwendigkeit allein durch die For- 
men entsteht, welche gänzlich der Erscheinung an- 
gehören, nämlich durch den Satz vom Grunde in sei- 
nen verschiedenen Gestalten: einem solchen Willen 
muss dann aber auch Aseität zukommen, da er, als 
freier, d. h. als Ding an sich und deshalb dem Satz 
407 
vom Grunde nicht unterworfener, in seinem Seyn und 
Wesen so weni{>, wie in seinem Thun und Wirken, 
von einem Andern abhängen kann. Durch diese An- 
nahme allein wird so viel Freiheit gesetzt, als nöthig 
ist, der unabweisbaren strengen Nothwendigkeit, die 
den Verlauf der Welt beherrscht, das Gleichge- 
wicht zu halten. Demnach hat man eigentlich nur 
die Wahl, in der Welt entweder eine blosse, noth- 
wendig ablaufende Maschine zu sehen, oder als das 
Wesen an sich derselben einen freien Willen zu er- 
kennen, dessen Aeusserung nicht unmittelbar das 
Wirken, sondern zunächst das Daseyn und fVesen der 
Dinge ist. Diese Freiheit ist daher eine transscenden- 
tale, und besteht mit der empirischen Nothwendig- 
keit so zusammen, wie die transscendentale Idealität 
der Erscheinungen mit ihrer empirischen Realität. 
Dass allein unter Annahme derselben die That eines 
Menschen, trotz der Nothwendigkeit, mit der sie aus 
seinem Chaiakter und den Motiven hervorgeht, doch 
seine eigene ist, habe ich in der Preisschrift über die 
Willensfreiheit dargethan: eben damit aber ist seinem 
Wesen Jseität beigelegt. Das selbe Verhältniss nun 
gilt von allen Dingen der Welt. — Die strengste, red- 
lich, mit starrer Konsequenz durchgeführte Nothwen- 
digkeit und die vollkommenste, bis zur Allmacht ge- 
steigerte Freiheit mussten zugleich und zusammen in 
die Philosophie eintieten: ohne die Wahrheit zu ver- 
letzen konnte dies aber nur dadurch geschehen, dass 
die ganze Nothwendigkeit in das Wirken und Thnn 
(Operari), die ganze Freiheit hingegen in das Seyn 
und f Fesen (Esse) verlegt wurde. Dadurch löst sich 
ein Räthsel, welches nur deshalb so alt ist wie die 
Welt, weil man bisher es immer gerade umgekehrt 
gehalten hat und schlechterdings die Freiheit im Ope- 
rari, die Nothwendigkeit im Esse suchte. Ich hinge- 
gen sage: jedes Wesen, ohne Ausnahme, wirkt mit 
strenger Nothwendigkeit, dasselbe aber existirt und 
ist was es ist, vermöge seiner Freiheit. Bei mir ist also 
nicht mehr und nicht weniger Freiheit und Nothwen- 
digkeit anzutreffen, als in irgend einem früheren Sy- 
stem; obwohl bald das Eine, bald das Andere schei- 
4o8 
nen muss, je nachdem man daran, dass den bisher 
aus reiner Nothwendißkeit erklärten Naturvorjjängen 
Wille untergelegt wird, oder daran, dass der Motiva- 
tion die selbe strenge Nothwendigkeit, wie der mecha- 
nischen Kausalität, zuerkannt wird, Anstoss nimmt. 
Bloss ihre Stellen haben beide vertauscht: die Freiheit 
ist in das Esse versetzt und die Nothwendigkeit auf das 
Operari beschränkt worden. 
Kurzum, der Detertninismus steht fest: an ihm zu 
rütteln haben nun schon anderthalb Jahrtausende 
vergeblich sich bemüht, dazu getrieben durch gewisse 
Grillen, welche man wohl kennt, jedoch noch nicht 
so ganz bei ihrem Namen nennen darf. In Folge sei- 
ner aber wird die Welt zu einem Spiel mit Puppen, 
an Drähten (Motiven) gezogen; ohne dass auch nur 
abzusehen wäre, zu wessen Belustigung: hat das Stück 
einen Plan, so ist ein Fatum, hat es keinen, so ist die 
blinde Nothwendigkeit der Direktor. — x\us dieser 
Absurdität giebt es keine andere Rettung, als die Er- 
kenntniss, dass schon das Seyn und Wesen aller Dinge 
die Erscheinung eines wirklich freien Willens ist, 
der sich eben darin selbst erkennt: denn ihr Thini vnd 
Wirken ist vor der Nothwendigkeit nicht zu retten. 
Um die Freiheit vor dem Schicksal oder dem Zufall 
zu bergen, musste sie aus der Aktion in die Existenz 
versetzt werden. — 
Wie nun demnach die Nothwendigkeit nur der Er- 
scheinung, nicht aber dem Ding an sich, d. h. dem 
wahren Wesen der Welt zukommt; so auch die Viel- 
heit. Dies ist §. aS des ersten Bandes genügend darge- 
than. Bloss einige, diese Wahrheit bestätigende und er- 
läuternde Betrachtungen habe ich hier hinzuzufügen. 
Jeder erkennt nur ein Wesen ganz unmittelbar: 
seinen eigenen Willen im Selbstbewusstseyn. Alles 
Andere erkennt er bloss mittelbar, und beurtheilt es 
dann nach der Analogie mit jenem, die er, je nach- 
dem der Grad seines Nachdenkens ist, weiter durch- 
führt. Selbst Dieses entspringt im tiefsten Grunde dar- 
aus, dass es eigentlich auch nur ein Wesen giebt: die 
aus den Formen der äussern, objektiven Auffassung 
herrührende Illusion der Vielheit (Maja) konnte nicht 
4 «9 
bis in das innere, einfache Bewusstseyn dringen : da- 
her dieses immer nur Ein Wesen vorfindet. 
Betrachten wir die nie genug bewunderte Vollen- 
dung in den Werken der Natur, welche, selbst in den 
letzten und kleinsten Organismen, z. B. den Befruch- 
tungstheilen der PHanzen, oder dem innern Bau der 
Insekten, mit so unendlicher Sorgfalt, so unermüd- 
licher Arbeit durchgeführt ist, als ob das vorliegende 
Werk der Natur ihr einziges gewesen wäre, auf wel- 
ches sie daher alle ihre Kunst und Macht verwenden 
gekonnt; finden wir dasselbe dennoch unendlich oft 
wiederholt, in jedem einzelnen der zahllosen Indivi- 
<luen jeglicher Art, und nicht etwan weniger sorg- 
fältig vollendet in dem, dessen Wohnplatz der ein- 
samste, vernachlässigste Fleck ist, zu welchem bis da- 
hin noch kein Auge gedrungen war; verfolgen wir 
nun die Zusammensetzung der Theile jedes Organis- 
mus, so weit wir können, und stossen doch nie auf 
ein ganz Einfaches und daher Letztes, geschweige 
auf ein Unorganisches; verlieren wir uns endlich in 
die Berechnung der Zweckmässigkeit aller jener Thei- 
le desselben zum Bestände des Ganzen, vermöge deren 
jedes Lebende, an und für sich selbst, ein Vollkom- 
menes ist; erwägen wir dabei, dass jedes dieser Mei- 
sterwerke, selbst von kurzer Dauer, schon unzählige 
Male von Neuem hervorgebracht wurde, und den- 
noch jedes Exemplar seiner Art, jedes Insekt, jede 
Blume, jedes Blatt, noch eben so sorgfältig ausgearbei- 
tet erscheint, wie das erste dieser Art es gewesen ist, 
die Natur also keineswegs ermüdet und zu pfuschen 
anfängt, sondern, mit gleich geduldiger Meisterhand, 
das letzte wie das erste vollendet: dann werden wir 
zuvörderst inne, dass alle menschliche Kunst nicht 
bloss dem Grade, sondern der Art nach vom Schaffen 
derNatur völlig verschieden ist; nächstdem aber, dass 
die wirkende ürkraft, die natura naturans, in jedem 
ihrer zahllosen Werke, im kleinsten, wie im grössten, 
im letzten, wie im ersten, ganz und ungetheilt unmit- 
telbar gegenwärtig ist: woraus folgt, dass sie, als solche 
und an sich von Raum und Zeit nicht weiss. Beden- 
ken wir nun ferner, dass die Hervorbringung jener 
4 I o 
Hyberbeln aller Kunstgebilde dennoch der JNatur so 
fanz und {jar nichts kostet, dass sie, mit unbegreif- 
licher Verschwendung, Millionen Organismen schaflt, 
die nie zur Reife gelangen, und jedes Lebende tausend- 
fältigen Zufällen ohne Schonung Preis giebt, anderer- 
seits aber auch, wenn durch Zufall begünstigt, oder 
durch menschliche Absicht angeleitet, bereitwillig 
Millionen Exemplare einer Art liefert, wo sie bisher 
nur eins gab, folglich Millionen ihr nichts mehr kosten 
als Eines; so leitet auch Dieses uns auf die Einsicht 
hin, dass die Vielheit der Dinge ihre Wurzel in der 
Erkenntnissweise des Subjekts hat, dem Dinge an sich 
aber, d. h. der innern sich darin kund gebenden Ur- 
kraft, fremd ist; dass mithin Raum und Zeit, auf wel- 
chen die Möglichkeit aller Vielheit beruht, blosse 
Formen unserer Anschauung sind; ja, dass sogar jene 
ganz unbegreifliche Künstlichkeit der Struktur, zu 
welcher sich die rücksichtsloseste Verschwendung der 
Werke, worauf sie verwendet worden, gesellt, im 
Grunde auch nur aus der Art, wie wir die Dinge auf- 
fassen, entspringt; indem nämlich das einfache und 
untheilbare, ursprüngliche Streben des Willens, als 
Ding an sich, wann dasselbe, in unserer cerebralen 
Erkenntniss, sich als Objekt darstellt, erscheinen muss 
als eine künstliche Verkettung gesonderter Theile, zu 
Mitteln und Zwecken von einander, in überschwäng- 
licher Vollkommenheit durchgeführt. 
Die hier angedeutete, jenseit der Erscheinung lie- 
gende Einheit jenes Willens^ in welchem wir das We- 
sen an sich der Erscheinungswelt erkannt haben, ist 
eine metaphysische, mithin die Erkenntniss derselben 
transscendent, d. h. nicht auf den Funktionen unsers 
Intellekts beruhend und daher mit diesen nicht eigent- 
lich zu erfassen. Daher kommt es, dass sie einen Ab- 
grund der Betrachtung eröffnet, dessen Tiefe keine 
ganz klare und in durchgängigem Zusammenhang 
stehende Einsicht mehr gestattet, sondern nur ein- 
zelne Blicke vergönnt, welche dieselbe in diesem und 
jenem Verhältniss der Dinge, bald im Subjektiven, 
bald im Objektiven, erkennen lassen, wodurch jedoch 
wieder neue Probleme angeregt werden, welche alle 
4ii 
zu lösen ich mich nicht anheischig mache, vielmehr 
auch hier mich auf das est quadam prodire tenushe- 
rufe, mehr darauf bedacht, nichts Falsches oder will- 
kürlich Ersonnenes aufzustellen, als von Allem durch- 
gängige Rechenschaft zu geben; — auf die Gefahr hin, 
hier nur eine fragmentarische Darstellung zu liefern. 
Wenn man die so scharfsinnige, zuerst von Kant 
und später von Laplace aufgestellte Theorie der Ent- 
stehung des Planetensystems, an deren Richtigkeit zu 
zweifeln kaum möglich ist, sich vergegenwärtigt und 
sie deutlich durchdenkt; so sieht man die niedrigsten, 
rohesten, blindesten, an die starreste Gesetzlichkeit 
gebundenen Naturkräfte, mittelst ihres Konflikts an 
einer und derselben gegebenen Materie und der durch 
diesen herbeigeführten, accidentellen Folgen, das 
Grundgerüst der Welt, also des künftigen zweckmäs- 
sig eingerichteten Wohnplatzes zahlloser lebender We- 
sen, zu Stande bringen, als ein System der Ordnung 
und Harmonie, über welches wir um so mehr erstau- 
nen, je deutlicher und genauer wir es verstehen ler- 
nen. So z. B. wenn wir einsehen, dass jeder Planet, 
bei seiner gegenwärtigen Geschwindigkeit, gerade nur 
da, wo er wirklich seinen Ort hat, sich behaupten 
kann, indem er, der Sonne näher gerückt, hineinfal- 
len, weiter von ihr gestellt, hinwegfliegen müsste; 
wie auch umgekehrt, wenn wir seinen Ort als gege- 
ben nehmen, er nur bei seiner gegenwärtigen und 
keiner andern Geschwindigkeit daselbst bleiben kann, 
indem er, schneller laufend, davonfliegen, langsamer 
gehend, in die Sonne fallen müsste; dass also nur ein 
bestimmter Ort zu jeder bestimmten Velocität eines 
Planeten passte; und wir nun dieses Problem dadurch 
gelöst sehen, dass die selbe physische, nothwendig und 
blind wirkende Ursache, welche ihm seinen Ort an- 
wies, zugleich und eben dadurch ihm genau die die- 
sem Ort allein angemessene Geschwindigkeit ertheilte, 
in Folge des Naturgesetzes, dass ein kreisender Kör- 
per, in dem Verhältniss, wie sein Kreis kleiner wird, 
seine Geschwindigkeit vermehrt; und vollends, wenn 
wir endlich verstehen, wie dem ganzen System ein 
endloser Bestand gesichert ist, dadurch, dass alle die 
4 I 2 
unvermeidlich eintretenden, gegenseitigen Störungen 
des Laufes der Planeten mit der Zeit sich wieder aus- 
gleichen müssen ; wie denn gerade die Irrationalität der 
Umlaufszeiten Jupiters und Saturns zu einander ver- 
hindert, dass ihre gegenseitigen Perturbationen sich 
nicht auf einer Stelle wiederholen, als wodurch sie 
gefährlich werden würden, und herbeiführt, dass sie, 
immer an einer andern Stelle und selten eintretend, 
sich selbst wieder aufheben müssen, den Dissonanzen 
in der Musik zu vergleichen, die sich wieder in Har- 
monie auflösen. Wir erkennen mittelst solcher Be- 
trachtungen eine Zweckmässigkeit und Vollkommen- 
heit, wie die freieste Willkür, geleitet vom durch- 
dringendesten Verstände und der schärfsten Berech- 
nung, sie nur irgend hätte zu Stande bringen können. 
Und doch können wir, am Leitfaden jener so wohl 
durchdachten und so genau berechneten Laplace'schen 
Kosmogonie, uns der Einsicht nicht entziehen, dass 
völlig blinde Naturkräfte, nach unwandelbaren Na- 
turgesetzen wirkend, durch ihren Konflikt und in 
ihrem absichtslosen Spiel gegen einander, nichts An- 
deres hervorbringen konnten, als eben dieses Grund- 
gerüst der Welt, welches dem Werk einer hyperbo- 
lisch gesteigerten Kombination gleich kommt. Statt 
nun, nach Weise des Anaxagoras, das uns bloss aus 
der animalischen Natur bekannte und auf ihre Zwecke 
allein berechnete Hülfsmittel einer Intelligenz herbei 
zu ziehen, welche von aussen hinzukommend, die ein 
Mal vorhandenen und gegebenen Naturkräfte und 
deren Gesetze schlau benutzt hätte, um ihre, diesen 
eigentlich fremden Zwecke durchzusetzen, — erken- 
nen wir, in jenen untersten Naturkräften selbst, schon 
jenen selben und Einen Willen, welcher eben an ihnen 
seine erste Aeusserung hat und, bereits in dieser sei- 
nem Ziel entgegenstrebend, durch ihre ursprünglichen 
Gesetze selbst, auf seinen Endzweck hinarbeitet, wel- 
chem daher Alles, was nach blinden Naturgesetzen 
geschieht, nothwendig dienen und entsprechen muss; 
wie dieses denn auch nicht anders ausfallen kann, so- 
fern alles Materielle nichts Anderes ist, als eben die 
Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität, des Wil- 
4i3 
lens zum Leben, welcher Einer ist. Also schon die 
untersten Naturkräfte selbst sind von jenem selben 
Willen beseelt, der sich nachher in den mit Intelli- 
genz aus(jeslatteten, individuellen Wesen, über sein 
eigenes Werk verwundert, wie der Nachtwandler am 
Morgen über Das, was er im Schlafe vollbracht hat; 
oder richtiger, der über seine eigene Gestalt, die er 
im Spiegel erblickt, erstaunt. Diese hier nachgewie- 
sene Einheit des Zufalligen mit dem Absichtlichen, 
des Nothwendigen mit dem Freien, vermöge deren 
die blindesten, aber auf allgemeinen Naturgesetzen 
beruhenden Zufälle gleichsam die Tasten sind, auf 
denen der Weltgeist seine sinnvollen Melodien abspielt, 
ist, wie gesagt, ein Abgrund der Betrachtung, in wel- 
chen auch die Philosophie kein volles Licht, sondern 
nur einen Schimmer werfen kann. 
Nunmehr aber wende ich mich zu einer subjektiveiiy 
hieher gehöri{fen Betrachtung, welcher ich jedoch 
noch weniger Deutlichkeit, als der eben dargelegten 
objektiven, zu geben vermag; indem ich sie nur durch 
Bild und Gleichniss werde ausdrücken können. — 
Warum ist unser Bewusstseyn heller und deutlicher, 
je weiter es nach Aussen gelangt, wie denn seine 
grösste Klarheit in der sinnlichen Anschauung liegt, 
welche schon zur Hälfte den Dingen ausser uns an- 
gehört, — wird hingegen dunkler nach Innen zu, 
und führt, in sein Innerstes verfolgt, in eine Finster- 
niss, in der alle Erkenntniss aufhört? — Weil, sage 
ich, Bewusstseyn Individualität voraussetzt, diese aber 
schon der blossen Erscheinung angehört, indem sie 
als Vielheit des Gleichartigen, durch die Formen der 
Erscheinung Zeit und Raum, bedingt ist. Unser In- 
neres hingegen hat seine Wurzel in Dem, was nicht 
mehr Erscheinung, sondern Ding an sich ist, wohin 
daher die Formen der Erscheinung nicht reichen, 
wodurch dann die Hauj)tbedingungen der Individu- 
alität mangeln und mit dieser das deutliche Bewusst- 
seyn wegfällt. In diesem Wurzelpunkt des Daseyns 
nämlich hört die Verschiedenheit der Wesen so auf, 
wie die der Radien einer Kugel im Mittelpunkt: und 
wie an dieser die Oberfläche dadurch entsteht, dass 
4.4 
die Radien enden und abbrechen ; so ist das Bewusst- 
seyn nur da mö{;lich, wo das Wesen an sich in die 
Erscheinung ausläuft; durch deren Formen die ge- 
schiedene Individuahtät möghch wird, auf der das 
Bewusstseyn beruht, welches eben deshalb auf Er- 
scheinungen beschränkt ist. Daher liegt alles Deut- 
liche und recht Begreifliche unsers Bewusstseyns 
stets nur nach Aussen auf dieser Oberfläche der Kugel. 
Sobald wir hingegen uns von dieser ganz zurückzie- 
hen, verlässt uns dass Bewusstseyn, — im Schlaf, im 
Tode, gewissermaassen auch im magnetischen oder 
magischen Wirken : denn diese alle führen durch das 
Centrum. Eben aber weil das deutliche Bewusstseyn, 
als durch die Oberfläche der Kugel bedingt, nicht nach 
dem Centro hingerichtet ist, erkennt es die andern 
Individuen wohl als gleichartig, nicht aber als iden- 
tisch, was sie an sich doch sind. Unsterblichkeit des 
Individui liesse sich dem Fortfliegen eines Punktes 
der Oberfläche in der Tangente vergleichen; Unsterb- 
lichkeit, vermöge der Ewigkeit des Wesens an sich 
der ganzen Erscheinung aber, der Rückkehr jenes 
Punktes, auf dem Radius, zum Centro, dessen blosse 
Ausdehnung die Oberfläche ist. Der Wille als Ding 
an sich ist ganz und ungetheilt in jedem Wesen, wie 
das Centrum ein integrirender Theil eines jeden Ra- 
dius ist: während das peripherische Ende dieses Ra- 
dius mit der Oberfläche, welche die Zeit und ihren 
Inhalt vorstellt, im schnellsten Umschwünge ist, bleibt 
das andere Ende, am Centro, als wo die Ewigkeit liegt, 
in tiefster Ruhe, weil das Centrum der Punkt ist, 
dessen steigende Hälfte von der sinkenden nicht ver- 
schieden ist. Daher heisst es auch im Bhagavad Gita: 
Haud distributum animantibus, et quasi distributum 
tamen insidens, animantiumque sustentaculum id cog- 
noscendum, edax et rursus genitale (lect. i3, i6. vers. 
Schlegel). — Freilich gerathen wir hier in eine my- 
stische Bildersprache: aber sie ist die einzige, in der 
sich über dieses völlig transscendente Thema noch ir- 
gend etwas sagen lässt. So mag denn auch noch die- 
ses Gleichniss mit hingehen, dass man sich das Men- 
schengeschlecht bildlich als ein animal compositum 
4i5 
vorstellen kann, eine Lebensform, von welcher viele 
Polypen, besonders die schwimmenden, wieVeretilluin, 
Fiiniculina und andere Beispiele darbieten. Wie bei 
diesen der Kopftheil jedes einzelne Thier isolirt, der 
untere Theil hin^jegen, mit dem gemeinschaftlichen 
Magen, sie alle zur Einheit eines Lebensprocesses ver- 
bindet; so isolirt das Gehirn mit seinem Bewusstseyn 
die menschlichen Individuen: hingegen der unbe- 
wusste Theil, das vegetative Leben, mit seinem Gang- 
liensystem, darin im Schlaf das Gehirnbewusstseyn, 
gleich einem Lotus, der sich nächtlich in die Fluth 
versenkt, untergeht, ist ein gemeinsames Leben Aller, 
mittelst dessen sie sogar ausnahmsweise kommunizi- 
ren können, welches z. B. Statt hat, wann Träume 
sich unmittelbar mittheilen, die Gedanken des Mag- 
netiseurs in die »Somnambule übergehen, endlich auch 
in der vom absichtlichen Wollen ausgehenden mag- 
netischen, oder überhaupt magischen Einwirkung. 
Eine solche nämlich, wenn sie Statt findet, ist von 
jeder andern, durch den inHuxus physicus geschehen- 
den, toto genere verschieden, indem sie eine eigent- 
liche actio in distans ist, welche der zwar vom Ein- 
zelnen ausgehende Wille dennoch in seiner metaphy- 
sischen Eigenschaft, als das allgegenwärtige Substrat 
der ganzen Natur, vollbringt. Auch könnte man sa- 
gen, dass, wie von seiner ursprünglichen Schöpfer- 
kraft., welche in den vorhandenen Gestalten der Na- 
tur bereits ihr Werk gethan hat und darin erloschen 
ist, dennoch bisweilen und ausnahmsweise ein schwa- 
cher Ueberrest in der generatio aequivoca hervortritt; 
eben so, von seiner ursprünglichen Allmacht, welche 
in der Darstellung und Erhaltung der Organismen 
ihr Werk vollbringt und darin aufgeht, doch noch 
gleichsam ein Ueberschuss, in solchem magischen 
Wirken, ausnahmsweise thätig werden kann. Im 
„Willen in der Natur" habe ich von dieser magischen 
Eigenschaft des Willens ausführlich geredet, und ver- 
lasse hier gern Betrachtungen, welche sich auf unge- 
wisse Thatsachen, die man dennoch nicht ganz igno- 
riren oder ableugnen darf, zu berufen haben. 
416 
KAPITEL 2 6'). 
ZUR TELEOLOGIE. 
DTE durchgängige, auf den Bestand jedes Wesens 
sich beziehende Zweckmässigkeit der organischen 
Natur, nebst der Angemessenheit dieser zur unorga- 
nischen, kann bei keinem philosophischen System 
ungezwungener in den Zusammenhang desselben tre- 
ten, als bei dem, welches dem Daseyn jedes Natur- 
wesens einen JVillen zu Grunde legt, der demnach 
sein Wesen und Streben nicht bloss erst in den Ak- 
tionen, sondern auch schon in der Gestalt des erschei- 
nenden Organismus ausspricht. Auf die Rechenschaft, 
welche unser Gedankengang über diesen Gegenstand 
an die Hand giebt, habe ich im vorhergegangenen 
Kapitel nur hingedeutet, nachdem ich dieselbe schon 
in der unten bezeichneten Stelle des ersten Bandes, 
besonders deutlich und ausführlich aber im „Willen 
in der Natur" unter der Rubrik: „Vergleichende Ana- 
tomie" dargelegt hatte. Daran schliessen sich jetzt 
noch die folgenden Erörterungen. 
Die staunende Bewunderung, welche uns bei der 
Betrachtung der unendlichen Zweckmässigkeit in dem 
Bau der organischen Wesen zu ergreifen pflegt, be- 
ruht im Grunde auf der zwar natürlichen, aber den- 
noch falschen Voraussetzung, dass jene Uehereinstim- 
niung der Theile zu einander, zum Ganzen des Or- 
ganismus und zu seinen Zwecken in der Aussenwelt, 
wie wir dieselbe mittelst der Erkenntniss, also auf 
dem Wege der Forstellung auffassen und beurtheilen, 
auch auf demselben Wege hineingekommen sei ; dass 
also, wie sie für den Intellekt existirt, sie auch durch 
den Intellekt zu Stande gekommen wäre. Wir freilich 
können etwas Regelmässiges und Gesetzmässiges, der- 
gleichen z. B. jeder Krystall ist, nur zu Stande brin- 
gen unter Leitung des Gesetzes und der Regel, und 
eben so etwas Zweckmässiges nur unter Leitung 
*) Dieses, wie auch das folgende Kapitel bezieht sich auf §. 38 
des ersten Bandes. [S. 188 d. A.] 
27 Schopenhauer II 4' 7 
des Zvveckbegriffs : aber keineswegs sind \vir berech- 
tigt, diese unsere Beschrankung auf die Natur zu 
übertragen, als vvelclie selbst ein Prius alles Intellekts 
ist und deren Wirken von dem unserigen, wie im 
vorigen Kapitel gesagt wurde, sich der ganzen Art 
nach unterscheidet. Sie bringt das so zweckmässig 
und so überlegt Scheinende zu Stande, ohne Ileber- 
legung und ohne Zweckbegriff, weil ohne Vorstellung, 
als welche ganz sekundären Ursprungs ist. Betrachten 
wir zunächst das bloss Regelmässige, noch nicht 
Zweckmässige. Die sechs gleichen und in gleichen 
Winkeln auseinandergehenden Radien einer Schnee- 
flocke sind von keiner Erkenntnis vorgemessen; son- 
dern es ist das einfache Streben des ursprünglichen 
Willens, welches sich für die Erkenntniss, wann sie 
hinzutritt, so darstellt. Wie nun hier der Wille die 
regelmässige Figur zu Stande bringt ohne Mathema- 
tik, so auch die organische und höchst zweckmässig 
organisirte ohne Physiologie. Die regelmässige Form 
im Räume ist nur da für die Anschauung, deren An- 
schauungsform der Raum ist; so ist die Zweckmässig- 
keit des Organismus bloss da für die erkennende Ver- 
nunft, deren Ueberlegung an die Begriffe von Zweck 
und Mittel gebunden ist. Wenn eine unmittelbare 
Einsicht in das Wirken der Natur für uns möglich 
würde; so müssten wir erkennen, dass das oben er- 
wähnte teleologische Erstaunen demjenigen analog 
ist, welches jener, von Kaiü bei Erklärung des Lä- 
cherlichen erwähnte, Wilde empfand, als er aus einer 
eben geöffneten Bierflasche den Schaum unaufhalt- 
sam hervorsprudeln sah und dabei äusserte, nicht 
über das Herauskonunen wundere er sich, sondern 
darüber, wie man es nur habe hineinbringen können: 
denn auch wir setzen voraus, die Zweckmässigkeit 
der Naturprodukte sei auf eben dem Wege hineinge- 
kommen, auf welchem sie für uns herauskommt. 
Daher kann unser teleologisches Erstaunen gleich- 
falls dem verglichen werden, welches die ersten 
Werke der Buchdruckerkunst bei Denen erregten, 
welche sie unter der Voraussetzung, dass sie Werke 
der Feder seien, betrachteten und demnach zur Er- 
4is 
klärung derselben die Annahme der Hülfe eines Teu- 
fels ergriffen. — Denn, es sei hier nochmals gesagt, 
unser Intellekt ist es, welcher, indem er den an sich 
metaphysischen und untheilbaren Willensakt, der sich 
in der Erscheinung eines Thieres darstellt, mittelst 
seiner eigenen Formen, Raum, Zeit und Kausalität, 
als Objekt auffasst, die Vielheit und Verschiedenheit 
der Theile und ihrer Funktionen erst hervorbringt 
und dann über die aus der ursprünglichen Einheit 
hervorgehende vollkommene Uebereinstimmung und 
Konspiration derselben in Erstaunen geräth; wobei 
er also, in gewissem Sinn, sein eigenes Werk be- 
wundert. 
Wenn wir uns der Betrachtung des so unaussprech- 
lich und endlos künstlichen Baues irgend eines Thie- 
res, wäre es auch nur das gemeinste Insekt, hingeben, 
uns in Bewunderung desselben versenkend, jetzt aber 
uns einfällt, dass die Natur eben diesen, so überaus 
künstlichen und so höchst komplicirten Organismus 
täglich zu Tausenden der Zerstörung, durch Zufall, 
thierische Gier und menschlichen Muthvvillen rück- 
sichtslos Preis giebt; so setzt diese rasende Verschwen- 
dung uns in Erstaunen. Allein dasselbe beruht auf 
einer Amphibolie der Begriffe, indem wir dabei das 
menschliche Kunstwerk im Sinne haben, welches 
unter Vermittelung des Intellekts und durch Ueber- 
wältigung eines fremden, widerstrebenden Stoffes zu 
Stande gebracht wird, folglich allerdings viel Mühe 
kostet. Der Natur hingegen kosten ihre Werke, so 
künstlich sie auch sind, gar keine Mühe; weil hier 
der Wille zum W^erke schon selbst das Werk ist; in- 
dem, wie schon gesagt, der Organismus bloss die im 
Gehirn zu Stande kommende Sichtbarkeit des hier 
vorhandenen Willens ist. 
Der ausgesprochenen Beschaffenheit organischer 
W'esen zufolge ist die Teleologie, als Voraussetzung 
der Zweckmässigkeit jedes Theils, ein vollkommen 
sicherer Leitfaden bei Betrachtung der gesammten 
organischen Natur; hingegen in metaphysischer Ab- 
sicht, zur Erklärung der Natur über die Möglichkeit 
der Erfahrung hinaus, darf sie nur sekundär und sub- 
27* 419 
sidiarisch zur Bestätig^mg anderweitig begründeter 
Erklärungsprincipien geltend gemacht werden: denn 
hier gehört sie zu den Problemen, davon Rechen- 
schaft zu geben ist. — Demnach, wenn an einem 
Thiere ein Theil gefunden wird, von dem man kei- 
nen Zweck absieht; so darf man nie die Vermuthung 
wagen, die Natur habe ihn zwecklos, etwan spielend 
und aus blosser Laune hervorgebracht. Allenfalls 
zwar Hesse sich so etwas als möglich denken, unter 
der Anaxagorischen Voraussetzung, dass die Natur 
mittelst eines ordnenden Verstandes, der als solcher 
einer fremden Willkür diente, ihre Einrichtung er- 
halten hätte; nicht aber unter der, dass das Wesen 
an sich (d. h. ausser unserer Vorstellung) eines jeden 
Organismus ganz allein sein eigener Wille sei: denn 
da ist das Daseyn jedes Theiles dadurch bedingt, dass 
es dem hier zum Grunde liegenden Willen zu irgend 
etwas diene, irgend eine Bestrebung desselben aus- 
drücke und verwirkliche, folglich zur Erhaltung die- 
ses Organismus irgendwie beitrage. Denn ausser dem 
in i/mi erscheinenden Willen und den Bedingungen der 
Aussenwelt, unter welchen dieser zu leben freiwillig 
unternommen hat, auf den Konflikt mit welchen da- 
her schon seine ganze Gestalt und Einrichtung ab- 
zielt, kann nichts auf ihn Einfluss gehabt und seine 
Form und Theile bestimmt haben, also keine Will- 
kür, keine Grille. Deshalb muss Alles an ihm zweck- 
mässig seyn : daher sind die Eiidursachen (causae fi- 
nales) der Leitfaden zum Verständniss der organi- 
schen Natur, wie die wirkenden Ursachen (causae ef- 
flcientes) zu dem der unorganischen. Hierauf beruht 
es, dass, wenn wir, in der Anatomie oder Zoologie, 
den Zweck eines vorhandenen Theiles nicht finden 
können, unser Verstand daran einen Anstoss nimmt, 
der dem ähnlich ist, welchen in der Physik eine Wir- 
kung, deren Ursache verborgen bleibt, geben muss: 
und wie diese, so setzen wir auch jenen als nothwen- 
dig voraus, fahren daher fort, ihn zu suchen, so oft 
dies auch schon vergeblich geschehen seyn mag. Dies 
ist z, B. der Fall mit der Milz, über deren Zweck 
man nicht aufhört, Hypothesen zu ersinnen, bis ein- 
420 
mal eine sich als richtig bewährt haben wird. Eben 
so steht es mit den grossen, spiralförmigen Zähnen 
des Babirussa, mit den hornförmigen Auswüchsen 
einiger Rauben und mehr dergleichen. Auch negative 
Falle werden von uns nach derselben Regel beur- 
teilt, z. B. dass in einer im Ganzen so gleichförmigen 
Ordnung, wie die der Saurier, ein so wichtiger Theil, 
wie die Urinblase, bei vielen Species vorhanden ist, 
während er den andern fehlt; imgleichen, dass die 
Delphine und einige ihnen verwandte Cetaceen ganz 
ohne Geruchsnerven sind, während die übrigen Ce- 
taceen und sogar die Fische solche haben: ein dies 
bestimmender Grund muss daseyn. 
Einzelne wirkliche Ausnahmen zu diesem durch- 
gängigen Gesetze der Zweckmässigkeit in der organi- 
schen Natur hat man allerdings und mit grossem Er- 
staunen aufgefunden: jedoch findet bei ihnen, weil 
sich anderweitig Rechenschaft darüber geben lässt, 
dass exceptio firmat regulam Anwendung. Dahin 
nämlich gehört, dass die Kaulquappen der Kröte Pipa 
Schwänze und Kiemen haben, obschon sie nicht, wie 
alle andern Kaulquappen, schwimmend, sondern auf 
dem Rücken der Mutter ihre Metamorphose abwarten; 
— dass das männliche Kanguru einen Ansatz zu dem 
Knochen hat, welcher beim weiblichen den Beutel 
trägt; — dass auch die männlichen Säugethiere Zit- 
zen haben; — dass Mus typhlus, eine Ratte, Augen 
hat, wiewohl winzig kleine, ohne eine Oeffnung für 
dieselben in der äussern Haut, welche also, mit Haa- 
ren bedeckt, darüber geht, und dass der Maulwurf 
der A peninnen, wie auch zwei Fische, Murena cae- 
( ilia und Gastrobranchus caecus, sich im selben Falle 
befinden ; desgleichen der Proteus anguinus. Diese 
seltenen und überraschenden Ausnahmen von der 
sonst so festen Regel der Natur, diese Widersprüche, 
darin sie mit sich selbst geräth, müssen wir uns er- 
klären aus dem innern Zusammenhange, welchen 
ihre verschiedenartigen Erscheinungen, vermöge der 
Einheit des in ihnen Erscheinenden, unter einander 
haben, und in Folge dessen sie bei der Einen etwas 
andeuten muss, bloss weil eine Andere, mit derselben 
/[2 i 
zusammenhängende, es wirklich hat. Demnach hat 
das männhche Thier das Rudiment eines Organs, 
welches hei dem weihlichen wirklich vorhanden ist. 
Wie nun hier die Differenz der Geschlechter den Ty- 
pus der Species nicht aufhehen kann; so behauptet 
sich auch der Typus einer ganzen Ordnung, z. B. der 
Batrachier, seihst da, wo in einer einzelnen Species 
(Pij)a) eine seiner Bestimmungen üherflüssig wird. 
Noch weniger vermag die Natur eine Bestimmung, 
die zum Typus einer ganzen Grundahtheihing ( Verte- 
brata) gehört, (Augen), wenn sie in einer einzelnen 
Species (Mus typhlus) als überflüssig wegfallen soll, 
ganz spurlos verschwinden zu lassen; sondern sie 
muss auch hier wenigstens rudimentarisch andeuten, 
was sie bei allen übrigen ausführt. 
Sogar ist von hier aus in gewissem Grade abzuse- 
hen, worauf jene, besonders von R. Owen in seiner 
Osteologie comparee so ausführlich dargelegte Ho- 
mologie im Skelett, zunächst der Mammalien und im 
weitern Sinn aller Wirbelthiere, beruht, vermöge 
welcher z. B. alle Säugethiere sieben Halswirbel ha- 
ben, jeder Knochen der menschlichen Hand und Arm 
sein Analogon in der Schwimmflosse des Walllisches 
findet, der Schädel des Vogels im Ei gerade so viel 
Knochen hat, wie der des menschlichen Fötus usw. 
Dies alles nämlich deutet auf ein von der Teleologie 
unabhängiges Princip, welches jedoch das Fundament 
ist, auf welchem sie baut, oder der zum Voraus ge- 
gebene Stoff zu ihren Werken, und eben Das, was 
GeoftVoy Saint-Hilairealsdas „anatomische Element" 
dargelegt hat. Es ist die unitede plan, der Ur-Grund- 
Typus der obern Thiervvelt, gleichsam die willkür- 
lich gewählte Tonart, aus welcher die Natur hier 
spielt. 
Den Unterschied zwischen der wirkenden Ursache 
(causa efficiens) und der Endursache (causa finalis) 
hat schon Aristoteles (De part, anim., I, i) richtig be- 
zeichnet in den Worten: Z^oo Tpo-oi tr^; a'.tia?, to oo 
evexa xai to e; avayxTjs, zoit osi Xe^ovra? xoYj^avsiv aa/aora 
(xev ajxcpoiv. (Duo sunt causae modi: alter cujus gratia, 
et alter e necessitate; ac potissimum utrumque eruere 
422 
oportet.) Die ivirkende Ursache ist die, wodurch etwas 
ist, die Endursache die, weshalb es ist: die zu erklä- 
rende Erscheinung^ hat, in der Zeit, jene hinter sich, 
diese vor sich. Bloss hei den willkürlichen Handlungen 
thierischer Wesen fallen beide unmittelbar zusammen, 
indem hier die Endursache, der Zweck, als Motiv aut- 
tritt: ein solches aber ist stets die wahre und eigent- 
liche Ursache der Handlung, ist ganz und gar die sie 
bewirkende Ursache, die ihr vorhergängige Verände- 
rung, welche dieselbe hervorruft, vermöge derer sie 
nothivendig eintritt und ohne die sie nicht geschehen 
könnte, wie ich dies in der Preisschrift über die Frei- 
heit bewiesen habe. Denn, was man auch zwischen 
den Willensakt und die Körperbewegung physiolo- 
gisch einschieben möchte, immer bleibt hier einge- 
ständlich der JVille das Bewegende, und was ihn be- 
wegt, ist das von aussen kommende Motiv, also die 
causa finalis; welche folglich hier als causa efficiens 
auftritt. Ueberdies wissen wir aus dem Vorhergegan- 
genen, dass im Grunde die Körperbewegung mit dem 
Willensakt Eins ist, als seine blosse Erscheinung in 
der cerebralen Anschauung. Dies Zusammenfallen 
der causa finalis mit der wirkenden Ursache, in der 
einzigen uns intim bekannten Erscheinung, welche 
deshalb durchgängig unser Urphänomen bleibt, ist 
wohl festzuhalten: denn es führt uns gerade darauf 
hin, dass wenigstens in der organischen Natur deren 
Kenntnis durchaus die Endursachen zum Leitfaden 
hat, ein Wille das Gestaltende ist. In der That können 
wir eine Endursache uns nicht anders deutlich den- 
ken, denn als einen beabsichtigten Zweck, d. i. ein 
Motiv. Ja, wenn wir die Endursachen in der Natur 
genau betrachten, so müssen wir, um ihr transscen- 
dentes Wesen auszudrücken, einen Widerspruch 
nicht scheuen, und kühn heraussagen: die Endursa- 
che ist ein Motiv, welches auf ein Wesen wirkt, von 
welchem es nicht erkannt wird. Denn allerdings sind 
die Termitennester das Motiv, welches den zahnlosen 
Kiefer des Ameisenbären, nebst der langen, faden- 
förmigen und klebrigen Zunge hervorgerufen hat: 
die harte Eierschaale, welche das Vögelein gefangen 
423 
hält, ist allerdings das Motiv zu der hornartigen Spit- 
ze, mit welcher sein Schnabel versehen ist, um jene 
damit zu durchbrechen, wonach es sie als ferner 
nutzlos abwirft. Und eben so sind die Gesetze der 
Reflexion und Refraktion des Lichts das Motiv zu 
dem so überkünstlich komplicirten optischen Werk- 
zeug, dem menschlichen Auge, als welches die Durch- 
sichtigkeit seiner Hornhaut, die verschiedene Dichtig- 
keit seiner drei Feuchtigkeiten, die Gestalt seiner 
Linse, die Schwärze seiner Chorioidea, die Sensibili- 
tät seiner Retina, die Verengerungsfähigkeit seiner 
Pupille und seine Muskulatur genau nach jenen Ge- 
setzen berechnet hat. Aber jene Motive wirkten schon, 
ehe sie wahrgenommen wurden: es ist nicht anders, 
so widersprechend es auch klingt. Denn hier ist der 
Uebergang des Physischen ins Metaphysische. Dieses 
aber haben wir im fVillen erkannt: daher müssen wir 
einsehen, dass der selbe Wille, welcher den Elephan- 
tenrüssel nach einem Gegenstande ausstreckt, es auch 
ist, der ihn hervorgetrieben und gestaltet hat, die Ge- 
genstände anticipirend. — 
Hiemit ist es übereinstimmend, dass wir, bei der 
Untersuchung der oi-ganischen Natur, ganz und gar 
auf die Endui^sachen verwiesen sind, überall diese su- 
chen und Alles aus ihnen erklären; die tuirkenden Ur- 
sachen hingegen hier nur noch eine ganz untergeord- 
nete Stelle, als blosse Werkzeuge jener einnehmen 
und, eben wie bei der eingestand lieh von äussern Mo- 
tiven bewirkten willkürlichen Bewegungen der Glie- 
der, mehr vorausgesetzt, als nachgewiesen werden. 
Bei Erklärung der physiologischen Funktionen sehen 
wir uns noch allenfalls nach ihnen, wiewohl meistens 
vergeblich, um; bei der Erklärung der Entstehung der 
Theile aber schon gar nicht mehr, sondern begnügen 
uns mit den Endursachen allein: höchstens haben 
wir hier noch so einen allgemeinen Grundsatz, etwan 
wie dass je grösser der Theil ausfallen soll, desto stär- 
ker auch die ihm Blut zuführende Arterie sein muss; 
aber von den eigentlich wirkenden Ursachen, welche 
z. B. das Auge, das Ohr, das Gehirn zu Stande brin- 
gen, wissen wir gar nichts. Ja, selbst bei der Erklä- 
rung der blossen Funktionen ist die Endursache bei 
Weitem wichtiger und mehr zur Sache, als die wir- 
kende: daher wenn jene allein bekannt ist, wir in der 
Hauptsache belehrt und befriedigt sind, hingegen die 
wirkende allein uns wenig hilft. Z. B. wenn wir die 
wirkende Ursache des Blutumlaufs wirklich kennten, 
wie wir sie eigentlich nicht kennen, sondern noch su- 
chen; so würde dies uns wenig fördern, ohne die JE'n</- 
ursache, dass nämlich das Blut in die Lunge gehen 
muss, zur Oxydation, und wieder zurückfliessen, zur 
Ernährung: durch diese hingegen, auch ohne jene, 
ist uns ein grosses Licht aufgesteckt, üebrigens bin 
ich, wie oben gesagt, der Meinung, dass der Blutum- 
lauf gar keine eigentlich wirkende Ursach hat, son- 
dern der Wille hier so unmittelbar, wie in der Mus- 
kularbewegung, wo ihn, mittelst der Nervenleitung, 
Motive bestimmen, thätig ist, so dass auch hier die 
Bewegung unmittelbar durch die Endursache hervor- 
gerufen werde, also durch das Bedürfniss der Oxyda- 
tion in der Lunge, welches hier auf das Blut gewis- 
sermaassen als Motiv wirkt, jedoch so, dass die Ver- 
mittelung der Erkenntniss dabei wegfällt, weil Alles 
im Innern des Organismus vorgeht. — Die sogenann- 
te Metamorphose der Pflanzen, ein von Kaspar fVolf 
leicht hingeworfener Gedanke, den, unter dieser hy- 
pei'bolischen Benennung, Goethe als eigenes Erzeug- 
niss pomphaft und in schwierigem Vortrage darstellt, 
gehört zu den Erklärungen des Organischen aus der 
wirkenden Ursache; wiewohl er im Grunde bloss be- 
sagt, dass die Natur nicht bei jedem Erzeugnisse von 
A'orne anfängt und aus nichts schafft, sondern, gleich- 
sam im selben Stile fortschreibend, an das Vorhan- 
dene anknüpft, die früheren Gestaltungen benutzt, 
entwickelt und höher potenzirt, ihr Werk weiter zu 
führen; wie sie es ebenso in der Steigerung derThier- 
reihe gehalten hat, ganz nach der Regel: natura non 
facit saltus, et quod commodissimum in omnibus suis 
operationibus sequitur (Arist. de incessu animalium, 
c. 2 et 8). Ja, die Blüthe dadurch erklären, dass man 
in allen ihren Theilen die Form des Blattes nachweist, 
kommt mir fast vor, wie die Struktur eines Hauses 
dadurch erklären, dass man zeigt, alle seine Theile, 
Stockwerke, Erker und Dachkaininern, seien nur aus 
Backsteinen zusammengesetzt und blosse Wiederho- 
lung der Ureinheit des Backsteins. Und nicht viel 
besser, jedoch viel problematischer, scheint mir 
die Erklärung des Schädels aus Wirbelbeinen; wie- 
wohl es eben auch hier sich von selbst versteht, 
dass das Futteral des Gehirns dem Futteral des 
Rückenmarks, dessen Fortsetzung und Ende-Knauf 
es ist, nicht absolut heterogen und ganz disparat, 
vielmehr in derselben Art fortgeführt seyn wird. 
Diese ganze Betrachtungsart gehört der oben erwähn- 
ten Homologie R. Owen's an. — Dagegen scheint 
mir folgende, von einem Italiäner, dessen Name mir 
entfallen ist, herrührende Erklärung des W^esens der 
Blume aus ihrer Endursache einen viel befriedigen- 
deren Aufschluss zu geben. Der Zweck der Corolla 
ist: i) Schutz des Pistills und der stamina; 2) werden 
mittelst ihrer die verfeinerten Säfte bereitet, welche im 
poUen imd germen koncentrirt sind; 3) sondert sich 
avis den Drüsen ihres Bodens das ätherische Oel ab, 
welches, als meistens wohlriechender Dunst, Anthe- 
ren und Pistill umgebend, sie vor dem Einfluss der 
feuchten Luft einigermaassen schützt. — Zu den Vor- 
zügen der Endursachen gehört auch, dass jede wir- 
kende Ursache zuletzt immer auf einem Unerforsch- 
lichen, nämlich einer Naturkraft, d. i. einer qualitas 
occulta, beruht, daher sie nur eine relative Erklärung 
geben kann; während die Endursache, in ihrem Be- 
reich, eine genügende und vollständige Erklärung 
liefert. Ganz zufrieden gestellt sind wir freilich erst 
dann, wann wir beide, die wirkende Ursache, vom 
Aristoteles auch t^ aiTia e? ava^xr)? genannt, und die 
Endursache, rj X'^P''' "^^^ ßeXxiovo;, zugleich und doch 
gesondert erkennen, als wo uns ihr Zusammentreffen, 
die wundersame Konspiration derselben, überrascht, 
vermöge welcher das Beste als ein ganz Nothwendi- 
ges eintritt, und das Nothwendige wieder, als ob es 
bloss das Beste und nicht noth wendig wäre: denn da 
entsteht in uns die Ahndung, dass beide Ursachen, 
so verschieden auch ihr Ursprung sei, doch in der 
426 
Wurzel, dem Wesen der Dinge an sich, zusammen- 
hängen. Eine solche zwiefache Erkenntniss ist jedoch 
selten erreichbar: in der organischen Natur, weil die 
wirkende Ursache uns selten bekannt ist; in der un- 
organischen, weil die. Endursache problematisch bleibt. 
Inzwischen will ich dieselbe durch ein Paar Beispiele, 
so gut ich sie im Bereich meiner physiologischen 
Kenntnisse finde, erläutern, welchen die Physiologen 
deutlichere und schlagendere substituiren mögen. Die 
Laus des Negers ist schwarz. Endursache: zu ihrer 
Sicherheit. Bewirkende Ursache: weil das schwarze 
rete Malpighi des Negers ihre Nahrung ist. — Die so 
höchst mannigfaltige und brennend lebhafte Färbung 
des Gefieders tropischer Vögel erklärt man, wiewohl 
nur sehr im Allgemeinen, aus der starken Einwir- 
kung des Lichtes zwischen den Wendekreisen, — als 
ihrer wirkenden Ursache. Als Endursache würde ich 
angeben, dass jene Glanzgefieder die Prachtuniformen 
sind, an denen die Individuen der dort so zahllosen, 
oft dem selben genus angehörigen Species sich unter 
einander erkennen ; so dass jedes Männchen sein Weib- 
chen findet. Das Selbe gilt von den Schmetterlingen 
der verschiedenen Zonen und Breitengrade. — Man 
hat beobachtet, dass schwindsüchtige Frauen im letz- 
ten Stadio ihrer Krankheit leicht schwanger werden, 
dass während der Schwangerschaft die Krankheit 
stille steht, nach der Niederkunft aber verstärkt wie- 
der eintritt und nun meistens den Tod herbeiführt: 
desgleichen, dass schwindsüchtige Männer, in ihrer 
letzten Lebenszeit, meistens noch ein Kind zeugen. 
Die Endursache ist hier, dass die auf die Erhaltung 
der Species überall so ängstlich bedachte Natur den 
heranrückenden Ausfall eines im kräftigen Alter ste- 
henden Individuums geschwinde noch durch ein neues 
ersetzen will; die xvirkende Ursache hingegen ist der 
in der letzten Periode der Schwindsucht eintretende 
imgewöhnlich gereizte Zustand des Nervensystems. 
Aus der selbenUrsache ist das analoge Phänomen zu er- 
klären, dass (nach Oken, ,,Die Zeugung", S. 65) die mit 
Arsenik vergiftete Fliege, aus einem unerklärten Trie- 
be, sich noch begattet und in der Begattung stirbt. — 
4-7 
Die Endursache der Pubes, bei beiden Geschlechtern, 
nnd des Mons Veneris, beim weiblichen, ist, dass auch 
bei sehr majjern Subjekten, während der Kopulation, 
die Ossa pubis nicht fühlbar werden sollen, als wel- 
ches Abscheu erregen könnte: die wirkende Ursache 
hingegen ist darin zu suchen, dass überall, wo die 
Schleimhaut in die äussere Haut übergeht, Haare in 
der Nähe wachsen; nächstdem auch darin, dass Kopf 
und Genitalien gewissermaassen entgegengesetzte Pole 
von einander sind, daher mancherlei Beziehungen und 
Analogien mit einander haben, zu welchen auch das 
Behaartseyn gehört. — Die selbe wirkende Ursache 
gilt auch vom Barte der Männer: die Endursache des- 
selben vermuthe ich darin, dass das Pathognomische, 
also die, jede innere Bewegung des Gemüths verra- 
thende schnelle Aenderung der Gesichtszüge, haupt- 
sächlich am Munde und dessen Umgebung sichtbar 
wird: um daher diese, als eine bei Unterhandlungen, 
oder bei plötzlichen Vorfällen, oft gefährliche, dem 
Späherblick des Gegenparts zu entziehen, gab die Na- 
tur (welche weiss, dass homo homini lupus) dem 
Manne den Bart. Hingegen konnte desselben das Weib 
entrathen ; da ihr die Verstellung und Selbstbemeiste- 
rung (contenance) angeboren ist. — Es müssen sich, 
wie gesagt, viel treffendere Beispiele auffinden lassen, 
um daran nachzuweisen, wie das völlig blinde Wir- 
ken der Natur mit dem anscheinend absichtsvollen, 
oder wie Kant es nennt, der Mechanismus der Natur 
mit ihrer Technik, im Resultat zusammentrifft; wel- 
ches darauf hinweist, dass Beide ihren gemeinschaft- 
lichen Ursprung jenseit dieser Differenz haben, im 
W^illen als Ding an sich. Für die Verdeutlichung die- 
ses Gesichtspunkts würde man viel leisten, wenn man 
z. B. die wirkende Ursache finden könnte, welche das 
Treibholz den baumlosen Polarländern zuführt; oder 
auch die, welche das Festland unsers Planeten haupt- 
sächlich auf die nördliche Hälfte desselben zusam- 
mengedrängt hat; während als Endursache hievon zu 
betrachten ist, dass der Winter jener Hälfte, weil er 
in das den Lauf der Erde beschleunigende Perihelium 
trifft, um acht Tage kürzer ausfällt und hiedurch 
428 
wieder auch gelinder ist. Jedoch wird, bei Betrach- 
tung der unorganischen Natur, die Endursache alle- 
mal zweideutig, und lässt uns, zumal wann die wir- 
kende gefunden ist, im Zweifel, ob sie nicht eine bloss 
subjektive Ansicht, ein durch unsern Gesichtspunkt 
bedingter Schein sei. Hierin aber ist sie manchen 
Kunstwerken, z. B. den groben Musivarbeiten, den 
Theaterdekorationen und dem aus groben Felsenmas- 
sen zusammengesetzten Gott Appeunin zu Pratolino 
bei Florenz zu vergleichen, welche alle nur in die 
Ferne wirksam sind, in der Nähe aber verschwinden, 
indem an ihrer Stelle jetzt die wirkende Ursache des 
Scheines sichtbar wird: aber die Gestalten sind den- 
noch wirklich vorhanden und keine blosse Einbildung. 
Dem also analog verhalten sich die Endursachen in 
der unorganischen Natur, wenn die xvirkenden hervor- 
treten. Ja, wer einen weiten Ueberblick hat, würde 
es vielleicht hingehen lassen, wenn man hinzusetzte, 
dasses mit den Omnibus ein ähnliches Bewandtniss hat. 
Wenn übrigens jemand die äussere Zweckmässig- 
keit, welche, wie gesagt, stets zweideutig bleibt, zu 
physikotheologischen Demonsti-ationen missbrauchen 
will, wie dies noch heut zu Tage, hoffentlich jedoch 
nur von Engländern, geschieht; so giebt es in dieser 
Gattung Beispiele in contrarium, also Ateleologien ge- 
nug, ihm das Goncept zu verrücken. Eine der stärk- 
sten bietet uns die tjntrinkbarkeit des Meervvassers, 
in Folge welcher der Mensch der Gefahr zu verdur- 
sten nirgends mehr ausgesetzt ist, als gerade in der 
Mitte der grossen Wassermassen seines Planeten, „Wo- 
zu braucht denn das Meer salzig zu sein?" frage man 
seinen Engländer. 
Dass in der unorganischen Natur die Endursachen 
gänzlich zurücktreten, so dass eine aus ihnen allein 
gegebene Erklärung hier nicht mehr gültig ist, viel- 
mehr die wirkenden Ursachen schlechterdings ver- 
langt werden, beruht darauf, dass der auch in der 
unorganischen Natur sich objektivirende Wille hier 
nicht mehr in Individuen, die ein Ganzes für sich aus- 
machen, erscheint, sondern in Naturkräften und de- 
ren Wirken, wodurch Zweck und Mittel zu weit aus- 
einander gerathen, als dass ihre Beziehunjf klar seyn 
und man eine Willensausserung darin erkennen könn- 
te. Dies tritt sogar, in gewissem Grade, schon bei der 
organischen Natur ein, nämlich da, wo die Zweck- 
massigkeit eine äussere ist, d. h. der Zweck im einen, 
das Mittel im andern Individuo liegt. Dennoch bleibt 
sie auch hier noch unzweifelhaft, solange beide der 
selben Species angehören, ja, sie wird dann um so 
auffallender. Hieher ist zunächst die gegenseitig auf 
einander berechnete Organisation der Genitalien bei- 
der Geschlechter zu zählen, sodann auch manches der 
Begattung Entgegenkommende, z. B. bei der Lampy- 
ris noctiluca (Glühwurm) der Umstand, dass bloss 
das Männchen, welches nicht leuchtet, geil (igelt ist, 
um das Weibchen aufsuchen zu können, das unge- 
flügelte Weibchen hingegen, da sie nur Abends her- 
vorkommen, das phosphorische Licht besitzt, um vom 
Männchen gefunden werden zu können. Jedoch sind 
bei der Lampyris Italica beide Geschlechter leuch- 
tend, welches zum Naturluxus des Südens gehört. 
Aber ein auffallendes, weil ganz specielles Beispiel 
der hier in Rede stehenden Art der Zweckmässigkeit 
giebt die von Geoffroy St. Hilaire, in seinen letzten 
Jahren, gemachte schöne Entdeckung der nähern Be- 
schaffenheit des Saugapparats der Cetaceen. Da näm- 
lich alles Saugen die Thätigkeit der Respiration er- 
fordert, kann es nur im rcspirabeln Medio selbst, 
nicht aber unter dem W^asser vor sich gehen, woselbst 
jedoch das saugende Junge des Wallfisches an den 
Zitzen der Mutter hängt: diesem nun zu begegnen, 
ist der ganze Mammilarapparat der Cetaceen so mo- 
difizirt, dass er ein Injektionsorgan geworden ist und, 
dem Jungen ins Maul gelegt, ihm, ohne dass es zu 
saugen braucht, die Milch einspritzt. Wo hingegen 
das Individuum, welches einem andern wesentliche 
Hülfe leistet, ganz verschiedener Art, sogar einem an- 
dern Naturreich angehörig ist, werden wir diese äus- 
sere Zweckmässigkeit, ebenso wie bei der unorgani- 
schen Natur, bezweifeln; es sei denn, dass augenfällig 
die Erhaltung der Gattungen auf ihr beruhe. Dies 
aber ist der Fall bei vielen Pflanzen, deren Befruch- 
430 
tung nur mittelst der Insekten vor sich geht, als wel- 
che nämlich entweder den Pollen ans Stigma tragen, 
oder die Stamina zum Pistill beugen: die gemeine 
Berberitze, viele Iris-Arten und Aristolochia Clema- 
titis können sich ohne Hülfe der Insekten gar nicht 
befruchten. (Ch\ Cour. Sprengel, Entdecktes Geheim- 
niss u. s. w., 1793. — Wildenow, Grundriss der Kräu- 
terkunde, 353.) Sehr viele Diöcisten, Monöcisten und 
Polygamisten, z. B. Gurken und Melonen, sind im 
selben Fall. Die gegenseitige Unterstützung, welche 
die Pflanzen- und die Insekten-Welt von einander 
erhalten, findet man vortrefflich dargestellt in Bur- 
daclis grosser Physiologie, Bd. i, §. 263. Sehr schön 
setzt er hinzu: ,,Dies ist keine mechanische Aushülfe, 
kein Nothbehelf, gleichsam als ob die Natur gestern 
die Pflanzen gebildet und dabei einen Fehler began- 
gen hätte, den sie heute durch das Insekt zu verbes- 
sern suchte; es ist vielmehr eine tiefer liegende Sym- 
pathie der Pflanzenwelt mit der Thierwelt. Es soll 
die Identität Beider sich offenbaren: Beide, Kinder 
einer Mutter, sollen mit einander und durch einander 
bestehen." — Und weiterhin: „Aber auch mit der 
unorganischen Welt steht das Organische in einer sol- 
chen Sympathie" u. s. w. — Einen Beleg zu diesem 
Consensus naturae giebt auch die im zweiten Band 
derintroduction into Entomology by Kirby and Spence 
mitgetheilte Beobachtung, dass die Insekteneier, wel- 
che an die Zweige der ihrer Larve zur Nahrung die- 
nenden Bäume angeklebt überwintern, genau zu der 
Zeit auskriechen, wo der Zweig ausschlägt, also z. B. 
die Aphis der Birke einen Monat früher als die der 
Esche: desgleichen, dass die Insekten der perenniren- 
den Pflanzen auf diesen als Eier überwintern ; die der 
bloss jährigen aber, da sie dies nicht können, im Pup- 
penzustand. — 
Drei grosse Männer haben die Teleologie, oder die 
Erklärung aus Endursachen, gänzlich verworfen, — 
und viele kleine Männer haben ihnen nachgebetet. 
Jene sind: Lukt^etius, Bako von Feritlam und Spinoza. 
Allein bei allen dreien erkennt man deutlich genug 
die Quelle dieser Abneigung: dass sie nämlich die 
43 i 
Teleolo(jie für unzertrennlich von der spekulativen 
Theologie hielten, vor dieser aber eine so grosse Scheu 
(welche Bako zwar klüglich zu verbergen sucht) heg- 
ten, dass sie ihr schon von Weitem aus dem Wege 
gehen wollten. In jenem Vorurtheil Knden wir auch 
noch den Leibniz ganz und gar befangen, indem er 
es, als etwas sich von selbst Verstehendes, mit cha- 
rakteristischen Naivetät ausspricht, in seiner Lettre 
ä M. INicaise (Spinozae op. ed. Paulus, Vol. 2,p. 672): 
les causes finales, ou ce qui est la meme c/iose, la con- 
sideration de la sagesse divine dans Tordre des choses. 
(Den Teufel auch, meme chose!) Auf dem selben 
Standpunkt finden wir sogar noch die heutigen Eng- 
länder, die Bridgewater-treatise-Männer, den Lord 
Brougham u. s. w., ja, sogar noch R. Owen, in seiner 
Osteologie comparee, denkt gerade so wie Leibniz; 
welches ich bereits im ersten Bande gerügt habe. Die- 
sen Allen ist Teleologie sofort auch Theologie, und 
bei jeder in der Natur erkannten Zweckmässigkeit 
brechen sie, statt zu denken und die Natur verstehen 
zu lernen, sofort in ein kindisches Geschrei design! 
design ! aus, stimmen dann den Refrain ihrer Rocken- 
philosophie an, und verstopfen ihre Ohren gegen alle 
Vernunftgründe, wie sie ihnen doch schon der grosse 
Hume*) entgegengehalten hat. An diesem ganzen Eng- 
lischen Elend ist hauptsächlich die, jetzt, nach 70 Jah- 
ren, den Englischen Gelehrten wirklich zur Schande 
gereichende Unkenntniss der Kantischen Philosophie 
Schuld, und diese wieder beruht, wenigstens grössten 
Theils, auf dem heillosen Einfluss jener abscheulichen 
') Hier sei es beiläufig bemerkt, dass, nach der Deutschen Lit- 
teratur seit Kant zu urtheilen, man glauben müsste, Hximes 
ganze Weisheit hätte in seinem handgreiflich falschen Skepti- 
cismus gegen das Kausalitätsgesetz bestanden, als wovon über- 
all ganz allein geredet wird. Um Huive kennen zu lernen, 
muss man seine Natural history of religion und dieDialogues 
on natural religion lesen: da sieht man ihn in seiner Grösse, 
und dies, nebst dem essav 30, on national character, sind die 
Schriften, wegen welcher er, — ich wüsste zu seinem Ruhme 
nichts Besseres zu sagen — bis auf den heutigen Tag der Eng- 
lischen Pfaffenschaft über Alles vcrhasst ist. 
Englischen Pfaffenschaft, welcher Verdummung in 
jeder Art eine Herzensangelegenheit ist, damit sie nur 
ferner die übrigens so intelligente Englische Nation 
in der degradirendesten Bigotterie befangen halten 
könne: daher tritt sie, vom niederträchtigsten Obsku- 
rantismus beseelt, dem Volksunterricht, der Natur- 
forschung, ja, der Förderung alles menschlichen Wis- 
sens überhaupt, aus allen Kräften entgegen, und so- 
wohl mittelst ihrer Konnexionen, als mittelst ihres 
skandalösen, unverantwortlichen und das Elend des 
Volks steigernden Mammons, erstreckt ihr Einfluss 
sich auch auf Universitätsgelehrte und Schriftsteller, 
die demnach (z. B. Th. Brown, on cause and effect) 
sich zu Reticenzen und Verdrehungen jeder Art be- 
quemen, um nur nicht jenem „kalten Aberglauben" 
(wie Pückler sehr treffend ihre Religion bezeichnet), 
oder den gangbaren Argumenten für denselben, auch 
nur von Ferne in den Weg zu treten. — 
Den dreien in Rede stehenden grossen Männern 
hingegen, da sie lange vor dem Tagesanbruch der 
Kantischen Philosophie lebten, ist jene Scheu vor der 
Teleologie, ihres Ursprungs wegen, zu verzeihen; hielt 
doch sogar Voltaire den physiko-theologischen Be- 
weis für unwiderleglich. Um indessen auf dieselben 
etwas näher einzugehen ; so ist zuvörderst die Polemik 
des Lukretius (IV, 8a4 — 858) gegen die Teleologie so 
krass und plump, dass sie sich selbst widerlegt und 
vom Gegentheil überzeugt. — Was aber Bakon be- 
trifft (De augm. scient., KI, 4), so macht er erstlich, 
hinsichtlich des Gebrauchs der Endursachen, keinen 
Unterschied zwischen organischer und unorganischer 
Natur (worauf es doch gerade hauptsächlich an- 
kommt), indem er, in seinen Beispielen derselben. 
Beide durch einander wirft. Dann bannt er die End- 
ursachen aus der Physik in die Metaphysik: diese 
aber ist ihm, wie noch heut zu Tage Vielen, identisch 
mit der spekulativen Theologie. Von dieser also hält 
er die Endursachen für unzertrennlich, und geht 
hierin so weit, dass er den Aristoteles tadelt, weil die- 
ser (was ich sogleich speciell loben werde) von den 
Endursachen starken Gebrauch gemacht habe, ohne 
28 Schopenhauer II l\56 
sie doch je an die spekulative Theologie zu knüpfen. 
— Spinoza endlich (Eth. I, prop. 36, appendix) legt 
aufs Deutlichste an den Tag, dass er die Teleologie 
mit der Physikotheologie, gegen welche er sich mit 
Bitterkeit auslässt, identifizirt, so sehr, dass er das na- 
turam nihil frustra agere, erklärt: hoc est, quod in 
usum homiuum non sit; desgleichen: omnia natura- 
lia tanquam ad suum utile media considerant, et cre- 
dunt aliquem alium esse, qui illa media paraverit; 
wie auch: hinc statuerunt, Deos omnia in usum ho- 
minum fecisse et dirigere. Darauf nun stützt er seine 
Behauptung: naturam finem nulluni sibi praefixum 
habere et omnes causas finales nihil, nisi humana es- 
se figmenta. Ihm war es bloss darum zu thun, dem 
Theismus den Weg zu verrennen: als die Stärkeste 
Waffe desselben aber hatte er ganz richtig den physiko- 
theologischen Beweis erkannt. Diesen nun aber wirk- 
lich zu widerlegen war Kanten, und dem Stoffe dessel- 
ben die richtige Auslegung zu geben mir vorbehalten ; 
wodurch ich dem est enim verum index sui et falsi ge- 
nügt habe. Spinoza nun aber wusste sich nicht anders zu 
helfen, als durch den desperaten Streich, die Teleolo- 
gie selbst, also die Zweckmässigkeit in den Werken 
der Natur zu leugnen, eine Behauptung, deren Mon- 
ströses Jedem, der die organische Natur nur irgend 
genauer kennen gelernt hat, in die Augen springt. 
Dieser beschränkte Gesichtspunkt des Spinoza, zu- 
sammen mit seiner völligen Unkenntniss der Natur, 
bezeugt genugsam seine gänzliche Inkompetenz in 
dieser Sache und die Albernheit Derer, die, auf seine 
Autorität hin, glauben, von den Endursachen schnöde 
urtheilen zu müssen. — 
Sehr vorteilhaft sticht gegen diese Philosophen der 
neuern Zeit Aristoteles ab, der gerade hier sich von 
der glänzenden Seite zeigt. Er geht unbefangen an die 
Natur, weiss von keiner Physikotheologie, so etwas 
ist ihm nie in den Sinn gekommen, und nie hat er 
die Welt darauf angesehen, ob sie wohl ein Mach- 
werk wäre: er ist in seinem Herzen rein von dem 
Allen; wie er denn auch (De generat. anim., III, ii) 
Hypothesen über den Ursprung der Thiere und Men- 
sehen aufstellt, ohne dabei auf den physikotheologi- 
schen Gedankengang zu gerathen. Immer sagt er ii 
cpuoi? Tzoiei (natura facit), nie tj cpuoi? TrsTcotyjTai (natura 
Facta est). Aber nachdem er die Natur treu und fleis- 
sig studirt hat, findet er, dass sie überall zweckmäs- 
sig verfährt und sagt: fxatTjv opwjxsv ouosv iroiouoav nrjv 
cpuoiv (naturam nihil frustra facere cernimus); de 
respir., c. 10 — und in den Büchern de partibus ani- 
malium, welche eine vergleichende Anatomie sind: 
Ou8e TrepiepYov ouosv, outs |jLat7jv t) cpuoii; ttoiei. — 'H 
cpuoi? svexa tou ttoisi Travta. — Ilaviaj^ou Be Xsyofisv tooe 
Touoe evexa, oirou av cpaivTjxat tsXo? ti, T:po<; 6 ^ xiv^ok; 
Trepatvei" maxz sivai cpavspov, oti saxe Ti xotourov, 6 ot] xai 
xaXoufjisv cpuaiv. — E'iiet xo otofia op^avov' svsxa xivo? ^^P 
sxaoxov xtuv [xopituv, ojxoicdc xs xat xo öXov. (Nihil super- 
vacaneum, nihil frustra natura facit. — Natura rei 
alicujus gratia facit omnia. — Rem autem hanc esse 
illius gratia asserere ubique solemus, quoties finem 
intelligimus altiquem, in quem motus terminetur: 
• juocirca ejusmodi aliquid esse constat, quod Natu- 
ram vocamus. — Est enim corpus instrumentum: 
nam membrum unumquodque rei alicujus gratia est, 
tum vero totum ipsum.) Ausführlicher S. 645 und 
633 der Berliner Quart-Ausgabe — wie auch De in- 
cessu animalium c. 2: 'H cpuan; ouosv rzoizi jxaxTjv, a)X 
aei, £x xcov ev8ej(0[i£va)V xt[j ouoia, Tiepi sxaoxov ^evo? Co>öu, 
xo apioxov. (Natura nihil frustra facit, sed semper ex 
iis, quae cuique animalium generis essentiae contin- 
gunt, id quod Optimum est.) Ausdrücklich aber emp- 
fiehlt er die Teleologie am Schlüsse der Bücher de 
generatione animalium, und tadelt den Deniokritos, 
dass er sie verleugnet habe, was Bakon, in seiner Be- 
fangenheit, an diesem gerade lobt. Besonders aber 
Physica, II, 8, p. 198, redet Aristoteles ex professo 
von den Endursachen und stellt sie als das wahre 
Princip der Naturbetrachtung auf. In der That muss 
jeder gute und regelrechte Kopf, bei Betrachtung der 
organischen Natur, auf Teleologie gerathen, jedoch 
keineswegs, wenn ihn nicht vorgefasste Meinungen 
bestimmen, weder auf Physikotheologie, noch auf die 
von Spinoza getadelte Anthropoteleologie. — Den 
28* 435 
Aristoteles überhaupt anlangend, will ich hier noch 
darauf aufmerksam machen, dass seine Lehren, so- 
weit sie die unorganische Natur betreffen, höchst feh- 
lerhaft und unbrauchbar sind, indem er in den Grund- 
be{jriffen der Mechanik und Physik den gröbsten 
Trrthümern huldigt, was um so unverzeihlicher ist, 
als schon vor ihm die Pythagoreer und Empedokles 
auf dem richtigen Wege gewesen waren und viel 
Besseres gelehrt hatten: hatte doch sogar, wie wir 
aus des Aristoteles zweitem Buche de coelo (c. I, p. 
284) ersehen, Empedokles schon den Begriff einer der 
Schwere entgegenwirkenden, durch den Umschwung 
entstehenden Tangentialkraft gefasst, welche Aristo- 
teles wieder verwirft. Ganz entgegengesetzt nun aber 
verhält sich Aristoteles zur Betrachtung der organi- 
schen Natur: hier ist sein Feld, hier setzen seine rei- 
chen Kenntnisse, seine scharfe Beobachtung, ja mit- 
unter tiefe Einsicht, in Erstaunen. So, um nur ein 
Beispiel anzuführen, hatte er schon den Antagonismus 
erkannt, in welchem, bei den Wiederkäuern, die 
Hörner mit den Zähnen des Oberkiefers stehen, ver- 
möge dessen daher diese fehlen, wo jene sich finden, 
und umgekehrt (De partib. anim., III, 2). — Daher 
denn auch seine richtige Würdigung der Endur- 
sachen. 
KAPITEL 27. 
VOM INSTINKT UND KUNvSTTRIEB. 
ES ist als hätte die Natur zu ihrem Wirken nach 
lEndursachen und der dadurch herbeigeführten 
bewundrungswürdigen Zweckmässigkeit ihrer orga- 
nischen Produktionen, dem Forscher einen erläutern- 
den Kommentar an die Hand geben wollen, in den 
Kunsitriebcn der l'hiere. Denn diese zeigen aufs Deut- 
lichste, dass Wesen mit der {jrössten Entschiedenheit 
und Bestimmtheit auf einen Zweck hinarbeiten kön- 
436 
nen, den sie nicht erkennen, ja, von dem sie keine 
Vorstellung^ haben. Ein solcher nämlich ist das Vo- 
gelnest, die Spinnenwebe, die Ameisenlöwengrube, 
der so künstliche Bienenstock, der wundervolle Ter- 
mitenbau u. s. w., wenigstens für diejenigen thieri- 
schen Individuen, welche dergleichen zum ersten 
Mal ausführen; da weder die Gestalt des zu vollen- 
denden Werks, noch der Nutzen desselben ihnen be- 
kannt seyn kann. Gerade so aber wirkt auch die or- 
ganisirende Natur; weshalb ich, im vorigen Kapitel, 
von der Endursache die paradoxe Erklärung gab, 
dass sie ein Motiv sei, welches wirkt, ohne erkannt 
zu werden. Und wie im Wirken aus dem Kunsttriebe 
das dai'in Thätige augenscheinlich und eingeständ- 
lich der Wille ist; so ist er es wahrlich auch im Wir- 
ken der organisirenden Natur. 
Man könnte sagen: der Wille thierischer Wesen 
wird auf zwei verschiedene Weisen in Bewegung ge- 
setzt: entweder durch Motivation, oder durch Instinkt; 
also von Aussen, oder von Innen ; durch einen äus- 
sern Anlass, oder durch einen innern Trieb: jener ist 
erklärlich, weil er aussen vorliegt, dieser unerklär- 
lich, weil bloss innerlich. Allein, näher betrachtet, 
ist der Gegensatz zwischen Beiden nicht so scharf, ja, 
er läuft im Grunde auf einen Unterschied des Grades 
zurück. Das Motiv nämlich wirkt ebenfalls nur unter 
Voraussetzung eines innern Triebes, d. h. einer be- 
stimmten Beschaffenheit des Willens, welche man 
den Charakter desselben nennt: diesem giebt das je- 
desmalige Motiv nur eine entschiedene Richtung, — 
individualisirt ihn für den konkreten Fall. Eben so 
der Instinkt, obwohl ein entschiedener Trieb des 
Willens, wirkt nicht, wie eine Springfeder, durchaus 
nur von innen; sondern auch er wartet auf einen da- 
zu nothwendig erforderten äussern Umstand, welcher 
wenigstens den Zeitpunkt seiner Aeusserung be- 
stimmt: dergleichen ist für den Zugvogel die Jahres- 
zeit; für den sein Nest bauenden Vogel die gesche- 
hene Befruchtung und das ihm vorkommende Mate- 
rial zum Nest; für die Biene ist es, zu Anfang des 
Baues, der Korb, oder der hohle Baum, und zu den 
437 
folgenden Verriclitungen viele einzeln eintretende 
Umstände; für die Spinne ist es ein wohlgeeigneter 
Winkel ; für die Raupe das passende Blatt ; für das eier- 
legende Insekt der meistens sehr speciell bestimmte, 
oft seltsame Ort, wo die auskriechenden Larven so- 
gleich ihre Nahrung finden werden, u. s. f. Hieraus 
folgt, dass bei den Werken der Kunsttriebe zunächst 
der Instinkt, untergeordnet jedoch auch der Intellekt 
dieser Thiere tätig ist: der Instinkt nämlich giebt das 
Allgemeine, die Regel; der Intellekt das Besondere, 
die Anwendung, indem er dem Detail der Ausführung 
vorsteht, bei welchem daher die Arbeit dieser Thiere 
offenbar sich den jedesmaligen Umständen anpasst. 
Nach diesem Allen ist der Unterschied des Instinkts 
vom blossen Charakter so fest zu stellen, dass jener 
ein Charakter ist, der nur durch ein ganz speciell be- 
stimmtes Motiv in Bewegung gesetzt wird, weshalb 
die daraus hervorgehende Handlung allemal ganz 
gleichartig ausfällt; während der Charakter, wie ihn 
jede Thierspecies und jedes menschliche Individuum 
hat, zwar ebenfalls eine bleibende und unveränder- 
liche Willensbeschaffenheit ist, welche jedoch durch 
sehr verschiedene Motive in Bewegung gesetzt wer- 
den kann und sich diesen anpasst, weshalb die daraus 
hervorgehende Handlung, ihrer materiellen Beschaf- 
fenheit nach, sehr verschieden ausfallen kann, jedoch 
allemal den Stämpel desselben Charakters tragen, 
daher diesen ausdrücken und an den Tag legen wird, 
für dessen Erkenntniss mithin die materielle Beschaf- 
fenheit der Handlung, in der er hervortritt, im W^e- 
sentlichen gleichgültig ist: man könnte demnach den 
Instinkt erklären als einen über alle Maassen einseiti- 
gen und streng determinirten Charakter. Aus dieser 
Darstellung folgt, dass das Bestimmtwerden durch 
blosse Motivation schon eine gewisse Weite der Er- 
kenntnissphäre, mithin einen vollkommenei" entvvik- 
kelten Intellekt voraussetzt; daher es den oberen 
Thieren, ganz vorzüglich aber dem Menschen, eigen 
ist; während das Bestimmtwerden durch Instinkt nur 
so viel Intellekt erfordert, wie nöthig ist, das ganz 
speciell bestimmte eine Motiv, welches allein und aus- 
438 
schliesslich Anlass zur Aeusserung des Instinkts v\ird, 
wahrzunehmen; weshalb es bei einer äusserst be- 
schränkten Erkenntnissphäre und daher eben, in der 
Regel und im höchsten Grade, nur bei den Thieren 
der untern Klassen, namentlich den Insekten, Statt 
findet. Da demnach die Handlungen dieser Thiere 
nur einer äusserst einfachen und geringen Motivation 
von Aussen bedürfen, ist das Medium dieser, also der 
Intellekt oder das Gehirn, bei ihnen auch nur schwach 
entwickelt, und ihre äussern Handlungen stehen gros- 
sentheils unter der selben Leitung mit den innern, 
auf blosse Reize vor sich gehenden, physiologischen 
Funktionen, also dem Gangliensystem. Dieses ist da- 
her bei ihnen überwiegend entwickelt: ihr Haupt- 
Nervenstamm läuft, in Gestalt zweier Stränge, die bei 
jedem Gliede des Leibes ein Ganglion, welches dem 
Gehirn an Grösse oft nur wenig nachsteht, bilden, 
unter dem Bauche hin, und ist, nach Cuvie7\ ein Ana- 
logon nicht sowohl des Rückenmarks, als des gros- 
sen sympathischen Nerven. Diesem Allen gemäss ste- 
hen Instinkt und Leitung durch blosse Motivation in 
einem gewissen Antagonismus, in Folge dessen jener 
sein Maximum bei den Insekten, diese ihres beim 
Menschen hat und zwischen beiden die Aktuirung 
der übrigen Thiere liegt, mannigfaltig abgestuft, je 
nachdem bei jedem das Cerebral- oder das Ganglien- 
system überwiegend entwickelt ist. Eben weil das in- 
stinktive Thun und die Kunstverrichtungen der In- 
sekten hauptsächlich vom Gangliensystem aus gelei- 
tet werden, geräth man, wenn man dieselben als al- 
lein vom Gehirn ausgehend betrachtet und dem ge- 
mäss erklären will, auf Ungereimtheiten, indem man 
alsdann einen falschen Schlüssel anlegt. Der selbe 
Umstand giebt aber ihrem Thun eine bedeutsame 
Aehnlichkeit mit dem der Somnambulen, als welches 
ja ebenfalls daraus erklärt wird, dass, statt des Ge- 
hirns, der sympathische Nerv die Leitung auch der 
äussern Aktionen übernommen hat: die Insekten sind 
demnach gewissermaassen natürliche Somnambulen. 
Dinge, denen man geradezu nicht beikommen kann, 
muss man sich durch eine Analogie fasslich machen: 
439 
die soeben berührte wird dies in hohem Grade lei- 
sten, wenn wir dabei zu Hülfe nehmen, dass in Kie- 
sers Telliirismus (Bd. 2, S. aSo) ein Fall erwähnt 
wird, „wo der Befehl des Magnetiseurs an die Som- 
nambule, im wachenden Zustande eine bestimmte 
Handhmg vorzunehmen, von ihr, als sie erwacht war, 
ausgeführt waid, ohne dass sie sich des Befehls klar 
erinnerte". Ihr war also, als müsste sie jene Hand- 
lung verrichten, ohne dass sie recht wusste warum. 
Gewiss hat dies die grösste Aehnlichkeit mit Dem, 
was bei den Kunsttrieben in den Insekten vorgeht: 
der jungen Spinne ist, als müsste sie ihr Netz weben, 
obgleich sie den Zweck desselben nicht kennt, noch 
versteht. Auch werden wir dabei an das Dämonion 
des Sokrates erinnert, vermöge dessen er das Gefühl 
hatte, dass er eine ihm zugemuthete, oder nahe ge- 
legte Handlung unterlassen müsse, ohne dass er wuss- 
te warum : — denn sein prophetischer Traum dar- 
über war vergessen. Diesem analoge, ganz wohl kon- 
statirte Fälle haben wir aus unsern Tagen; daher ich 
dieselben nur kurz in Erinnerung bringe. Einer hatte 
seinen Platz auf einem Schiffe ackordirt: als aber die- 
ses absegeln sollte, wollte er, ohne sich eines Grun- 
des bewusst zu seyn, schlechterdings nicht an Bord : 
es gieng unter. Ein Anderer geht, mit Gefährten, nach 
einem Pulverthurm: in dessen Nähe angelangt will 
er durchaus nicht weiter, sondern kehrt, von Angst 
ergriffen, schleunig um, ohne zu wissen warum: der 
Thurm flog auf. Ein Dritter, auf dem Ocean, fühlt 
sich eines Abends, ohne allen Grund, bewogen, sich 
nicht auszuziehen, sondern legt sich in Kleidern und 
Stiefeln, sogar mit der Brille, auf das Bett: in der 
Nacht geräth das Schiff in Brand, und er ist unter 
den Wenigen, die sich im Boote retten. Alles Dieses 
beruht auf der dumpfen Nachwirkung vergessener 
fatidiker Träume und giebt uns den Schlüssel zu ei- 
nem analogischen Verständniss des Instinkts und der 
Kunsttriebe. 
Andererseits werfen, wie gesagt, die Kunsttriebe 
der Insekten viel Licht zurück auf das Wirken des 
erkenntnisslosen Willens im innern Getriebe des Or- 
ganismus und bei der Bildung desselben. Denn ganz 
ungezwungen kann man im Ameisenhaufen odei' im 
Bienenstock das Abbild eines auseinandergelegten 
und an das Licht der Erkenntniss gezogenen Orga- 
nismus erblicken. In diesem Sinne sagt i5Mrd'ac/j( Phy- 
siologie, Bd 2, S. 22): „Die Bildung und Geburt der 
Eier kommt der Königin, die Einsaat und Sorge für 
die Ausbildung den Arbeiterinnen zu: in jener ist der 
Eierstock, in diesen der Uterus gleichsam zum Indi- 
viduum geworden." Wie im thierischen Organismus, 
so in der Insektengesellschaft ist die vita propria je- 
des Theiles dem Leben des Ganzen untergeordnet, 
und die Sorge für das Ganze geht der für die eigene 
Existenz vor; ja, diese wird nur bedingt gewollt, je- 
nes unbedingt: daher werden sogar die Einzelnen dem 
Ganzen gelegentlich geopfert; wie wir ein Glied ab- 
nehmen lassen, um den jjanzen Leib zu retten. So z. 
ß., wenn dem Zuge der Ameisen der Weg durch 
Wasser ges|)errt ist, werfen sich die vordersten kühn 
hinein, bis ihre Leichen sit:h zu einem Damm für die 
nachfolgenden gehäuft haben. Die Drohnen, wann 
unnütz j;eworden, werden erstochen. Zwei Königin- 
nen im Stocke werden umringt und müssen mit ein- 
ander kämpfen, bis eine von ihnen das Leben lässt. 
Die Ameisen mutter, nachdem das Befruchtungsge- 
schäft vorüber ist, beisst sich selbst die Flügel ab, die 
bei ihrem nunmehrigen Verpflegungsgeschäft einer 
neu zu gründenden Familie, unter der Erde, nur hin- 
derlich seyn würden. (Kirby and Spence, Vol. i.) 
Wie die Leber nichts weiter will, als Galle absondern 
zum Dienste der Verdauung, ja, bloss dieses Zweckes 
halber selbst daseyn will, und eben so jeder andere 
Theil; so will auch die Arbeitsbiene weiter nichts als 
Honig sammeln. Wachs absondern und Zellen bauen, 
für die Brut der Königin; die Drohne weiter nichts, 
als befruchten; die Königin nichts, als Eier legen: 
alle Theile also arbeiten bloss für den Bestand des 
Ganzen, als welches allein der unbedingte Zweck ist; 
gerade wie die Theile des Organismus. Der Unter- 
schied ist bloss, dass im Organismus der Wille völlig 
blind wirkt, in seiner Ursprünglichkeit; in der Insek- 
44 1 
ten gesell scbaft hingegen die Sache schon am Lichte 
der Erkeuntniss vor sich geht, welcher jedoch nur in 
den Zulülligkeitcn des Details eine entschiedene Mit- 
wirkung und selbst einige Wahl überlassen ist, als 
wo sie aushilft luid das Auszuführende den Umstän- 
den anpasst. Den Zweck im Ganzen aber wollen die 
Insekten, ohne ihn zu erkennen; eben wie die nach 
Endursachen wirkende organische Natur: auch ist 
nicht die Wahl der Mittel im Ganzen, sondern bloss 
die nähere Anordnung derselben im Einzelnen, ihrer 
Erkeuntniss überlassen. Daher aber eben ist ihr Han- 
dein keineswegs maschinenmässig; was am deutlich- 
sten sichtbar wird, wenn man ihrem Treiben Hin- 
dernisse in den Weg legt. Z B. die Raupe spinnt sich 
in Blätter, ohne Kenntniss des Zwecks; aber zerstört 
man das Gespinnst, so flickt sie es geschickt aus. Die 
Bienen passen ihren Bau schon Anfangs den vorge- 
fundenen Umständen an, und eingetretenen Unfällen, 
wie absichtlichen Zerstörungen, helfen sie auf das für 
den hesondern Fall Zweckmässigste ab. (Kirby and 
Spence, Introd. to entomol. — Huber, Des abeilles.) 
Dergleichen erregt unsere Bewunderung; weil die 
Wahrnehmung der Umstände und das Anpassen an 
dieselben offenbar Sache der Erkeuntniss ist; während 
wir die künstlichste Vorsorge für das kommende Ge- 
schlecht und die ferne Zukunft ihnen ein für alle 
Mal zutrauen, wohl wissend, dass sie hierin nicht von 
der Erkeuntniss geleitet werden: denn eine von die- 
ser ausgehende Vorsorge der Art verlangt eine bis 
zur Vernunft gesteigerte Gehirnthätigkeit. Hingegen 
dem Modifiziren und Anordnen des Einzelnen, ge- 
mäss den vorliegenden oder eintretenden Umständen, 
ist selbst der Intellekt der untern Thiere gewachsen; 
weil er, vom Instinkt geleitet, nur die Lücken, wel- 
che dieser lässt, auszufüllen hat. So sehen wir die 
Ameisen ihre Larven wegschleppen, sobald der Ort 
zu feucht, und wieder, sobald er zu dürre wird: den 
Zweck kennen sie nicht, sind also darin nicht von 
der Erkeuntniss geleitet; aber die Wahl des Zeitpunk- 
tes, wo der Ort nicht mehr den Larven dienlich ist, 
wie auch die eines andern Orts, wohin sie dieselben 
442 
jetzt bririjOfen, bleibt ihrer Erkenntniss überlassen, — 
Hier will ich noch eine Thatsache erwähnen, die mir 
Jemand mündlich aus eigener Erfahrung mitgetheilt 
hat; wiewohl ich seitdem finde, dass Burdach sie nach 
Gleditsch anführt. Jener hatte, um den Todtengrä- 
ber (Necrophorus vespillo) zu prüfen, einen auf der 
Erde liegenden todten Frosch an einen Faden ge- 
bunden, welcher am obern Ende einer schräg im Bo- 
den steckenden Ruthe befestigt war: nachdem nun 
einige Todtengräber, ihrer Sitte gemäss, den Frosch 
untergraben hatten, konnte dieser nicht, wie sie er- 
warteten, in den Boden sinken: nach vielem verlege- 
nen Hin- und Herlaufen untergruben sie auch die 
Ruthe. — Dieser dem Instinkt geleisteten Nachhülfe 
und jenem Ausbessern der Werke des Kunsttriebes 
finden wir, im Organismus, die Heilkraft der Natur 
analog, als welche nicht nur Wunden vernarbt, selbst 
Knochen- und Nerven-Masse dabei ersetzend, son- 
dern auch, wenn, durch Verlust eines Ader- oder 
Nerven-Zweiges eine Verbindung unterbrochen ist, 
eine neue eröffnet, mittelst Vergrösserung anderer 
Adern oder Nerven, ja vielleicht gar durch Hervor- 
treibung neuer Zweige; welche ferner für einen er- 
krankten Theil, oder Funktion, eine andere vikariren 
lässt; beim Verlust eines Auges das andeie schärft, 
und beim Verlust eines Sinnes alle übrigen; welche 
sogar eine an sich tödtliche Darmwunde bisweilen 
durch Anwachsen des Mesenterii oder Peritonaei 
schliesst; kurz, auf das Sinnreichste jedem Schaden 
und jeder Störung zu begegnen sucht. Ist hingegen 
der Schaden durchaus unheilbar, so eilt sie den Tod 
zu beschleunigen, und zwar um so mehr, je höherer 
Art, also je empfindlicher der Organismus ist. Sogar 
dies hat sein Analogon im Instinkt der Insekten: die 
Wespen nämlich, welche, den ganzen Sommer hin- 
durch, ihre Larven, mit grosser Mühe und Arbeit, 
vom Ertrag ihrer Räubereien aufgefüttert haben, 
nun aber, im Oktober, die letzte Generation dersel- 
ben dem Hungertode entgegengehen sehen, erstechen 
diese. (Kirby and Spence, Vol. I, p. 374) Ja, noch 
seltsamere und speciellere Analogien lassen sich auf- 
443 
finden, z. B. diese: wenn die weibliche Hummel (apis 
terrestris, bombylius) Eier le{}t, erjjreift die Arbeits- 
humuiel ein Dran^j, die Eier zu verschlingen, welcher 
sechs bis acht Stunden anhält und befriedigt wird, 
wenn nicht die Mutter sie abwehrt und die Eier sorg- 
sam bewacht. Nach dieser Zeit aber zeigen die Ar- 
beitshumtneln durchaus keine Lust, die Eier, selbst 
wenn ihnen dargeboten, zu fressen; vielmehr werden 
sie jetzt die eifrigen I^fleger und Ernährer der aus- 
kriechenden Larven. Dies lässt sich ungezwungen aus- 
legen als ein Analogen der Kinderkrankheiten, na- 
mentlich des Zahnens, als bei welchem gerade die 
künftigen Ernährer des Organismus einen Angriff 
auf denselben thun, der so häufig ihm das Leben 
kostet. — Die Betrachtung aller dieser Analogien 
zwischen dem organischen Leben und dem Instinkt, 
nebst Kunsttrieb der unteren Thiere, dient, die Ueber- 
zeugung, dass dem Einen wie dem Andern der JFille 
zum Grunde liegt, immer mehr zu befestigen, indem 
sie die untergeordnete, bald mehr, bald weniger be- 
schränkte, bald ganz wegfallende Rolle der Erkennt- 
niss, beim Wirken desselben, auch hier nachweist. 
Aber noch in einer andern Rücksicht erläutern die 
Instinkte und die thierische Organisation sich wech- 
selseitig: nämlich durch die in Beiden hervortretende 
Anticipation des Zukünftigen. Mittelst der Instinkte und 
Kunsttriebe sorgen die Thiere für die Befriedigung 
solcher Bedürfnisse, die sie noch nicht fühlen, ja, nicht 
nur der eigenen, sondern sojjar der ihrer künftigen 
Brut: sie arbeiten also auf einen ihnen noch unbe- 
kannten Zweck hin: dies geht, wie ich im „Willen in 
der Natur", S. 45 (zweite Aufiage) am Beispiel des Bom- 
bex erläutert habe, so weit, dass sie die Feinde ihrer 
künftigen Eier schon zum voraus verfolgen und tödten. 
Eben so nun sehen wir in der ganzen Korporisation 
eines Thieres seine künftigen Bedürfnisse, seine einsti- 
gen Zwecke, durch die organischen Werkzeuge zu 
ihrer Erreichung und Befriedigung anticipirt; woraus 
denn jene vollkommene Angemessenheit des Baues je- 
des Thieres zu seiner Lebensweise, jene Ausrüstung 
desselben mit den ihm nöthigen Waffen zum Angritt' 
44 i 
seiner Beute und zur Abwehr seiner Feinde, und jene 
Berechnung seiner ganzen Gestalt auf das Element 
und die Umgebung, in welcher er als Verfolger auf- 
zutreten hat, hervorgeht, welche ich in der Schrift 
über den Willen in der Natur, unter der Rubrik „Ver- 
gleichende Anatomie", ausführlich geschildert habe. 
— Alle diese sowohl im Instinkt, als in der Organi- 
sation der Thiere hervortretenden Anticipationen könn- 
ten wir unter den Begriff einer Erkenntniss a priori 
bringen, wenn denselben überhaupt eine Ei^kenntniss 
zum Grunde läge. Allein dies ist, wie gezeigt, nicht 
der Fall : ihr Ursprung liegt tiefer, als das Gebiet der 
Erkenntniss, nämlich imWillen als demDinge an sich, 
der als solcher auch von den Formen der Erkenntniss 
frei bleibt; daher in Hinsicht auf ihn die Zeit keine 
Bedeutung hat, mithin das Zukünftige ihm so nahe 
liegt, wie das Gegenwärtige. 
KAPITEL 28*). 
CHARAKTERISTIK DES V^ILLENS ZUM LEBEN. 
UNSER zweites Buch schliesst mit der Frage nach 
dem Ziel und Zweck jenes Willens, dersich als das 
Wesen an sich aller Dinge der Welt ergeben hatte. 
Die dort im Allgemeinen gegebene Beantwortung der- 
selben zu ergänzen, dienen die folgenden Betrachtun- 
gen, indem sie den Charakter jenes Willens überhaupt 
darlegen. 
Eine solche Charakteristik ist darum möglich, weil 
wir als das innere Wesen der Welt etwas durchaus 
Wirkliches und empirisch Gegebenes erkannt haben. 
Hingegen schon die Benennung „W^eltseele", wodurch 
Manche jenes innere Wesen bezeichnet haben, giebt 
statt desselben ein blosses ens rationis : denn „Seele" 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. ap des ersten Bandes [S. 
198 d. A.] 
44i 
besagt eine individuelle Einheit des Bewusstseyns, die 
offenbar jenem Wesen nicht zukommt, und überhaupt 
ist der Begriff „Seele", weil er Erkennen und Wollen 
in unzertrennlicher Verbindung und dabei doch un- 
abhängig vom animaliscben Organismus hypostasirt, 
nicht zu rechtfertigen, also nicht zu gebrauchen. Das 
Wort sollte nie anders als in tropischer Bedeutung 
angewendet werden : denn es ist keineswegs so unver- 
fänglich, wie ^oyri oder anima, als welche Athem be- 
deuten. — 
Noch viel unpassender jedoch ist die Ausdrucks- 
weise der sogenannten Pantheisten, deren ganze Phi- 
losophie hauptsächlich darin besteht, dass sie das in- 
nere, ihnen unbekannte Wiesen der Welt „Gott" be- 
titeln; womit sie sogar viel geleistet zu haben meynen. 
Danach wäre denn die Welt eine Theophanie. Man 
sehe sie doch nur ein Mal darauf an, diese Welt be- 
ständig bedürftiger Wiesen, die bloss dadurch, dass sie 
einander auffressen, eine Zeitlang bestehen, ihr Da- 
seyn unter Angst und Noth durchbringen und oft ent- 
setzliche Quaalen erdulden, bis sie endlich dem Tode 
in die Arme stürzen: wer dies deutlich ins Augefasst, 
wird dem Aristoteles Recht geben, wenn er sagt: r^ 
«puai? oai[xovia, akV ou Osta soti (natura daemonia est, 
non divina); de divinat., c. 2, p. 4^3; ja, er wird ge- 
stehen müssen, dass einen Gott, der sich hätte beige- 
hen lassen, sich in eine solche Welt zu verwandeln, 
doch wahrlich der Teufel geplagt haben müsste. — 
Ich weiss es wohl, die vorgeblichen Philosophen dieses 
Jahrhunderts thun es dem Spinoza nach und halten 
sich hiedurch gerechtfertigt. Allein Spinoza hatte be- 
sondere Gründe, seine alleinige Substanz so zu benen- 
nen, um nämlich wenigstens das Wort, wenn auch 
nicht die Sache, zu retten. Giordano Brunos und Va- 
nini's Scheiterhaufen waren noch in frischem Anden- 
ken : auch Diese nämlich waren jenem (rott geopfert 
worden, für dessen Ehre, ohne allen Vergleich, mehr 
Menschenopfer geblutet haben, als auf den Altären 
aller heidnischen Götter beider Hemisphären zusam- 
mengenommen. Wenn daher Spinoza die Welt Gott 
benennt; so ist es gerade nur so, wie wenn Rousseau, 
446 
im Contrat social, stets und durchgängig mit den» 
Wort le souverain das Volk bezeichnet: auch könnte 
man es damit vergleichen, dass einst ein Fürst, welcher 
beabsichtigte, in seinem Lande den Adel abzuschaffen, 
auf den Gedanken kam, um Keinem das Seine zu neh- 
men, alle seine Unterthanen zu adeln. Jene Weisen un- 
serer Tage haben freilich für die in Rede stehende 
Benennung noch einen andern Grund, der aber um 
nichts triftiger ist. Sie alle nämlich gehen, bei ihrem 
Philosophiren, nicht von der Welt oder unserm Be- 
wusstseyn von dieser aus, sondern von Gott, als einem 
Gegebenen und Bekannten : er ist nicht ihr quaesitum, 
sondern ihr datum. Wären sie Knaben, so würde ich 
ihnen darthun, dass dies eine petitio principii ist: je- 
doch sie wissen es, so gut wie ich. Allein nachdem 
Kant bewiesen hat, dass der Weg des frühern, red- 
lich verfahrenden Dogmatismus, von der Welt zu 
einem Gott, doch nicht dahin führe; — da mevnen 
nun diese Herren, sie hätten einen feinen Ausweg ge- 
funden und machten es pfiffig. Der Leser späterer 
Zeit verzeihe, dass ich ihn von Leuten unterhalte, die 
er nicht kennt. 
Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die 
Aufgabe des Philosophen ist, bestätigt und bezeugt, 
dass Wille zum Leben^ weit entfernt eine beliebige 
Hypostase, oder gar ein leeres Wort zu seyn, der allein 
wahre Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Alles 
drängt und treibt zum Daseyn, wo möglich zum o?- 
ganischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglich- 
sten Steigerung desselben : an der thierischen Natur 
wird es dann augenscheinlich, dass IVille zum Leben 
der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandel- 
bare und unbedingte Eigenschaft desselben ist. Man 
betrachte diesen universellen Lebensdrang, man sehe 
die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Uep- 
pigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter 
Millionen Formen, überall und jeden Augenblick, 
mittelst Befruchtungen und Keimen, ja, wo diese man- 
geln, mittelst generatio aequivoca, sich ungestüm ins 
Daseyn drängt, jede Gelegenheit ergreifend, jeden 
lebensfähigen Stoff begierig an sich reissend: und 
447 
tiann wieder werfe man einen Blick auf den entsetz- 
lichen Allarm und wilden Aufruhr desselben, wann 
er in irgend einer einzelnen Erscheinung aus dem Da- 
seyn weichen soll; zumal wo dieses bei deutlichem 
Bewusstseyn eintritt. Da ist es nicht anders, als ob 
in dieser einzigen Erscheinung die ganze Welt auf 
immer vernichtet werden sollte, und das ganze We- 
sen eines so bedrohten Lebenden verwandelt sich so- 
fort in das verzweifelteste Sträuben und Wehren gegen 
den Tod. Man sehe z. B. die unglaubliche Angsteines 
Menschen in Lebensgefahr, die schnelle und so ernst- 
liche Theilnahme jedes Zeugen derselben und den 
gränzenlosen Jubel nach der Rettung. Man sehe das 
starre Entsetzen, mit welchem ein Todesurtheil ver- 
nommen wird, das tiefe Grausen, mit welchem wir 
die Anstalten zu dessen Vollziehung erblicken, und 
das herzzerreissende Mitleid, welches uns bei dieser 
selbst ergreift. Da sollte man glauben, dass es sich 
um etwas ganz Anderes handelte, als bloss um einige 
Jahre weniger einer leeren, traurigen, durch Plagen 
jeder Art verbitterten und stets ungewissen Existenz; 
vielmehr müsste man denken, dass Wunder was dar- 
an gelegen sei, ob Einer etliche Jahre früher dahin 
gelangt, wo er, nach einer ephemeren Existenz, Billi- 
onen Jahre zu seyn hat. — An solchen Erscheinun- 
gen also wird sichtbar, dass ich mit Recht als das 
nicht weiter Erklärliche, sondern jederErklärung zum 
Grunde zu Legende, den Willen zum Lehen gesetzt 
habe, und dass dieser, weit entfernt, wie das Absolu- 
tum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Aus- 
drücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Al- 
lerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Rea- 
lität selbst. 
Wenn wir nun aber, von dieser aus unserm Innern 
{jeschöpften Interpretation einstweilen abstrahirend, 
uns der Natur fremd gegenüber stellen, um sie ob- 
jektiv zu erfassen; so finden wir, dass sie, von der 
Stufe des organischen Lebens an, nur eine Absicht 
hat: die der Erhaltung aller Gattungen. Auf diese ar- 
beitet sie hin, durch die unermessliche Ueberzahl von 
Keimen, durch die dringende Heftigkeit des Ge- 
448 
schlechtstriebes, durch dessen Bereitwilligkeit sich al- 
len Umständen und Gelegenheiten anzupassen, bis 
zur Bastarderzeugung, und durch die instinktive Mut- 
terliebe, deren Stärke so gross ist, dass sie, in vielen 
Thierarten, die Selbstliebe überwiegt, so dass die Mut- 
ter ihr Leben opfert, um das des Jungen zu retten. 
Das Individuum hingegen hat für die Natur nur einen 
indirekten Werth, nämlich nur sofern es das Mittel 
ist, die Gattung zu erhalten. Ausserdem ist ihr sein 
Daseyn gleichgültig, ja, sie selbst führt es dem Un- 
tergang entgegen, sobald es aufhört zu jenem Zwecke 
tauglich zu seyn. Wozu das Individuum da sei, wäre 
also deutlich: aber wozu die Gattung selbst? dies ist 
eine Frage, auf welche die bloss objektiv betrachtete 
Natur die Antwort schuldig bleibt. Denn vergeblich 
sucht man, bei ihrem Anblick, von diesem rastlosen 
Treiben, diesem ungestümen Drängen ins Daseyn, 
dieser ängstlichen Sorgfalt für die Erhaltung der Gat- 
tungen, einen Zweck zu entdecken. Die Kräfte und 
die Zeit der Individuen gehen auf in der Anstrengung 
für ihren und ihrer Jungen Unterhalt, und reichen 
nur knapp, bisweilen selbst gar nicht dazu aus. Wenn 
aber auch hier und da ein Mal ein Ueberschuss von 
Kraft und dadurch von Wohlbehagen — bei der einen 
vernünftigen Gattung, auch wohl von Erkenntniss — 
bleibt, so ist dies viel zu unbedeutend, um für den 
Zweck jenes ganzen Treibens der Natur gelten zu 
können. — Die ganze Sache so rein objektiv und so- 
gar fremd ins Auge gefasst, sieht es gerade aus, als 
ob der Natur bloss daran gelegen wäre, dass von allen 
ihren (Platonischen) Ideen, d, i. permanenten Formen, 
keine verloren gehen möge; danach hätte sie in der 
glücklichen Erfindung und Aneinanderfügung dieser 
Ideen (zu der die drei vorhergegangenen Thierbevöl- 
kerungen der Erdoberfläche die Vorübung gewesen) 
sich selber so gänzlich genug gethan, dass jetzt ihre 
einzige Besorgniss wäre, es könne irgend einer dieser 
schönen Einfälle verloren gehen, d. i. irgend eine je- 
ner Formen könne aus der Zeit und Kausalreihe ver- 
schwinden. Denn die Individuen sind flüchtig, wie 
das Wasser im Bach, die Ideen hingegen beharrend, 
29 Schopenhauer II 449 
wie dessen Strudel: nur das Versiegen des Wassers 
würde auch sie vernichten. — Bei dieser räthselhaf- 
ten Ansicht müssten wir stehen bleiben, wenn die 
Natur uns allein von aussen, also bloss objektiv gege- 
ben wäre, und wir sie, wie sie von der Erkenntniss 
aufgefasst wird, auch als aus der Erkenntniss, d. i. 
im Gebiete der Vorstellung, entsprungen annehmen 
und demnach, bei ihrer Enträthselung, auf diesen» 
Gebiete uns halten müssten. Allein es verhält sich an- 
ders, und allerdings ist uns ein Blick ins Innere der 
Natur gestattet; sofern nämlich dieses nichts Anderes, 
als unser eigenes Inneres ist, woselbst gerade die Na- 
tur, auf der höchsten Stufe, zu welcher ihr Treiben 
sich hinaufarbeiten konnte, angekommen, nun vom 
Lichte der Erkenntniss, im Selbstbewusstseyn, unmit- 
telbar getroifen wird. Hier zeigt sich uns der Wille, 
als ein von der Vorstellung, in der die Natur, zu allen 
ihren Ideen entfaltet, dastand, toto genere Verschie- 
denes, und giebt uns jetzt, mit Einem Schlage, den 
Aufschluss, der auf dem bloss objektiven Wege der 
Vorstellung nie zu finden war. Das Subjektive also 
giebt hier den Schlüssel zur Auslegung des Objektiven. 
Um den oben, zur Charakteristik dieses Subjekti- 
ven, oder des Willens, dargelegten, überschwänglich 
starken Hang aller Thiere und Menschen, das Leben 
zu erhalten und möglichst lange fortzusetzen, als ein 
Ursprüngliches und Unbedingtes zu erkennen, ist 
noch erfordert, dass wir uns deutlich machen, dass 
derselbe keineswegs das Resultat irgend einer objek- 
tiven Erkenntniss vom Werthe des Lebens, sondern 
von aller Erkenntniss unabhängig sei; oder, mit an- 
dern Worten, dass jene Wesen nicht als von vorne 
gezogen, sondern als von hinten getrieben sich dar- 
stellen. 
Wenn man, in dieser Absicht, zuvörderst die unab- 
sehbare Reihe der Thiere mustert, die endlose Man- 
nigfaltigkeit ihrer Gestalten betrachtet, wie sie, nach 
Element und Lebensweise, stets anders modificirt sich 
darstellen, dabei zugleich die unerreichbare und in 
jedem Individuo gleich vollkommen ausgeführte 
Künstlichkeit des Baues und Getriebes derselben er- 
45o 
wägt, und endlich den unglaublichen Aufwand von 
Kraft, Gewandtheit, Klugheit und Thätigkeit, den je- 
des Thier, sein Leben hindurch, unaufhörlich zu ma- 
chen hat, in Betrachtung nimmt; wenn man, näher 
darauf eingehend, z. B. die rastlose Emsigkeit kleiner, 
armsäliger Ameisen, die wundervolle und künstliche 
Arbeitsamkeit der Bienen sich vor Augen stellt, oder 
zusieht, wie einzelner Todtengräber (Necrophorus 
Vespillo) einen Maulwurfvon vierzig Mal seiner eigenen 
Grösse in zwei Tagen begräbt, um seine Eier hinein- 
zulegen und der künftigen Brut Nahrung zu sichern 
{Gleditsch, Physik. Bot. Oekon., Abhandl. III, 220), 
hiebei sich vergegenwärtigend, wie überhaupt das Le- 
ben der meisten Insekten nichts als eine rastlose Ar- 
beit ist, um Nahrung und Aufenthalt für die aus ihren 
Eiern künftig erstehende Brut vorzubereiten, welche 
dann, nachdem sie die Nahrung verzehrt und sich 
verpuppt hat, ins Leben tritt, bloss um dieselbe Ar- 
beit von vorne wieder anzufangen; dann auch, wie, 
dem ähnlich, das Leben der Vögel grösstentheils hin- 
geht mit ihrer weiten und mühsamen Wanderung, 
dann mit dem Bau des Nestes und Zuschleppen der 
Nahrung für die Brut, welche selbst, im folgenden 
Jahre, die nämliche Rolle zu spielen hat, und so Alles 
stets für die Zukunft arbeitet, welche nachher Bank- 
rott macht; — da kann man nicht umhin, sich umzu- 
sehen nach dem Lohn für alle diese Kunst und Mühe, 
nach dem Zweck, welchen vor Augen habend dieThiere 
so rastlos streben, kurzum zu fragen: Was kommt 
dabei heraus? Was wird erreicht durch das thierische 
Daseyn, welches so unübersehbare Anstalten erfor- 
dert? — Und da ist nun nichts aufzuweisen, als die 
Befriedigung des Hungers und des Begattungstriebes, 
und allenfalls noch ein wenig augenblickliches Be- 
hagen, wie es jedem thierischen Individuo, zwischen 
seiner endlosen Noth und Anstrengung, dann und 
wann zu Theil wird. Wenn man Beides, die unbe- 
schreibliche Künstlichkeit der Anstalten, den unsäg- 
lichen Reichthum der Mittel, und die Dürftigkeit des 
dadurch Bezweckten und Erlangten neben einander 
hält; so dringt sich die Einsicht auf, dass das Leben 
119* 4^1 
ein Geschäft ist, dessen Ertrag bei Weitem nicht die 
Kosten deckt. Am augenfaUigsten wird Dies an man- 
chen Thieren von besonders einlacher Lebensweise. 
Man betrachte z. B. den Maulwurf, diesen unermüd- 
hchen Arbeiter. Mit seinen übermässigen Schaufel- 
pfoten angestrengt zu graben, — ist die Beschäftigung 
seines ganzen Lebens: bleibende Nacht umgiebt ihn: 
seine embryonischen Augen hat er bloss, um das Licht 
zu fliehen. Er allein ist ein wahres animal nocturnum; 
nicht Katzen, Eulen und Fledermäuse, die bei Nacht 
sehen. Was aber nun erlangt er durch diesen mühe- 
vollen und freudenleeren Lebenslauf? Futter und Be- 
gattung: also nur die Mittel, die selbe traurige Bahn 
fortzusetzen und wieder anzufangen im neuen Indi- 
viduo. An solchen Beispielen wird es deutlich, dass 
zwischen den Mühen und Plaf'en des Lebens und dem 
Ertrag oder Gewinn desselben kein Verhältniss ist. 
Dem Leben der sehenden Thiere giebt das Bewusst- 
seyn der anschaulichen Welt, obwohl es bei ihnen 
durchaus subjektiv und auf die Einwirkung der Mo- 
tive beschränkt ist, doch einen Schein von objektivem 
Werth des Daseyns. Aber der blinde Maulwurf, mit 
seiner so vollkommenen Organisation und seiner rast- 
losen Thätigkeit, auf den Wechsel von Insektenlar- 
ven und Hungern beschränkt, macht die Unangemes- 
senheit der Mittel zum Zweck augenscheinlich. — In 
dieser Hinsicht ist auch die Betrachtung der sich sel- 
ber überlassenen Thierwelt, in menschenleeren Län- 
dern, besonders belehrend. Ein schönes Bild einer 
solchen und der Leiden, welche ihr, ohne Zuthun 
des Menschen, die Natur selbst bereitet, giebt Hum- 
boldt in seinen „Ansichten der Natur", zweite Auf- 
lage, S. 3o fg.: auch unterlässt er nicht, S. 44? ^uf 
das analoge Leiden des mit sich selbst allezeit und 
überall entzweiten Menschengeschlechts einen Blick 
zu werfen. Jedoch wird am einfachen, leicht überseh- 
baren Leben der Thiere die Nichtigkeit und Vergeb- 
lichkeit des Strebens der ganzen Erscheinung leichter 
fasslich. Die Mannigfaltigkeit der Organisationen, die 
Künstlichkeit der Mittel, wodurch jede ihrem Ele- 
ment und ihrem Raube angepasst ist, kontrastirt hier 
452 
deutlich mit dem Mangel irgend eines haltbaren End- 
zweckes; statt dessen sich nur augenblickliches Be- 
hagen, flüchtiger, durch Mangel bedingter Genuss, 
vieles und langes Leiden, beständiger Kampf, bellum 
omnium. Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gedränge, 
Mangel, Noth und Angst, Geschrei und Geheul dar- 
stellt: und das geht so fort, in secula seculorum, oder 
bis ein Mal wieder die Rinde des Planeten bricht. 
Junghxihn erzählt, dass er auf Java ein unabsehbares 
Feld ganz mit Gerippen bedeckt erblickt und für ein 
Schlachtfeld gehalten habe: es waren jedoch lauter 
Gerippe grosser, fünf Fuss langer, drei Fuss breiter 
und eben so hoher Schildkröten, welche, um ihre Eier 
zu legen, vom Meere aus, dieses Weges gehen und 
dann von wilden Hunden (Canis rutilans) angepackt 
werden, die, mit vereinten Kräften sie auf den Rücken 
legen, ihnen den untern Harnisch, also die kleinen 
Schilder des Bauches, aufreissen und so sie lebendig 
verzehren. Oft aber fällt alsdann über die Hunde ein 
Tiger her. Dieser ganze Jammer nun wiederholt sich 
tausend und aber tausend Mal, Jahr aus, Jahr ein. 
Dazu werden also diese Schildkröten geboren. Für 
welche Verschuldung müssen sie diese Qual leiden? 
Wozu die ganze Gräuelscene? Darauf ist die alleinige 
Antwort: so objektivirt sich der ff^illezum Leben. Man 
betrachte ihn wohl und fasse ihn auf, in allen seinen 
Objektivationen: dann wird man zum Verständniss 
seines Wesens und der Welt gelangen; nicht aber 
wenn man allgemeine Begriffe konstruirt und daraus 
Kartenhäuser baut. Die Auffassung des grossen Schau- 
spiels der Objektivation des Willens zum Lehen und 
die Charakteristik seines Wesens erfordert freilich et- 
was genauere Betrachtung und grösserer Ausführlich- 
keit, als die Abfertigung der Welt dadurch, dass man 
ihr den Titel Gott belegt, oder, mit einer Niaiserie, 
wie sie nur das Deutsche Vaterland darbietet und zu 
geniessen weiss, erklärt, es sei die „Idee in ihrem An- 
dersseyn", — woran die Pinsel meiner Zeit zwanzig 
Jahre hindurch ihr unsägliches Genügen gefunden 
haben. Freilich: nach dem Pantheismus oder Spino- 
zismus, dessen blosse Travestien jene Systeme unseres 
Jahrhunderts sind, haspelt das Alles sich wirklich 
ohne Ende, die Ewigkeit hindurch so fort. Denn da 
ist die Welt ein Gott, ens perfectissimum : d. h. es 
kann nichts Besseres geben, noch gedacht werden. 
Also bedarf es keiner Erlösung daraus; folglich giebt 
es keine. Wozu aber die ganze Tragikomödie da sei, 
ist nicht entfernt abzusehen; da sie keine Zuschauer 
hat und die Akteurs selbst unendliche Plage ausstehen, 
bei wenigem und bloss negativem Genuss. 
Nehmen wir jetzt noch die Betrachtung des Men- 
schengeschlechts hinzu; so wird die Sache zwar kom- 
plicirter und erhält einen gewissen ernsten Anstrich : 
doch bleibt der Grundcharakter unverändert. Auch 
hier stellt das Leben sich keineswegs dar als ein Ge- 
schenk zum Geniessen, sondern als eine Aufgabe, ein 
Pensum zum Abarbeiten, und dem entsprechend sehen 
wir, im Grossen wie im Kleinen, allgemeine Noth, rast- 
loses Mühen, beständiges Drängen, endlosen Kampf, 
erzwungene Thätigkeit, mit äusserster Anstrengung 
aller Leibes- und Geisteskräfte. Viele Millionen, zu 
Völkern vereinigt, streben nach dem Gemeinwohl, je- 
der Einzelne seines eigenen wegen; aber viele Tau- 
sende fallen als Opfer für dasselbe. Bald unsinniger 
Wahn, bald grübelnde Politik, hetzt sie zu Kriegen 
auf einander: dann muss Seh weiss und Blut des gros- 
sen Haufens fliessen, die Einfälle Einzelner durchzu- 
setzen, oder ihre Fehler abzubüssen. Im Frieden ist 
Industrie und Handel thätig, Erfindungen thun Wun- 
der, Meere weiden durchschifft, Leckereien aus allen 
Enden der Welt zusammengeholt, die Wellen ver- 
schlingen Tausende. Alles treibt, die Einen sinnend, 
die Andern handelnd, der Tumult ist unbeschreib- 
lich. — Aber der letzte Zweck von dem Allen, was 
ist er? Ephemere und geplagte Individuen eine kurze 
»Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten 
Fall mit erträglicher Noth und komparativer Schmerz- 
losigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile auf- 
passt; sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts 
und seines Treibens. — Bei diesem offenbaren Miss- 
verhältniss zwischen der Mühe und dem Lohn, er- 
scheint uns, von diesem Gesichtspunkt aus, der Wille 
zum Leben, objektiv genommen, als ein Thor, oder 
subjektiv, als ein Wahn, von welchem alles Lebende 
ergriffen, mit äusserster Anstrengung seiner Kräfte, 
auf etwas hinarbeitet, das keinen Werth hat. Allein 
bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier fin- 
den, dass er vielmehr ein blinder Drang, ein völlig 
grundloser, unmotivirter Trieb ist. 
Das Gesetz der Motivation nämlich erstreckt sich, 
wie §. 29 des ersten Bandes ausgeführt worden, nur 
auf die einzelnen Handlungen, nicht auf das Wollen 
im Ganzen und überhaupt. Hierauf beruht es, dass wenn 
wir das Menschengeschlecht und sein Treiben im Gan- 
zen und Allgemeinen auffassen, dasselbe sich uns nicht, 
wie wenn wir die einzelnen Handlungen im Auge 
haben, darstellt als ein Spiel von Puppen, die nach 
Art der gewöhnlichen, durch äussere Fäden gezogen 
werden; sondern von diesem Gesichtspunkt aus, als 
Puppen, welche ein inneres Uhrwerk in Bewegung 
setzt. Denn, wenn man, wie im Obigen geschehen, 
das so rastlose, ernstliche und mühevolle Treiben der 
Menschen vergleicht mit dem, was ihnen dafür wird, 
ja auch nur jemals werden kann, so stellt das darge- 
legte Missverhältniss sich heraus, indem man erkennt, 
dass das zu Erlangende, als bewegende Kraft genom- 
men, zur Erklärung jener Bewegung und jenes rast- 
losen Treibens durchaus unzulänglich ist. Was näm- 
lich ist denn ein kurzer Aufschub des Todes, eine 
kleine Erleichterung der Noth, Zurückschiebung des 
Schmerzes, momentane Stillung des Wunsches, — bei 
so häufigem Siege jener Allen und gewissem des To- 
des? Was könnten dergleichen Vortheile vermögen, 
genommen als wirkliche Bewegungsursachen eines, 
durch stete Erneuerung, zahllosen Menschenge- 
schlechts, welches unablässig sich rührt, treibt, drängt, 
quält, zappelt und die gesammte tragikomische Welt- 
geschichte aufführt, ja, was mehr als Alles sagt, aus- 
harrt in einer solchen Spottexistenz, so lange als Je- 
dem nur möglich? — Offenbar ist das Alles nicht zu 
erklären, wenn wir die bewegenden Ursachen ausser- 
halb der Figuren suchen und das Menschengeschlecht 
uns denken als in Folge einer vernünftigen Ueber- 
legung, oder etwas dieser Analoges (als ziehende Fä- 
den), strebend nach jenen ihm dargebotenen Gütern, 
deren Erlangung ein angemessener Lohn wäre für 
sein rastloses Mühen und Plagen. Die Sache so ge- 
nommen würde vielmehr Jeder längst gesagt haben 
le jeu ne vaut pas la chandelle und hinaus gegangen 
seyn. Aber, im Gegentheil, Jeder bewacht und be- 
schützt sein Leben, gleichwie ein ihm bei schwerer 
Verantwortlichkeit anvertrautes theures Pfand, unter 
endloser Sorge und häufiger Noth, darunter eben das 
Leben hingeht. Das Wofür und Warum, den Lohn 
dafür sieht er freilich nicht; sondern er hat den W^erth 
jenes Pfandes unbesehens, auf Treu und Glauben, an- 
genommen, und weiss nicht worin er besteht. Daher 
habe ich gesagt, dass jene Puppen nicht von aussen 
gezogen werden, sondern jede das Uhrwerk in sich 
trägt, vermöge dessen ihre Bewegungen erfolgen. Die- 
ses ist der Wille zum Leben, sich bezeigend als ein un- 
ermüdliches Triebwerk, ein unvernünftiger Trieb, 
der seinen zureichenden Grund nicht in der Aussen- 
welt hat. Er hält die Einzelnen festauf diesem Schau- 
platz und ist das primum mobile ihrer Bewegungen; 
während die äusseren (jcgenstände, die Motive, bloss 
die Richtung derselben im Einzelnen bestimmen: sonst 
wäre die Ursache der Wirkung gar nicht angemessen. 
Denn, wie jede Aeusserung einer Naturkraft eine Ur- 
sache hat, die Naturkraft selbst aber keine; so hat je- 
der einzelne Willensakt ein Motiv, der Wille über- 
haupt aber keines: ja, im Grunde ist dies Beides Eins 
und das Selbe. Ueberall ist der Wille, als das Meta- 
physische, der Gränzstein jeder Betrachtung, über den 
sie nirgends hinauskann. Aus der dargelegten Ur- 
sprünglichkeit und Unbedingtheit des Willens ist es 
erklärlich, dass der Mensch ein Daseyn voll Noth, Pla- 
ge, Schmerz, Angst und dann wieder voll Langer- 
weile, welches, rein objektiv betrachtet und erwogen, 
von ihm verabscheut werden müsste, über Alles liebt 
und dessen Ende, welches jedoch das einzig Gewisse 
für ihn ist, über alles fürchtet*). — Demgemäss se- 
') Aufjustinido civil. Dei,L. XI. c. 27 verdient, als ein interessan- 
ter Kommentar zu dem hier Gesagten, verglichen zu werden. 
/i56 
hen wir oft eine Jammergestalt, vom Alter, Mangel und 
Krankheit verunstaltet und gekrümmt, aus Herzens- 
grunde unsere Hülfe anrufen, zur Verlängerung eines 
Daseyns, dessen Ende als durchaus wünschenswerth er- 
scheinen müsste,\venn ein objektivesUrtheil hier das Be- 
stimmende wäre. Statt dessen also ist es der blinde Wil- 
le, auftretend als Lebenstrieb, Lebenslust, Lebens- 
muth : es ist das Selbe, was die Pflanze wachsen macht. 
Diesen Lebensmuth kann man vergleichen mit einem 
Seile, welches über dem Puppenspiel der Menschen- 
welt ausgespannt wäre und woran die Puppen mittelst 
unsichtbarer Fäden hiengen, während sie bloss schein- 
bar von dem Boden unter ihnen (dem objektiven 
Werthe des Lebens) getragen würden. Wird jedoch 
dieses Seil einmal schwach, so senkt sich die Puppe; 
reisst es, so muss sie fallen, denn der Boden unter ihr 
trug sie nur scheinbar: d. h. das Schwach werden je- 
ner Lebenslust zeigt sich als Hypochondrie, spieen, 
Melancholie; ihr gänzliches Versiegen als Hang zum 
Selbstmord, der alsdann bei dem geringfügigsten, ja, 
einem bloss eingebildeten Anlass eintritt, indem jetzt 
der Mensch gleichsam Händel mit sich selbst sucht, 
um sich todtzuschiessen, wie Mancher es, zu gleichem 
Zweck, mit einem Andern macht: — sogar wird, zur 
Noth, ohne allen hesondein Anlass zum Selbstmord 
gegriffen. (Belege hiezu findet man in Esquirol, Des 
maladies mentales, i838.) Und wie mit dem Aushar- 
ren im Leben, so ist es auch mit dem Treiben und 
der Bewegung desselben. Diese ist nicht etwas irgend 
frei Erwähltes: sondern, während eigentlich Jeder 
gern ruhen möchte, sind Noth und Langeweile die 
Peitschen, welche die Bewegung der Kreisel unter- 
halten. Daher trägt das Ganze und jedes Einzelne das 
Gepräge eines erzwungenen Zustandes, und Jeder, in- 
dem er, innerlich träge, sich nach Ruhe sehnt, doch 
aber vorwärts muss, gleich seinem Planeten, der nur 
darum nicht auf die Sonne fällt, weil eine ihn vor- 
wärts treibende Kraft ihn nicht dazu kommen lässt. 
So ist denn Alles in fortdauernder Spannung und ab- 
genöthigter Bewegung, und das Treiben der Welt geht, 
einen Ausdruck des Aristoteles (de coelo, II, i3) zu 
gebrauchen, ou cpuosi oKka ßia (motu, non naturali, 
sed violento) vor sich. Die Menschen werden nur 
scheinbar von vorne gezogen, eigentHch aber von hin- 
ten geschoben: nicht das Leben lockt sie an, sondern 
die Noth drängt sie vorwärts. Das Gesetz der Moti- 
vation ist, wie alle Kausalität, blosse Form der Er- 
scheinung. — Beiläufig gesagt, liegt hier der Ursprung 
des Komischen, des Burlesken, Grotesken, der fratzen- 
haften Seite des Lebens: denn wider Willen vorwärts 
getrieben geberdet Jeder sich wie er eben kann, und 
das so entstehende Gedränge nimmt sich oft possir- 
lich aus; so ernsthaft auch die Plage ist, welche darin 
steckt. 
An allen diesen Betrachtungen also wird uns deut- 
lich, dass der Wille zum Leben nicht eine Folge der 
Erkenntniss des Lebens, nicht irgendwie eine conclu- 
sio ex praemissis und überhaupt nichts Sekundäres 
ist: vielmehr ist er das Erste und Unbedingte, die Prä- 
misse aller Prämissen und eben deshalb Das, wovon 
die Philosophie auszugehen hat; indem der Wille zum 
Leben sich nicht in Folge der Welt einfindet, sondern 
die Welt in Folge des Willens zum Leben. 
Ich brauche wohl kaum darauf aufmerksam zu 
machen, dass die Betrachtungen, mit welchen wir hier 
das zweite Buch beschliessen, schon stark hindeuten 
auf das ernste Thema des vierten Buches, ja geradezu 
darin übergehen würden, wenn meine Architektonik 
nicht nöthig machte, dass erst, als eine zweite Betrach- 
tung der Welt als Vorstellung, unser drittes Buch, mit 
seinem heitern Inhalt, dazwischenträte, dessen Schluss 
jedoch wieder eben dahin deutet. 
458 
i 
ERGÄNZUNGEN 
ZUM 
DRITTEN BUCH 
Et is similis spectatori est, quod ab 
omni separatus spectaculum videt. 
Oupnekhat, Vol. I, p. 3o4. 
ZUM DRITTEN BUCH. 
ViVVVVU\\Vt«VVVVMVMl«VVMWVVVVVVVVVV\'\VVVVVVkVVVVl(WVaVlVVVVil/VV^^ MIVW 
KAPITEL 29*). 
VON DER ERKENNTNISS DER IDEEN. 
DER Intellekt, welcher bis hieher nur in seinem 
ursprünglichen und natürlichen Zustande der 
Dienstbarkeit unter dem Willen betrachtet worden 
war, tritt im dritten Ruche auf in seiner Refreiung 
von jener Dienstbarkeit; wobei jedoch sogleich zu be- 
merken ist, dass es sich hier nicht um eine dauernde 
Freilassung, sondern bloss um eine kurze Feierstun- 
de, eine ausnahmsweise, ja eigentlich nur momenta- 
ne Losmachung vom Dienste des Willens handelt. — 
Da dieser Gegenstand im ersten Rande ausführlich 
genug behandelt ist, habe ich hier nur wenige ergän- 
zende Retrachtungen nachzuholen. 
Wie also daselbst, §. 33, ausgeführt worden, er- 
kennt der im Dienste des Willens, also in seiner na- 
türlichen Funktion thätige Intellekt eigentlich blosse 
Beziehungen der Dinge: zunächst nämlich ihre Re- 
ziehungen auf den Willen, dem er angehört, selbst, 
wodurch sie zu Motiven desselben werden; dann aber 
auch, eben zum Rehuf der Vollständigkeit dieser Er- 
kenntniss, die Reziehungen der Dinge zu einander. 
Diese letztere Erkenntniss tritt in einiger Ausdehnung 
und Redeutsamkeit erst beim menschlichen Intellekt 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 3o — Sa des ersten Ban- 
des. [S. 2o5 d. A.] 
463 
ein; beim thierischen hinjjegen, selbst wo er schon 
beträchtlich entwickelt ist, nur innerhalb sehr enger 
Gränzen. Offenbar geschieht die Auffassung der Be- 
ziehungen, welche die Dinge zu einandei- haben, nur 
noch mittelbar im Dienste des Willens. Sie macht da- 
her den Uebergang zu dem von diesem ganz unab- 
hängigen, rein objektiven Erkennen: sie ist die wis- 
senschaftliche, dieses die künstlerische. Wenn niim- 
lich von einem Objekte viele und mannigfaltige Be- 
ziehungen unmittelbar aufgefasst werden; so tritt aus 
diesen, immer deutlicher, das selbsteigene Wesen des- 
selben hervor und baut sich so aus lauter Relationen 
allmälig auf; wiewohl es selbst von diesen ganz ver- 
schieden ist. Bei dieser Auffassungsweise wird zu- 
gleich die Dienstbarkeit des Intellekts unter dem 
Willen immer mittelbarer und geringer. Hat der In- 
tellekt Kraft genug, das Uebergevvicht zu erlangen 
und die Beziehungen der Dinge auf den Willen ganz 
fahren zu lassen, um statt ihrer das durch alle Rela- 
tionen hindurch sich aussprechende, rein objektive 
Wesen einer Erscheinung aufzufassen; so verlässt er, 
mit dem Dienste des Willens zugleich, auch die Auf- 
fassung blosser Relationen iind damit eigentlich auch 
die des einzelnen Dinges als eines solchen. Er schwebt 
alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig: im ein- 
zelnen Dinge erkennt er bloss das Wesentliche und 
daher die ganze Gattung desselben, folglich hat er zu 
seinem Objekte jetzt die Ideen, in meinem, mit dem 
ursprünglichen,Platonischen, übereinstimmenden Sin- 
ne dieses so gröblich missbrauchten Wortes; also die 
beharrenden, unwandelbaren, von der zeitlichen Exi- 
stenz der Einzelwesen unabhängigen Gestalten, die 
species rerum, als welche eigentlich das rein Objek- 
tive der Erscheinungen ausmachen. Eine so aufge- 
fasste Idee ist nun zwar noch nicht das Wesen des 
Dinges an sich selbst, eben weil sie aus der Erkennt- 
niss blosser Relationen hervorgegangen ist; jedoch ist 
sie, als das Resultat der Summe aller Relationen, der 
eigentliche Charakter des Dinges, und dadurch der 
vollständige Ausdruck des sich der Anschauung als 
Objekt darstellenden Wesens, aufgefasst nicht in Be- 
464 
ziehung auf einen individuellen Willen, sondern wie 
es aus sich selbst sich ausspricht, wodurch es eben 
seine sämintlichen Relationen bestimmt, welche allein 
bis dahin erkannt wurden. Die Idee ist der Wurzel- 
punkt aller dieser Relationen und dadurch die voll- 
ständige und vollkommene Erscheinung , oder, wie ich 
es im Texte ausgedrückt habe, die adäquate Objekti- 
tät des Willens auf dieser Stufe seiner Erscheinung. 
Sogar Form und Farbe, welche, in der anschauenden 
Auffassung der Idee, das Unmittelbare sind, gehören 
im Grunde nicht dieser an, sondern sind nur das Me- 
dium ihres Ausdrucks, da ihr, genau genommen, der 
Raum so fremd ist, wie die Zeit. In diesem Sinne 
sagte schon der Neuplatoniker Olympiodoros in sei- 
nem Kommentar zu Piatons Alkibiades (Kreuzers Aus- 
gabe des Proklos und Olympiodoros, Bd. 2, S. 82): 
To ei8o<; [xstaSsScuxs jjlsv xt]<^ [xopcpT]? ttq uyTI* ot|J-£p£? 
6s ov [jisTsXaßev e% axixr^c, tou oiao-axou: d. h. die Idee, 
an sich unausgedehnt, ertheilte zwar der Materie die 
Gestalt, nahm aber erst von ihr die Ausdehnung an. 
— Also, wie gesagt, die Ideen offenbaren noch nicht 
das Wesen an sich, sondern nur den objektiven Cha- 
rakter der Dinge, also immer nur noch die Erschei- 
nung: und selbst diesen Charakter würden wir nicht 
verstehen, wenn uns nicht das innere Wesen der 
Dinge, wenigstens undeutlich und im Gefühl, ander- 
weitig bekannt wäre. Dieses Wesen selbst nämlich 
kann nicht aus den Ideen und überhaupt nicht durch 
irgend eine bloss objektive Erkenntniss verstanden 
werden; daher es ewig ein Geheimniss bleiben wür- 
de, wenn wir nicht von einer ganz andern Seite den 
Zugang dazu hätten. Nur sofern jedes Erkennende 
zugleich Individuum, und dadurch Theil der Natur 
ist, steht ihm der Zugang zum Innern der Natur of- 
fen, in seinem eigenen Selbstbewusstseyn, als wo das- 
selbe sich am unmittelbarsten und alsdann, wie wir 
gefunden haben, als Wille kund giebt. 
Was nun, als bloss objektives Bild, blosse Gestalt, 
betrachtet und dadurch aus der Zeit, wie aus allen 
Relationen, herausgehoben, die Platonische Idee ist, 
das ist, empirisch genommen und in der Zeit, die 
3o Schopenhauer II 4^^ 
Species, oder ^/rf; diese ist also das empirische Kor- 
relat der Idee. Die Idee ist eigentlich ewig, die Art 
aber von unendlicher Dauer; wenn gleich die Er- 
scheinung derselben auf einem Planeten erlöschen 
kann. Auch die Benennungen Beider gehen ineinan- 
der über: losa, eioo?, species, Art. Die Idee ist species,^ 
aber nicht genus: darum sind die species das Werk 
der Natur, die genera das Werk des Menschen: sie 
sind nämlich blosse Begriffe. Es giebt species natura- 
les, aber genera logica allein. Von Artefakten giebt es 
keine Ideen, sondern blosse Begriffe, also genera lo- 
gica, und deren Unterarten sind species logicae. Zu 
dem in dieser Hinsicht, Bd. i, §. ^], Gesagten, will 
ich noch hinzufügen, dass auch Aristoteles (Metaph., 
I, 9 &> XIII, 5) aussagt, die Platoniker hätten von 
Artefakten keine Ideen gelten lassen, otov ouia, xat 
SaxTuXto?, lüV ou cpaoiv eivai. siot] (ut doums et annulus, 
quorum ideas dari negant). Womit zu vergleichen 
der Scholiast, S. 502, 63 der Berliner Quart- Ausga- 
be. — Ferner sagt yh'istoteles, Metaph., XI, 3 : aXX' 
SMiep (supple £107] eoxi.) em xcov cpuosi (eaii)' Bio 07] ot> 
xaxco? 6 IlXaTcüv e<p7], 6n eiSr] soTt oizooa (puosi (si qui- 
dem ideae sunt, in iis sunt, quae natura fiunt: propter 
quod non male Plato dixit, quod species eorum sunt, 
quae natura sunt) : wozu der Scholiast S. 8oo bemerkt: 
xai Touto apeoxei xai. auToi? toi? xa? iSea? dejxevoi«;" tcov 
^ap uTzo Ttyyr^q '(i^o^iz^jisi^ tosac eivai oux eXs^ov, aXXa Ttov 
UTTO <puo£(ü<; (hoc etiam ipsis ideas statuentibus pla- 
cet; non enim arte factorum ideas dari ajebant, sed 
natura procreatorum). Uebrigens ist die Lehre von 
den Ideen ursprünglich vom Py t ha goras ausgegangen; 
wenn wir nämlich der Angabe Plutarchs im Buche 
de placitis philosophorum, L. I, c. 3, nicht misstrau- 
en wollen. 
Das Individuum wurzelt in der Gattung, und die 
Zeit in der Ewigkeit: und wie jegliches Individuum 
dies nur dadurch ist, dass es das Wesen seiner Gat- 
tung an sich hat; so hat es auch nur dadurch zeitli- 
che Dauer, dass es zugleich in der Ewigkeit ist. Dem 
Leben der Gattung ist im folgenden Buche ein eige- 
nes Kapitel gewidmet. 
466 
Den Unterschied zwischen der Idee und dem Be- 
griff habe ich §. 49 des ersten Bandes genugsam her- 
vorgehoben. Ihre Aehnlichkeit hingegen beruht auf 
F'olgendem. Die ursprüngliche und wesenthche Ein- 
heit einer Idee wird, durch die sinnhch und cerebral 
bedingte Anschauung des erkennenden Individuums, 
in die Vielheit der einzelnen Dinge zersplittert. Dann 
aber wird, durch die Reflexion der Vernunft, jene 
Einheit wieder hergestellt, jedoch nur in abstracto, 
als Begriff, universale, welcher zwar an Umfang der 
Idee gleichkommt, jedoch eine ganz andere Fotvn an- 
genommen, dadurch aber die Anschaulichkeit, und 
mit ihr die durchgängige Bestimmtheit, eingebüsst 
hat. In diesem Sinne (jedoch in keinem andern) könn- 
te man, in der Sprache de;r Scholastiker, die Ideen als 
universalia ante rem, die Begriffe als universalia post 
rem bezeichnen: zwischen Beiden stehen die einzel- 
nen Dinge, deren Erkenntniss auch das Thier hat. — 
Gewiss ist der Realismus der Scholastiker entstanden 
aus der Verwechselung der Platonischen Ideen, als 
welchen, da sie zugleich die Gattungen sind, aller- 
dings ein objektives, reales Seyn beigelegt wei'den 
kann, mit den blossen Begriffen, welchen nun die Re- 
alisten ein solches beilegen wollten und dadurch die 
siegreiche Opposition des Nominalismus hervorriefen. 
KAPITEL 3o*). 
VOM REINEN SUBJEKT DES ERKENNENS. 
ZUR Auffassung einer Idee, zum Eintritt derselben 
in unser Bewusstseyn, kommt es nur mittelst einer 
Veränderung in uns, die man auch als einen Akt 
der Selbsverläugnung betrachten könnte; sofern sie 
darin besteht, dass die Erkenntniss sich ein Mal vom 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 33, 34 des ersten Bandes 
[S. a 1 3 d. A.] 
3o' 46? 
eigenen Willen gänzlich abwendet, also das ihr an- 
vertraute theure Pfand jetzt gänzlich aus den Augen 
lässt und die Dinge so betrachtet, als ob sie den Wil- 
len nie etwas angehen könnten. Denn hiedurch allein 
wird die Erkenntniss zum reinen Spiegel des objek- 
tiven Wesens der Dinge. Jedem ächten Kunstwerk 
muss eine so bedingte Erkenntniss, als sein Ursprung, 
zum Grunde liegen. Die zu derselben erforderte Ver- 
änderung im Subjekte kann, eben weil sie in der Eli- 
mination alles Wollens besteht, nicht vom Willen aus- 
gehen, also kein Akt der Willkür seyn, d. h. nicht in 
unserm Belieben stehen. Vielmehr entspringt sie al- 
lein aus einem temporären Ueberwiegen des Intellekts 
über den Willen, oder, physiologisch betrachtet, aus 
einer starken Erregung der anschauenden Gehirnthä- 
tigkeit, ohne alle Erregung der Neigungen oder Af- 
fekte. Um dies etwas genauer zu erläutern, erinnere 
ich daran, dass unser Bewusstseyn zwei Seiten hat; 
theils nämlich ist es Bewusstseyn vom eigenen Selbst, 
welches der Wille ist ; theils Bewusstseyn von andern 
Dingen, und als solches zunächst anschauende Erkennt- 
niss der Aussenwelt, Auffassung der Objekte. Je mehr 
nun die eine Seite des gesammten Bewusstseyns her- 
vortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Dem- 
nach wird das Bewusstseyn anderei- Dinge, also die 
anschauende Erkenntniss, um so vollkommener, d. h. 
um so objektiver, je weniger wir uns dabei des eige- 
nen Selbst bewusst sind. Hier findet wirklich ein An- 
tagonismus Statt. Je mehr wir des Objekts uns be- 
wusst sind, desto weniger des Subjekts: je mehr hin- 
gegen dieses das Bewusstseyn einnimmt, desto schwä- 
cher und unvollkommener ist unsere Anschauung der 
Aussenwelt. Der zurreinen Objektivität der Anschau- 
ung erforderte Zustand hat theils bleibende Bedin- 
gungen in der Vollkommenheit des Gehirns und der 
seiner Thätigkeit günstigen physiologischen Beschaf- 
fenheit überhaupt, theils vorübergehende, sofern der- 
selbe begünstigt wird durch Alles, was die Spannung 
und Empfänglichkeit des cerebralen Nervensystems, 
jedoch ohne Erregung irgend einer Leidenschaft, er- 
höht. Man denke hiebei nicht an geistige Getränke, 
468 
oder Opium : vielmehr «jehört dahin eine ruhig durch- 
schlafene Nacht, ein kaltes Bad und Alles was, durch 
Beruhigungen des Blutumlaufs und der Leidenschaft- 
lichkeit, der Gehirnthätigkeit ein unerzwun genes 
Uebergewicht verschafft. Diese naturgemässen Be- 
förderungsmittel der cerebralen Nerventhätigkeit sind 
es vorzüglich, welche, freilich um so besser, je ent- 
wickelter und energischer überhaupt das Gehirn ist, 
bewirken, das immer mehr das Objekt sich vom Sub- 
jekt ablöst, und endlich jenen Zustand der reinen 
Objektivität der Anschauung herbeiführen, welcher 
von selbst den Willen aus dem Bewusstseyn eliminirt 
und in welchem alle Dinge mit erhöhter Klarheit und 
Deutlichkeit vor uns stehen; so dass wir beinah bloss 
r>on ihnen wissen, und fast gar nicht fo» «ns; also un- 
ser ganzes Bewusstseyn fast nichts weiter ist, als das 
Medium, dadurch das angeschaute Objekt in die Welt 
als Vorstellung eintritt. Zum reinen willenlosen Er- 
kennen kommt es also, indem das Bewusstseyn ande- 
rer Dinge sich so hoch potenzirt, dass das Bewusst- 
seyn vom eigenen Selbst verschwindet. Denn nur dann 
fasst man die Welt rein objektiv auf, wann man nicht 
mehr weiss, dass man dazu gehört; und alle Dinge 
stellen sich um so schöner dar, je mehr man sich bloss 
ihrer und je weniger man sich seiner selbst bewusst 
ist. — Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das 
eigentliche Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit 
dem Zurücktreten dieser Seite des Bewusstseyns, zu- 
gleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben, w^o- 
durch der Zustand der reinen Objektivität der An- 
schauung ein durchaus beglückender wird; daher ich 
in ihm den einen der zwei Bestandtheile des ästheti- 
schen Genusses nachgewiesen habe. Sobald hingegen 
das Bewusstseyn des eigenen Selbst, also die Subjek- 
tivität, d. i. der Wille, wieder das Uebergewicht er- 
hält, tritt auch ein demselben angemessener Grad von 
Unbehagen oder Unruhe ein : von Unbehagen sofern 
die Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich der 
Wille ist) wieder fühlbar wird; von Unruhe, sofern 
der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche, Af- 
fekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewusstseyn wie- 
469 
der erfüllt. Denn überall ist der Wille, als das Prin- 
(ip der Subjektivität, der Ge{;ensatz, ja, Antagonist 
der Erkenntniss. Die grösste Koncentration der Sub- 
jektivität besteht im eigentlichen fVilletisakt , in wel- 
chem \\\v daher das deutlichste Bewusstseyn unsers 
Selbst haben. Alle andern Erregungen des Willens 
sind nur Vorbereitungen zu ihm: er selbst ist für die 
Subjektivität Das, was für den elektrischen Apparat 
das Ueberspringen des Funkens ist. — Jede leibliche 
Empfindung ist schon an sich Erregung des Willens und 
zwar öfterer der noluntas, als der voluntas. Die Er- 
regung desselben auf geistigem Wege ist die, welche 
mittelst der Motive geschieht: hier wird also durch 
die Objektivität selbst die Subjektivität erweckt und 
ins Spiel gesetzt. Dies tritt ein, sobald irgendein Ob- 
jekt nicht mehr rein objektiv, also antheilslos, aufge- 
fasst wird, sondern,mittelbar oder unmittelbar, Wunsch 
oder Abneigung erregt, sei es auch nur mittelst einer 
Erinnerung: denn alsdann wirkt es schon als Motiv, 
im weitesten Sinne dieses Worts. 
Ich bemerke hiebei, dass das abstrakte Denken und 
das Lesen, welche an Worte geknüpft sind, zwar im 
weitern Sinne auch zum Bewusstseyn anderer Dinge, 
also zur objektiven Beschäftigung des Geistes, gehö- 
ren; jedoch nur mittelbar, nämlich mittelst der Be- 
griffe: diese selbst aber sind das künstliche Produkt 
der Vernunft und schon daher ein Werk der Absicht- 
lichkeit. Auch ist bei aller abstrakten Geistesbeschäf- 
tigung der Wille der Lenker, als welcher ihr, seinen 
Absichten gemäss, die Richtung ertheilt und auch die 
Aufmerksamkeit zusammenhält; daher dieselbe auch 
stets mit einiger Anstrengung verknüpft ist: diese aber 
setzt Thätigkeit des Willens voraus. Bei dieser Art 
der Geistesthätigkeit hat also nicht die vollkommene 
Objektivität des Bewusstseyns Statt, wie sie, als Be- 
dingung, die ästhetische Auffassung, d. i. die Erkennt- 
niss der Ideen begleitet. 
Dem Obigen zufolge ist die reine Objektivität der 
Anschauung, vermöge welcher nicht mehr das ein- 
zelne Ding als solches, sondern die Idee seiner Gat- 
tung erkannt Avird, dadurch bedingt, dass man nicht 
470 
mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten 
Gegenstände sich bewusst ist, das eigene Bewusstseyn 
also bloss als der Träger der objektiven Existenz jener 
Gegenstände übrig geblieben ist. Was diesen Zustand 
erschwert und daher selten macht, ist, dass darin 
gleichsam das Accidenz (der Intellekt) die Substanz 
(den Willen) bemeistert und aufhebt, wenn gleich 
nur auf eine kurze Weile. Hier liegt auch die Analo- 
gie und sogar Verwandtschaft desselben mit der am 
Ende des folgenden Buches dargestellten Verneinung 
des Willens. — Obgleich nämlich die Erkenntniss, 
wie im vorigen Buche nachgewiesen, aus dem Willen 
entsprossen ist und in der Erscheinung desselben, dem 
Organismus, wurzelt; so wird sie doch gerade durch 
ihn verunreinigt, wie die Flamme durch ihr Brenn- 
material und seinen Rauch. Hierauf beruht es, dass 
wir das rein objektive Wesen der Dinge, die in ihnen 
hervortretenden Ideen nur daim auffassen können, 
^vann W\r kein Interesse an ihnen selbst haben, in- 
dem sie in keiner Beziehung zu unserm W^illen ste- 
hen. Hieraus nun wieder entspringt es, dass die Ideen 
der Wesen uns leichter aus dem Kunstwerk, als aus 
der Wirklichkeit ansprechen. Denn was wir nur im 
Bilde, oder in der Dichtung erblicken, steht ausser 
aller Möglichkeit irgend einer Beziehung zu unserm 
Willen; da es schon an sich selbst bloss für die Er- 
kenntniss da ist und sich unmittelbar allein an diese 
wendet. Hingegen setzt das Auffassen der Ideen aus 
der WirhlicJikeit gewissermaassen ein Abstrahiren vom 
eigenen Willen, ein Erheben über sein Interesse, vor- 
aus, welches eine besondere Schwungkraft des Intel- 
lekts erfordert. Diese ist im höhern Grade und auf 
einige Dauer nur dem Genie eigen, als welches eben 
darin besteht, dass ein grösseres Maass von Erkennt- 
nisskraft da ist, als der Dienst eines individuellen Wil- 
lens erfordert, welcher Ueberschuss frei wird und nun 
ohne Bezug auf den Willen die Welt auffasst. Dass 
also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in wel- 
cher der ästhetische Genuss besteht, so sehr erleich- 
tert, beruht nicht bloss darauf, dass die Kunst, durch 
Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung 
47' 
des Unwesentlichen, die Dinge deutlicher und charak- 
teristisclier darstellt, sondern eben so sehr darauf, 
dass das zur rein objektiven Auffassung des Wesens 
der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Wil- 
lens am sichersten dadurch erreicht wird, dass das 
angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der 
Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fä- 
hig sind, indem es kein Wirkliches, sondern ein blos- 
ses Bild ist. Dies nun gilt nicht allein von den Wer- 
ken der bildenden Kunst, sondern ebenso von der 
Poesie: auch ihre Wirkung ist bedingt durch die an- 
theilslose, willenslose und dadurch rein objektive Auf- 
fassung. Diese ist es gerade, welche einen angeschau- 
ten Gegenstand inalerisch, einen Vorgang des wirkli- 
chen Lebens poetisch erscheinen lässt; indem nur sie 
über die Gegenstände der W^irklichkeit jenen zaube- 
rischen Schimmer verbreitet, welchen man bei sinn- 
lich angeschauten Objekten das Malerische, bei den 
nur in der Phantasie geschauten das Poetische nennt. 
Wenn die Dichter den heitern Morgen, den schönen 
Abend, die stille Mondnacht u. dgl. m. besingen; so 
ist, ihnen unbewusst, der eigentliche Gegenstand ihrer 
Verherrlichung das reine Subjekt des Erkennens, 
welches durch jene Naturschönheiten hervorgerufen 
wird, und bei dessen Auftreten der Wille aus dem 
Bewusstseyn verschwindet, wodurch diejenige Ruhe 
des Herzens eintritt, welche ausserdem auf der Welt 
nicht zu erlangen ist. W^ie könnte sonst z. B. der Vers 
Nox erat, et coelo fulgebat luna sereno, 
Inter minora sidera, 
so wohlthuend, ja, bezaubernd auf uns wirken? — 
Ferner daraus, dass auch die Neuheit und das völlige 
Fremdseyn der Gegenstände einer solchen antheils- 
losen, rein objektiven Auffassung derselben günstig 
ist, erklärt es sich, dass der Fremde, oder bloss Durch- 
reisende, die Wirkung des Malerischen, oder Poeti- 
schen, von Gegenständen erhält, welche dieselben auf 
den Einheimischen nicht hervorzubringen vermögen: 
so z. B. macht auf Jenen der Anblick einer ganz frem- 
den Stadt oft einen sonderbar angenehmen Eindruck, 
472 
den er keineswegs im Bewohner derselben hervor- 
bringt; denn er entspringt daraus, dass Jener ausser 
aller Beziehung zu dieser Stadt und ihren Bewohnern 
stehend, sie rein objektiv anschaut. Hierauf beruht 
zum Theil der Genuss des Beisens. Auch scheint hier 
der Grund zu liegen, warum man die Wirkung er- 
zählender oder dramatischer Werke dadurch zu be- 
fördern sucht, dass man die Scene in ferne Zeiten und 
Länder verlegt: in Deutschland nach Italien und 
Spanien; in Italien nach Deutschland, Polen und so- 
gar Holland. — Ist nun die völlig objektive, von allem 
Wollen gereinigte, intuitive Auffassung Bedingung 
des Genusses ästhetischer Gegenstände; so ist sie um 
so mehr die der Hervorhringung derselben. Jedes gute 
Gemälde, jedes ächte Gedicht, trägt das Gepräge der 
beschriebenen Gemüthsverfassung. Denn nur was aus 
der Anschauung, und zwar der rein objektiven, ent- 
sprungen, oder unmittelbar durch sie angeregt ist, 
enthält den lebendigen Keim, aus welchem ächte und 
originelle Leistungen erwachsen können : nicht nur 
in den bildenden Künsten, sondern auch in der Poesie, 
ja, in der Philosophie. Das punctum saliens jeden 
schönen Werkes, jedes grossen oder tiefen Gedankens, 
ist eine ganz objektive Anschauung. Eine solche aber 
ist durchaus durch das völlige Schweigen des Willens 
bedingt, welches den Menschen als reines Subjekt des 
Erkennens übrig lässt. Die Anlage zum Vorwalten 
dieses Zustandes ist eben das Genie. 
Mit dem Verschwinden des Willens aus dem Be- 
wusstseyn ist eigentlich auch die Individualität, und 
mit dieser ihr Leiden und ihre Noth, aufgehoben. Da- 
her habe ich das dann übrig bleibende reine Subjekt 
des Erkennens beschrieben als das ewige Weltauge, 
welches, wenn auch mit sehr verschiedenen Graden der 
Klarheit, aus allen lebenden Wesen sieht, unberührt 
vom Entstehen und Vergehen derselben, und so, als 
identisch mit sich, als stets Eines und das Selbe, der 
Träger der Welt der beharrenden Ideen, d. i. der 
adäquaten Objektität des Willens, ist; während das 
individuelle und durch die aus dem Willen entsprin- 
gende Individualität in seinem Erkennen getrübte 
Subjekt nur einzelne Dinge zun» Objekt hat und wie 
diese selbst vergänglich ist, — In dein hier bezeich- 
neten Sinne kann man Jedem ein zwiefaches Daseyn 
beilegen. Als Wille, und daher als Individuum, ist er 
nur Eines und dieses Eine ausschliesslich, welches 
ihm vollauf zu thun und zu leiden giebt. Als rein ob- 
jektiv Vorstellendes ist er das reine Subjekt der Er- 
kenntniss, in dessen Bewusstseyn allein die objektive 
Welt ihr Daseyn hat: als solches ist er alle Dinge, ho- 
fern er sie anschaut, und in ihm ist ihr Daseyn ohne 
Last und Beschwerde. Es ist niimlich sein Daseyn, so- 
fern es in seine?' Vorstellung existiert: aber da ist es 
ohne Wille, Sofern es hingegen Wille ist, ist es nicht in 
ihm, Wohl ist Jedem in dem Zustande, wo er alle 
Dinge ist; wehe da, wo er ausschliesslich Eines ist. 
— Jeder Zustand, jeder Mensch, jede Scene des Le- 
bens, braucht nur rein objektiv aufgefasst und zum 
Gegenstand einer Schildennig, sei es mit dem Pinsel 
oder mit Worten, gemacht zu werden, um interes- 
sant, allerliebst, beneidenswerth zu erscheinen: — 
aber steckt man darin, ist man es selbst, — da (heisst 
es oft) mag es der Teufel aushalten. Daher sagt Goethe: 
Was im Leben uns verdriesst, 
Man im Bilde pern gcniesst. 
In meinen Jünglingsjahren hatte ich eine Periode, wo 
ich beständig bemüht war, mich und mein Tbun von 
aussen zu sehen und mir zu schildern; — wahrschein- 
lich um es mir geniessbar zu machen. 
Da die hier durchgeführte Betrachtung von mir 
nie ziH' Sprache gekommen ist, will ich einige psycho- 
logische Erläuterungen derselben hinzufügen. 
Bei der unmittelbaren Anschauung der Welt und 
des Lebens betrachten wir, in der Regel, die Dinge 
bloss in ihren Relationen, folglich ihrem relativen, 
nicht ihrem absoluten Wesen und Daseyn nach. Wir 
werden z. B. Häuser, Schiffe, Maschinen und dgl, 
ansehen mit dem Gedanken an ihren Zweck und an 
ihre Angemessenheit zu demselben; Menschen mit 
dem Gedanken an ihre Beziehung zu uns, wenn sie 
eine solche haben; nächstdem aber mit dem an ihre 
4:1 
Bezielmny zu einander, sei es in ihrem gegenwärtigen 
Thun und Treiben, oder ihrem Stande und Gewerbe 
nach, etwan ihre Tüchtigkeil dazu beurtheilend u.s.w. 
Wir können eine solche Betrachtung der Relationen 
mehr oder weniger weit verfolgen, bis zu den ent- 
ferntesten Gliedern ihrer Verkettung: die Betrachtung 
wird dadurch an Genauigkeit und Ausdehnung ge- 
winnen; aber ihrer Qualität und Art nach bleibt sie 
die selbe. Es ist die Betrachtung der Dinge in ihren 
Relationen, ja, mittelst dieser, also nach dem Satz vom 
Grunde. Dieser Betrachtungsweise ist Jeder meistens 
und in der Regel hingegeben: ich glaube sogar, dass 
die meisten Menschen gar keiner anderen fähig sind. 
— Geschieht es nun aber ausnahmsweise, dass wir 
eine momentane Ei'höhung der Intensität unserer in- 
tuitiven Intelligenz erfahren ; so sehen wir sogleich 
die Dinge mit ganz andern Augen, indem wir sie jetzt 
nicht mehr ihren Relationen nach, sondern nach Dem, 
was sie an und für sich selbst sind, auffassen und nun 
plötzlich, ausser ihrem relativen, auch ihr absolutes 
Daseyn wahrnehmen. Alsbald vertritt jedes Einzelne 
seine Gattung: demnach fassen wir jetzt das All- 
gemeine der Wesen auf. Was wir nun dergestalt er- 
kennen, sind die Ideen der Dinge: aus diesen aber 
spricht jetzt eine höhere Weisheit, als die, welche von 
blossen Relationen weiss. Auch wir selbst sind dabei 
aus den Relationen herausgetreten und dadurch das 
reine Subjekt des Erkennens geworden. — Was nun 
aber diesen Zustand ausnahmsweise herbeiführt, müs- 
sen innere physiologische Vorgänge seyn, welche die 
Thätigkeit des Gehirns reinigen und erhöhen, in dem 
Grade, dass eine solche plötzliche Springlluth der- 
selben entsteht. Von aussen ist derselbe dadurch be- 
dingt, dass wir der zu betrachtenden Scene völlig fremd 
und von ihr abgesondert bleiben, und schlechterdings 
nicht thätig darin verflochten sind. 
Um einzusehen, dass eine rein objektive und daher 
richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, 
wann wir dieselben ohne allen persönlichen Antheil, 
also unter völligem Schweigen des Willens betrachten, 
vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt, oder 
Leidenschaft, die Erkenntniss trübt und verfälscht, 
ja, jede Neigung oder Abneigung, nicht etwan bloss 
das Urtheil, nein, schon die ursprüngliche Anschau- 
ung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere 
sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg 
erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe 
und eine lachende Gestalt annimmt; hingegen düster 
und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt; so- 
dann, wie selbst ein lebloses Ding, welches jedoch 
das Werkzeug zu irgend einem von uns verabscheuten 
Vorgang werden soll, eine scheussliche Physiognomie 
zu haben scheint, z. B. das Schaffot, die Festung, auf 
welche wir gebracht werden, der Instrumentenkasten 
des Chirurgus, der Reisewagen der Geliebten u. s. w., 
ja, Zahlen, Buchstaben, Siegel, können uns furchtbar 
angrinzen und wie schreckliche Ungeheuer auf uns 
wirken. Hingegen sehen die Werkzeuge zur Erfüllung 
unserer Wünsche sogleich angenehm und lieblich 
aus, z. B. die bucklichte Alte mit dem Liebesbrief, 
der Jude mit den Louisd'ors, die Strickleiter zum ent- 
rinnen u. s. w. Wie nun hier, bei entschiedenem Ab- 
scheu oder Liebe, die Verfälschung der Vorstellung 
durch den Willen unverkennbar ist; so ist sie in min- 
derem Grade vorhanden bei jedem Gegenstande, der 
nur irgend eine entfernte Beziehung auf unsern Wil- 
len, d. h. auf unsere Neigung oder Abneigung, hat. 
Nur wann der Wille, mit seinen Interessen, das Be- 
wusstseyn geiäumt hat und der Intellekt frei seinen 
eigenen Gesetzen folgt, und als reines Subjekt die ob- 
jektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von 
keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in 
höchster Spannung und Thätigkeit ist, treten Farbe 
und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen 
Bedeutung hervor: aus einer solchen Auffassung allein 
also können ächte Kunstwerke hervorgehen, deren 
bleibender Werth und stets erneuerter Beifall eben 
daraus entspringt, dass sie allein das rein Objektive 
darstellen, als welches den verschiedenen subjektiven 
und daher entstellten Anschauungen, als das ihnen 
allen Gemeinsame und allein fest Stehende, zum 
Grunde liegt und durchschimmert als das gemein- 
same Thema aller jener subjektiven Variationen. 
Denn gewiss stellt die vor nnsern Augen ausgebreitete 
Natur sich in den verschiedenen Köpfen sehr ver- 
schieden dar: und wie Jeder sie sieht, so allein kann 
er sie wiedergeben, sei es durch den Pinsel, oder den 
Meissel, oder Worte, oder Gebehrden auf der Bühne. 
Nur Objektivität befähigt zum Künstler: sie ist aber 
allein dadurch möglich, dass der Intellekt, von seiner 
Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend, und 
doch höchst energisch thätig sei. 
Dem Jüngling, dessen anschauender Intellekt noch 
mit frischer Energie wirkt, stellt sich wohl oft die 
Natur mit vollkommener Objektivität und daher in 
voller Schönheit dar. Aber den Genuss eines solchen 
Anblicks stört bisweilen die betrübende Reflexion, 
dass die gegenwärtigen, sich so schön darstellenden 
Gegenstände nicht auch in einer persönlichen Be- 
ziehung zu ihm stehen, vermöge deren sie ihn inter- 
essiren und freuen könnten: er erwartet nämlich 
sein Leben in Gestalt eines interessanten Romans. 
„Hinter jenem vorspringenden Felsen müsste die 
wohlberittene Schaar der Freunde meiner harren, — 
an jenem Wasserfall die Geliebte ruhen, — dieses 
schön beleuchtete Gebäude ihre Wohnung und jenes 
umrankte Fenster das ihrige seyn : — aber diese schöne 
Welt ist öde für mich!" u. s. w. Dergleichen melan- 
cholische Jünglingsschwärmereien verlangen eigent- 
lich etwas sich geradezu Widersprechendes. Denn die 
Schönheit, mit der jene Gegenstände sich darstellen, 
beruht gerade auf der reinen Objektivität, d. i. Inte- 
ressenlosigkeit, ihrer Anschauung, und würde daher 
durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche 
der Jüngling schmerzlich vermisst, sofort aufgehoben, 
mithin der ganze Zauber, der ihm jetzt einen, wenn 
auch mit einer schmerzlichen Beimischung versetzten 
Genuss gewährt, gar nicht vorhanden sevn. — Das 
Selbe gilt übrigens von jedem Alter und in jedem 
Verhältniss: die Schönheit landschaftlicher Gegen- 
stände, welche uns jetzt entzückt, würde, wenn wir 
in persönlichen Beziehungen zu ihnen ständen, deren 
wir uns stets bewusst bleiben, verschwunden seyn, 
477 
Alles ist nur so lan{|e scliöii, als es uns nicht angeht. 
(Hier ist nicht die Rede von verliebter Leidenschaft, 
sondern von ästhetischem Genuss.) Das Leben ist nie 
schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es, 
nämlich im verklärenden Spiejjel der Kunst oder der 
Poesie; zumal in der Ju{jend, als wo wir es noch nicht 
kennen. Mancher Jüngling würde grosse Beruhigung 
erhalten, wenn man ihm zu dieser Einsicht verhelfen 
könnte. 
Warum wirkt der Anblick des Vollmondes so 
wohlthätig, beruhigend und erhebend? Weil der 
Mond ein Gegenstand der Anschauung, aber nie des 
Wollens ist: 
„Die Sterne, die be^jehrt man nicht, 
Man freut sich ihrer Pracht." — G. 
Ferner ist er erhaben, d. h. stimmt uns erhaben, weil 
er, ohne alle Beziehung auf uns, dem irdischen Trei- 
ben ewig fremd, dahinzieht, und Alles sieht, aber an 
nichts Antheil nimmt. Bei seinem Anblick schwindet 
daher der Wille, mit seiner steten Noth, aus dem Be- 
wusstseyn, und lässt es als ein rein erkennendes zu- 
rück. Vielleicht mischt sich auch noch ein Gefühl 
bei, dass wir diesen Anblick mit Millionen theilen, 
deren individuelle Verschiedenheit darin erlischt, so 
dass sie in diesem Anschauen Eines sind; welches 
ebenfalls den Eindruck des Erhabenen erhöht. Dieser 
wird endlich auch dadurch befördert, dass der Mond 
leuchtet, ohne zu wärmen; worin gewiss der Grund 
liegt, dass man ihn keusch genannt und mit der Diana 
identifizirt hat. — In Folge dieses ganzen wohlthä- 
tigen Eindruckes auf unser Gemütli wird der Mond 
allmälig der Freund unsers Busens, was hingegen 
die Sonne nie wird, welcher, wie einem überschwäng- 
lichen Wohlthäter, wir gar nicht ins Gesicht zu sehen 
vermögen. 
Als Zusatz zu dem, §. 38 des ersten Bandes, über 
den ästhethischen Genuss, welchen das Licht, die Spie- 
gelung und die Farben gewähren. Gesagten, finde 
hier noch folgende Bemerkung Raum Die ganz un- 
mittelbare, gedankenlose, aber auch namenlose Freu- 
478 
de, welche der durch metallischen Glanz, noch mehr 
durch Transparenz verstärkte Eindruck der Farhen 
in uns erregt, wie z. B. hei farbigen Fenstern, noch 
mehr mittelst der Wolken und ihres Reflexes, beim 
Sonnenuntergänge, — beruht zuletzt darauf, dass 
hier auf die leichteste Weise, nämlich auf eine bei- 
nahe physisch nothwendige, unser ganzer Antheil 
für das Erkennen gewonnen wird, ohne irgend eine 
Erregung unsers Willens; wodurch wir in den Zu- 
stand des reinen Erkennens treten, wenn gleich das- 
selbe hier, in der Hauptsache, in einem blossen Em- 
pfinden der Aftektion der Retina besteht, welches je- 
doch, als an sich von Schmerz oder Wollust völlig 
frei, ohne alle direkte Erregung des Willens ist, also 
dem reinen Erkennen an^ehöit. 
KAPITEL 3 1 *). 
VOM GENIE. 
DIE überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden 
vorhergegangenen Kapiteln geschilderten Er- 
kenntnissweise, aus welcher alle ächten Werke der 
Künste, der Poesie und selbst der Philosophie ent- 
springen, ist es eigentlich, die man mit dem Namen 
des Genies bezeichnet. Da dieselbe demnach zu ihrem 
Gegenstande die Platonischen Ideen hat, diese aber 
nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefasst 
werden; so muss das Wesen des Genies in der Voll- 
kommenheit und Energie der anschauenden Erkennt- 
nis?, liegen. Dem entsprechend hören wir als Werke 
des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, 
welche unmittelbar von der Anschauung ausgehen 
und an die Anschauung sich wenden, also die der 
bildenden Künste, und nächstdem die der Poesie, 
welche ihre Anschauungen durch die Phantasie ver- 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 36 des ersten Bandes. [S. 
3 23 d.A.] 
479 
niittelt. — Auch macht sich schon hier die Verschie- 
denheit des Genies vorn blossen Talent bemerkbar, 
als welches ein Vorzug ist, der mehr in der grössern 
Gewandtheit und Schärfe der diskursiven, als der in- 
tuitiven Erkenntniss liegt. Der damit Begabte denkt 
rascher und richtiger als die Uebrigen; das Genie 
hingegen schaut eine andere Welt an, als sie Alle, 
wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende 
tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich ob- 
jektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt. 
Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloss 
das Medium der Motive : demzufolge fasst er ursprüng- 
lich an den Dingen nichts weiter auf, als ihre Bezie- 
hungen zum Willen, die direkten, die indirekten, die 
möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den 
direkten bleibt, ist eben darum die Sache am augen- 
fälligsten : was auf ihren Willen keinen Bezug hat, 
ist für sie nicht da. Deshalb sehen wir bisweilen mit 
Verwunderung, dass selbst kluge Thiere etwas an sich 
Auffallendes gar nicht bemerken, z. B. über augen- 
fällige Veränderungen an unserer Person oder Umge- 
bung kein Befremden äussern. Beim Normalmenschen 
kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen 
Beziehungen zum Willen hinzu, deren Summe den 
Inbegriff der nützlichen Kenntnisse ausmacht; aber 
in den Beziehungen bleibt auch hier die Erkenntniss 
stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe 
nicht zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; 
weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht vom 
Willen angespornt und in Bewegung gesetzt wird, 
sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht 
Energie genug hat, um aus eigener Elasticität und 
ziveck/os die Welt rein objektiv aufzufassen. Wo hin- 
gegen dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des 
Gehirns einen solchen Ueberschuss hat, dass ein rei- 
nes, deutliches, objektives Bild der Aussenwelt sich 
zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des 
Willens unnütz, in den höheren Graden sogar störend 
ist, und selbst ihnen S( hädlich werden kann; — da 
ist schon, wenigstens die Anlage zu jener Abnormität 
vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet, wel- 
48o 
eher andeutet, dass hier ein dem Willen, d. i. dem 
ei{jentlichen Ich, Fremdes, {gleichsam ein von Aus- 
sen hinzukommender Genius, thätig zu werden 
scheint. Aber ohne Bild zu reden: das Genie besteht 
darin, dass die erkennende Fähigkeit bedeutend stär- 
kere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des 
Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstan- 
den ist, erfordert. Daher könnte, der Strenge nach, 
die Physiologie einen solchen Ueberschuss der Ge- 
hirn thätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewisser- 
maassen den monstris per excessum beizählen, welche 
sie bekanntlich den monstris per defectum und denen 
per situm mutatum nebenordnet. Das Genie besteht 
also in einem abnormen Uebermaass des Intellekts, 
welches seine Benutzung nur dadurch finden kann, 
dass es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet 
wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen 
Menschengeschlechts obliegt, wie der normale Intel- 
lekt dem des Einzelnen. Um die Sache recht fasslich 
zu machen, könnte man sagen: wenn der Normal- 
mensch aus 2/3 Wille und ^/ß Intellekt besteht; so 
hat hingegen das Genie 2^3 Intellekt und 1/3 Wille. 
Dies Hesse sich dann noch durch ein chemisches 
Gleichniss erläutern: die Basis und die Säure eines 
Mittelsalzes unterscheiden sich dadurch, dass in jeder 
von Beiden das Radikal zum Oxygen das umgekehrte 
Verhältniss, von dem im andern, hat. Die Basis näm- 
lich, oder das Alkali, ist dies dadurch, dass in ihr 
das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen, und 
die Säure ist dies dadurch, dass in ihr das Oxygen 
das Ueherwiegende ist. Eben so nun verhalten sich, 
in Hinsicht auf Willen und Intellekt, Normalmensch 
und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein 
durchgreifender Unterschied, der schon in ihrem 
ganzen Wesen, Thun und Treiben sichtbar ist, recht 
eigentlich aber in ihren Leistungen an den Tag tritt. 
Noch könnte man als Unterschied hinzufügen, dass, 
während jener totale Gegensatz zwischen den chemi- 
schen Stoffen die stärkste Wahlverwandtschaft und 
Anziehung zu einander begründet, beim Menschen- 
geschlecht eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt. 
3i Schopenhauer II 4"* 
Die zunächst liegende Aeusserung, welche ein sol- 
cher Ueberschuss der Erkenntnisskraft hervorruft, 
zeigt sich meistentheils in der ursprünglichsten und 
grundwesentlichsten, d. i. der anschauenden Erkennt- 
niss, und veranlasst die Wiederholung derselben in 
einem Bilde: so entsteht der Maler und der Bildhauer. 
Bei diesen ist demnach der Weg zwischen der geni- 
alen Auffassung und der künstlerischen Produktion 
der kürzeste: daher ist die Form, in welcher hier das 
Genie und seine Thätigkeit sich darstellt, die einfach- 
ste und seine Beschreibung am leichtesten. Dennoch 
ist eben hier die Quelle nachgewiesen, aus welcher 
alle ächten Produktionen, in jeder Kunst, auch in der 
Poesie, ja in der Philosophie, ihren Ursprung neh- 
men; wiewohl dabei der Hergang nicht so einfach ist. 
Man erinnere sich hier des im ersten Buche erhal- 
tenen Ergebnisses, dass alle Anschauung intellektual 
ist und nicht bloss sensual. Wenn man nun die hier 
gegebene Auseinandersetzung dazu bringt und zu- 
gleich auch billig berücksichtigt, dass die Philosophie 
des vorigen Jahrhunderts das anschauende Erkennt- 
nissvermögen mit dem Namen der ,, untern Seelen- 
kräfte" bezeichnete; so wird man, dass Adelung, wel- 
cher die Sprache seiner Zeit reden musste, das Genie 
in „eine merkliche Stärke der untern Seelenkräfte" 
setzte, doch nicht so grundabsurd, noch des bittern 
Hohnes würdig finden, womit Jean Paul, in seiner 
Vorschule der Aesthetik, es anführt. So grosse Vor- 
züge das eben erwähnte Werk dieses bewundrungs- 
würdigen Mannes auch hat; so muss ich doch bemer- 
ken, dass überall, wo eine theoretische Erörterung 
und überhaupt Belehnmg der Zweck ist, die bestän- 
dig witzelnde und in lauter Gleichnissen einherschrei- 
tende Darstellung nicht die angemessene seyn kann. 
Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst 
das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn 
auch noch bedingter Weise, sich aufschliesst und of- 
fenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abs- 
traktionen, mithin Theilvorstellungen aus jener, und 
blossdurch Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkennt- 
niss, sogar die eigentliche Weisheit, wurzelt in der an- 
482 
schädlichen Auffassung der Dinge; wie wir dies in den 
Ergänzungen zum ersten Buch ausführlich betrachtet 
haben. Eine anschauliche Auffassung ist allemal der 
Zeugungsprocess gewesen, in welchem jedes ächte 
Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke, den Lebens- 
funken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern. 
Aus Begriffen hingegen entspringen die Werke des 
blossen Talents, die bloss vernünftigen Gedanken, 
die Nachahmungen und überhaupt alles auf das ge- 
genwärtige Bedürfniss und die Zeitgenossenschaft al- 
lein Berechnete. 
Wäre nun aber unsere Anschauung stets an die 
reale Gegenwart der Dinge gebunden ; so würde ihr 
Stoff gänzlich unter der Herrschaft des Zufalls stehen, 
welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbei- 
bringt, selten zweckmässig ordnet und meistens sie in 
sehr mangelhaften Exemplaren uns vorführt. Deshalb 
bedarf es der Phantasie, um alle bedeutungsvollen 
Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, 
auszumalen, festzuhalten imd beliebig zu wiederho- 
len, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringen- 
den Erkenntniss und des bedeutungsvollen Werkes, 
dadurch sie mitgetheilt werden soll, erfordern. Hier- 
auf beruht der hohe Werth der Phantasie, als Avelche 
ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist. Denn 
nur vermöge derselben kann dieses, je nach den Er- 
fordernissen des Zusammenhanges seines Bildens, 
Dichtens, oder Denkens, jeden Gegenstand oder Vor- 
gang sich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen 
und so stets frische Nahrung aus der Urquelle aller 
Erkenntniss, dem Anschaulichen, schöpfen. Der Phan- 
tasiebegabte vermag gleichsam Geister zu citiren, die 
ihm, zur rechten Zeit, die Wahrheiten offenbaren, 
welche die nackte Wirklichkeit der Dinge nur 
schwach, nur selten und dann meistens zur Unzeit 
darlegt. Zu ihm verhält sich daher der Phantasielose, 
wie zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die 
an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten 
muss, was der Zufall ihr zuführt. Denn ein solcher 
kennt keine andere, als die wirkliche Sinnesanschau- 
ung: bis sie kommt nagt er an Begriffen und Abstrak- 
3.- 483 
tionen, welche doch nur Schaalen und Hülsen, nicht 
der Kern der Erkenntniss sind. Er wird nie etwas 
Grosses leisten ; es wäre denn im Rechnen und der 
Mathematik. — Die Werke der bildenden Künste 
und der Poesie, imgleichen die Leistungen der Mi- 
mik, können auch angesehen werden als Mittel, De- 
nen, die keine Phantasie haben, diesen Mangel mög- 
lichst zu ersetzen, Denen aber, die damit begabt sind, 
den Gebrauch derselben zu erleichtern. 
Obgleich demnach die eigenthümliche und wesent- 
liche Erkenntnissweise des Genies die anschauende ist; 
so machen den eigentlichen Gegenstand derselben 
doch keineswegs die einzelnen Dinge aus, sondern die 
in diesen sich aussprechenden Platonischen Ideen, 
wie deren Auffassung im 29, Kapitel analvsirt wor- 
den. Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen, ist 
gerade der Grundzug des Genies; während der Nor- 
malmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als 
solches erkennt, da es nur als solches der Wirklich- 
keit angehört, welche allein für ihn Interesse, d. h. 
Beziehungen zu seinem Willen hat. Der Grad, in wel- 
chem Jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber 
schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum 
Allgemeinsten der Gattung hinauf, nicht etwan denkt, 
sondern geradezu erblickt, ist der Maassstab seiner 
Annäherung zum Genie. Diesem entsprechend ist 
auch nur das Wesen der Dinge überhaupt, das Allge- 
meine in ihnen, das Ganze, der eigentliche Gegen- 
stand des Genies: die Untersuchung der einzelnen 
Phänomene ist das Feld der Talente, in den Realwis- 
senschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur 
die Beziehungen der Dinge zu einander sind. 
Was im vorhergegangenen Kapitel ausführlich ge- 
zeigt worden, dass nämlich die Auffassimg der Ideen 
dadurch bedingt ist, dass das Erkennende das 7 eine 
Subjekt der Erkenntniss sei, d. h. dass der Wille gänz- 
lich aus dem Bewusstseyn verschwinde, bleibt uns 
hier ge{jenwärtig. — Die Freude, welche wir an man- 
chen, die Landschaft uns vor Augen bringenden Lie- 
dern Goethe's, oder an den Naturschilderungen Jean 
Paulis haben, beruht darauf, dass wir dadurch der 
484 
Objektivität jener Geister, d. h. der Reinheit theil- 
haft werden, mit welcher in ihnen die Welt als Vor- 
stellung sich von der Welt als Wille gesondert und 
gleichsam ganz davon abgelöst hatte. — Daraus, dass 
die Erkenntnissweise des Genies wesentlich die von 
allem Wollen und seinen Beziehungen gereinigte ist. 
Folgt auch, dass die Werke desselben nicht aus Ab- 
sicht oder Willkür hervorgehen, sondern es dabei 
geleitet ist von einer instinktartigen Nothwendigkeit. 
— Was man das Regewerden des Genius, die Stunde 
der Weihe, den Augenblick der Begeisterung nennt, 
ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellekts, 
wann dieser, seines Dienstes unter dem Willen einst- 
weilen enthoben, jetzt nicht in Unthätigkeii oder Ab- 
spannung versinkt, sondern, auf eine kurze Weile, 
ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist. Dann ist 
er von der grössten Reinheit und wird zum klaren 
Spiegel der Welt: denn, von seinem Ursprung, dem 
Willen, völlig abgetrennt, ist er jetzt die in einem 
Bewusstseyn koncentrirte Welt als Vorstellung selbst. 
In solchen Augenblicken wird gleichsam die Seele 
unsterblicher Werke erzeugt. Hingegen ist bei allem 
absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei, da ja 
der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt. 
Der Stämpel der Gewöhnlichkeit, der Ausdruck 
von Vulgarität, welcher den allermeisten Gesichtern 
aufgedrückt ist, besteht eigentlich darin, dass die 
strenge Unterordnung ihres Erkennens unter ihr 
Wollen, die feste Kette, welche beide zusammen- 
schliesst, und die daraus folgende Unmöglichkeit, die 
Dinge anders als in Beziehung auf den Willen und 
seine Zwecke aufzufassen, darin sichtbar ist. Hinge- 
gen liegt der Ausdruck des Genies, welcher die au- 
genfällige Familienähnlichkeit aller Hochbegabten 
ausmacht, darin, dass man das Losgesprochenseyn, 
die Manumission des Intellekts vom Dienste des Wil- 
lens, das Vorherrschen des Erkennens über das Wol- 
len, deutlich darauf liest: und weil alle Pein aus dem 
Wollen hervorgeht, das Erkennen hingegen an und für 
sich schmerzlos und heiter ist ; so giebt dies ihren hohen 
Stirnen und ihrem klaren, schauenden Blick, als wel- 
485 
che dem Dienste des Willens und seiner Noth nicht 
iinterthan sind, jenen Anstrich grosser, gleichsam 
überirdischer Heiterkeit, welcher zu Zeiten durch- 
hricht und sehr wohl mit der Melancholie der übri- 
gen Gesichtszüge, besonders des Mundes, zusammen- 
bestehi, in dieser Beziehung aber treffend bezeichnet 
werden kann durch das Motto des Jordanus Brunns: 
In tristitia hilaris, in hilaritate tristis. 
Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, 
widersetzt sich jeder auf irgend etwas Anderes als 
seine Zwecke gerichteten Thätigkeit desselben. Daher 
ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auf- 
fassung der Aussenwelt nur dann fähig, wann er sich 
von dieser seiner Wurzel wenigstens einstweilen ab- 
gelöst hat. So lange er derselben noch verbunden 
bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätig- 
keit fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der 
Wille (das Interesse) ihn nicht weckt und in Bewe- 
gung setzt. Geschieht dies jedoch, so ist er zwar sehr 
tauglich, dem Interesse des W^illens gemäss, die Re- 
lationen der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge 
Kopf thut, der immer auch ein aufgeweckter, d. h. 
vom Wollen lebhaft erregter Kopf seyn muss; aber 
er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive 
Wesen der Dinge zu erfassen. Denn das Wollen und 
die Zwecke machen ihn so einseitig, dass er an den 
Dingen nur das sieht, was sich darauf bezieht, das 
Lebrige aber theils verschwindet, theils verfälscht 
ins Bewusstseyn tritt. So wird z. B. ein in Angst und 
Eile Reisender den Rhein mit seinen Ufern nur als 
einen Querstrich, die Brücke darüber nur als einen 
diesen schneidenden Strich sehen. Im Kopfe des von 
seinen Zwecken erfüllten Menschen sieht die Welt 
aus, wie eine schöne Gegend auf einem Schlachtfeld- 
plan aussieht. Freilich sind dies Extreme, der Deut- 
lichkeit wegen genommen: allein auch jede nur ge- 
ringe Erregimg des Willens wird eine geringe, je- 
doch stets jenen analo{je Verfälschung der Erkennt- 
niss zur Folge haben. In ihrer wahren Farbe und Ge- 
stalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutimg kann 
die W^elt erst dann hervortreten, wann der Intellekt, 
486 
des Wollens ledi{j[, frei über den Objekten schwebt 
und ohne vom Willen angetrieben zu seyn, dennoch 
energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur und 
Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewisser- 
maassen widernatürlich, daher eben überaus selten: 
aber gerade hierin liegt das Wesen des Genies, als bei 
welchem allein jener Zustand in hohem Grade und 
anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen 
nur annäherungs- und ausnahmsweise eintritt. — In 
dem hier dargelegten Sinne nehme ich es, wenn Jean 
Paul („Vorschule der Aesthetik", §. 1 2) das Wesen 
des Genies in die Besonnenheit setzt. Nämlich der Nor- 
malmensch ist in den Strudel und Tumult des Lebens, 
dem er durch seinen Willen angehört, eingesenkt: 
sein Intellekt ist erfüllt von den Dingen und den 
Vorgängen des Lebens: aber diese Dinge und das 
Leben selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar 
nicht gewahr; wie der Kaufmann auf der Amster- 
dammer Börse vollkommen vernimmt was sein Nach- 
bar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähn- 
liche GesunuTie der ganzen Börse, darüber der ent- 
fernte Beobachter erstaunt, gar nicht hört. Dem Ge- 
nie hingegen, dessen Intellekt vom Willen, also von 
der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende 
nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird 
ihrer deutlich inne, es nimmt sie, an und für sich 
selbst, in objektiver Anschauung, wahr: in diesem 
Sinne ist es besonnen. 
Diese Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, 
die Natur, die er vor Augen hat, treu auf der Lein- 
wand wiederzugeben, und den Dichter, die anschau- 
liche Gegenwart, mittelst abstrakter Begriffe, genau 
wieder hervorzurufen, indem er sie ausspricht und so 
zum deutlichen Bewusstseyn bringt; imgleichen Alles, 
was die Uebrigen bloss fühlen, in Worten auszudrük- 
ken. — Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit. Be- 
wusstseyn hat es, d. h. es erkennt sich und sein Wohl 
und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche solche 
veranlassen. Aber seine Erkenniniss bleibt stets sub- 
jektiv, wird nie objektiv: alles darin Vorkommende 
scheint sich ihm von selbst zu verstehen und kann 
487 
ihm daher nie weder zum Vorwurf (Objekt der Dar- 
stellung), noch zum Problem (Objekt der Meditation) 
werden. Sein Bewusstseyn ist also ganz immanent. 
Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter 
Beschaffenheit ist das Bewusstseyn des gemeinen Men- 
schenschlages, indem auch seine Wahrnehmung der 
Dinge und der Welt überwiegend subjektiv und vor- 
herrschend immanent bleibt. Es nimmt die Dinge in 
der Welt wahr, aber nicht die Welt; sein eigenes 
Thun und Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in un- 
endlichen Abstufungen, die Deutlichkeit des Bewusst- 
seyns sich steigert, tritt mehr und mehr die Beson- 
nenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, 
dass bisweilen, wenn auch selten und dann wieder in 
höchst verschiedenen Graden der Deutlichkeit, es wie 
ein Blitz durch den Kopf fährt, mit „was ist das Al- 
les?" oder auch mit „ti'?e ist es eigentlich beschaffen?"' 
Die erstere Frage wird, wenn sie grosse Deutlichkeit 
und anhaltende Gegenwart erlangt, den Philosophen, 
und die andere, ebenso, den Künstler oder Dichter 
machen. Dieserhalb also hat der hohe Beruf dieser 
Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächst 
aus der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der 
Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur 
Besinnung darüberkommen. Der ganze Hergang aber 
entspringt daraus, dass der Intellekt, durch sein Ueber- 
gewicht, sich vom Willen, dem er ursprünglich dienst- 
bar ist, zu Zeiten losmacht. 
Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie 
schliessen sich ergänzend an die im 21. Kapitel ent- 
haltene Darstellung des in der ganzen Reihe der We- 
sen wahrnehmbaren, immer weitem Anseinandertretens 
des Willens und des Intellekts. Dieses eben erreicht im 
Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völli- 
gen Ablösung des Intelleks von seiner Wurzel, dem 
Willen, geht, so dass der Intellekt hier völlig frei 
wird, wodurch allererst die Welt als Forstellung zur 
vollkommenen Objektivation gelangt. — 
Jetzt noch einige die Individualität des Genies be- 
treffende Bemerkungen. — Schon Aristoteles hat, nach 
Cicero (Tusc, I, 33) bemerkt, omnes ingeniosos me- 
488 
lancholicos esse; welches sich, oline Zweifel, auf die 
Stelle in des Aristoteles Prohlemata, 3o, i, bezieht. 
Auch Goethe sagt: 
Meine Dichtergluth war sehr gering, 
So lang ich dem Guten entgegenging: 
Dagegen brannte sie lichterloh. 
Wann ich vor drohendem Uebel floh. — 
Zart Gedicht, wie Regenbogen, 
Wird nur auf dunkeln Grund gezogen : 
Darum beliagt dem Dichtergenie 
Das Element der Melancholie. 
Dies ist daraus zu erklären, dass, da der Wille seine 
ursprüngliche Herrschaft über den Intellekt stets wie- 
der geltend macht, dieser, unter ungünstigen persön- 
lichen Verhältnissen, sich leichter derselben entzieht; 
weil er von widerwärtigen Umständen sich gern ab- 
wendet, gewissermaassen um sich zu zerstreuen, und 
nun mit desto grösserer Energie sich auf die fremde 
Aussenwelt richtet, also leichter rein objektiv wird. 
Günstige persönliche Verhältnisse wirken umgekehrt. 
Im Ganzen und Allgemeinen jedoch beruht die dem 
Genie beigegebene Melancholie darauf, dass der Wil- 
le zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich be- 
leuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zu- 
standes wahrnimmt. — Die so häufig bemerkte trübe 
Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild am 
Montblanc^ dessen Gipfel meistens bewölkt ist : aber 
wann bisweilen, zumal früh Morgens, der Wolken- 
schleier reisst und nun der Berg vom Sonnenlichte 
roth, aus seiner Himmelshöhe über den Wolken, auf 
Chamouni herabsieht; dann ist es ein Anblick, bei 
welchem Jedem das Herz im tiefsten Grunde aufgeht. 
So zeigt auch das meistens melancholische Genie zwi- 
schendurch die schon oben geschilderte, nur ihm 
mögliche, aus der vollkommensten Objektivität des 
Geistes entspringende, eigenthümliche Heiterkeit, die 
wie ein Lichtglanz auf seiner hohen Stirne schwebt : 
in tristitia hilaris, in hilaritate tristis. — 
Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, 
dass ihr Intellekt, dem Willen noch zu fest verbun- 
489 
den, nur unter dessen Anspornung in Thäti{fkeit ge- 
rätb, und daher eben ganz in dessen Dienste bleibt. 
Sie sind demzufolge keiner andern, als persönlicber 
Zwecke fabig. Diesen gemäss scbaffen sie scbleebte 
GemiUde, geistlose Gedicbte, seicbte, absurde, sehr 
oft aucb unredlicbe Philosopbeme, wann es nämlich 
gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hoben Vorge- 
setzten zu empfehlen. All ihr Thun und Denken ist 
also persönlich. Daher gelingt es ihnen höchstens, 
sich das Aeussere, Zufällige und Beliebige fremder, 
achter Werke als Manier anzueignen, wo sie dann, 
statt des Kerns, die Schaale fassen, jedoch vermeinen. 
Alles erreicht, ja, jene übertroffen zu haben. Wird 
dennoch dass Misslingen offenbar; so hofft Mancher, 
es durch seinen guten Willen am Ende doch zu er- 
reichen. Aber gerade dieser gute Wille macht es un- 
möglich; weil derselbe doch nur auf persönliche 
Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann es weder 
mit Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst 
werden. Auf jene passt daher ganz eigentlich die Re- 
densart: sie stehen sich selbst im Lichte. Ihnen ahndet 
es nicht, dass allein der von der Herrschaft des Wil- 
lens und allen seinen Projekten losgerissene und da- 
durch frei thätige Intellekt, weil nur er den wahren 
Ernst verleiht, zu ächten Produktionen befähigt: und 
das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins Wasser. — 
Der gute Wille ist in der Moral Alles; aber in der 
Kunst ist er nichts: da gilt, wie schon das Wort an- 
deutet, allein das Können. — Alles kommt zuletzt 
darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen 
liegt. Bei fast Allen Hegt er ausschliesslich im eige- 
nen Wohl und dem der Ihrigen; daher sie dies und 
nichts Anderes zu fördern im Stande sind: weil eben 
kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche An- 
strengung, den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst ver- 
leiht, oder ersetzt, oder richtiger verlegt. Denn er 
bleibt stets da, wo die Natur ihn hingelegt hat: ohne 
ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden. Da- 
her sorgen, aus dem selben Grunde, geniale Indivi- 
duen oft schlecht für ihre eigene Wohlfahrt. Wie ein 
bleiernes x\nhängsel einen Körper immer wieder in 
4qo 
die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe deter- 
minirter Sehwerpunkt erfordert; so zieht der wahre 
Ernst des Menschen die Kraft und Aufmerksamkeit 
seines Intellekts immer dahin zurück, u'O er liegt: al- 
les Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Da- 
her sind allein die höchst seltenen, abnormen Men- 
schen, deren wahrer Ernst nicht im Persönlichen und 
Praktischen, sondern im Objektiven und Theoretischen 
liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und der 
Welt, also diehöchsten Wahrheiten, aufzufassen und in 
irgendeiner Art und Weise wiederzugeben. Denn ein 
solcher ausserhalb des Individui, in das Objektive fallen- 
der Ernst desselben ist etwas der menschlichen Natur 
Fremdes, etwa Unnatürliches, eigentlich Uebernatür- 
liches: jedoch allein durch ihn ist ein Mensch gr^oss, 
und demgemäss wird alsdann sein Schaffen einem von 
ihm verschiedenen Genius zugeschrieben, der ihn in 
Besitz nehme. Einem solchen Menschen ist sein Bil- 
den, Dichten oder Denken Zweck, den Uebrigen ist es 
Mittel. Diese suchen dabei ihre Sache, und wissen, in 
der Regel, sie wohl zu fördern, da sie sich den Zeit- 
genossen anschmiegen, bereit, den Bedürfnissen und 
Launen derselben zu dienen : daher leben sie meistens 
in glücklichen Umständen; Jener oft in sehr elenden. 
Denn sein persönliches W^ohl opfert er dem objekti- 
ven Zweck: er kann eben nicht anders; weil dort sein 
Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt: darum sind sie 
klein; er aber ist gross. Demgemäss ist sein Werk für 
alle Zeiten, aber die Anerkennung desselben fängt 
meistens erst bei der Nachwelt an : sie leben und ster- 
ben mit ihrer Zeit. Gross überhaupt ist nur Der, wel- 
cher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein prakti- 
sches oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; 
sondern allein einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es 
aber selbst dann noch, wann, im Praktischen, dieser 
Zweck ein miss verstandener, und sogar wenn er, in 
Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Dass er nicht 
sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen 
Umständen, gross. Klein hingegen ist alles auf persön- 
liche Zwecke gerichtete Treiben; weil der dadurch 
in Thätigkeit Versetzte sich nur in seiner eigenen, 
49' 
verschwindend kleinen Person erkennt und findet. Hin- 
gegen wer gross ist, erkennt sich in Allem und daher 
im Ganzen: er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikro- 
kosmos, sondern noch mehr im Makrokosmos. Darum 
eben ist das Ganze ihm angelegen, und er sucht es zu 
erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären, 
oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es 
nicht fremd; er fühlt, dass es ihn angeht. Wegen die- 
ser Ausdehnung seiner Sphäre nennt man ihn gross. 
Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in irgend 
einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: 
es besagt, dass sie, der menschlichen Natur entgegen, i 
nicht ihre eigene Sache gesucht, nicht für sich, son- 1 
dern für Alle gelebt haben. - — Wie nun offenbar die 
Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals gross 
seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht mög- 
lich, dass nämlich Einer durchaus, d. h. stets und je- 
den Augenblick, gross sei: 
Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, 
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme. 
Jeder grosse Mann nämlich muss dennoch oft nur 
das Individuum seyn, nur sich im Auge haben, und 
das heisst klein seyn. Hierauf beruht die sehr richtige 
Bemerkung, dass kein Held es vor seinem Kammer- 
diener bleibt; nicht aber darauf, dass der Kammer- 
diener den Helden nicht zu schätzen verstehe; —wel- 
ches Goethe, in den „Wahlverwandtschaften" (ßd. 2, 
Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt. — 
Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste 
was Einer ist, muss er nothwendig für sich selbst 
seyn. „Wer mit einem Talente, zu einem Talente ge- 
boren ist, findet in demselben sein schönstes Daseyu", 
sagt Goethe. Wenn wir zu einem grossen Mann der 
Vorzeit hinaufblicken, denken wir nicht: „Wie glück- 
lich ist er, von uns Allen noch jetzt bewundert zu 
werden"; sondern: „Wie glücklich muss er gewesen 
seyn im unmittelbaren Genuss eines Geistes, an des- 
sen zurückgelassenen Spuren Jahrhunderte sich er- 
quicken." Nicht im Ruhme, sondern in Dem, wodurch 
man ihn erlangt, liegt dei' Werth, und in der Zeu- 
gung unsterblicher Kinder der Genuss. Daher sind 
Die, welche die Nichtigkeit des Nachruhms daraus zu 
beweisen suchen, dass wer ihn erlangt, nichts davon 
erfahrt, dem Klügling zu vergleichen, der einem Man- 
ne, welcher auf einen Haufen Austerschaalen im Hofe 
seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise 
die gänzliche Unbrauchbarkeit derselben demonstri- 
ren wollte. 
Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies 
zufolge ist dasselbe in sofern naturwidrig, als es darin 
besteht, dass der Intellekt, dessen eigentliche Bestim- 
mung der Dienst des Willens ist, sich von diesem 
Dienste emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu 
seyn. Demnach ist das Genie ein seiner Bestimmung 
untreu gewordener Intellekt. Hierauf beruhen die dem- 
selben hei^egehenen Nacht heile, zu deren Betrachtung 
wir jetzt den Weg uns dadurch bahnen, dass wir das 
Genie mit dem weniger entschiedenen üeberwiegen 
des Intellekts vergleichen. 
Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den 
Dienst seines Willens gebunden, mithin eigentlich 
bloss mit der Aufnahme der Motive beschäftigt, lässt 
sich ansehen als der Komplex von Drahtfäden, womit 
jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung 
gesetzt wird. Hieraus entspringt der trockene, gesetzte 
Ernst der meisten Leute, der nur noch von dem der 
Thiere übertroffen wird, als welche niemals lachen. 
Dagegen könnte man das Genie, mit seinem entfessel- 
ten Intellekt, einem unter den grossen Drahtpuppen 
des berühmten Mailändischen Puppentheaters mit- 
spielenden, lebendigen Menschen vergleichen, der un- 
ter ihnen der Einzige wäre, welcher Alles wahrnähme 
und daher gern sich von der Bühne auf eine Weile 
losmachte, um aus den Logen das Schauspiel zu ge- 
niessen : — das ist die geniale Besonnenheit. — Aber 
selbst der überaus verständige und vernünftige Mann, 
den man beinahe weise nennen könnte, ist vom Genie 
gar sehr und zwar dadurch verschieden, dass sein Intel- 
lekt eine p-aA:fiWje Richtung behält,aufdie Wahl der 
allerbesten Zwecke und Mittel bedacht ist, daher im 
493 
Dienste des Willens bleibt und demnach recht eigent- 
lich naiurgemäss beschäftigt ist. Der feste, praktische 
Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeich- 
neten, setztvoraus,dass der Intellekt nicht den Dienst 
des Willens verlasse, um hinauszusch weiten zu Dem, 
was diesen nicht angeht: darum lasst er nicht jenes 
Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, 
welches Bedingung des Genies ist. Der kluge, ja der 
eminente Kopf, der zu grossen Leistungen im Prak- 
tischen Geeignete, ist es gerade dadurch, dass die Ob- 
jekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen 
Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen an- 
spornen. Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen 
fest verwachsen. Vor dem genialen Kopf hingegen 
schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die Erschei- 
nung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand 
der Kontemplation, der sein Wollen aus dem Bewusst- 
seyn verdrängt. Um diesen Punkt dreht sich der Un- 
terschied zwischen der Befähigung zu Thaten und der 
zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und 
Tiefe der Erkenntniss, welche gänzliche Sonderung 
des Intellekts vom Willen zur Voraussetzung hat: die 
erstere hingegen verlangt Anwendung der Erkennt- 
niss, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche 
erfordert, dass der Intellekt unausgesetzt den Dienst 
des Willens besorge. Wo das Band zwischen Intellekt 
und Wille gelöst ist, wird der von seiner natürlichen 
Bestimmung abgewichene Intellekt den Dienst des 
Willens vernachlässigen: er wird z. B. selbst in der 
Noth des Augenblicks noch seine Emancipation gel- 
tend machen und etvvan die Umgebung, von welcher 
dem Individuo gegenwärtige Gefahr droht, ihrem 
malerischen Eindruck nach aufzufassen nicht umhin 
können. Der Intellekt des vernünftigen und verstän- 
digen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, 
ist auf die Umstände und deren Erfordernisse gerich- 
tet: ein solcher wird daher in allen Fällen das der 
Sache Angemessene beschliessen und ausführen, folg- 
lich keineswe{js in jene Excentricitäten, persönliche 
Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie 
darum ausgesetzt ist, dass sein Intellekt nicht aus- 
494 
schliesslich der Führer und Wächter seines Willens 
bleiht, sondern, bald mehr bald weniger, vom rein 
Objektiven in Anspruch genommen wird. Den Ge- 
gensatz, in welchem die beiden hier abstrakt darge- 
stellten, gänzlich verschiedenen Arten der Befähigung 
zu einander stehen, hat Goethe uns im Widerspiel des 
Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte 
Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn be- 
ruht eben hauptsächlich auf jener, dem Genie wesent- 
lichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des 
Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keines- 
wegs Dem zuzuschreiben, dass das Genie von geringe- 
rer Intensität des Willens begleitet sei ; da es vielmehr 
durch einen heftigen und leidenschaftlichen Charak- 
ter bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, 
dass der praktisch Ausgezeichnete, der Mann der Tha- 
ten, bloss das ganze und volle Maass des für einen 
energischen Willen erforderten Intellekts hat, wäh- 
rend den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das 
Genie aber in einem völlig abnormen, wirklichen 
Uebermaass von Intellekt besteht, dergleichen zum 
Dienste keines Willens erfordert ist. Dieserhalb eben 
sind die Männer der ächten Werke tausend Mal sel- 
tener, als die Männer der Thaten. Jenes abnorme 
Uebermaass des Intellekts eben ist es, vermöge dessen 
dieser das entschiedene Uebergewicht erhält,"sich vom 
Willen losmacht und nun, seines Ursprungs verges- 
send, aus eigener Kraft und Elasticität frei thätig ist; 
woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehen. 
Eben dieses nun ferner, dass das Genie im Wirken 
des freien, d. h. vom Dienste des Willens emancipir- 
ten Intellekts besteht, hat zur Folge, dass die Produk- 
tionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen. 
Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder 
gedichtet; — ein Werk des Genies ist kein Ding zum 
Nutzen. Unnütz zu seyn, gehört zum Charaker der 
Werke des Genies: es ist ihr Adelsbrief. Alle übrigen 
Menschenwerke sind da zur Erhaltung, oder Erleich- 
terung unserer Existenz; bloss die hier in Rede ste- 
henden nicht: sie allein sind ihrer selbst wegen da, 
und sind, in diesem Sinn, als die Blüthe, oder der 
49S 
reine Ertrag des Daseyns anzusehen. Deshalb geht 
beim Genuss derselben uns das Herz auf: denn wir 
tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther der Be- 
dürftigkeit auf. — Diesem analog sehen wir, auch aus- 
serdem, das Schöne selten mit dem Nützlichen ver- 
eint. Die hohen und schönen Bäume tragen kein Obst: 
die Obstbäume sind kleine, hässliche Krüppel. Die 
gefüllte Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die 
kleine, wilde, fast geruchlose ist es. Die schönsten Ge- 
bäude sind nicht die nützlichen: ein Tempel ist kein 
Wohnhaus. Ein Mensch von hohen, seltenen Geistes- 
gaben, genöthigt einem bloss nützlichen Geschäft, dem 
der Gewöhnlichste gewachsen wäre,obzuliegen, gleicht 
einer köstlichen, mit schönster Malerei geschmückten 
Vase, die als Kochtopf verbraucht wird; und die nütz- 
lichen Leute mit den Leuten von Genie vergleichen, 
ist wie Bausteine mit Diamanten vergleichen. 
Der bloss praktische Mensch also gebraucht seinen 
Intellekt zu Dem, wozu ihn die Natur bestimmte, 
nämlich zum Auffassen der Beziehungen der Dinge, 
theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden 
Individuums. Das Genie hingegen gebraucht ihn, der 
Bestimmung desselben entgegen, zum Auffassen des 
objektiven Wesens der Dinge. Sein Kopf gehört daher 
nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren Erleuch- 
tung in irgend einem Sinne er beitragen wird. Hieraus 
müssen dem damit begünstigten Individuo vielfältige 
Nachtheile erwachsen. Denn sein Intellekt wird über- 
haupt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeug, 
welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht 
wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er 
gleichsam der Diener zweier Herren seyn, indem er, 
bei jeder Gelegenheit, sich von dem seiner Bestim- 
mung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen 
eigenen Zwecken nachzugehen, wodurch er den Wil- 
len oft sehr zur Unzeit im Stich lässt und hienach das 
so begabte Individuum für das Leben mehr oder we- 
niger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen bis- 
weilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, 
vermöge seiner gesteigerten Erkenntnisskraft, in den 
Dingen mehr das Allgemeine, als das Einzelne sehen; 
496 
während der Dienst des Willens hauptsächlich die 
Erkenntniss des Einzelnen erfordert. Aber wann nun 
wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Er- 
kenntnisskraft sich plötzlich, mit aller ihrer Energie, 
auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens 
richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, 
Alles in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins 
Ungeheure vergrössert erblicken, wodurch das Indi- 
viduum auf lauter Extreme verfällt. Dies noch näher 
zu erklären, diene Folgendes. Alle grosse theoretische 
Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu 
Stande gebracht, dass ihr Urheber alle Kräfte seines 
Geistes auf Einen Punkt richtet, in welchen er sie zu- 
sammenschiessen lässt und koncentrirt, so stark, fest 
und ausschliesslich, dass die ganze übrige Welt ihm 
jetzt verschwindet und sein Gegenstand ihm alle Re- 
alität ausfüllt. Eben diese grosse und gewaltsame Kon- 
centration, die zu den Privilegien des Genies gehört, 
tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegen- 
ständen der W^irklichkeit und den Angelegenheiten 
des täglichen Lebens ein, welche alsdann, unter einen 
solchen Fokus gebracht, eine so monströse Vergrös- 
serung erhalten, dass sie sich darstellen wie der im 
Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten anneh- 
mende Floh. Hieraus entsteht es, dass hochbegabte 
Individuen bisweilen über Kleinigkeiten in heftige 
Affekte der verschiedensten Art gerathen, die den An- 
dern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, 
Freude, Sorge, Furcht, Zorn u. s. w. versetzt sehen, 
durch Dinge, bei welchen ein Alltagsmensch ganz 
gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die 
Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, dass 
man in den Dingen nichts weiter sieht, als was ihnen, 
besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke, 
wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner 
Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nach- 
theilen gesellt sich nun noch die übergrosse Sensi- 
bilität, welche ein abnorm erhöhtes Nerven- und 
Cerebral -Leben mit sich bringt, und zwar im Verein 
mit der dasGenie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und 
Leidenschaftlichkeit des WoUens, die sich physisch 
3 2 Schopenhauer II 497 
als Energie des Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen 
entspringt sehr leicht jene Ueberspanntheit der Stim- 
mung, jene Heftigkeit der Affekte, jener schnelle 
Wechsel der Laime, unter vorherrschender Melan- 
cholie, die Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht 
hat. Welche Vernünftigkeit, ruhige Fassung, abge- 
schlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und Gleich- 
mässigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausge- 
stattete Normalmensch, im Vergleich mit der bald 
träumerischen Versunkenheit, bald leidenschaftlichen 
Aufregung des Genialen, dessen innere Qual der 
Mutterschooss unsterblicher Werke ist. — Zu diesem 
Allen kommt noch, dass das Genie wesentlich einsam 
lebt. Es ist zu selten, als dass es leicht auf seines 
Gleichen treffen könnte, und zu verschieden von den 
Uebrigen, um ihr Geselle zu seyn. Bei ihnen ist das 
Wollen, bei ihm das Erkennen das Vorwaltende: da- 
her sind ihre Freuden nicht seine, seine nicht ihre. 
Sie sind bloss moralische Wesen und haben bloss per- 
sönliche Verhältnisse: er ist zugleich ein reiner In- 
tellekt, der als solcher der ganzen Menschheit ange- 
hört. Der Gedankengang des von seinem mütterlichen 
Boden, dem Willen, abgelösten und nur periodisch 
zu ihm zurückkehrenden Intellekts wird sich von dem 
des normalen, auf seinem Stamme haftenden, bald 
durchweg unterscheiden. Daher, und wegen der Un- 
gleichheit des Schritts, ist Jener nicht zum gemein- 
schaftlichen Denken, d. h. zur Konversation mit den 
Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drük- 
kenden Ueberlegenheit so wenig Freude haben, wie 
er an ihnen. Sie werden daher sich behaglicher mit 
ihres Gleichen fühlen, und er wird die Unterhaltung 
mit seines Gleichen, obschon sie in der Regel nur 
durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vor- 
ziehen. Sehr richtig sagt daher Cham fort: II y a peu 
de vices qui empcchent un homme d'avoir beaucoup 
d'amis, autant que peuvent le faire de trop grandes 
qualitcs. Das glücklichste Loos, was dem Genie wer- 
den kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen, als 
welches nicht sein Element ist, und freie Müsse zu 
seinem Schaffen. — Aus^diesem Allen ergiebt sich, 
498 
dass wenn gleich das Genie den damit Begabten in 
den Stunden, wo er, ihm hingegeben, ungehindert im 
Genuss desselben schwelgt, hoch beglücken mag; das- 
selbe dennoch keineswegs geeignet ist, ihm einen 
glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das 
Gegentheil. Dies bestätigt auch die in den Biographien 
niedergelegte Erfahrung. Dazu kommt noch ein Miss- 
verhältniss nach aussen, indem das Genie, in seinem 
Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner Zeit 
im Widerspruch und Kampfe steht. Die blossen Ta- 
lentmänner kommen stets zu rechter Zeit: denn, wie 
sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und vom Bedürf- 
niss derselben hervorgerufen werden, so sind sie auch 
gerade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen da- 
her ein in den fortschreitenden Bildungsgang ihrer 
Zeitgenossen, oder in die schrittweise Förderung einer 
speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen Lohn und 
Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre 
Werke nicht mehr geniessbar: sie müssen durch an- 
dere ersetzt werden, die dann auch nicht ausbleiben. 
Das Genie hingegen trifft in seine Zeit, wie ein Komet 
in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und 
übersehbarer Ordnung sein völlig excentrischer Lauf 
fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen in den 
vorgefundenen, regelmässigen Bildungsgang der Zeit, 
sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vor- 
liegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Im- 
perator seinen Speer unter die Feinde), auf welcher 
die Zeit solche erst einzuholen hat. Sein Verhältniss 
zu den während dessen kuhninirenden Talentmännern 
könnte es in den W^orten des Evangelisten aus- 
drücken: '0 xatpo? 6 efjio? outtco Trapsoiiv' 6 oe xaipo? 6 
üjxsTepo? TcavTOTs saxtv s-oi[xo<; (Job. 7, 6). — Das 
Talent vermag zu leisten was die Leistungsfähig- 
keit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der 
üebrigen überschreitet: daher findet es sogleich seine 
Schätzer. Hingegen geht die Leistung des Genies nicht 
nur über Leistungs-, sondern auch über die Apprehen- 
sionsfähigkeit der Andern hinaus: daher werden diese 
seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem 
Schützen, der ein Ziel trifft, welches die üebrigen 
32' 499 
nicht erreichen können; das Genie dem, der eines 
trifft, bis zu welchem sie nicht ein Mal zu sehen ver- 
mögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde da- 
von erhalten, und sogar diese nur auf Treu und 
Glauben annehmen. Demgemäss sagt Goethe im Lehr- 
brief: „Die Nachahmung ist uns angeboren; der Nach- 
zuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird 
das Treffliche gefunden, seltner geschätzt." Und 
Chamfort sagt: II en est de la valeur des hommes 
comme de Celle des diamans, qui, ä une certaine me- 
sure de grosseur, de purete, de perfection, ont un prix 
fixe et marque, mais qui, par-delä cette mesure, res- 
tant Sans prix, et ne trouvent point d'acheteurs. Auch 
schon Bako von Verulam hat es ausgesprochen: Infi- 
marum virtutum, apud vulgus, laus est, mediarum 
admiratio, supremarum sensus nullus (De augm. sc, 
L. VI, c. 3). Ja, möchte vielleicht Einer entgegnen, 
apud vulgus! — Dem muss ich jedoch zu Hülfe kom- 
men mit Machiavetlis Versicherung: Nel mondo non 
e se non volgo*): wie denn auch Thilo (über den 
Ruhm) bemerkt, dass zum grossen Haufen gewöhn- 
lich Einer mehr gehört, als Jeder glaubt. — Eine 
Folge dieser späten Anerkennung der Werke des Ge- 
nies ist, dass sie selten von ihren Zeitgenossen und 
demnach in der Frische des Kolorits, welche die 
Gleichzeitigkeit und Gegenwart verleiht, genossen 
werden, sondern, gleich den Feigen und Datteln, viel 
mehr im trockenen, als im frischen Zustande. — 
Wenn wir nun endlich noch das Genie von der so- 
matischen Seite betrachten; so finden wir es durch 
mehrere anatomische und physiologische Eigenschaf- 
ten bedingt, welche einzeln selten vollkommen vor- 
handen, noch seltener vollständig beisammen, den- 
noch alle unerlässlich erfordert sind ; so dass daraus 
erklärlich wird, warum das Genie nur als eine völlig 
vereinzelte, fast portentose Ausnahme vorkommt. Die 
Grundbedingung ist ein abnormes Ueberwiegen der 
Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktions- 
kraft, und zwar, was die Sache erschwert, auf einem 
männlichen Körper. (Weiber können bedeutendes Ta- 
') Es giebt nichts Anderes auf der Weh, als Vulgus. 
5oo 
lent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets 
subjektiv.) Inigleichen muss das Cerebralsystem vom 
Gangliensystem durch vollkommene Isolation rein ge- 
schieden seyn, so dass es mit diesem im vollkomme- 
nem Gegensatz stehe, wodurch das Gehirn sein Para- 
sitenleben auf dem Organismus recht entschieden, ab- 
gesondert, kräftig und unabhängig führt. Freilich 
wird es dadurch leicht feindlich auf den übrigen Or- 
ganismus wirken und, durch sein erhöhtes Leben und 
rastlose Thätigkeit, ihn frühzeitig aufreiben, wenn 
nicht auch er selbst von energischer Lebenskraft und 
wohl konstituirt ist: auch dieses Letztere also gehört 
zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen gehört 
dazu, wegen des speciellen und engen Konsensus die- 
ses Theiles mit dem Gehirn. Hauptsächlich aber muss 
das Gehirn von ungewöhnlicher Entwickelung und 
Grösse, besonders breit und hoch seyn : hingegen wird 
die Tiefendimension zurückstehen, und das grosse 
Gehirn im Verhältniss gegen das kleine abnorm über- 
wiegen. Auf die Gestalt desselben im Ganzen und in 
den Theilen kommt ohne Zweifel sehr viel an: allein 
dies genau zu bestimmen, reichen unsere Kenntnisse 
noch nicht aus; obwohl wir die edle, hohe Intelligenz 
verkündende Form eines Schädels leicht erkennen. 
Die Textur der Gehirnmasse muss von der äussersten 
Feinheit und Vollendung seyn und aus der reinsten, 
ausgeschiedensten, zartesten und erregbarsten Nerven- 
substanz bestehen: gewiss hat auch das quantitative 
Verhältniss der weissen zur grauen Substanz entschie- 
denen Einfluss, den wir aber ebenfalls noch nicht an- 
zugeben vermögen. Inswischen besagt der Obduktions- 
bericht der Leiche Byron s*), dass bei ihm die weisse 
Substanz in ungewöhnlich starkem Verhältniss zur 
grauen stand; desgleichen, dass sein Gehirn 6 Pfund 
gewogen hat. Cuviers Gehirn hat 5 Pfund gewogen: 
das normale Gewicht ist 3 Pfund. - — Im Gegensatz 
des überwiegenden Gehirns müssen Rückenmark und 
Nerven ungewöhnlich dünn seyn. Ein schön gewölb- 
ter, hoher und breiter Schädel, von dünner Knochen- 
masse, muss das Gehirn schützen, ohne es irgend ein- 
*) In Medwin's Conversations of L. Byron, p. 333. 
5oi 
zuengen. Diese ganze Beschaffenheit des Gehirns und 
Nervensystems ist das Erhtheil von der Mutter; wor- 
auf wir im folgenden Buche zurückkommen werden. 
Dieselbe ist aber, um das Phänomen des Genies her- 
vorzubringen, durchaus unzureichend, wenn nicht, 
als Erbtheil vom Vater, ein lebhaftes, leidenschaft- 
liches Temperament hinzukommt, sich somatisch dar- 
stellend als ungewöhnliche Energie des Herzens und 
folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem Kopfe hin. 
Denn hiedurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene 
Turgescenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine 
Wände drückt; daher es aus jeder durch Verletzung 
entstandenen Oeffnung in diesen hervorquillt; zwei- 
tens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens das 
Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen He- 
bung und Senkung bei jedem Athemzuge noch ver- 
schiedene Bewegung, welche in einer Erschütterung 
seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage der vier 
Cerebral-Arterien besteht und deren Energie seiner 
hier vermehrten Quantität entsprechen muss, wie 
denn diese Bewegung überhaupt eine unerlässliche 
Bedingung seiner Thätigkeit ist. Dieser ist eben da- 
her auch eine kleine Statur und besonders ein kurzer 
Hals günstig, weil, auf dem kürzern Wege, das Blut 
mit mehr Energie zum Gehirn gelangt: deshalb sind 
die grossen Geister selten von grossem Körper. Jedoch 
ist jene Kürze des Weges nicht unerlässlich: z. B. 
Goethe war von mehr als mittlerer Höhe. Wenn nun 
aber die ganze den Blutumlauf betreffende und daher 
vom Vater kommende Bedingung fehlt; so wird die 
von der Mutter stammende günstige Beschaffenheit 
des Gehirns höchstens ein Talent, einen feinen Ver- 
stand, den das alsdann eintretende Phlegma unter- 
stützt, hervorbringen: aber ein phlegmatisches Genie 
ist unmöglich. Aus dieser vom Vater kommenden 
Bedingung des Genies erklären sich viele der oben 
geschilderten Temperamentsfehler desselben. Ist hin- 
gegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei ge- 
wöhnlich oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vor- 
handen; so giebt sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze 
ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen von uner- 
!^0 2 
träglicher Unruhe und Petulanz. Dass von zwei Brü- 
dern nur der eine Genie hat, und dann meistens der 
altere, wie es z. B. Kants Fall war, ist zunächst daraus 
erklärUcii, dass nur bei seiner Zeugung der Vater im 
Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war; wie- 
wohl auch die andere, von der Mutter stammende 
Bedingung durch ungünstige Umstände verkümmert 
werden kann. 
Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hin- 
zuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, 
d. h. über eine gewisse Aehnlichkeit, welche zwischen 
dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. — In 
der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cere- 
bral- und Nervensystem entschieden überwiegend: 
denn seine Entwickelung eilt der des übrigen Orga- 
nismus weit voraus; so dass bereits mit dem sieben- 
ten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und 
Masse erlangt hat. Schon Bichat sagt daher: Dans 
Tenfance le Systeme nerveux, compare au musculaire, 
€st proportionnellement plus considerable que dans 
tous les äges suivans, tandis que, par la suite, la plus- 
part des autres systemes predominent sur celui-ci. on 
sait que, pour bien voir les nerfs, on choisit toujovu'S 
les enfans (De la vie et de la mort, Art. 8, §. 6). Am 
spätesten hingegen fängt die Entwickelung des Geni- 
talsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters 
sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion 
in voller Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Ueber- 
gewicht über die Gehirnfunktion haben. Hieraus ist 
es erklärlich, dass die Kinder, im Allgemeinen, so 
klug, vernünftig, wissbegierig und gelehrig, ja, im 
Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufge- 
legter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie 
haben nämlich in Folge jenes Entwickelungsganges 
mehr Intellekt als Willen, d. h. als Neigung, Begierde, 
Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, 
und eben so ist das Genitalsystem Eins mit der hef- 
tigsten aller Begierden : daher ich dasselbe den Brenn- 
punkt des Willens genannt habe. Eben weil die heil- 
lose Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, wäh- 
rend die des Gehirns schon volle Regsamkeit hat, ist 
5o3 
die Kindheit die Zeit der Unschuld und des Glückes, 
das Paradies des Lebens, das verlorene Eden, auf wel- 
ches wir, unsei'n ganzen übrigen Lebensweg hindurch, 
sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes 
aber ist, dass in der Kindheit unser ganzes Daseyn 
viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher 
Zustand zudem noch von aussen durch die Neuheit 
aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die 
Welt, im Morgenglanze des Lebens, so frisch, so zau- 
berisch schimmernd, so anziehend vor uns. Die klei- 
nen Begierden, schwankenden Neigungen und gering- 
fügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vor- 
walten der erkennenden Thätigkeit nur ein schwa- 
ches Gegengewicht. Der unschuldige und klare Blick 
der Kinder, an dem wir uns erquicken, und der bis- 
weilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen 
Ausdruck, mit welchem Raphael seine Engelsköpfe 
verherrlicht hat, erreicht, ist aus dem Gesagten er- 
klärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte sich 
viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu die- 
nen sie bestimmt sind : und hierin verfährt die Natur, 
wie überall, sehr zweckmässig. Denn in dieser Zeit 
der voi'waltenden Intelligenz sammelt der Mensch 
einen grossen Vorrath von Erkenntnissen, für künf- 
tige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher 
ist sein Intellekt jetzt unablässig thätig, fasst begierig 
alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert 
sie sorgfältig auf, für die kommende Zeit, — der Biene 
gleich, die sehr viel mehr Honig sammelt, als sie ver- 
zehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse. 
Gewiss ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pu- 
bertät an Einsicht und Kenntniss erwirbt, im Ganzen 
genommen, mehr, als Alles was er nachher lernt, 
würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grund- 
lage aller menschlichen Erkenntnisse. — Bis zur sel- 
ben Zeit waltet im kindlichen Leibe die Plasticität 
vor, deren Kräfte späterhin, nachdem sie ihr Werk 
vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Ge- 
nerationssystem werfen, wodurch mit der Pubertät 
der Geschlechtstrieb eintritt und jetzt allmälig der 
Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt auf die 
5o4 
vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das 
unruhige, bald stürmische, bald schwermüthige Jüng- 
lingsalter, welches nachher in das heftige und ernste 
Mannesalter übergeht. Gerade weil im Kinde jener 
unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen dessel- 
ben so gemässigt und dem Erkennen untergeordnet, 
woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz 
und Vernünftigkeit entsteht, welcher dem Kindesalter 
eigenthümlich ist. — Worauf nun die Aehnlichkeit 
des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich 
kaum noch auszusprechen: im Ueberschuss der Er- 
kenntnisskräfte über die Bedürfnisse des Willens, und 
im daraus entspringenden Vorwalten der bloss er- 
kennenden Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind ge- 
wissermaassen ein Genie, und jedes Genie gewisser- 
maassen ein Kind. Die Verwandtschaft Beider zeigt 
sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt, 
welche ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt 
auch ausserdem in manchen Zügen an den Tag; so 
dass eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charak- 
ter des Genies gehört. In Riemei^s Mittheilungen über 
Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, dass Herder und 
Andere Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein 
grosses Kind : gewiss haben sie es mit Recht gesagt, nur 
nicht mit Recht getadelt. Auch von Mozart hat es ge- 
heissen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben. (Nissens 
Biographie Mozarts: S. 2 und 629.) Schlichtegrolls Ne- 
krolog (von i79i,Bd.II,S. 109) sagt von ihm: ,, Er wur- 
de früh in seiner Kunst ein Mann ; in allen übrigen Ver- 
hältnissen aber blieb er beständig ein Kind." Jedes Genie 
ist schon darum ein grosses Kind, weil es in die Welt 
hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, da- 
her mit rein objektivem Interesse. Demgemäss hat es, 
so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit 
der Gewöhnlichen, als welche, keines anderen als des 
subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer 
bloss Motive für ihr Thun sehen. Wer nicht zeitle- 
bens gewissermaassen ein grosses Kind bleibt, sondern 
ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und 
vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher 
und tüchtiger Bürger dieser Welt sein ; nur nimmer- 
5o5 
mehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch, 
dass jenes, dem Kindesaher natürhche, Ueberwiegen 
des sensibeln Systems und der erkennenden Thätig- 
keit sich hei ihm, abnormer Weise, das ganze Leben 
hindurch erhäh,also hier ein perennirendes wird. Eine 
Spur davon zieht sicli freihch auch bei manchen ge- 
vvöhnhchen Menschen noch bis ins JünghngsaUer hin- 
über; daher z. B. an manchen Studenten noch ein 
rein geistiges Streben und eine geniale Excentricität 
imverkennbar ist. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis 
zurück: sie verpuppen sich und erstehen, iui Mannes- 
alter, als eingefleischte Philister, über die man er- 
schrickt, wann man sie in spätem Jahren wieder an- 
trifft. — Auf dem ganzen hier dargelegten Hergang 
beruht auch Goethes schöne Bemerkung: ,, Kinder 
halten nicht was sie versprechen; junge Leute sehr 
selten, und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die 
Welt nicht". (Wahlverwandtschaften, Th. I, Kap, lO.) 
Die Welt nämlich, welche die Kronen, die sie für das 
Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen aufsetzt, 
welche Werkzeuge ihrer niedrigen Absichten werden, 
oder aber sie zu betrügen verstehen. — Dem Gesag- 
ten gemäss giebt es, wie eine blosse Jugendschönheit, 
die fast Jeder Ein Mal besitzt (beaute du diable), 
auch eine blosse Jugend-Intellektualität, ein gewisses 
geistiges, zum Auffassen, Verstehen, Lernen geneigtes 
und geeignetes Wesen, welches Jeder in der Kindheit, 
Einige noch in der Jugend haben, das aber danach 
sich verliert, eben wie jene Schönheit. Nur bei höchst 
Wenigen, den Auserwählten, dauert das Eine, wie 
das Andere, das ganze Leben hindurch fort; so dass 
selbst im höhern Alter noch eine Spur davon sicht- 
bar bleibt: dies sind die wahrhaft schönen, und die 
wahrhaft genialen Menschen. 
Das hier in Erwägung genommene Ueberwiegen 
des cerebralen Nervensystems und der [ntelligenz in 
der Kindheit, nebst dem Zurücktreten derselben im 
reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung und 
Bestätigung dadurch, dass bei dem Thiergeschlechte, 
welches dem Menschen am nächsten steht, den Affen, 
das selbe Verhältniss in auffallendem Grade Statt fin- 
5 06 
det. Es ist allmalig gewiss geworden, dass der so 
höchst intelligente Orang-Utan ein junger Pongo ist, 
welcher, wann herangewachsen, die grosse Menschen- 
ähnlichkeit des Antlitzes und zugleich die erstaun- 
liche Intelligenz verliert, indem der untere, thierische 
Theil des Gesichts sich vergrössert, die Stirn dadurch 
zurücktritt, grosse cristae, zur Muskelanlage, den 
Schädel thierisch gestalten, die Thätigkeit des Ner- 
vensystems sinkt und an ihrer Stelle eine ausserordent- 
liche Muskelkraft sich entwickelt, welche, als zu sei- 
ner Erhaltung ausreichend, die grosse Intelligenz jetzt 
überflüssig macht. Besonders wichtig ist, was in die- 
ser Hinsicht Finedrich Cuvier gesagt und Flourens er- 
läutert hat in einer Recension der Histoire naturelle 
des Erstem, welche sich im Septemberheft des Jour- 
nal des Savans von 1889 befindet und auch, mit eini- 
gen Zusätzen, besonders abgedruckt ist unter dem 
Titel : Resume analytique des observations de Fr. Cu- 
vier sur Finstinct et rintelligence des animaux, p. 
Flourens. 1841. Daselbst, S. 5o, heisst es: „L'intelli- 
^oence de Torang-outang, cette intelligence si develop- 
pee, et developpeede si bonneheure, decroitavecTäge. 
L'orang-outang, lorsqu'il est jeune, nous etonne parsa 
pcnctration,par sa ruse, par son adresse ; Torang-outang, 
devenu adulte, n'est plus qu'un animal grossier, bru- 
tal, intraitable. Et il en est de tous les singes comme 
de Torang-outang. Dans tous, Tintelligence decroit ä 
mesure que les Forces s'accroissent. L'animal qui a le 
plus d'intelligence, n'a toute cette intelligence que 
dans le jeune äge." — Ferner S. 87 : „Les singes de 
tous les genres olfrent ce rapport inverse de Tage et de 
rintelligence. Ainsi, par exemple, TEntelle (espece de 
guenon du sousgenre des Semno-pitheques et Tun des 
singes veneres dans la religion des Brames) a, dans le 
jeune äge, le front large, le museau peu saillant, le 
cräne eleve, arrondi, etc. Avec Tage le front dispa- 
rait, recule, le museau proemine; et le moral ne chan- 
{je pas moins que le physique: Tapathie, la violence, 
le besoin de solitude, remplacent la penetration, la 
docilite, la confiance. ,,Ces differences sont si grandes", 
dit Mr. Fred. Cuvier, „que dans Thabitude oü nous 
607 
sommes de jiiger des actions des animaux par les no- 
tres, nous prendrions le jeune animal pour un indi- 
vidu de läge, oü toutes les qualites niorales de Tes- 
p^ce sont acqiiises, et TEntelle adulte pour im indi- 
vidu qui n'aurait encore que ses Forces physiques. 
Mais la natvire n'en ajjit pas ainsi avec ces animaux, 
qui ne doivent pas sortir de la sphere etroite, qui leur 
est fixee, et a qui il suffit en quelque sorte de pouvoir 
veiller ä leur conservation. Pour cela rintelligence 
etait necessaire, quandla Force n'existait pas, et quand 
celle-ci est acquise, toute autre puissance perd de son . 
utilite." — Und S. 1 18 : ,,La conservation des especes I 
ne repose pas moins sur les qualites intellectuelles des 
animaux, que sur leurs qualites organiques." Dieses 
Letztere bestätigt meinen Satz, dass der Intellekt, so | 
gut wie Klauen und Zahne, nichts Anderes, als ein ■ 
Werkzeug zum Dienste des Willens ist. 
KAPITEL 32*). 
UEBER DEN WAHNSINN. 
DIE eigentliche Gesundheit des Geistes besteht in 
der vollkommenen Rückerinnerung. Freilich ist 
diese nicht so zu verstehen, dass unser Gedachtniss 
Alles auFbewahrte.Denn unser zurückgelegterLebens- 
weg schruinpFt in der Zeit zusammen, wie der des 
zurücksehenden Wanderers im Raum : bisweilen wird 
es uns schwer, die einzelnen Jahre zu unterscheiden; 
die Tage sind meistens unkenntlich geworden. Eigent- 
lich aber sollen nur die ganz gleichen und un- 
zählige Mal wiederkehrenden Vorgänge, deren Bil- 
der gleichsam einander decken, in der Erinnerung 
so zusammenlauFen, dass sie individuell imkenntlich 
werden: hingegen muss jeder irgend eigenthümliche, 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf die zweite Hälfte des §.36 
des ersten Bandes. [S. 3 23 d. A.] 
.5o8 
J 
oder bedeutsame Vorgang in der Erinnerung wieder 
aufzufinden seyn; wenn der Intellekt normal, krähig 
und ganz gesund ist. — Als den zerrissenen Faden 
dieser, wenn auch in stets abnehmender Fülle und 
Deutlichkeit, doch gleichmässig fortlaufenden Erin- 
nerung habe ich im Texte den Wahnsinn dargestellt. 
Zur Bestätigung hievon diene folgende Betrachtung. 
Das Gedächtniss eines Gesunden gewährt über ei- 
nen Vorgang, dessen Zeuge er gewesen, eine Gewiss- 
heit, welche als eben so fest und sicher angesehen 
wird, wie seine gegenwärtige Wahrnehmung einer 
Sache; daher derselbe, wenn von ihm beschworen, 
vor Gericht dadurch festgestellt wird. Hingegen wird 
der blosse Verdacht des Wahnsinns die Aussage eines 
Zeugen sofort entkräften. Hier also liegt das Kriteri- 
um zwischen Geistesgesundheit und Verrücktheit. So- 
bald ich zweifle, ob ein Vorgang, dessen ich mich er- 
innere, auch wirklich Statt gefunden, werfe ich auf 
mich selbst den Verdacht des Wahnsinns; es sei denn, 
ich wäre ungewiss, ob es nicht ein blosser Traum ge- 
wesen. Zweifelt ein Anderer an der Wirklichkeit ei- 
nes von mir als Augenzeugen erzählten Vorgangs, 
ohne meiner Redlichkeit zu misstrauen; so hält er 
mich für verrückt. Wer durch häufig wiederholtes 
Erzählen eines ursprünglich von ihm erlogenen Vor- 
ganges endlich dahin kommt, ihn selbst zu glauben, 
ist, in diesem Einen Punkt, eigentlich schon verrückt. 
Man kann einem Verrückten witzige Einfälle, einzel- 
ne gescheute Gedanken, selbst richtige ürtheile zu- 
trauen : aber seinem Zeugniss über vergangene Bege- 
benheiten wird man keine Gültigkeit beilegen. In der 
Lalitavistara, bekanntlich der Lebensgeschichte des 
Buddha Schakya-Muni, wird erzählt, dass, im Augen- 
blicke seiner Geburt, auf der ganzen Welt alle Kran- 
ke gesund, alle Blinde sehend, alle Taube hörend 
wurden und alle Wahnsinnigen „ihr Gedächtniss wie- 
dererhielten". Letzteres wird sogar an zwei Stellen 
«rwähnt*). 
•) Rgya Tcher Rol Pa, Hist. de Bouddha Chakya Mouni, trad. 
du Tibetain p. Foucaux, 1848, p. 91 et 99. 
Sog 
Meine eigene, vieljährige Erfahrung hat mich auf 
die Venniuhung gefülirt, dass Wahnsinn verhäkniss- 
mässig am häutigsten hei Schauspielern eintritt. Wel- 
chen Misshrauch treihen aber auch diese Leute mit 
ihrem Gedachtniss! Täglich haben sie eine neue Rol- 
le einzulernen, oder eine alte aufzuirischen : diese Rol- 
len sind aber sämmtlich ohne Zusammenhang, ja, im 
Widerspruch und Kontrast mit einander, und jeden 
Abend ist der Schauspieler bemüht, sich selbst ganz 
zu vergessen, um ein völlig Anderer zu seyn. Der- 
gleichen bahnt geiadezu den Weg zum W^ahnsinn. 
Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung 
des Wahnsinns Avird fasslicher werden, wenn man 
sich erinnert, wie ungern wir an Dinge denken, wel- 
che unser Interesse, unsern Stolz, oder unsere W^ün- 
sche stark verletzen, wie schwer wir uns entschlies- 
sen. Dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer 
und ernster Untersuchung vorzulegen, wie leicht wir 
dagegen unbewusst davon wieder abspringen, oder 
abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegen- 
heiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen und, 
wenn verscheucht, uns stets wieder beschleichen, da- 
her wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem 
W^iderstreben des Willens, das ihm Widrige in die 
Releuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt 
die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist 
einbrechen kann. Jeder widrige neue Vorfall näm- 
lich muss vom Intellekt assimilirt werden, d. h. im 
System der sich auf unsern Willen und sein Interesse 
beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was 
immer Befriedigenderes er auch zu verdrängen ha- 
ben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt er schon 
viel weniger: aber diese Operation selbst ist oft sehr 
schmerzlich, geht auch meistens nur lan{jsam und mit 
Widerstreben von Statten. Inzwischen kann nur so- 
fern sie jedesmal richtig vollzogen worden, die Ge- 
sundheit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen, in 
einem einzelnen Fall, das W^iderstreben und Sträu- 
ben des W^illens wider die Aufnahme einer Erkennt- 
niss den Grad, dass jene Operation nicht rein durch- 
geführt wird; werden demnach dem Intellekt gewis- 
5 I o 
se Vorfalle oder Umstände völlig unterschlagen, weil 
der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird 
alsdann, des nothwendigen Zusammenhangs wegen, 
die dadurch entstandene Lücke beliebig ausgefüllt; 
— so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat 
seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der 
Mensch bildet sich jetzt ein, was nicht ist. Jedoch 
wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe 
unerträglicher Leiden : er war das letzte Hülfsniittel 
der geängstigten Natur, d. i. des Willens. 
Beiläufig sei hier ein beachtungswerther Beleg mei- 
ner Ansicht erwähnt. Korlo Gozzi, im Mostro tur- 
chino, Akt i, Szene 2, führt uns eine Person vor, wel- 
che einen Vergessenheit herbeiführenden Zaubertrank 
getrunken hat, diese stellt sich ganz wie eine Wahn- 
sinnige dar. 
Der obigen Darstellung zufolge kann man also den 
Ursprung des W^ahnsinns ansehen als ein gewaltsa- 
mes „Sich aus dem Sinn schlagen" irgend einer Sa- 
che, welches jedoch nur möglich ist mittelst des „Sich 
in den Kopf setzen" irgend einer andern. Seltener ist 
der' umgekehrte Hergang, dass nämlich das „Sich in 
den Kopf setzen" das Erste und das ,,Sich aus dem 
Sinn schlagen" das Zweite ist. Er findet jedoch Statt 
in den Fällen, wo Einer den Anlass, über welchen er 
verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und 
nicht davon los kommen kann : so z. B. bei manchem 
verliebten Wahnsinn, Erotomanie, wo dem Anlass 
fortwährend nachgehangen wird; auch bei dem aus 
Schreck über einen plötzlichen, entsetzlichen Vorfall 
entstandenen W^ahnsinn. Solche Kranke halten den 
gefassten Gedanken gleichsam krampfhaft fest, so 
dass kein anderer, am wenigsten ein ihm entgegen- 
stehender, aufkommen kann. Bei beiden Hergängen 
bleibt aber das Wesentliche des Wahnsinns das Sel- 
be, nämlich die Unmöglichkeit einer gleichförmig zu- 
sammenhängenden Bückerinnerung, wie solche die 
Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit 
ist. — Vielleicht könnte der hier dargestellte Gegen- 
satz der Entstehungsweise, wenn mit Unheil ange- 
5ii 
wandt, einen scharfen und tiefen Eintheilungsgrund 
des eigentlichen Irrwahns abgeben. 
Uebrigens habe ich nur den psychischen Ursprung 
des Wahnsinns in Betracht genommen, also den durch 
äussere, objektive Anlässe herbeigeführten. Oefter je- 
doch beruht er auf rein somatischen Ursachen, auf 
Missbildungen, oder partiellen Desorganisationen des 
Gehirns, oder seiner Hüllen, auch auf dem Einfluss, 
welchen andere krankhaft aflizirte Theile auf das 
Gehirn ausüben. Hauptsächlich bei letzterer Art des 
Wahnsinns mögen falsche Sinnesanschauungen, Hal- 
lucinationen, vorkommen. Jedoch werden beiderlei 
Ursachen des Wahnsinns meistens von einander par- 
ticipiren, zumal die psychische von der somatischen. 
Es ist damit wie mit dem Selbstmorde: selten mag 
dieser durch den äussern Anlass allein herbeigeführt 
seyn, sondern ein gewisses körperliches Missbehagen 
liegt ihm zum Grunde, und je nach dem Grade, den 
dieses erreicht, ist ein grösserer oder kleinerer Anlass 
von aussen erforderlich; nur beim höchsten Grade 
desselben gar keiner. Daher ist kein Unglück so gross, 
dass es Jeden zum Selbstmord bewöge, und keines so 
klein, dass nicht schon ein ihm gleicbes dahin geführt 
hätte. Ich habe die psychische Entstehung des Wahn- 
sinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem 
Anschein nach. Gesunden durch ein grosses Unglück 
herbeigeführt wird. Bei dem somatisch bereits stark 
dazu Disponirten wird eine sehr geringe Widerwär- 
tigkeit dazu hinreichend seyn: so z. B. erinnere ich 
mich eines Menschen im Irrenhause, welcher Soldat 
gewesen und wahnsinnig geworden war, weil sein 
Offizier ihn mit Er angeredet hatte. Bei entschiedener 
körperlicher Anlage, bedarf es, sobald diese zur Reife 
gekommen, gar keines Anlasses. Der aus bloss psy- 
chischen Ursachen entsprungene Wahnsinn kann 
vielleicht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame 
Verkehrung des Gedankenlauls, auch eine Art Läh- 
mung oder sonstige Depravation irgend welcher Ge- 
hirntheile herbeiführen, welche, wenn nicht bald ge- 
hoben, bleibend wird; daher Wahnsinn nur im An- 
fang, nicht aber nach längerer Zeit heilbar ist. 
5 I 2 
Dass es eine mania sine delirio, Raserei ohne Ver- 
rücktheit, gebe, hatte Pinel gelehrt, Esijuirol bestrit- 
ten, und seitdem ist viel dafür und dawider gesagt 
worden. Die fVage ist nur empirisch zu entscheiden. 
Wenn aber ein solcher Zustand wirklich vorkommt; 
so ist er daraus zu erklären, dass hier der Wille 
sich der Herrschaft und Leitung des Intellekts, 
und mithin der Motive, periodisch ganz entzieht, wo- 
durch er dann als blinde, ungestüme, zerstörende 
Naturkraft auftritt, und demnach sich äussert als die 
Sucht, Alles, was ihm in den Weg kommt, zu ver- 
nichten. Der so losgelassene Wille gleicht dann dem 
Strome, der den Damm durchbrochen, dem Rosse, 
das den Reiter abgeworfen hat, der Uhr, aus welcher 
die hemmenden Schrauben herausgenommen sind. 
Jedoch wird bloss die Vernunft, also die reßektive Er- 
kenntniss, von jener Suspension getroffen, nicht auch 
die intuitive \ da sonst der Wille ohne alle Leitung, 
folglich der Mensch unbeweglich bliebe. Vielmehr 
nimmt der Rasende die Objekte wahr, da er auf sie 
losbricht; bat auch Rewusstseyn seines gegenwärtigen 
Thuns und nachher Erinnerung desselben. Aber er 
ist ohne alle Reflexion, also ohne alle Leitung durch 
Vernunft, folglich jeder Ueberlegung und Rücksicht 
auf das Abwesende, das Vergangene und Zukünftige 
ganz unfähig. Wann der Anfall vorüber ist und die 
Vernunft die Herrschaft wiedererlangt hat, ist ihre 
Funktion regelrecht, da ihre eigene Thätigkeit hier 
nicht verrückt und verdorben ist, sondern nur der 
Wille das Mittel gefunden hat, sich ihr auf eine Weile 
ganz zu entziehen. 
33 Schopenhauer II 5l3 
KAPITEL 33 *). 
VEREINZELTE BEMERKUNGEN ÜBER NATUR- 
SCHÖNHEIT. 
DEN Anblick einer schönen Landschaft so überaus 
erfreulich zumachen, trä{i;t unter Anderniauch die 
durch{jängige Wahrheit und Konsequenz der Natur 
bei. Diese befol^jt hier freilich nicht den logischen 
Leitfaden, im Zusammenhange der Erkenntnissgrün- 
de, der Vordersätze und Nachsätze, Prämissen und 
Konklusionen; aber doch den ihm analogen des Kan- 
salitätsgesetzes, im sichtlichen Zusammenhange der 
Ursachen und Wirkungen. Jede Modifikation, auch 
die leiseste, welche ein Gegenstand durch seine Stel- 
lung, Verkürzung, Verdeckung, Entfernung, Beleuch- 
tung, Linear- und Luft-Perspektive u. s. \v. erhält, 
wird durch seine Wirkung auf das Auge unfehlbar 
angegeben und genau in Rechnung gebracht : das In- 
dische Sprichwort „Jedes Reiskörnchen wirft seinen 
Schatten" findet hier Bewährung. Daher zeigt sich 
hier Alles so durchgängig folgerecht, genau regel- 
recht, zusammenhängend und skrupulös richtig: hier 
giebt es keine Winkelzüge. Wenn wir nun den An- 
blick einer schönen x\ussicht bloss als Gehirnphäno- 
men in Betracht nehmen ; so ist er das einzige stets 
ganz regelrechte, tadellose und vollkommene, unter 
den komplicirten Gehirnphänomenen; da alle übri- 
gen, zumal unsere eigenen Gedankenoperationen, im 
Formalen oder Materialen, mit Mängeln oder Un- 
richtigkeiten, mehr oder weniger, behaftet sind. Aus 
diesem Vorzug des Anblicks der schönen Natur ist 
zunächst das Harmonische und durchaus Befriedi- 
gende seines Eindrucks zu erklären, dann aber auch 
die günstige Wirkung, welche derselbe auf unser ge- 
sammtes Denken hat, als welches dadurch, in seinem 
formalen Theil, richtiger gestimmt und gewisser- 
maassen geläutert wird, indem jenes allein ganz ta- 
*) Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §.38 des ersten Ban- 
des. [S. 23; d. A.] 
5 I 4 
dellose Gehirnphänomen das Gehirn überhaupt in 
eine völli{j normale Aktion versetzt und nun das Den- 
ken im Konsequenten, Zusammenhangenden, Regel- 
rechten und Harmonischen aller seiner Processe, jene 
Methode der Natur zu befolgen sucht, nachdem es 
durch sie in den rechten Schwung gebracht worden. 
Eine schöne Aussicht ist daher ein Kathartikon des 
Geistes, wie die Musik, nach Aristoteles, des Gemü- 
thes, und in ihrer Gegenwart wird man am richtig- 
sten denken. — 
Dass der sich plötzlich vor uns aufthuende Anblick 
der Gebirge uns so leicht in eine ernste, auch wohl 
erhabene Stimmung versetzt, mag zum Theil darauf 
beruhen, dass die Form der Berge und der daraus 
entstehende ümriss des Gebirges die einzige stets blei- 
bende Linie der Landschaft ist, da die Berge allein 
dem Verfall trotzen, der alles Uebrige schnell hin- 
wegrafft, zumal unsere eigene, ephemere Person. 
Nicht, dass beim Anblick des Gebirgs alles Dieses in 
unser deutliches Bewusstseyn träte, sondern ein dun- 
kles Gefühl davon wird der Grund bass unserer Stim- 
mung. — 
Ich möchte wissen, warum, während für die 
menschliche Gestalt und Antlitz die Beleuchtung von 
oben durchaus die vortheilhafteste und die von un- 
ten die ungünstigste ist, hinsichtlich der landschaft- 
lichen Natur gerade das Umgekehrte gilt. — 
Wie ästhetisch ist doch die Natur! Jedes ganz un- 
angebaute und verwilderte, d. h. ihr selber frei über- 
lassene Fleckchen, sei es auch klein, wenn nur die 
Tatze des Menschen davon bleibt, dekorirt sie als- 
bald auf die geschmackvollste Weise, bekleidet es mit 
Pflanzen, Blumen und Gesträuchen, deren ungezwun- 
genes Wesen, natürliche Gi'azie und anmuthige Grup- 
pirung davon zeugt, dass sie nicht unter der Zucht- 
ruthe des grossen Egoisten aufgewachsen sind, son- 
dern hier die Natur frei gewaltet hat. Jedes vernach- 
lässigte Plätzchen wird alsbald schön. Hierauf be- 
ruht das Princip der Englischen Gärten, welches ist, 
die Kunst möglichst zu verbergen, damit es aussehe, 
als habe hier die Natur frei gewaltet. Denn nur dann 
33* 5i5 
ist sie vollkommen schön, d. h. zeigt in grösster Deut- 
lichkeit die Objektivation des noch erkenntnisslosen 
Willens zum Leben, der sich hier in grösster Naive- 
tät entfaltet, weil die Gestalten nicht, wie in der 
Thierwelt, bestimmt sind durch ausserhalb liegende 
Zwecke, sondern allein unmittelbar durch Boden, 
Klima und ein geheimnissvolles Drittes, vermöge des- 
sen so viele Pflanzen, die ursprünglich dem selben 
Boden und Klima entsprossen sind, doch so verschie- 
dene Gestalten und Charaktere zeigen. 
Der mächtige Unterschied zwischen den Englischen, 
richtiger Chinesischen Gärten und den jetzt immer 
seltener werdenden, jedoch noch in einigen Pracht- 
exemplaren vorhandenen, altfranzösischen, beruht im 
letzten Grunde darauf, dass jene im objektiven, diese 
im subjektiven Sinne angelegt sind. In jenen nämlich 
wird der Wille der Natur, wie er sich in Baum, 
Staude, Berg und Gewässer objektivirt, zu möglichst 
reinem Ausdruck dieser seiner Ideen, also seines eige- 
nen Wesens, gebracht. In den Französischen Gärten 
hingegen spiegelt sich nur der Wille des Besitzers, 
welcher die Natur unterjocht hat, so dass sie, statt 
ihrer Ideen, die ihm entsprechenden, ihr aufgezwun- 
genen Formen, als Abzeichen ihrer Sklaverei, trägt: 
geschorene Hecken, in allerhand Gestalten geschnit- 
tene Bäume, gerade Alleen, Bogengänge u. s. w. 
KAPITEL 34*). 
UEBER DAS INNERE WESEN^DER KUNST. 
NICHT bloss die Philosophie, sondern auch die 
schönen Künste arbeiten im Grundedarauf hin, das 
Problem des Daseyns zu lösen. Denn in jedem Geiste, 
der sich ein Mal der rein objektiven Betrachtung der 
*) Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. 49 des ersten Ban- 
des. [S. 283 d. A.] 
5i6 
Welt hingiebt, ist, wie versteckt und unbewusst' es 
auch seyn mag, ein Streben rege geworden, das wahre 
Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseyns, zu er- 
fassen. Denn Dieses allein hat Interesse für den Intel- 
lekt als solchen, d. h. für das von den Zwecken des 
Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Er- 
kennens; wie für das als blosses Individuum erken- 
nende Subjekt die Zwecke des Willens allein Interesse 
haben. — Dieserhalb ist das Ergebniss jeder rein ob- 
jektiven, also auch jeder künstlerischen Auffassung 
der Dinge ein Ausdruck mehr vom Wesen des Lebens 
und Daseyns, eine Antwort mehr auf die Frage: 
,,Was ist das Leben?" — Diese Frage beantwortet 
jedes ächte und gelungene Kunstwerk, auf seine Weise, 
völlig richtig. Allein die Künste reden sämmtlich nur 
die naive und kindliche Sprache der Anschauung, 
nicht die abstrakte und ernste der Reflexion: ihre 
Antwort ist daher ein flüchtiges Bild; nicht eine blei- 
bende allgemeine Erkenntniss. Also für die Anschau- 
ung beantwortet jedes Kunstwerk jene Frage, jedes 
Gemälde, jede Statue, jedes Gedicht, jede Scene auf 
der Bühne: auch die Musik beantwortet sie; und 
zwar tiefer als alle anderen, indem sie, in einer ganz 
unmittelbar verständlichen Sprache, die jedoch in die 
der Vernunft nicht übersetzbar ist, das innerste We- 
sen alles Lebens und Daseyns ausspricht. Die übrigen 
Künste also halten sämmtlich dem Frager ein an- 
schauliches Bild vor und sagen: „Siehe hier, das ist 
das Leben!" — Ihre Antwort, so richtig sie auch 
seyn mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, 
nicht eine gänzliche und finale Befriedigung gewäh- 
ren. Denn sie geben iminer nur ein Fragment, ein 
Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches 
nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben wer- 
den kann. Für diesen daher, also für die Reflexion 
und in abstracto, eine eben deshalb bleibende und 
auf immer genügende Beantwortung jener Frage zu 
geben, — ist die Aufgabe der Philosophie. Inzwischen 
sehen wir hier, worauf die Verwandtschaft der Philo- 
sophie mit den schönen Künsten beruht, und können 
daraus abnehmen, inwiefern auch die Fähigkeit zu 
5 17 
Beiden, wiewohl in ihrer Richtung und im Sekun- 
dären sehr verschieden, doch in der Wurzel die 
selbe ist. 
Jedes Kunstwerk ist demgemäss eigentlich bemüht, 
uns das Leben und die Dinge so zu zei{jeii, wie sie in 
Wahrheit sind, aber, durch den Nebel objektiver und 
subjektiver Zufälligkeiten hindurch, nicht von Jedem 
unmittelbar erfasst werden können. Diesen Nebel 
nimmt die Kunst hinweg. 
Die W^erke der Dichter, Bildner und darstellenden 
Künstler überhaupt enthalten anerkanntermaassen 
einen Schatz tiefer Weisheit: eben weil aus ihnen die 
Weisheit der Natur der Dinge selbst redet, deren Aus- 
sagen sie bloss durch Verdeutlichung und reinere 
Wiederholung verdolmetschen. Deshalb muss aber 
freilich auch Jeder, der das Gedicht liest, oder das 
Kunstwerk betrachtet, aus eigenen Mitteln beitragen, 
jene Weisheit zu Tage zu fördern: folglich fasst er 
nur so viel davon, als seine Fähigkeit und seine Bil- 
dung zulässt; wie ins tiefe Meer jeder Scbiffer sein 
Senkblei so tief hinablässt, als dessen Länge reicbt. 
Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor 
einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm 
sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht 
selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst 
vernehmen. — Dem allen zufolge ist in den Werken 
der darstellenden Künste zwar alle Weisheit enthal- 
ten, jedoch nur virtualiter oder implicite: hingegen 
dieselbe actualiter und explicite zu liefern ist die 
Philosophie bemüht, welche in diesem Sinne sich zu 
jenen verhält, wie der Wein zu den Trauben. Was 
sie zu liefern verspricht, wäre gleichsam ein schon 
realisirter und baarer Gewinn, ein fester und blei- 
bender Besitz; während der aus den Leistungen und 
Werken der Kunst hervorgehende nur ein stets neu 
zu erzeugender ist. Dafür aber macht sie nicht bloss 
an Den, der ihre Werke schaffen, sondern auch an 
Den, der sie geniessen soll, abschreckende, schwer zu 
erfüllende Anforderungen. Daher bleibt ihr Publikum 
klein, während das der Künste gross ist. — 
Die oben zum Genuss eines Kunstwerkes verlangte 
5iS 
Mitwirkung des Beschauers beruht zum Theil darauf, 
dass jedes Kunstwerk nur durch das Medium der 
Phantasie wirken kann, daher es diese anregen muss 
und sie nie aus dem Spiel gelassen werden und un- 
thatig bleiben darf. Dies ist eine Bedingung der ästhe- 
tischen Wirkung und daher ein Grundgesetz aller 
schönen Künste. Aus demselben aber folgt, dass, 
durch das Kunstwerk, nicht Alles geradezu den Sin- 
nen gegeben werden darf, vielmehr nur so viel, als 
erfordert ist, die Phantasie auf den rechten Weg zu 
leiten: ihr muss immer noch etwas und zwar das 
Letzte zu thun übrig bleiben. Muss doch sogar der 
Schriftsteller stets dem Leser noch etwas zu denken 
übrig lassen; da Voltaire sehr richtig gesagt hat: Le 
secret d'etre ennuyeux, c'est de tout dire. In der 
Kunst aber ist überdies das Allerbeste zu geistig, um 
geradezu den Sinnen gegeben zu werden: es muss in 
der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch 
das Kunstwerk erzeugt werden. Hierauf beruht es, 
dass die Skizzen grosser Meister oft mehr wirken, als 
ihre ausgemalten Bilder; wozu freilich noch der an- 
dere Vortheil beiträgt, dass sie, aus einem Guss, im 
Augenblick der Konception vollendet sind; während 
das ausgeführte Gemälde, da die Begeisterung doch 
nicht bis zu seiner Vollendung anhalten kann, nur 
unter fortgesetzter Bemühung, mittelst kluger üeber- 
legung und beharrlicher Absichtlichkeit zu Stande 
kommt. — Aus dem in Rede stehenden ästhetischen 
Grundgesetze wird ferner auch erklärlich, warum 
Wachsfiguren^ obgleich gerade in ihnen die Nach- 
ahmung der Natur den höchsten Grad erreichen 
kann, nie eine ästhetische Wirkung hervorbringen und 
daher nicht eigentliche Werke der schönen Kunst 
sind. Denn sie lassen der Phantasie nichts zu thun 
übrig. Die Skulptur nämlich giebt die blosse Form, 
ohne die Farbe ; die Malerei giebt die Farbe, aber den 
blossen Schein der Form : Beide also wenden sich an 
die Phantasie des Beschauers. Die Wachsfigur hin- 
gegen giebt Alles, Form und Farbe zugleich; woraus 
der Schein der Wirklichkeit entsteht und die Phan- 
tasie aus dem Spiele bleibt. — Dagegen wendet die 
5i9 
Poesie sich sogar allein an die Phantasie, welche sie 
mittelst blosser Worte in Thätigkeit versetzt. ■ — 
Ein willkürliches Spielen mit den Mitteln der 
Kunst, ohne eigentliche Kenntniss des Zweckes, ist, 
in jeder, der Grundcharakter der Pfuscherei. Ein sol- 
ches zeigt sich in den nichts tragenden Stützen, den 
zwecklosen Voluten, Bauschungen und Vorsprüngen 
schlechter Architektur, in den nichtssagenden Läufen 
und Figuren, nebst dem zwecklosen Lenu schlechter 
Musik, im Klingklang der Reime sinnarmer Gedichte, 
u. s. w. — 
In Folge der vorhergegangenen Kapitel und meiner 
ganzen Ansicht von der Kunst, ist ihr Zweck die Er- 
leichterung der Erkenntniss der Ideen der Welt (im 
Platonischen Sinn, dem einzigen, den ich für das 
Wort Idee anerkenne). Die Ideen aber sind wesent- 
lich ein Anschauliches und daher, in seinen nähern 
Bestimmungen, Unerschöpfliches. Die Mittheilung 
eines solchen kann daher nur auf dem Wege der An- 
schauung geschehen, welches der der Kunst ist. Wer 
also von der Auffassung einer Idee erfüllt ist, ist ge- 
rechtfertigt, wenn er die Kunst zum Medium seiner 
Mittheilung wählt. — Der blosse Begriß" hingegen 
ist ein vollkommen Bestimmbares, daher zu Erschöp- 
fendes, deutlich Gedachtes, welches sich, seinem gan- 
zen Inhalt nach, durch Worte, kalt und nüchtern 
mittheilen lässt. Ein Solches nun aber durch ein 
Kunstwerk mittheilen zu w^ollen, ist ein sehr unnützer 
Umweg, ja, gehört zu dem eben gerügten Spielen mit 
den Mitteln der Kunst, ohne Kenntniss des Zwecks. 
Daher ist ein Kunstwerk, dessen Konception aus 
blossen deutlichen Begriffen hervorgegangen, alleinal 
ein unächtes. Wenn wir nun, bei Betrachtung eines 
Werkes der bildenden Kunst, oder beim Lesen einer 
Dichtung, oder beim Anhören einer Musik (die etwas 
Bestimmtes zu schildern bezweckt), durch alle die 
reichen Kunstmiltel hindurch, den deutlichen, be- 
gränzten, kalten, nüchternen Begriff durchschimmern 
und am Ende hervortreten sehen, welcher der Kern 
dieses Werkes war, dessen ganze Konception mithin 
nur im deutlichen Denken desselben bestanden hat 
52ü 
und demnach durch die Mittheilung desselben von 
Grund aus erschöpft ist; so empfinden wir Ekel und 
Unwillen : denn wir sehen uns getäuscht und um un- 
sere Theilnahme und Aufmerksamkeit betrogen. Ganz 
befriedigt durch den Eindruck eines Kunstwerks sind 
wir nur dann, wann er etwas hinterlässt, das wir, bei 
allem Nachdenken darüber, nicht bis zur Deutlichkeit 
eines Begriffs herabziehen können. Das Merkmal jenes 
hybriden Ursprungs aus blossen Begriffen ist, dass 
der Urheber eines Kunstwerks, ehe er an die Aus- 
führung gieng, mit deutlichen Worten angeben 
konnte, was er darzustellen beabsichtigte: denn da 
wäre durch diese Worte selbst sein ganzer Zweck zu 
erreichen gewesen. Daher ist es ein so unwürdiges, 
wie albernes Unternehmen, wenn man, wie heut zu 
Tage öfter versucht worden, eine Dichtung Shake- 
speare's, oder Goethe's, zurückführen will auf eine 
abstrakte Wahrheit, deren Mittheilung ihr Zweck 
gewesen wäre. Denken soll freilich der Künstler, bei 
der Anordnung seines Werkes: aber nur das Ge- 
dachte, was geschaut wurde ehe es gedacht war, hat 
nachmals, bei der Mittheilung, anregende Kraft und 
wird dadurch unvergänglich. — Hier wollen wir nun 
die Bemerkung nicht unterdrücken, dass allerdings 
die Werke aus einem Guss, wie die bereits erwähnte 
Skizze der Maler, welche in der Begeisterung der 
ersten Konception vollendet, und wie unbevvusst hin- 
gezeichnet wird, desgleichen die Melodie, welche ohne 
alle Reflexion und völlig wie durch Eingebung 
kommt, endlich auch das eigentlich lyrische Gedicht, 
das blosse Lied, in welches die tief gefühlte Stim- 
mung der Gegenwart und der Eindruck der Umge- 
bung sich mit Worten, deren Silbenmaasse und Reime 
von selbst eintreffen, wie unwillkürlich ergiesst, — 
dass, sage ich, diese Alle den grossen Vorzug haben, 
das lautere Werk der Begeisterung des Augenblicks, 
der Inspiration, der freien Regung des Genius zu seyn, 
ohne alle Einmischung der Absichtlichkeit und Re- 
flexion; daher sie eben durch und durch erfreulich 
und geniessbar sind, ohne Schaale und Kern, und 
ihre Wirkung viel unfehlbarer ist, als die der grössten 
52 I 
Kunstwerke, von lan{jsamer und überlegter Ausfüh- 
rung. An allen diesen nämlich, also an den grossen 
historischen Gemälden, an den langen Epopöen, den 
grossen Opern u. s. w. hat die Reflexion, die Absicht 
und durchdachte Wahl bedeutenden Anthcil: Ver- 
stand, Technik und Routine müssen hier die Lücken 
ausfüllen, welche die geniale Konception und Be- 
geisterung gelassen hat, und allerlei nothwendiges 
Nebenwerk muss, als Cäment der eigentlich allein 
ächten Glanzpartien, diese durchziehen. Hieraus ist 
es erklärlich, dass alle solche Werke, die vollkom- 
mensten Meisterstücke der allergrössten Meister (wie 
z. B. Hamlet, Faust, die Oper Don Juan) allein aus- 
genommen, einiges Schaales und Langweiliges un- 
vermeidlich beigemischt erhalten, welches ihren 
Genuss in etwas verkünmiert. Belege hiezu sind die 
Messiade, die Gerusalemme liberata, sogar Paradise 
lost und die Aeneide: macht doch schon Horaz die 
kühne Bemerkung: Quandoque dormitat bonus Ho- 
merus. Dass aber Dies sich so verhält ist eine Folge 
der Beschränkung menschlicher Kräfte überhaupt. — 
Die Mutter der nützlichen Künste ist die Noth; die 
der schönen der Ueberfluss. Zum Vater haben jene 
den Verstand, diese das Genie, welches selbst eine 
Art Ueberfluss ist, nämlich der der Erkenntniss- 
kraft über das zum Dienste des Willens erforderliche 
Maass. 
KAPITEL 35*). 
ZUR AESTHETIK DER ARCHITEKTUR. 
IN Gemässheit der im Texte gegebenen Ableitung 
des rein Aesthetischen der Baukunst aus den unter- 
sten Stufen der Objektivation des Willens, oder der 
Natur, deren Ideen sie zu deutlicher Anschaulichkeit 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §.43 des ersten Bandes. [S. 
2 58 d. A.] 
.52 2 
I 
bringen will, ist das einzige und beständige Thema 
derselben Stütze und Last, und ihr Grundgesetz, dass 
keine Last ohne genügende Stütze, und keine Stütze 
ohne angemessene Last, mithin das Verhältniss die- 
ser Beiden gerade das passende sei. Die reinste Aus- 
führung dieses Themas ist Säule und Gebälk: daher 
ist die Säulenordnung gleichsam der Generalbass der 
ganzen Architektur geworden. In Säule und Gebälk 
nämlich sind Stütze und Last vollkommen gesondert., 
wodurch die gegenseitige Wirkung Beider und ihr 
Verhältniss zu einander augenfällig wird. Denn frei- 
lich enthält selbst jede schlichte Mauer schon Stütze 
und Last: allein hier sind Beide noch in einander 
verschmolzen. Alles ist hier Stütze und Alles Last: 
daher keine ästhetische Wirkung. Diese tritt erst 
durch die Sonderung ein und fällt dem Grade dersel- 
ben gemäss aus. Denn zwischen der Säulenreihe und 
der schlichten Mauer sind viele Zwischenstufen. 
Schon auf der bloss zu Fenstern und Thüren durch- 
brochenen Mauer eines Hauses sucht man jene Son- 
derung wenigstens anzudeuten, durch flach hervor- 
tretende Pilaster (Anten) mit Kapitellen, welche man 
dem Gesimse unterschiebt, ja im Nothfall, sie durch 
blosse Malerei darstellt, um doch irgendwie das Ge- 
bälk und eine Säulenordnung zu bezeichnen. Wirk- 
liche Pfeiler, auch Konsolen und Stützen mancherlei 
Art, realisiren schon mehr jene von der Baukunst 
durchgängig angestrebte reine Sonderung der Stütze 
und Last. In Hinsicht auf dieselbe steht der Säule 
mit dem Gebälke zunächst, aber als eigenthümliche, 
nicht diesen nachahmende Konstruktion, das Gewöl- 
be mit dem Pfeiler. Die ästhetische Wirkung Jener 
freilich erreichen Diese bei Weitem nicht; weil hier 
Stütze und Last noch nicht rein gesondert, sondern in 
einander übergehend verschmolzen sind. Im Gewölbe 
selbst ist jeder Stein zugleich Last und Stütze, und 
sogar die Pfeiler werden, zumal im Kreuzgewölbe, 
vom Druck entgegengesetzter Bögen, wenigstens für 
den Augenschein, in ihrer Lage erhalten; wie denn 
auch, eben dieses Seitendruckes wegen, nicht nur Ge- 
wölbe, sondern selbst blosse Bögen nicht auf Säulen 
2>:) 
ruhen sollen, sondern den massiveren, viereckigen 
Pfeiler verlangen. In der Säulenreihe aJlein ist die 
Sonderung vollständig, indem hier das Gebälk als 
reine Last, die Säule als reine Stütze auftritt. Dem- 
nach ist das Verhältnis der Kolonade zur schlichten 
Mauer dem zu vergleichen, welches zwischen einer 
in regelmässigen Intervallen aufsteigenden Tonleiter 
und einem aus der selben Tiefe bis zur selben Höhe 
allmählig und ohne Abstufungen hinaufgehenden 
Tone wäre, der ein blosses Geheul abgeben würde. 
Denn im Einen wie im Andern ist der Stoff der selbe, 
und nur aus der reinen Sondei-ung geht der mächtige 
Unterschied hervor. 
Der Last angemessen ist übrigens die Stütze nicht 
dann, wann sie solche zu tragen nur eben ausreicht; 
sondern wann sie dies so bequem und reichlich ver- 
mag, dass wir, beim ersten Anblick, darüber vollkom- 
men beruhigt sind. Jedoch darf auch dieser Ueber- 
schuss der Stütze einen gewissen Grad nicht über- 
steigen ; da wir sonst Stütze ohne Last erblicken, wel- 
ches dem ästhetischen Zweck entgegen ist. Zur Be- 
stimmung jenes Grades haben die Alten, als Regula- 
tiv, die Linie des Gleichgewichts ersonnea^ welche man 
erhält, indem man die Verjüngung, welche die Dicke 
der Säule von unten nach oben hat, fortsetzt, bis 
sie in einem spitzen Winkel ausläuft, wodurch die 
Säule zum Kegel wird: jetzt wird jeder beliebige 
Queer-Durchschnitt den untern Theil so stark lassen, 
dass er den abgeschnittenen oberen zu tragen hin- 
reicht. Gewöhnlich aber wird mit zwanzigfacher 
Festigkeit gebaut, d. h. man legt jeder Stütze nur 
1/20 dessen auf, was sie höchstens tragen könnte. — 
Ein lukulentes Beispiel von Last ohne Stütze bieten 
die, an den Ecken mancher, im geschmackvollen Stil 
der „Jetztzeit" erbauten Häuser hinausgeschobenen 
Erker dem Auge dar. Man sieht nicht was sie trägt: 
sie scheinen zu schweben und beunruhigen das Ge- 
müth. 
Dass in Italien sogar die einfachsten und schmuck- 
losesten Gebäude einen ästhetischen Eindruck ma- 
chen, in Deutschland aber nicht, beruht hauptsäch- 
lieh darauf, dass dort die Dächer sehr flach sind. Ein 
hohes Dach ist nämlich weder Stütze noch Last: denn 
seine beiden Hälften unterstützen sich gegenseitig, 
das Ganze aber hat kein seiner Ausdehnung entspre- 
chendes Gewicht. Daher bietet es dem Auge eine aus- 
gebreitete Masse dar, die dem ästhetischen Zwecke 
völlig fremd, bloss dem nützlichen dient, mithin je- 
nen stört, dessen Thema immer nur Stütze und Last 
ist. 
Die Form der Säule hat ihren Grund allein darin, 
dass sie die einfachste und zweckmässigste Stütze lie- 
fert. In der gewundenen Säule tritt die Zweckwidrig- 
keit wie absichtlich trotzend und daher unverschämt 
auf: deswegen bricht der gute Geschmack beim er- 
sten Anblick, den Stab über sie. Der viereckige Pfei- 
ler hat, da die Diagonale die Seiten übeitrifft, unglei- 
che Dimensionen der Dicke, die durch keinen Zweck 
motivirt, sondern durch die zufällig leichtere Aus- 
führbarkeit veranlasst sind: darum eben gefällt er 
uns so sehr viel weniger, als die Säule. Schon der 
sechs- oder achteckige Pfeiler ist gefälliger; weil er 
sich der runden Säule mehr nähert: denn die Form 
dieser allein ist ausschliesslich durch den Zweck be- 
stimmt. Dies ist sie nun aber auch in allen ihren üb- 
rigen Proportionen: zunächst im Verhältniss ihrer 
Dicke zur Höhe, innerhalb der Gränzen, welche die 
Verschiedenheit der drei Säulenordnungen zulässt. 
Sodann beruht ihre Verjüngung, vom ersten Drittel 
ihrer Höhe an, wie auch eine geringe Anschwellung 
an eben dieser Stelle (entasis Vitr.), darauf, dass der 
Druck der Last dort am stärksten ist: man glaubte 
bisher, dass diese Anschwellung nur der Jonischen 
und Korinthischen Säule eigen sei; allein neuere Mes- 
sungen haben sie auch an der Dorischen, sogar in Pä- 
stum, nachgewiesen. Also Alles an der Säule, ihre 
durchweg bestimmte Form, das Verhältniss ihrer 
Höhe zur Dicke, Beider zu den Zwischenräumen der 
Säulen, und das der ganzen Reihe zum Gebälk und 
der darauf ruhenden Last, ist das genau berechnete 
Resultat aus dem Verhältniss der nothwendigen Stütze 
zur gegebenen Last. Weil diese gleichförmig verteilt 
525 
ist; so müssen es auch die Stützen seyn: deshalb sind 
Säulengruppen geschmacklos. Hingegen rückt, in den 
besten Dorischen Tempeln, die Ecksäule etwas näher 
an die nächste; weil das Zusammentreffen der Ge- 
bälke an der Ecke die Last vermehrt: hiedurch aber 
spricht sich deutlich das Princip der Architektur aus, 
dass die konstruktionellen Verhältnisse, d. h. die 
zwischen Stütze und Last, die wesentlichen sind, wel- 
chen die der Symmetrie, als untergeordnet, sogleich 
weichen müssen. Je nach der Schwere der ganzen 
Last überhaupt wird man die Dorische, oder die zwei 
leichteren Säulenordnungen wählen, da die erstere, 
nicht nur durch die grössere Dicke, sondern auch 
durch die ihr wesentliche, nähere Stellung der Säu- 
len, auf schwere Lasten berechnet ist, zu welchem 
Zwecke auch die beinahe rohe Einfachheit ihres Ka- 
pitells passt. Die Kapitelle überhaupt haben den 
Zweck, sichtbar zu machen, dass die Säulen das Ge- 
bälk tragen und nicht wie Zapfen hineingesteckt sind: 
zugleich vergrössern sie, mittelst ihres Abakus, die 
tragende Fläche. Weil nun also aus dem wohl 
verstandenen und konsequent durchgeführten Begriff 
der reichlich angemessenen Stütze zu einer gegebe- 
nen Last alle Gesetze der Säulenordnung, mithin auch 
die Form und Proportion der Säule, in allen ihren 
Theilen und Dimensionen, bis ins einzelne herab, 
folgt, also insofern a priori bestimmt ist; so erhellt 
die Verkehrtheit des so oft wiederholten Gedankens, 
dass Baumstämme oder gar (was leider selbst Vitru- 
vius, IV, I, vorträgt) die menschliche Gestalt das 
Vorbild der Säule gewesen sei. Dann wäre die Form 
derselben für die Architektur eine rein zufällige, von 
Aussen aufgenommene: eine solche aber könnte uns 
nicht, sobald wir sie in ihrem gehörigen Ebenmaass 
erblicken, so harmonisch und befriedigend anspre- 
chen; noch könnte andererseits jedes, selbst geringe 
Missverhältniss derselben vom feinen und geübten 
Sinne sogleich unangenehm und störend, wie ein 
Misston in der Musik, empfunden werden. Dies ist 
vielmehr nur dadurch möglich, dass, nach gegebenem 
Zweck und Mittel, alles Uebrige im Wesentlichen a 
526 
priori bestimmt ist, wie in der Musik, nach gegebe- 
ner Melodie und Grundton, im Wesentlichen die 
ganze Harmonie. Und wie die Musik, so ist auch die 
Architektur überhaupt keine nachahmende Kunst; — 
obwohl Beide oft fälschlich dafür gehalten worden 
sind. 
Das ästhetische Wohlgefallen beruht, wie im Text 
ausführlich dargethan, überall auf der Auffassung 
einer (Platonischen) Idee. Für die Architektur, allein 
als schöne Kunst betrachtet, sind die Ideen der un- 
tersten Naturstufen, also Schwere, Starrheit, Kohä- 
sion, das eigentliche Thema; nicht aber, wie man 
bisher annahm, bloss die regelmässige Form, Propor- 
tion und Symmetrie, als welche ein rein Geometri- 
sches, Eigenschaften des Raumes, nicht Ideen sind, 
und daher nicht das Thema einer schönen Kunst seyn 
können. Auch in der Architektur also sind sie nur 
sekundären Ursprungs und haben eine untergeord- 
nete Bedeutung, welche ich sogleich hervorheben 
werde. Wären sie es allein, welche darzulegen die 
Architektur, als schöne Kunst, zur Aufgabe hätte; 
so müsste das Modell die gleiche Wirkung thun, wie 
das ausgeführte Werk. Dies aber ist ganz und gar 
nicht der Fall: vielmehr müssen die Werke der Ar- 
chitektur, um ästhetisch zu wirken, durchaus eine 
beträchtliche Grösse haben; ja, sie können nie zu 
gross, aber leicht zu klein seyn. Sogar steht, ceteris 
paribus, die ästhetische Wirkung im geraden Ver- 
hältniss der Grösse der Gebäude; weil nur grosse 
Massen die Wirksamkeit der Schwerkraft in hohem 
Grade augenfällig und eindringlich machen. Hiedurch 
bestätigt sich abermals meine Ansicht, dass das Stre- 
ben und der Antagonismus jener Grundkräfte der 
Natur den eigentlichen ästhetischen Stoff der Bau- 
kunst ausmacht, welcher, seiner Natur nach, grosse 
Massen verlangt, um sichtbar, ja fühlbar zu werden. 
— Die Formen in der Architektur werden, wie oben 
an der Säule gezeigt worden, zunächst durch den un- 
mittelbaren, konstruktioneilen Zweck jedes Theiles 
bestimmt. Soweit nun aber derselbe irgend etwas 
unbestimmt lässt, tritt, da die Architektur ihr Daseyn 
527 
zunächst in unserer räumlichen Anschauung hat, und 
demnach an unser Vermö{jen a priori zu dieser sich 
wendet, das Gesetz der vollkommensten Anschaulich- 
keit, mithin auch der leichtesten Fasslichkeit, ein. 
Diese aber entsteht allemal durch die {^rösste Regel- 
mässigkeit der P^ormen und Rationalität ihrer Ver- 
hältnisse. Demgemäss wählt die schöne Architektur 
lauter regelmässige Figuren, aus geraden Linien, oder 
gesetzmässigen Kurven, imgleichen die aus solchen 
hervorgehenden Körper, wie Würfel, Parellelopipeden. 
Cylinder, Kugeln, Pyramiden und Kegel ; als Oeffnun- 
gen aber bisweilen Cirkel, oder Ellipsen, in der Re- 
gel jedoch Quadrate und noch öfter Rektangel, letz- 
tere von durchaus rationalem und ganz leicht fass- 
lichem Verhältniss ihrer Seiten (nicht etwan wie 6:7, 
sondern wie i : a, 2:3), endlich auch Blenden oder 
Nischen, von regelmässiger und fasslicher Proportion. 
Aus dem selben Grunde wird sie den Gebäuden selbst 
und ihren grossen Abtheilungen gern ein rationales 
und leicht fassliches Verhältniss der Höhe zur Breite 
geben, z.B. die Höhe einer Fassade die Hälfte der Breite 
seyn lassen, und dieSäulensostellen,dassje 3 oder 4 der- 
selben mit ihren Zwischenräumen eine Linie ausmes- 
sen, welche der Höhe gleich ist, also ein Quadrat bil- 
den. Das selbePrincip der Anschaulichkeit und leichten 
Fasslichkeit verlangt auch leichte üebersehbarkeit: die- 
se führt die Symmetrie herbei, welche überdies nöthig 
ist, um das Werk als ein Ganzes abzustecken und des- 
sen wesentliche Begränzung von der zufälligen zu un- 
terscheiden, wie man denn z. B. bisweilen nur an ih- 
rem Leitfaden erkennt, ob man drei neben einander 
stehende Gebäude oder nur eines vor sich hat. Nur 
mittelst der Symmetrie also kündigt sich das archi- 
tektonische Werk sogleich als individuelle Einheit 
und als Entwickelung eines Hauptgedankens an. 
Wenn nun gleich, wie oben beiläufig gezeigt wor- 
den, die Baukunst keineswegs die Formen der Natur, 
wie Baumstämme, oder gar menschliche Gestalten, 
nachzuahmen hat; so soll sie doch im Geiste der Na- 
tur schaffen, namentlich indem sie das Gesetz natura 
nihil agit frustra, nihilque supervacaneum, et quod 
528 
commodissimuin in ornnibus suis operationibus se- 
quitur, auch zu dem ihrigen macht, demnach alles, 
selbst nur scheinbar, Zwecklose vermeidet und ihre 
jedesmalige Absicht, sei diese nun eine rein architek- 
tonische, d. h. konstruktionelle, oder aber eine die 
Zwecke der Nützlichkeit betreffende, stets auf dem 
kürzesten und natürlichsten Wege erreicht und so 
dieselbe, durch das Werk selbst, offen darlegt. Da- 
durch erlangt sie eine gewisse Grazie, der analog, 
welche bei lebenden Wesen in der Leichtigkeit und 
der Angemessenheit jeder Bewegung und Stellung 
zur Absicht derselben besteht. Demgemäss sehen wir, 
im guten antiken Baustil, jeglichen Theil, sei es nun 
Pfeiler, Säule, Bogen, Gebälk, oder Thüre, Fenster, 
Treppe, Balkon, seinen Zweck auf die gradeste und 
einfachste Weise erreichen, ihn dabei unverhohlen 
und naiv an den Tag legend; eben wie die organische 
Natur es in ihren Werken auch thut. Der geschmack- 
lose Baustil hingegen sucht bei Allem unnütze Um- 
wege und gefällt sich in Willkürlichkeiten, geräth da- 
durch auf zwecklos gebrochene, heraus und herein- 
rückende Gebälke, gruppirte Säulen, zerstückelte 
Kornischen an Thürbögen und Giebeln, sinnlose Vo- 
luten, Schnörkel u. dergl.: er spielt, wie oben als 
Charakter der Pfuscherei angegeben, mit den Mitteln 
der Kunst, ohne die Zwecke derselben zu verstehen, 
wie Kinder mit dem Geräthe der Erwachsenen spie- 
len. Dieser Art ist schon jede Unterbrechung einer ge- 
raden Linie, jede Aenderung im Schwünge einer 
Kurve, ohne augenfälligen Zweck. Jene naive Ein- 
falt hingegen in der Darlegung und dem Erreichen 
des Zweckes, die dem Geiste entspricht, in welchem 
die Natur schafft und bildet, ist es eben auch, welche 
den antiken Tongefässen eine solche Schönheit und 
Grazie der Form verleiht, dass wir stets von Neuem 
darüber erstaunen; weil sie so edel absticht gegen 
unsere modernen Gefässe im Originalgeschmack, als 
welche den Stämpel der Gemeinheit tragen, sie mö- 
gen nun aus Porzellan, oder grobem Töpferthon ge- 
formt seyn. Beim Anblick der Gefässe und Geräthe 
der Alten fühlen wir, dass wenn die Natur derglei- 
34 Schopenhauer II 629 
chen Dinge hätte schafFen wollen, sie es in diesen 
Formen gethan haben würde. — Da wir also die 
Schönheit der Baukunst hauptsächlich aus der un- 
verhohlenen Darlegung der Zwecke und dem Errei- 
chen derselben auf dem kürzesten und natürlichsten 
Wege hervorgehen sehen ; sogeräth hier meine Theorie 
in geraden Widerspruch mit der Kantischen, als wel- 
che das Wesen alles Schönen in eine anscheinende 
Zweckmässigkeit ohne Zweck setzt. 
Das hier dargelegte alleinige Thema der Architek- 
tur, Stütze und Last, ist so sehr einfach, dass eben 
deshalb diese Kunst, soweit sie schöne Kunst ist (nicht 
aber sofern sie dem Nutzen dient), schon seit der be- 
sten Griechischen Zeit, im Wesentlichen vollendet 
und abgeschlossen, wenigstens keiner bedeutenden 
Bereicherung mehr fähig ist. Hingegen kann der mo- 
derne Architekt sich von den Regeln und Vorbildern 
der Alten nicht merklich entfernen, ohne eben schon 
auf dem Wege der Verschlechterung zu seyn. Ihm 
bleibt daher nichts übrig, als die von den Alten über- 
lieferte Kunst anzuwenden und ihre Regeln, so weit 
es möglich ist, unter den Beschränkungen, welche 
das Bedürfniss, das Klima, das Zeitalter, und sein 
Land ihm unabweisbar auflegen, durchzusetzen. Denn 
in dieser Kunst, wie auch in der Skulptur, fällt das 
Streben nach dem Ideal mit der Nachahmung der 
Alten zusammen. 
Ich brauche wohl kaum zu erinnern, dass ich, bei 
allen diesen architektonischen Betrachtungen, allein 
den antiken Baustil und nicht den sogenannten Go- 
thischen, welcher, Saracenischen Ursprungs, durch 
die Gothen in Spanien dem übrigen Europa zuge- 
führt worden ist, im Auge gehabt habe. Vielleicht ist 
auch diesem eine gewisse Schönheit, in seiner Art, 
nicht ganz abzusprechen : wenn er jedoch unter- 
nimmt, sich jenem als ebenbürtig gegenüberzustel- 
len; so ist dies eine barbarische Vermessenheit, wel- 
che man durchaus nicht gelten lassen darf. Wie 
wohlthätig wirkt doch auf unsern Geist, nach dem 
Anschauen solcher Gothischer Herrlichkeiten, der 
Anblick eines regelrechten, im antiken Stil aufge- 
530 
führten Gebäudes! Wir fühlen sogleich, dass dies das 
allein Rechte und Wahre ist. Könnte man einen al- 
ten Griechen vor unsere berühmtesten Gothischen Ka- 
thedralen führen ; was würde er wohl dazu sagen ? 
— Bapßapoi! — Unser Wohlgefallen an Gothischen 
Werken beruht ganz gewiss grössten Theils auf Ge- 
dankenassociationen und historischen Erinnerungen, 
also auf einem der Kunst fremden Gefühl. Alles was 
ich vom eigentlich ästhetischen Zweck, vom Sinn 
und Thema der Baukunst gesagt habe, verliert bei 
diesen Werken seine Gültigkeit. Denn das frei lie- 
gende Gebälk ist verschwunden und mit ihm die 
Säule: Stütze und Last, geordnet und vertheilt, um 
den Kampf zwischen Starrheit und Schwere zu ver- 
anschaulichen, sind hier nicht mehr das Thema. Auch 
ist jene durchgängige, reine Rationalität, vermöge 
welcher alles strengeRechenschaft zulässt,ja, sie dem 
denkenden Beschauer schon von selbst entgegen- 
bringt, und welche zum Charakter des antiken Bau- 
stils gehört, hier nicht mehr zu finden: wir werden 
bald inne, dass hier, statt ihrer, eine von fremdarti- 
gen Begriffen geleitete Willkür gewaltet hat; daher 
Vieles uns unerklärt bleibt. Denn nur der antike 
Baustil ist in rein objektivem Sinne gedacht, der go- 
thische mehr in subjektivem. — Wollen wir jedoch, 
wie wir als den eigentlichen, ästhetischen Grundgedan- 
ken der antiken Baukunst die Entfaltung des Kampfes 
zwischen Starrheit und Schwere erkannt haben, auch 
in der Gothischen einen analogen Grundgedankea 
auffinden; so müsste es dieser seyn, dass hier die 
gänzliche Ueberwältigung und Besiegung der Schwere 
durch die Starrheit dargestellt werden soll. Denn 
demgemäss ist hier die Horizontallinie, welche die 
der Last ist, fast ganz verschwunden, und das Wir- 
ken der Schwere tritt nur noch indirekt, nämlich in 
Bogen und Gewölbe verlarvt, auf, während die Ver- 
tikallinie, welche die der Stütze ist, allein herrscht, 
und in unmässig hohen Strebepfeilern, Türmen, 
Türmchen und Spitzen ohne Zahl, welche unbelastet 
in die Höhe gehen, das siegreiche Wirken der Starr- 
heit versinnlicht. Während in der antiken Baukunst 
34* 53 1 
das Streben und Drängen von oben nach unten eben 
so wohl vertreten und dargelegt ist, wie das von un- 
ten nach oben; so herrscht hier das letztere entschie- 
den vor: wodurch auch jene oft bemerkte Analogie 
mit dem Krystall entsteht, da dessen Anschiessen 
ebenfalls mit Ueberwältigung der Schwere geschieht. 
Wenn wir nun diesen Sinn und Grundgedanken der 
Gothischen Baukunst unterlegen und diese dadurch 
als gleichberechtigten Gegensatz der antiken aufstel- 
len wollten; so wäre dagegen zu erinnern, dass der 
Kampf zwischen Starrheit und Schwere, welchen die 
antike Baukunst so offen und naiv darlegt, ein wirk- 
licher und wahrer, in der Natur gegründeter ist; die 
gänzliche Ueberwindung der Schwere durch die 
Starrheit hingegen ein blosser Schein bleibt, eine 
Fiktion, durch Täuschung beglaubigt. — Wie aus 
dem hier angegebenen Grundgedanken und den oben 
bemerkten Eigenthümlichkeiten der Gothischen Bau- 
kunst der mysteriöse und hyperphysische Charakter, 
welcher derselben zuerkannt wird, hervorgeht, wird 
Jeder sich leicht deutlich machen können. Haupt- 
sächlich entsteht er, wie schon erwähnt, dadurch, 
dass hier das Willkürliche an die Stelle des rein Ra- 
tionellen, sich als durchgängige Angemessenheit des 
Mittels zum Zweck Kundgebenden, getreten ist. Das 
viele eigentlich Zwecklose und doch so sorgfältig 
Vollendete erregt die Voraussetzung unbekannter, 
unerforsch lieber, geheimer Zwecke, d. i. das mysteri- 
öse Ansehen. Hingegen ist die glänzende Seite der 
Gothischen Kirchen die innere: weil hier die Wir- 
kung des von schlanken, krystallinisch aufstrebenden 
Pfeilern getragen, hoch hinaufgehobenen und, bei 
verschwundener Last, ewige Sicherheit verheissenden 
Kreuzgewölbes auf das Gemüth eindringt, die mei- 
sten der erwähnten Uebelstände aber draussen liegen. 
An antiken Gebäuden ist die Aussenseite die vortheil- 
haftere; weil man dort Stütze und Last besser über- 
sieht, im Innern hingegen die flache Decke stets et- 
was Niederdrückendes und Prosaisches behält. An den 
Tempeln der Alten war auch meistentheils, bei vie- 
len und grossen Aussenwerken, das eigentliche Innere 
532 
klein. Einen erhabeneren Anstrich erhielt es durch das 
Kugelgewölbe einerKuppel, wie im Pantheon, von wel- 
cher daher auch die Italiäner, in diesem Stil bauend, 
den ausgedehntesten Gebrauch gemacht haben. Dazu 
stimmt, dass die Alten als südliche Völker, mehr im 
Freien lebten, als die nordischen Nationen, welche 
die Gothische Baukunst vorgezogen haben. — Wer 
nun aber schlechterdings die gothische Baukunst als 
eine wesentliche und berechtigte gelten lassen will, 
mag, wenn er zugleich Analogien liebt, sie den ne- 
gativen Pol der Architektur, oder auch die Moll-Ton- 
art derselben benennen. — Im Interesse des guten 
Geschmacks muss ich wünschen, dass grosse Geld- 
mittel dem objektiv, d. h. wirklich Guten und Rech- 
ten, dem an sich Schönen, zugewendet werden, nicht 
aber Dem, dessen Werth bloss auf Ideenassociationen 
beruht. Wenn ich nun sehe, wie dieses ungläubige 
Zeitalter die vom gläubigen Mittelalter unvollendet 
gelassenen Gothischen Kirchen so emsig ausbaut, 
kommt es mir vor, als wolle man das dahingeschie- 
dene Christenthum einbalsamiren. 
KAPITEL 36'). 
VEREINZELTE BEMERKUNGEN ZUR AESTHE- 
TIK DER BILDENDEN KUENSTE. 
IN der Skulptur sind Schönheit und Grazie die Haupt- 
sache: in der Malerei aber erhalten Ausdruck, Lei- 
denschaft, Charakter das Uebergewicht; daher von 
der Forderung der Schönheit eben so viel nachgelas- 
sen werden muss. Denn eine durchgängige Schönheit 
aller Gestalten, wie die Skulptur sie fordert, würde 
dem Charakteristischen Abbruch thun, auch durch 
die Monotonie ermüden. Demnach darf die Malerei 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 44 — ^o ^^s ersten Ban- 
des. [S. 264—293 d. A.J 
533 
auch hiissliche Gesichter und abgezehrte Gestalten 
darstellen: die Skulptur hingegen verlangt Schönheit, 
wenn auch nicht stets vollkommene, durchaus aber 
Kraft und Fülle der Gestalten. Folglich ist ein mage- 
rer Christus am Kreuz, ein von Alter und Krankheit 
abgezehrter, sterbender heiliger Hieronymus, wie das 
Meisterstück Domenichino's, ein für die Malerei pas- 
sender Gegenstand: hingegen der durch Fasten auf 
Haut und Knochen reducirte Johannes der Täufer, in 
Marmor, von Donatello, auf der Gallerie zu Florenz, 
wirkt, trotz der meisterhaften Ausführung, wider- 
lich. — Von diesem Gesichtspunkt aus scheint die 
Skulptur der Bejahung, die Malerei der Verneinung 
des Willens zum Leben angemessen, und hieraus Hesse 
sich erklären, warum die Skulptur die Kunst der Al- 
ten, die Malerei die der christlichen Zeiten gewesen 
ist. — 
Bei der §. 45 des ersten Bandes gegebenen Auseinan- 
dersetzung, dass das Herausfinden, Erkennen und Fest- 
stellen des Typus der menschlichen Schönheit auf 
einer gewissen Anticipation derselben beruht und da- 
her zum Theil a priori begründet ist, finde ich noch 
hervorzuheben, dass diese Anticipation dennoch der 
Erfahrung bedarf, um durch sie angeregt zu werden ; 
analog dem Instinkt der Thiere, welcher, obwohl das 
Handeln a priori leitend, dennoch in den Einzelheiten 
desselben der Bestinunung durch Motive bedarf. Die 
Erfahrung und Wirklichkeit nämlich hält dem In- 
tellekt des Künstlers menschliche Gestalten vor, wel- 
che, im' einen oder andern Theil, der Natur mehr 
oder minder gelungen sind, ihn gleichsam um sein 
TJrtheil darüber befragend, und ruft so, nach Sokra- 
lischer Methode, aus jener dunkeln Anticipation die 
deutliche und bestimmte Erkenntniss des Ideals her- 
vor. Dieserhalb leistete es den Griechischen Bildhau- 
ern allerdings grossen Vorschub, dass Klima und Sitte 
des Landes ihnen den ganzen Tag Gelegenheit gaben, 
lialb nackteGestalten,und in den Gvnmasien auch ganz 
nackte zu sehen. Dabei forderte jedes Glied ihren 
plastischen Sinn auf zur Beurtheilung und zur Verglei- 
chung desselben mit dem Ideal, welches unentwickelt 
534 
in ihrem Bewusstseyn lag. So übten sie beständig ihr 
Urtheil an allen Formen und Gliedern, bis zu den 
feinsten Nuancen derselben herab ; wodurch denn all- 
mälig ihre ursprünglich nur dumpfe Anticipation des 
Ideals menschlicher Schönheit zu solcher Deutlichkeit 
des Bewusstseyns erhoben werden konnte, dass sie 
fähig wurden, dasselbe im Kunstwerk zu objektiviren. 
— Auf ganz analoge Weise ist dem Dichter, zur Dar- 
stellung der Charaktere, eigene Erfahrung nützlich 
und nöthig. Denn obgleich er nicht nach der Erfah- 
rung und empirischen Notizen arbeitet, sondern nach 
dem klaren Bewusstseyn des Wesens der Menschheit, 
wie er solches in seinem eigenen Innern findet; so 
dient doch diesem Bewusstseyn die Erfahrung zum 
Schema, giebt ihm Anregung und Uebung. Sonach 
erhält seine Erkenntniss der menschlichen Natur und 
ihrer Verschiedenheiten, obwohl sie in der Hauptsa- 
che a priori und anticipirend verfährt, doch erst durch 
die Erfahrung Leben, Bestimmtheit und Umfang. — 
Dem so bewundrungswürdigen Schönheitssinn der 
Griechen aber, welcher sie allein, unter allen Völkern 
der Erde, befähigte, den wahren Normaltypus der 
menschlichen Gestalt herauszufinden und demnach 
die Musterbilder der Schönheit und Grazie für alle 
Zeiten zur Nachachmung aufzustellen, können wir, 
auf unser voriges Buch und Kapitel 44 i"^ folgenden 
ims stützend, noch tiefer auf den Grund gehen, und 
sagen: Das Selbe, was, wenn es vom Willen unzer- 
trennt bleibt, Geschlechtstrieb mit fein sichtender 
Auswahl, d. i. Geschlechtsliebe (die bei den Griechen 
bekanntlich grossen Verirrungen unterworfen war), 
giebt; eben Dieses wird, wenn es, durch das Vorhan- 
denseyn eines abnorm überwiegenden Intellekts, sich 
vom Willen ablöst und doch thätig bleibt, zum ob- 
jektiven Schönheitssinn für menschliche Gestalt, wel- 
cher nun zunächst sich zeigt als urtheilender Kunst- 
sinn, sich aber steigern kann, bis zur Auffindung und 
Darstellung der Norm aller Theile und Proportionen; 
wie dies der Fall war im Phidias, Praxiteles, Skopas 
u. s. w. — Alsdann geht in Erfüllung, was Goethe 
den Künstler sagen lässt: 
535 
Dass ich mit Göttersinn 
Und Menschenhand 
Vermöge zu bilden, 
Was bei meinem Weib' 
Ich animaUsch kann und muss. 
Und auch hier abermals analojj, wird im Dichter eben 
Das, was, wenn es vom Willen unzertrennt bliebe, 
blosse Weltklugheit gäbe, wenn es, durch das abnorme 
Ueberwiegen des Intellekts, sich vom Willen sondert, 
zur Fähigkeit objektiver, dramatischer Darstellung. — 
Die moderne Skulptur ist, was immer sie auch lei- 
sten mag, doch der modernen lateinischen Poesie ana- 
log und, wie diese, ein Kind der Nachahmung, aus 
Reminiscenzen entsprungen. Lässt sie sich beigehen, 
originell seyn zu wollen; so geräth sie alsbald auf Ab- 
wege, namentlich auf den schlimmen, nach der vor- 
gefundenen Natur, statt nach den Proportionen der 
Alten zu formen. Catiova, Thorwaldsen u. a. m. sind 
dem Johannes Secimdus und Owenus zu vergleichen. 
Mit der Architektur verhält es sich eben so : allein da ist 
es in der Kunst selbst gegründet, deren rein ästheti- 
scher Theil von geringem Umfange ist und von den 
Alten bereits erschöpft wurde; daher der moderne 
Baumeister nur in der weisen Anwendung desselben 
sich hervorthun kann; und soll er wissen, dass er stets 
so weit vom guten Geschmack sich entfernt, als er 
vom Stil und Vorbild der Griechen abgeht. — 
Die Kunst des Malers, bloss betrachtet sofern sie 
den Schein der Wirklichkeit hervorzubringen be- 
zweckt, ist im letzten Grunde darauf zurückzuführen, 
dass er Das, was beim Sehen die blosse Empfindimg 
ist, also die Affekiion der Retina, d. i. die allein un- 
mittelbar gegebene Wirhvng, rein zu sondern versteht 
von ihrer Ursache, d. i. den Objekten der Aussen weit, 
deren Anschauung im Verstände allererst daraus ent- 
steht; wodurch er, wenn die Technik hinzukommt, 
im Stande ist, die selbe Wirkung im Auge durch eine 
ganz andere Ursache, nämlich aufgetragene Farben- 
flecke, hervorzubringen, woraus dann im Verstände 
des Betrachters, durch die unausbleibliche Zurück- 
536 
Führung auf die gewöhnliche Ursache, die nämliche 
Anschauung wieder entsteht. — 
Wenn man betrachtet, wie in jedem Menschenge- 
sicht etwas so ganz Ursprüngliches, so durchaus Ori- 
ginelles liegt und dasselbe eine Ganzheit zeigt, welche 
nur einer aus lauter noth wendigen Theilen bestehen- 
den Einheit zukommen kann, vermöge welcher wir 
ein bekanntes Individuum, aus so vielen Tausenden, 
selbst nach langen Jahren wiedererkennen, obgleich 
die möglichen Verschiedenheiten menschlicher Ge- 
sichtszüge, zumal einer Rasse, innerhalb äusserst enger 
Grenzen liegen; so muss man bezweifeln, dass etwas 
von so wesentlicher Einheit und so grosser Ursprüng- 
lichkeit je aus einer andern Quelle hervorgehen kön- 
ne, als aus den geheimnissvollen Tiefen des Innern 
der Natur: daraus aber würde folgen, dass kein Künst- 
ler fähig seyn könne, die ursprüngliche Eigenthüm- 
lichkeit eines Menschengesichtes wirklich zu ersinnen, 
noch auch nur, sie aus Reminiscenzen naturgemäss 
zusammenzusetzen. Was er demnach in dieser Art zu 
Stande brächte, würde immer nur eine halbwahre, 
ja vielleicht eine unmögliche Zusammensetzung seyn: 
denn wie sollte er eine wirkliche physiognomische 
Einheit zusammensetzen, da ihm doch das Princip 
dieser Einheit eigentlich unbekannt ist? Danach muss 
man bei jedem von einem Künstler bloss ersonnenen 
Gesicht zweifeln, ob es in der That ein mögliches sei, 
und ob nicht die Natur, als Meister aller Meister, es 
für eine Pfuscherei erklären würde, indem sie völlige 
Widersprüche darin nachwiese. Dies würde allerdings 
zu dem Grundsatz führen, dass auf historischen Bil- 
dern immer nur Porträtte figuriren dürften, welche 
dann freilich mit der grössten Sorgfalt auszuwählen 
und in etwas zu idealisiren wären. Bekanntlich haben 
grosse Künstler immer gern nach lebenden Modellen 
gemalt und viele Porträtte angebracht. — 
Obgleich, wie im Text ausgeführt, der eigentliche 
Zweck der Malerei, wie der Kunst überhaupt, ist, 
uns die Auffassung der (Platonischen) Ideen der Wesen 
dieser W^elt zu erleichtern, wobei wir zugleich in den 
Zustand des reinen, d. i. willenlosen, Erkennens ver- 
53 
7 
setzt werden ; so kommt ihr ausserdem noch eine da- 
von unabhängifje und für sich gehende Schönheit zu, 
welche hervorgebracht wird durch die blosse Har- 
monie der Farben, das Wohlgefällige der Gruppirung, 
die günstige Vertheilunjj des Lichts und Schattens 
und den Ton des ganzen Bildes. Diese ihr beigegebene, 
untergeordnete Art der Schönheit befördert den Zu- 
stand des reinen Erkennens und ist in der Malerei 
Das, was in der Poesie die Diktion, das Metrum und 
der Reim ist: Beide nämlich sind nicht das Wesent- 
liche, aber das zuerst und unmittelbar Wirkende. — 
Zu meinem, im ersten Bande §. 5o, über die Un- 
statthaftigkeit der Allegorie in der Malerei abgegebe- 
nen Urtheil bringe ich noch einige Belege bei. Im Pa- 
last Borghese, zu Rom, befindet sich folgendes Bild 
von Michael Angelo Caravaggio: Jesus, als Kind von 
etwan zehn Jahren, tritt einer Schlange auf den Kopf, 
aber ganz ohne Furcht und mit grösster Gelassenheit, 
und eben so gleichgültig bleibt dabei seine ihn beglei- 
tende Mutter: daneben steht die heilige Elisabeth, 
feierlich und tragisch zum Himmel blickend. Was 
möchte wohl bei dieser kyriologischen Hieroglyphe 
ein Mensch denken, der nie etwas vernommen hätte 
vom Samen des Weibes, welcher der Schlange den 
Kopf zertreten soll? — Zu Florenz, im Bibliotheksaal 
des Palastes Riccardi, finden wir auf dem von Luca 
Giordano gemalten Plafond folgende Allegorie, wel- 
che besagen soll, dass die Wissenschaft den Verstand 
aus den Banden der Unwissenheit befreit: der Ver- 
stand ist ein starker Mann, von Stricken umwunden, 
die eben abfallen: eine Nymphe hält ihm einen Spie- 
gel vor, eine andere reicht ihm einen abgelösten gros- 
sen Flügel: darüber sitzt die Wissenschaft auf einer 
Kugel und, mit einer Kugel in der Hand, neben ihr 
die nackte Wahrheit. — Zu Ludwigsburg bei Stutt- 
gart zeigt uns ein Bild die Zeit, als Saturn, mit einer 
Scheere dem Amor die Flügel beschneidend: wenn 
das besagen soll, dass wann wir altern, der Unbestand 
in der Liebe sich schon giebt; so wird es hiemit 
wohl seine Richtigkeit haben. — 
Meine Lösung des Problems, warum der Laohoon 
.S38 
nicht schreit, zu bekräftigen, diene noch Folgendes. 
Von der verfehlten Wirkung der Darstellung des 
Schreiens durch die Werke der bildenden, wesentlich 
stummen Künste, kann man sich faktisch überzeugen 
an einem auf der Kunstakademie zu Bologna befind- 
lichen Bethlehemitischen Kindermord von Guido Reni, 
auf welchem dieser grosse Künstler den Missgriff be- 
gangen hat, sechs schreiende Mundaufreisser zu ma- 
len. — Wer es noch deutlicher haben will, denke 
sich eine pantomimische Darstellung auf der Bühne, 
und in irgend einer Scene derselben einen dringenden 
Anlass zum Schreien einer der Personen: wollte nun 
der diese darstellende Tänzer das Geschrei dadurch 
ausdrücken, dass er eine Weile mit weit aufgesperr- 
tem Munde dastände; so würde das laute Gelächter 
des ganzen Hauses die Abgeschmacktheit der Sache 
bezeugen. — Da nun demnach aus Gründen, welche 
nicht im darzustellenden Gegenstande, sondern im 
Wesen der darstellenden Kunst liegen, das Schreien 
des Laokoon unterbleiben musste; so entstand hier- 
aus dem Künstler die Aufgabe, eben dieses Nicht- 
Schreien zu motiviren, um es uns plausibel zu ma- 
chen, dass ein Mensch in solcher Lage nicht schreie. 
Diese Aufgabe hat er dadurch gelöst, dass er den 
Schlangenbiss nicht als schon erfolgt, auch nicht als 
noch drohend, sondern als gerade jetzt und zwar in 
die Seite geschehend darstellte: denn dadurch wird 
der Unterleib eingezogen, das Schreien daher unmög- 
lich gemacht. Diesen nächsten, eigentlich aber nur 
sekundären und untergeordneten Grund der Sache 
hat Goethe richtig herausgefunden und ihn dargelegt 
am Ende des elften Buches seiner Selbstbiographie, 
wie auch im Aufsatz über den Laokoon im ersten Heft 
der Propyläen; aber der entferntere, primäre, jenen 
bedingende Grund ist der von mir dargelegte. Ich 
kann die Bemerkung nicht unterdrücken, dass ich 
hier zu Goethen wieder im selben Verhältniss stehe, 
wie hinsichtlich der Theorie der Farbe. — In der 
Sammlung des Herzogs von Aremberg zu Brüssel be- 
findet sich ein antiker Kopf des Laokoon, welcher 
später aufgefunden worden. Der Kopf in der weltbe- 
539' 
rühmten Gruppe ist aber kein resiaurirter, wie auch 
aus Goethes specieller Tafel aller Restaurationen die- 
ser Gruppe, welche sich am Ende des ersten Bandes 
der Propyläen befindet, hervorgeht und zudem da- 
durch bestätigt wird, dass der spater gefundene Kopf 
dem der Gruppe höchst ähnlich ist. Wir müssen also 
annehmen, dass noch eine andere antike Repetition 
der Gruppe existirt hat, welcher der Arembergische 
Kopf angehörte. Derselbe übertrifft, meiner Meinung 
nach, sowohl an Schönheit als an Ausdruck den der 
Gruppe: den Mund hat er bedeutend weiter offen, 
als dieser, jedoch nicht bis zum eigentlichen Schreien. 
A 
KAPITEL 37*\ 
ZUR ÄSTHETIK DER DICHTKUNST. 
LS die einfachste und richtigste Definition der 
-Poesie möchte ich diese aufstellen, dass sie die 
Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel 
zu versetzen. Wie sie dies zu Wege bringt, habe ich 
im ersten Bande, §. 5i, angegeben. Eine specielle Be- 
stätigung des dort Gesagten giebt folgende Stelle aus 
einem seitdem veröffentlichten Briefe M^ielands an 
Mei'k: „Ich habe drittehalb Tage über eine einzige Stro- 
phe zugebracht, wo im Grunde die Sache auf einem 
einzigen W^orte, das ich brauchte und nicht finden 
konnte, beruhte. Ich drehte und wandte das Ding und 
mein Gehirn nach allen Seiten; weil ich natürlicher- 
weise, wo es um ein Gemälde zu thun ist, gern die 
nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner Stirn 
schwebte, auch vor die Stirn meiner Leser bringen 
möchte, und dazu oft, ut nosti, von einem einzigen 
Zuge, oder Drucker, oder Reflex, Alles abhängt." 
(Briefe an Merk, herausgegeben von Wagner, i835, 
') Dieses Kapitel hc/.iclit sich auf |;;. 5 i des ersten IJaiules. [S. 
293 d. A.] 
S. 193.) — Dadurch, dass die Phantasie des Lesers 
der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder 
darstellt, hat diese den Vortheil, dass die nähere Aus- 
führung und die feineren Züge in der Phantasie eines 
Jeden so ausfallen, wie es seiner Individualität, seiner 
Erkenntnisssphäre und seiner Laune gerade am ange- 
messensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt; 
statt dass die bildenden Künste sich nicht so anbe- 
quemen können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt 
Allen genügen soll: diese aber wird doch immer, in 
Etwas, das Gepräge der Individualität des Künstlers, 
oder seines Modells, tragen, als einen subjektiven, oder 
zufälligen, nicht wii-ksamen Zusatz; wenn gleich um 
so weniger, je objektiver, d. h. genialer der Künstler 
ist. Schon hieraus ist es zum Theil erklärlich, dass die 
Werke der Dichtkunst eine viel stärkere, tiefere und 
allgemeinere Wirkung ausüben, als Bilder und Sta- 
tuen: diese nämlich lassen das Volk meistens ganz 
kalt, und überhaupt sind die bildenden die am schwäch- 
sten wirkenden Künste. Hiezu gibt einen sonderbaren 
Beleg das so häufige Auffinden und Entdecken von 
Bildern grosser Meister in Privathäusern und allerlei 
Lokalitäten, wo sie, viele Menschenalter hindurch, 
nicht etwan vergraben und versteckt, sondern bloss 
unbeachtet, also wirkungslos, gehangen haben. Zu 
meiner Zeit in Florenz (iSaS) wurde sogar eine Ra- 
phaersche Madonna entdeckt, welche eine lange Reihe 
von Jahren hindurch im Bedientenzimmer eines Pala- 
stes (im Quartiere di S.Spirito) an der Wand gehangen 
hatte: und Dies geschieht unter Italiänern, dieser vor 
allen übrigen mit Schönheitssinn begabten Nation. 
Es beweist, wie wenig direkte und unvermittelte Wir- 
kung die Werke der bildenden Künste haben, und dass 
ihre Schätzung weit mehr, als die aller andern, der 
Bildung und Kenntniss bedarf. Wie unfehlbar macht 
hingegen eine schöne, das Herz treffende Melodie ihre 
Reise um das Erdenrund, und wandert eine vortreff- 
liche Dichtung von Volk zu Volk. Dass die Grossen 
und Reichen gerade den bildenden Künsten die kräf- 
tigste Unterstützung widmen und nur auf iVtre Werke 
beträchtliche Summen verwenden, ja, heut zu Tage 
.'54 I 
eine Idololatrie, im ei{5;entlichen Sinne, für ein Bild von 
einem berühmten, alten Meister den Werth eines gros- 
sen Landgutes hingiebt, Dies beruht hauptsächlich 
auf der Seltenheit der Meisterstücke, deren Besitz 
daher dem Stolze zusagt, sodann aber auch darauf, 
dass der Genuss derselben gar wenig Zeit und An- 
strengung erfordert und jeden Augenblick, auf einen 
Augenblick, bereit ist; während Poesie und selbst 
Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen. 
Dem entsprechend lassen die bildenden Künste sich 
auch entbehren: ganze Völker, z. B. die Mohamme- 
danischen, sind ohne sie: aber ohne Musik und Poesie 
ist keines. 
Die Absicht nun aber, in welcher der Dichter un- 
sere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen 
zu offenbaren, d. h. an einem Beispiel zu zeigen, was 
das Leben, was die Welt sei. Dazu ist die erste Be- 
dingung, dass er es selbst erkannt habe: je nachdem 
dies tief oder flach geschehen ist, wird seine Dichtung 
ausfallen. Demgemäss giebt es unzählige Abstufungen, 
wie der Tiefe und Klarheit in der Auffassung der Na- 
tur der Dinge, so der Dichter. Jeder von diesen muss 
inzwischen sich für vortrefflich halten, sofern er rich- 
tig dargestellt hat was er erkannte, und sein Bild 
seinem Original entspricht: er muss sich dem besten 
gleich stellen, weil er in dessen Bilde auch nicht mehr 
erkennt, als in seinem eigenen, nämlich so viel, wie 
in der Natur selbst; da sein Blick nun ein Mal nicht 
tiefer eindringt. Der beste selbst aber erkennt sich als 
solchen daran, dass er sieht wie flach der Blick der 
andern war, wie Vieles noch dahinter lag, das sie 
nicht wiedergeben konnten, weil sie es nicht sahen, 
und wie viel weiter sein Blick und sein Bild reicht. 
Verstände er die Flachen so wenig, wie sie ihn; da 
müsste er verzweifeln: denn gerade weil schon ein 
ausserordentlicher Mann dazu gehört, um ihm Ge- 
rechtigkeit widerfahren zu lassen, die schlechten Poe- 
ten ihn aber so wenig hochschätzen können, wie er 
sie, hat auch er lange an seinem eigenen Beifall zu 
zehren, ehe der der Welt nachkommt. — Inzwischen 
wird ihm auch jener verkümmert, indem n)an ihm 
5412 
zumuthet, er solle fein bescheiden seyn. Es ist aber so 
unmöglich, dass wer Verdienste hat und weiss was 
sie kosten, selbst blind dagegen sei, wie dass ein Mann 
von sechs Fuss Höhe nicht merke, dass er die Andern 
überragt. Ist von der Basis des Thurms bis zur Spitze 
3oo Fuss; so ist zuverlässig eben so viel von der Spitze 
bis zur Basis. Horaz, Lucrez, Ovid und fast alle Al- 
ten haben stolz von sich geredet, desgleichen Dante, 
Shakespeare, Bako von Verulam und Viele mehr. Dass 
Einer ein grosser Geist seyn könne, ohne etwas davon 
zu merken, ist eine Absurdität, welche nur die trost- 
lose Unfähigkeit sich einreden kann, damit sie das 
Gefühl der eigenen Nichtigkeit auch für Bescheiden- 
heit halten könne. Ein Engländer hat witzig und rich- 
tig bemerkt, dass merit und modesty nichts Gemein- 
sames hätten, als den Anfangsbuchstaben. Die be- 
scheidenen Celebritäten habe ich stets in Verdacht, 
dass sie wohl Recht haben könnten ; und Corneille sagt 
geradezu : 
La faussc humilite ne met plus en credit: 
Je s^ais ce que je vaux, et crois ee qu'on m'en dit. 
Endlic:h hat Goethe es unimiwunden gesagt: „Nur die 
Lumpe sind bescheiden." Aber noch unfehlbarer wäre 
die Behauptung gewesen, dass Die, welche so eifrig 
von Andern Bescheidenheit fordern, auf Bescheiden- 
heit dringen, unablässig rufen: „Nur bescheiden! um 
Gotteswillen, nur bescheiden!" zuverlässig Lumpe sind, 
d. h. völlig verdienstlose Wichte, Fabrikwaare der 
Natur, ordentliche Mitglieder des Packs der Mensch- 
heit. Denn wer selbst Verdienste hat, lässt auch Ver- 
dienste gelten, — versteht sich ächte und wirkliche. 
Aber Der, dem selbst alle Vorzüge und Verdienste 
mangeln, wünscht, dass es gar keine gäbe: ihr Anblick 
an Andern spannt ihn auf die Folter; der blasse, grüne, 
gelbe Neid verzehrt sein Inneres: er möchte alle per- 
sönlich Bevorzugten vernichten und ausrotten: muss 
er sie aber leider leben lassen, so soll es nur unter 
der Bedingung seyn, dass sie ihre Vorzüge verstecken, 
völlig verleugnen, ja abschwören. Dies also ist die 
Wurzel der so häufigen Lobreden auf die Bescheiden- 
helt. Und wenn solche Präkonen derselben Gelegen- 
heit haben, das Verdienst im Entstehen zu ersticken, 
oder wenigstens zu verhindern, dass es sich zeige, dass 
es bekannt werde, — wer wird zweifeln, dass sie es 
thun? Denn dies ist die Praxis zu ihrer Theorie. — 
Wenn nun gleich der Dichter wie jeder Künstler, 
uns immer nur das Einzelne, Individuelle, vorführt; 
so ist was er erkannte und uns dadurch erkennen las- 
sen will, doch die (Platonische) Idee, die ganze Gat- 
tung: daher wird in seinen Bildern gleichsam der Ty- 
pus der menschlichen Charaktere und Situationen aus- 
geprägt seyn. Der erzählende, auch der dramatische 
Dichter nimmt aus dem Leben das ganz Einzelne her- 
aus und schildert es genau in seiner Individualität, 
offenbart aber hiedurch das ganze menschliche Da- 
seyn; indem er zwar scheinbar es mit dem Einzelnen, 
in Wahrheit aber mit Dem, was überall und zu allen 
Zeiten ist, zu thun hat. Hieraus entspringt es, dass 
Sentenzen, besonders der dramatischen Dichter, selbst 
ohne generelle Aussprüche zu seyn, im wirklichen 
Leben häufige Anwendung finden. — Zur Philosophie 
verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur 
empirischen Wissenschaft verhält. Die Erfahrung 
nämlich macht uns mit der Erscheinung im Einzel- 
nen und beispielsweise bekannt: die Wissenschaft um- 
fasst das Ganze derselben, mittelst allgemeiner Be- 
griffe. So will die Poesie uns mit den (Platonischen) 
Ideen der Wesen mittelst des Einzelnen und beispiels- 
weise bekannt machen: die Philosophie will das darin 
sich aussprechende innere Wesen der Dinge im Gan- 
zen und Allgemeinen erkennen lehren. — Man sieht 
schon hieran, dass die Poesie mehr den Charakter der 
Jugend, die Philosophieden des Alters trägt. Inder That 
blüht die Dichtergabe eigentlich nur in der Jugend: 
auch die Empfänglichkeit für Poesie ist in der Jugend 
oft leidenschaftlich: der Jüngling hat Freude an Ver- 
sen als solchen und nimmt oft mit geringer Ware vor- 
lieb. Mit den Jahren nimmt diese Neigung allmäligab, 
und im Alter zieht man die Prosa vor. Durch jene 
poetische Tendenz der Jugend wird dann leicht der 
Sinn für die Wirklichkeit verdorben. Denn von die- 
Kf, 
44 
ser unterscheidet die Poesie sich dadurch, dass iu ihr 
das Leben interessant und doch schmerzlos an uns 
vorüherfliesst; dasselbe hingegen in der Wirklichkeit, 
so lange es schmerzlos ist, uninteressant ist, sobald es 
aber interessant wird, nicht ohne Schmerzen bleibt. 
Der früher in die Poesie als in die Wirklichkeit ein- 
geweihte Jüngling verlangt nun von dieser, was nur je- 
ne leisten kann: dies ist eine Hauptquelle des Unbeha- 
gens, welches die vorzüglichsten Jünglinge drückt. — 
Metrum und Reim sind eine Fessel, aber auch eine 
Hülle, die der Poet um sich wirft, und unter welcher 
es ihm vergönnt ist zu reden, wie er sonst nicht dürfte: 
und das ist es, was uns freut. — Er ist nämlich für 
Alles was er sagt nur halb verantwortlich : Metrum 
und Reim müssen es zur andern Hälfte vertreten. — 
Das Metrum, oder Zeitmaass, hat, als blosser Rhyth- 
mus, sein Wesen allein in der Zeit, welche eine reine 
Anschauung a priori ist, gehört also, mit Kant zu re- 
den, bloss der reinen Sinnlichkeit an; hingegen ist der 
Reim Sache der Empfindung im Gehörorgan, also der 
empirischen Sinnlichkeit. Daher ist der Rhythmus ein 
viel edleres und würdigeres Hülfsmittel, als der Reim, 
den die Alten demnach verschmähten, und der in den 
unvollkommenen, durch Korruption der früheren und 
in barbarischen Zeiten entstandenen Sprachen sei- 
nen Ursprung fand. Die Armsäligkeit französischer 
Poesie beruht hauptsächlich darauf, dass diese, ohne 
Metrum auf den Reim allein beschränkt ist, und wird 
dadurch vermehrt, dass sie, um ihren Mangel an Mit- 
teln zu verbergen, durch eine Menge pedantischer 
Satzungen ihre Reimerei erschwert hat, wie z. R. dass 
nur gleich geschriebene Silben reimen, als war' es 
für's Auge, nicht für's Ohr; dass der Hiatus verpönt 
ist, eine Menge Worte nicht vorkommen dürfen u. 
dgl. m., welchem Allen die neuere französische Dich- 
terschule ein Ende zu machen sucht. — In keiner 
Sprache jedoch macht, Avenigstens für mich, der Reim 
einen so wohlgefälligen und mächtigen Eindruck, wie 
in der lateinischen: die mittelalterlichen gereimten la- 
teinischen Gedichte haben einen eigentümlichen Zau- 
ber. Man muss es daraus erklären, dass die lateinische 
35 Schopenhauer 11 545 
Sprache ohne allen Vergleich vollkommener, schöner 
und edler ist, als irgend eine der neueren, und nun 
in dem, eben diesen an{jehörigen, von ihr selbst aber 
ursprünglich verschmähten Platz und Flitter so an- 
muthig einhergeht. 
Der ernsthaften Erwägung könnte es fast als eia 
Hochverrath gegen die Vernunft erscheinen, wenn 
einem Gedanken, oder seinem richtigen und reinen 
Ausdruck, auch nur die leiseste Gewalt geschieht, in 
der kindischen Absicht, dass nach einigen Silben der 
gleiche Wortklang wieder vernommen werde, oder 
auch, damit diese Silben selbst ein gewisses Hopsasa 
darstellen. Ohne solche Gewalt aber kommen gar we- 
nige Verse zu Stande: denn ihr ist es zuzuschreiben,, 
dass, in fremden Spachen, Verse viel schwerer zu ver- 
stehen sind als Prosa. Könnten wir in die geheime 
Werkstätte der Poeten sehen, so würden wir zehn 
Mal öfter finden, dass der Gedanke zum Reim, als 
dass der Reim zum Gedanken gesucht wird: und selbst 
im letztern Fall geht es nicht leicht ohne Nachgiebig- 
keit von Seiten des Gedankens ab. — Diesen Betrach- 
tungen bietet jedoch die Verskunst Trotz, und hat 
dabei alle Zeiten und Völker auf ihrer Seite: so gross 
ist die Macht, welche Metrum und Reim auf das Ge- 
müth ausüben, und so wirksam das ihnen eigene, ge- 
heimnissvolle lenocinium. Ich möchte dieses daraus er- 
klären, dass ein glücklich gereimter Vers, durch seine 
unbeschreibliche emphatische Wirkung, die Empfin- 
dung erregt, als ob der darin ausgedrückte Gedanke 
schon in der Sprache prädestinirt, ja präformirt gele- 
gen und der Dichter ihn nur herauszufinden gehabt 
hätte. Selbst triviale Einfälle erhalten durch Rhyth- 
mus und Reim einen Anstrich von Bedeutsamkeit, 
figuriren in diesem Schmuck, wie unter den Mädchen 
Alltagsgesichter durch den Putz die Augen fesseln. 
Ja, selbst schiefe und falsche Gedanken gewinnen 
durch die Versifikation einen Schein von Wahrheit. 
Andererseits wieder schrumpfen sogar berühmte Stel- 
len aus berühmten Dichtern zusammen und werden 
unscheinbar, wenn getreu in Prosa wiedergegeben. 
Ist nur das Wahre schön und ist der liebste Schmuck 
d4o 
der Wahrheit die Nacktheit; so wird ein Gedanke, 
der in Prosa gross und schön auftritt, mehr wahren 
Werth haben, als einer, der in Versen so wirkt. — 
Dass nun so geringfügig, ja, kindisch scheinende Mit- 
tel, wie Metrum und Reim, eine so mächtige Wirkung 
ausüben, ist sehr auffallend und wohl der Untersu- 
chung werth: ich erkläre es mir auf folgende Weise. 
Das dem Gehör unmittelbar Gegebene, also der blosse 
Wortklang, erhält durch Rhythmus und Reim eine 
gewisse Vollkommenheit und Bedeutsamkeit an sich 
selbst, indem er dadurch zu einer Art Musik wird: 
daher scheint er jetzt seiner selbst wegen dazuseyn 
und nicht mehr als blosses Mittel, blosses Zeichen 
eines Bezeichneten, nämlich des Sinnes der Worte. 
Durch seinen Klangdas Ohr zu ergötzen, scheint seine 
ganze Bestimmung, mit dieser daher Alles erreicht 
und alle Ansprüche befriedigt zu seyn. Dass er nun 
aber zugleich noch einen Sinn enthält, einen Gedan- 
ken ausdrückt, stellt sich jetzt dar als eine unerwar- 
tete Zugabe, gleich den Worten zur Musik; als ein 
unerwartetes Geschenk, das uns angenehm überrascht 
und daher, indem wir gar keine Forderungen der Art 
machten, sehr leicht zufrieden stellt: wenn nun aber 
gar dieser Gedanke ein solcher ist, der an sich selbst, 
also auch in Prosa gesagt, bedeutend wäre; dann sind 
wir entzückt. Mir ist aus früher Kindheit erinnerlich, 
dass ich mich eine Zeit lang am Wohlklang der Verse 
ergötzt hatte, ehe ich die Entdeckung machte, dass 
sie auch durchweg Sinn und Gedanken enthielten. 
Demgemäss giebt es, wohl in allen Sprachen, auch 
eine blosse Klingklangspoesie, mit fast gänzlicher Er- 
mangelung des Sinnes. Der Sinologe Davis, im Vor- 
bericht zu seiner Uebersetzung des Laou-sang-urh, oder 
an heir in old age (London 1817) bemerkt, dass die 
Chinesischen Dramen zum Theil aus Versen bestehen, 
welche gesungen werden, und setzt hinzu: ,,der Sinn 
derselben ist oft dunkel, und der Aussage der Chine- 
sen selbst zufolge, ist der Zweck dieser Verse vorzüg- 
lich, dem Ohre zu schmeicheln, wobei der Sinn ver- 
nachlässigt, auch wohl der Harmonie ganz zum Opfer 
gebracht ist". Wem fallen hiebei nicht die oft so 
35' 547 
schwer zu enträthselnden Chöre mancher Griecliischer 
Trauerspiele ein? 
Das Zeichen, woran man am unmittelbarsten den 
achten Dichter, sowohl höherer als niederer Gattung, 
erkennt, ist die Ungezwungenheit seiner Reime: sie 
haben sich, wie durch göttliche Schickung, von selbst 
eingefunden: seine Gedanken kommen ihm schon in 
Keimen. Der heimliche Prosaiker hingegen sucht zum 
Gedanken den Reim; der Pfuscher zum Reim den 
Gedanken. Sehr oft kann man aus einem gereimten 
Versepaar herausfinden, welcher von beiden den 
Gedanken, und welcher den Reim zum Vater hat. 
Die Kunst besteht darin, das Letztere zu verbergen, 
damit nicht dergleichen Verse beinahe als blosse aus- 
gefüllte bouts-rimes auftreten. 
Meinem Gefühl zufolge (Beweise Hnden hier nicht 
Statt) ist der Reim, seiner Natur nach, bloss binär: 
seine Wirksamkeit beschränkt sich auf die einmalige 
Wiederkehr des selben Lauts und wird durch öftere 
Wiederholung nicht verstärkt. Sobald demnach eine 
Endsilbe die ihr gleichklingende vernommen hat, ist 
ihre W^irkung erschöpft: die dritte Wiederkehr des 
Tons wirkt bloss als em abermaliger Reim, der zu- 
fällig auf den selben Klang trifft, aber ohne Erhö- 
hung der Wirkung: er reihet sich dem vorhandenen 
Reime an, ohne jedoch sich mit ihm zu einem stärkern 
Eindruck zu verbinden. Denn der erste Ton schallt 
nicht durch den zweiten bis zum dritten herüber: die- 
ser ist also ein ästhetischer Pleonasmus, eine doppelte 
Courage, die nichts hilft. Am wenigsten verdienen 
daher dergleichen Reimanhäufungen die schweren 
Opfer, die sie in Ottavarimen, Terzerimen und So- 
netten kosten, und welche die Ursache der Seelen- 
marter sind, unter der man bisweilen solche Produk- 
tionen liest: denn poetischer Genuss unter Kopfbre- 
chen ist unmöglich. Dassder grosse dichterische Geist 
auch jene Formen und ihre Schwierigkeiten bisweilen 
überwinden und sich mit Leichtigkeit und Grazie 
darin bewegen kann, gereicht ihnen selbst nicht zur 
Empfehlung: denn an sich sind sie so unwirksam wie 
beschwerlich. Und selbst hei guten Dichtern, wann 
548 
sie dieser Formen sich bedienen, sieht man häufig 
den Kampf zwischen dem Reim und dem Gedanken, 
in welchem bald der eine, bald der andere den Sieg 
erringt, also entweder der Gedanke des Reimes we- 
gen verkümmert, oder aber dieser mit einem schwa- 
chen ä peu pres abgefunden wird. Da dem so ist, halte 
ich es nicht für einen Beweis von Unwissenheit, son- 
dern von gutem Geschmack, dass Shakespeare, in sei- 
nen Sonetten, jedem der Quadernarien andere Reime 
gegeben hat. Jedenfalls ist ihre akustische Wirkung 
dadurch nicht im Mindesten verringert, und kommt 
der Gedanke viel mehr zu seinem Rechte, als er ge- 
konnt hätte, wenn er in die herkömmlichen Spani- 
schen Stiefel hätte eingeschnürt werden müssen. 
Es ist ein Nachtheil für die Poesie einer Sprache, 
wenn sie viele Worte hat, die in der Prosa nicht ge- 
bräuchlich sind, und andererseits gewisse Worte der 
Prosa nicht gebrauchen darf. Ersteres ist wohl am 
meisten im Lateinischen und Italienischen, Letzteres 
im Französischen der Fall, wo es kürzlich sehr tref- 
fend la begeulerie de la langue francaise genannt 
wurde: Beides ist weniger im Englischen und am we- 
nigsten im Deutschen zu finden. Solche der Poesie 
ausschliesslich angehörige Worte bleiben nämlich 
unserm Herzen fremd, sprechen nicht unmittelber zu 
uns, lassen uns daher kalt. Sie sind eine poetische 
Konventionssprache und gleichsam bloss gemalte 
Empfindungen statt wirklicher: sie schliessen die In- 
nigkeit aus. — 
Der in unsern Tagen so oft besprochene Unter- 
schied zwischen klassische?- und romantischer Poesie 
scheint mir im Grunde darauf zu beruhen, dass jene 
keine anderen, als die rein menschlichen, wirklichen 
und natürlichen Motive kennt; diese hingegen auch 
erkünstelte, konventionelle und imaginäre Motive als 
wirksam geltend macht: dahin gehören die aus dein 
Christlichen Mythos stammenden, sodann die des rit- 
terlichen, überspannten und phantastischen Ehren- 
princips, ferner die der abgeschmackten und lächer- 
lichen christlichgermanischen Weiberverehrung, end- 
lich die der faselnden und mondsüchtigen hyperphy- 
549 
sischen Verliebtheit. Zu welcher fratzenhaften"! Ver- 
zerrung menschlicher Verhältnisse und menschlicher 
Natur diese Motive aber führen, kann man sogar an 
den besten Dichtern der romantischen Gattung erse- 
hen, z. B. an Calderon. Von den Autos gar nicht zu re- 
den, berufe ich mich nur auf Stücke wie No siempre 
el peor es cierto (Nicht immer ist das Schlimmste 
gewiss) und El postrero duelo en Espana (Das letzte 
Duell in Spanien) und ähnliche Komödien en capa y 
espada: zu jenen Elementen gesellt sich hier noch 
die oft hervortretende scholastische Spitzfindigkeit 
in der Konversation, welche damals zur Geistesbil- 
dung der höheren Stände gehörte. Wie steht doch 
dagegen die Poesie der Alten, welche stets der Natur 
treu bleibt, entschieden im Vortheil, und ergiebt sich, 
dass die klassische Poesie eine unbedingte, die roman- 
tische nur eine bedingte Wahrheit und Richtigkeit 
hat; analog der Griechischen und der Gothischen 
Baukunst. Andererseits ist jedoch hier zu bemerken, 
dass alle dramatischen, oder erzählenden Dichtungen, 
welche den Schauplatz nach dem alten Griechenland 
oder Rom versetzen, dadurch in Nachtheil geratheu, 
dass unsere Kenntniss des Altei'thums, besonders was 
das Detail des Lebens betrifft, unzureichend, frag- 
mentarisch und nicht aus der Anschauung geschöpft 
ist. Dies nämlich nöthigt den Dichter Vieles zu um- 
gehen und sich mit Allgemeinheiten zu behelfen, wo- 
durch er ins Abstrakte geräth und sein Werk jene An- 
schaulichkeit und Individualisation einbüsst, welche 
der Poesie durchaus wesentlich ist. Dies ist es, was 
allen solchen Werken den eigenthümlichen Anstrich 
von Leerheit und Langweiligkeit giebt. Bloss Sliake- 
speare's Darstellungen der Art sind frei davon, weil 
er, ohne Zaudern, unter den Namen von Griechen 
und Römern, Engländer seines Zeitalters dargestellt 
hat. — 
Manchen Meisterstücken der lyrischen Poesie, na- 
mentlich einigen Oden des Horaz (man sehe z. B. die 
zweite des dritten Buchs) und mehreren Liedern 
Goethe's (z. B. Schäfers Klagelied), ist vorgeworfen 
worden, dass sie des rechten Zusammenhanges ent- 
O.'IO 
behrten und voller Gedankensprünge wären. Allein 
hier ist der logische Zusammenhang absichtlich ver- 
nachlässigt, um ersetzt zu werden durch die Einheit 
der darin ausgedrückten Grundempfindung und Stim- 
mung, als welche gerade dadurch mehr hervortritt, 
indem sie wie eine Schnur durch die gesonderten Per- 
len geht und den schnellen Wechsel der Gegenstände 
<ler Betrachtung so vermittelt, wie in der Musik den 
Uebergang aus einer Tonart in die andere der Septi- 
menackord, durch welchen der in ihm fortklingende 
Grundton zur Dominante der neuen Tonart wird. 
Am deutlichsten, nämlich bis zur Uebertreibung, fin- 
det man die hier bezeichnete Eigenschaft in der Can- 
zone des Petrarka, welche anhebt: Mai non vo' piü 
cantar, com' io soleva. — 
Wie demnach in der lyrischen Poesie das subjek- 
tive Element vorherrscht, so ist dagegen im Drama 
das objektive allein und ausschliesslich vorhanden. 
Zwischen Beiden hat die epische Poesie, in allen ihren 
Formen und Modifikationen, von der erzählenden Ro- 
manze bis zum eigentlichen Epos, eine breite Mitte 
inne. Denn obwohl sie in der Hauptsache objektiv 
ist; so enthält sie doch ein bald mehr bald minder 
hervortretendes subjektives Element, welches am 
Ton, an der Form des Vortrags, wie auch an einge- 
streuten Reflexionen seinen Ausdruck findet. Wir ver- 
lieren nicht den Dichter so ganz aus den Augen, wie 
beim Drama. 
Der Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem 
Beispiel zu zeigen, was das Wesen und Daseyn des 
Menschen sei. Dabei kann nun die traurige, oder die 
heitere Seite derselben uns zugewendet werden, oder 
auch deren Uebergänge. Aber schon der Ausdruck 
„Wesen und Daseyn des Menschen" enthält den Keim 
zu der Kontroverse, ob das Wesen, d. i. die Charak- 
tere, oder das Daseyn, d. i. das Schicksal, die Bege- 
benheit, die Handlung, die Hauptsache sei, Uebrigens 
sind Beide so fest mit einander verwachsen, dass wohl 
ihr Begriff, aber nicht ihre Darstellung sich trennen 
lässt. Denn nur die Umstände, Schicksale, Begeben- 
heiten bringen die Charaktere zur Aeusserung ihres 
55i 
Wesens, und nur aus den Charakteren entsteht die 
Handhmg, aus der die Bejjebenheiten hervorgehen. 
Allerdings kann, in der Darstellung, das Eine oder 
das x\ndere mehr hervorgehoben seyn , in welcher 
Hinsicht das Charakterstück und das Intriguenstück 
die beiden Extreme bilden. 
Der dem Drama mit dem Epos gemeinschaftliche 
Zweck, an bedeutenden Charakteren in bedeutenden 
Situationen, die durch beide herbeigeführten ausser- 
ordentlichen Handlungen darzustellen, wird vom 
Dichter am vollkommensten erreicht werden, wenn 
er uns zuerst die Charaktere im Zustande der Ruhe 
vorführt, in welchem bloss die allgemeine Färbung 
derselben sichtbar wird, dann aber ein Motiv eintre- 
ten lässt, welches eine Handlung herbeiführt, aus der 
ein neues und stärkeres Motiv entsteht, welches 
wieder eine bedeutendere Handlung hervorruft, die 
wiederum neue und immer stärkere Motive gebiert, 
wodurch dann, in der der Form angemessenen Frist, 
an die Stelle der ursprünglichen Ruhe die leiden- 
schaftliche Aufregung tritt, in der nun die bedeutsa- 
men Handlungen geschehen, an welchen die in den 
Charakteren vorhin schlummernden Eigenschaften, 
nebst dem Laufe der Welt, in hellem Lichte hervor- 
treten. — 
Grosse Dichter verwandeln sich ganz in jede der 
darzustellenden Personen und sprechen aus jeder der- 
selben, wie Bauchredner; jetzt aus dem Helden, und 
gleich darauf aus dem jungen unschuldigen Mäd- 
chen, mit gleicher Wahrheit und Natürlichkeit: so 
Shakespeaie und Goethe. Dichter zweiten Ranges ver- 
wandeln die darstellende Hauptperson in sich: in 
Byron; wobei dann die Nebenpersonen oft ohne Le- 
ben bleiben, wie in den Werken der Mediokren auch 
die Hauptperson. — 
Unser Gefallen am Tiaiierspi'el gehört nicht dem 
Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an ; 
ja, es ist der höchste Grad dieses Gefühls. Denn, wie 
wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns 
vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein an- 
schauend zu verlialten ; so wenden wir bei der tragi- 
552 
sehen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst 
ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche 
Seite des Lebens uns vorgeführt, der Jammer der 
Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des Irr- 
thums, der Fall des Gerechten, der Triumpf der Bö- 
sen : also die unserm Willen geradezu widerstrebende 
Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen ge- 
bracht. Bei diesem iVnblick fühlen wir uns aufgefor- 
dert, unsern Willen vom Leben abzuwenden, es nicht 
mehr zu wollen und zu lieben. Gerade dadurch aber 
werden wir inne, dass alsdann noch etwas Anderes 
an uns übrig bleibt, was wir durchaus nicht positiv 
erkennen können, sondern bloss negativ, als Das, was 
nicht das Leben will. Wie der Septimenackord den 
Grundackord, wie die rotbe Farbe die grüne fordert 
und sogar im Auge hervorbringt ; so fordert jedes 
Trauerspiel ein ganz anderartiges Daseyn, eine andere 
Welt, deren Erkenntniss uns immer nur indirekt, 
wie eben hier durch solche Forderung, gegeben wer- 
den kann. Im Augenblick der tragischen Katastrophe 
wird uns, deutlicher als jemals, die Ueberzeugung, 
dass das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir 
zu erwachen haben. Insofern ist die Wirkung des 
Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, 
indem es, wie dieses, uns über den Willen und sein 
Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, dass wir 
am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Ge- 
fallen finden. Was allem Tragischen, in welcher Ge- 
stalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung 
zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkennt- 
niss, dass die Welt, das Leben, kein wahres Genügen 
gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht 
werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet 
demnach zur Resignation hin. 
Ich räume ein, dass im Trauerspiel der Alten die- 
ser Geist der Resignation selten direkt hervortritt 
und ausgesprochen wird. Oedipus Koloneus stirbt 
zwar resignirt und willig; doch tröstet ihn die Rache 
an seinem Vaterland. Iphigenia Aulika ist sehr willig 
zu sterben ; doch ist es der Gedanke an Griechenlands 
Wohl, der sie tröstet und die Veränderung ihrer Ge- 
553 
sinnung hervorbringt, vermöge welcher sie den Tod, 
dem sie erst auf alle Weise entfliehen wollte, willig 
übernimmt. Kassandra, im Agamemnon des grossen 
Aeschylos, stirbt willig, apxsixto j3to?; aber auch sie 
tröstet der Gedanke an Rache. Herkules, in den 
Trachinerinnen, giebt der Nothwendigkeit nach, stirbt 
gelassen, aber nicht resignirt. Eben so der Hippoly- 
tos des Euripides, bei dem es uns auffällt, dass die ihn 
zu trösten erscheinendeArtemis ihniTempel und Nach- 
ruhm verheisst, aber durchaus nicht auf ein über das 
Leben hinausgehendes Daseyn hindeutet, und ihn im 
Sterben verlässt, wie alle Götter von dem Sterbenden 
weichen: — im Christenthum treten sie zu ihm her- 
an; und eben so im Brahmanismus und Buddhais- 
mus, wenn auch bei letzterem die Götter eigentlich 
exotisch sind. Hippolytos also, wie fast alle tragischen 
Helden der Alten, zeigt Ergebung in das unabwend- 
bare Schicksal und den unbiegsamen Willen der Göt- 
ter, aber kein Aufgeben des Willens zum Leben selbst. 
W^ie der Stoische Gleichmuth von der Christlichen 
Resignation sich von Grund aus dadurch unterschei- 
det, dass er nur gelassenes Ertragen und gefasstes 
Erwarten der unabänderlich nothwendigen Uebel 
lehrt, das Christenthum aber Entsagung, Aufgeben 
des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden 
der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unaus- 
weichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche 
Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens 
zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewusst- 
seyn ihrer Werthlosigkeit und Nichtigkeit. — Aber 
ich bin auch ganz der Meinung, dass das Trauerspiel 
der Neuern höher steht, als das der Alten. Shake- 
speare ist viel grösser als Sophokles: gegen Goethe s 
Iphigenia könnte man die des Euripides beinahe roh 
und gemein finden. Die Bakchantinnen des Euripides 
sind ein empörendes Machwerk zu Gunsten der heid- 
nischen Pfaffen. Manche antike Stücke haben gar keine 
tragische Tendenz; wie die Alkeste und Iphigenia 
Taurika des Euripides: einige haben widerwärtige, 
oder gar ekelhafte Motive; so die Antigone und Phi- 
loktet. Fast alle zeigen das Menschengeschlecht unter 
55/} 
I 
der entsetzlichen Herrschaft des Zufalls und Irrthums, 
aber nicht die dadurch veranlasste und davon erlö- 
sende Resignation. Alles, weil die Alten noch nicht 
zum Gipfel und Ziel des Trauerspiels, ja, der Lebens- 
ansicht überhaupt, gelangt waren. 
Wenn demnach die Alten den Geist der Resigna- 
tion, das Abwenden des Willens vom Leben, an ihren 
tragischen Helden selbst, als deren Gesinnung, wenig 
darstellen; so bleibt es dennoch die eigenthümliche 
Tendenz und Wirkung des Trauerspiels, jenen Geist 
im Zuschauer zu erwecken und jene Gesinnung, wenn 
auch nur vorübergehend, hervorzurufen. Die Schreck- 
nisse auf der Bühne halten ihm die Bitterkeit und 
Werthlosigkeit des Lebens, also die Nichtigkeit alles 
seines Strebens entgegen : die Wirkung dieses Ein- 
drucks muss seyn, dass er, wenn auch nur im dun- 
keln Gefühl, inne wird, es sei besser, sein Herz vom 
Leben loszureissen, sein Wollen davon abzuwenden, 
die Welt und das Leben nicht zu lieben; wodurch 
dann eben, in seinem tiefsten Innern, das Bewusst- 
seyn angeregt wird, dass für ein anderartiges Wollen 
es auch eine andere Art des Daseyns geben müsse. — 
Denn wäre dies nicht, wäre nicht dieses Erheben 
über alle Zwecke und Güter des Lebens, dieses Ab- 
wenden von ihm und seinen Lockungen, und das 
hierin schon liegende Hinwenden nach einem ander- 
artigen, wiewohl uns völlig unfassbaren Daseyn die 
Tendenz des Trauerspiels; wie wäre es dann über- 
haupt möglich, dass die Darstellung der schrecklichen 
Seite des Lebens, im grellsten Lichte uns vor Augen 
gebracht, wohlthätig auf uns wirken und ein hoher 
Genuss für uns seyn könnte? Furcht und Mitleid, in 
deren Erregung Aristoteles den letzten Zweck des 
Trauerspiels setzt, gehören doch wahrhaftig nicht an 
sich selbst zu den angenehmen Empfindungen: sie 
können daher nicht Zweck, sondern nur Mittel seyn. 
— Also Aufforderung zur Abwendung des W^illens 
vom Leben bleibt die wahre Tendenz des Trauer- 
spiels, der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung 
der Leiden der Menschheit, und ist es mithin auch 
da, wo diese resignirte Erhebung des Geistes nicht am 
555 
Helden selbst {gezeigt, sondern bloss im Zuschauer an- 
geregt wird, durch den Anblick grossen, unverschul- 
deten, ja, selbst verschuldeten Leidens. — Wie die 
Alten, so begnügen auch Man(;he der Neuern sich 
damit, durch die objektive Darstellung menschlichen 
Unglücks im Grossen den Zuschauer in die beschrie- 
bene Stimmung zai versetzen; während Andere diese 
durch das Leiden bewirkte ümkehrung der Gesinnung 
am Helden selbst darstellen: Jene geben gleichsam 
nur die Prämissen, und überlassen die Konklusion 
dem Zuschauer; während diese die Konklusion, oder 
die Moral der Fabel, mitgeben, als Umkehrung der 
Gesinnung des Helden, auch wohl als Betrachtung 
im Munde des Chors, wie z. B. Schiller in der Braut 
von Messina : ,,Das Leben ist der Güter höchstes nicht." 
Hier sei es erwähnt, dass selten die acht tragische 
Wirkung der Katastrophe, also die durch sie herbei- 
geführte Resignation und Geisteserhebung der Hel- 
den, so rein motivirt und deutlich ausgesprochen her- 
vortritt, wie in der Oper Noi-ma, wo sie eintritt in dem 
Duett Qual cor tradisti, quäl cor perdesti, in welchem 
die Umwendung des W^illens durch die plötzlich ein- 
tretende Ruhe der Musik deutlich bezeichnet wird. 
Ueberhaupt ist dieses Stück, — ganz abgesehen von 
seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits von 
der Diktion, welche nur die eines Operntextes seyn 
darf, — und allein seinen Motiven imd seiner innern 
Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkomme- 
nes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage 
der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung 
und tragischer Entwickelung, zusammt der über die 
Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung 
der Helden, welche dann auch auf den Zuschauer 
übergeht: ja, die hier erreichte Wirkung ist um so 
unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trau- 
erspiels bezeichnender, als keine Christen, noch Christ- 
liche Gesinnungen darin vorkommen. — 
Die den Neuern so oft vorgeworfene Vernachlässi- 
gung der Einheit der Zeit und des Orts wird nur 
dann fehlerhaft, wann sie so weit geht, dass sie die Ein- 
heit der Handlung aufhebt; wo dann nur noch die 
556 
Einheit der Hauptperson übrig bleibt, wie z. B. in 
„Heinrich VIH." von Shakespeare. Die Einheit der 
Handhing braucht aber auch nicht so weit zu gehen, 
dass immerfort von der selben Sache geredet wird, 
wie in den Französischen Trauerspielen, welche sie 
überhaupt so strenge einhalten, dass der dramatische 
Verlauf einer geometrischen Linie ohne Breite gleicht: 
da heisst es stets „Nur vorwärts! Pensez ä votre af- 
faire!" und die Sache wird ganz geschäftsmässig ex- 
pedirt und depeschirt, ohne dass man sich mit Allo- 
trien, die nicht zu ihr gehören, aufhalte, oder rechts, 
oder links umsehe. Das Shakespearesche Trauerspiel 
hingegen gleicht einer Linie, die auch Breite hat: es 
lasst sich Zeit, exspatiatur: es kommen Reden, sogar 
ganze Scenen voi", welche die Handlung nicht fördern, 
sogar sie nicht eigentlich angehen, durch welche wir 
jedoch die handelnden Personen, oder ihre Umstände 
näher kennen lernen, wonach wir dann auch die 
Handlung gründlicher verstehen. Diese bleibt zwar 
die Hauptsache, jedoch nicht so ausschliesslich, dass 
wir darüber vergässen, dass, in letzter Instanz, es auf 
die Darstellung des menschlichen Wesens und Da- 
seyns überhaupt abgesehen ist. — 
Der dramatische, oder epische Dichter soll wissen, 
dass er das Schicksal ist, und daher unerbittlich seyn, 
wie dieses; — imgleichen, dass er der Spiegel des 
Menschengeschlechts ist, und daher sehr viele schlech- 
te, mitunter ruchlose Charaktere auftreten lassen, wie 
auch viele Thoren, verschrobene Köpfe und Narren, 
dann aber hin und wieder einen Vernünftigen, einen 
Klugen, einen Redlichen, einen Guten und nur als 
seltenste Ausnahme einen Edelmüthigen. Im ganzen 
Homer ist, meines Bedünkens, kein eigentlich edel- 
müthiger Charakter dargestellt, wiewohl manche gute 
und redliche : im ganzen Shakespeare mögen allenfalls 
ein Paar edle, doch keineswegs überschwänglich edle 
Charaktere zu finden seyn, etwan die Kordelia, der 
Koriolan, schwerlich mehr; hingegen wimmelt es 
darin von der oben bezeichneten Gattung. Aber Iß- 
lands und Kotzehues Stücke haben viel edelmüthige 
Charaktere; während Goldoni es gehalten hat, wie 
55 
7 
ich oben anempfahl, wodurch er zeifjt, dass er höber 
steht. Hingegen Lessings Minna von liarnhelni labo- 
rirt stark an zu vielen» und allseitigem Edelmuth: 
aber gar so viel Edelmuth, wie der einzige Marquis 
Posa darbietet, ist in Goethes sämmtlichen Wer- 
ken zusammengenommen nicht aulzutreiben: wohl 
aber giebt es ein kleines Deutsches Stück „Pflicht 
um Pflicht" (ein Titel wie aus der Kritik der prak- 
tischen Vernunft genommen), welches nur drei Per- 
sonen hat, jedoch alle drei von überschwänglichein 
Edelmuth. — 
Die Griechen nahmen zu Helden des Trauerspiels 
durchgängig königliche Personen ; die Neuern mei- 
stentheils auch. Gewiss nicht, weil der Rang dem 
Handelnden oder Leidenden mehr Würde giebt ; und 
da es bloss darauf ankommt, menschliche Leiden- 
schaften ins Spiel zu setzen; so ist der relative 
W^erth der Objekte, wodurch dies geschieht, gleich- 
gültig, und Bauernhöfe leisten so viel, wie Königrei- 
che. Auch ist das bürgerliche Trauerspiel keineswegs 
unbedingt zn verwerfen. Personen von grosser Macht 
und Ansehn sind jedoch deswegen zum Trauerspiel die 
geeignetesten, weil das Unglück, an welchem wir das 
Schicksal des Menschenlebens erkennen sollen, eine 
hinreichende Grösse haben muss, um dem Zuschauer, 
wer er auch sei, als furchtbar zu erscheinen. Nun 
aber sind die Umstände, welche eine Bürgerfamilie 
in Noth und Verzweiflung versetzen, in den Augen 
der Grossen oder Reichen meistens sehr geringfügig 
und durch menschliche Hülfe, ja bisweilen durch 
eine Kleinigkeit, zu beseitigen : solche Zuschauer kön- 
nen daher von ihnen nicht tragisch erschüttert wer- 
den. Hingegen sind die Unglücksfälle der Grossen 
und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Ab- 
hülfe von aussen zugänglich; da Könige durch ihre 
eigene Macht sich helfen müssen, oder untergehen. 
Dazu kommt, dass von der Höhe der Fall am tiefsten 
ist. Den bürgerlichen Personen fehlt es demnach an 
F'allhöhe. — 
Wenn nun als die Tendenz und letzte Absicht des 
Trauerspiels sich uns ergeben hat ein Hinwenden zur 
.558 
Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben; 
so werden wir in seinem Gegensatz, dem Lustspiel, 
die Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung des Wil- 
lens leicht erkennen. Zwar muss auch das Lustspiel, 
wie unausweichbar jede Darstellung des Menschen- 
lebens, Leiden und Widerwärtigkeiten vor die Augen 
bringen: allein es zeigt sie uns vor als vorübergehend, 
sich in Ereude auflösend, überhaupt mit Gelingen, 
Siegen und Hoffen gemischt, welche am Ende doch 
überwiegen; und dabei hebt es den unerschöpflichen 
Stoff' zum Lachen hervor, von dem das Leben, ja,, 
dessen Widerwärtigkeiten selbst, erfüllt sind, und der 
uns, unter allen Umständen, bei guter Laune erhal- 
ten sollte. Es besagt also, im Resultat, dass das Leben 
im Ganzen recht gut und besonders durchweg kurz- 
weilig sei. Freilich aber muss es sich beeilen, im Zeit- 
punkt der Freude den Vorhang fallen zu lassen, da- 
mit wir nicht sehen, was nachkommt; während das 
Trauerspiel, in der Regel, so schliesst, dass nichts 
nachkommen kann. Und überdies, wenn wir jene bur- 
leske Seite des Lebens ein Mal etwas ernst ins Auge 
fassen, wie sie sich zeigt in den naiven Aeusserungen 
und Gebehrden, welche die kleinliche Verlegenheit,, 
die persönliche Furcht, der augenblickliche Zorn, der 
heimliche Neid und die vielen ähnlichen Affekte den 
vom Typus der Schönheit beträchtlich abweichenden 
Gestalten der sich hier spiegelnden Wirklichkeit auf- 
drücken; — so kann auch von dieser Seite, also auf 
eine unerwartete Art, dem nachdenklichen Betrach- 
ter die Ueberzeugung werden, dass das Daseyn und 
Treiben solcher Wesen nicht selbst Zweck seyn kann, 
dass sie, im Gegentheil, nur auf einem Irrwege zum 
Daseyn gelangen konnten, und dass was sich so dar- 
stellt etwas ist, das eigentlich besser nicht wäre. 
559. 
KAPITEL 38'). 
ÜEBf:R GESCHICHTE. 
rCH habe in der unten bemerkten Stelle des ersten 
Bandes ausführlich {=;ezeigt, dass und warum für 
die Erkenntniss des Wesens der Menschheit mehr 
von der Dichtunjj, als von der Geschichte geleistet 
wird: insofern wäre mehr eigentliche Belehrung von 
jener, als von dieser zu erwarten. Dies hat auch jiri- 
stoteles eingesehen, da er sagt: xai cpiXosocpcu-epov xat 
aTrouoaioxepov toitjok; taiopiai; eaxtv (et res magis phi- 
losophica, et melior poesis est, quam historia**). (De 
poet., c. 9.) Um jedoch über den Werth der Geschich- 
te kein Missverständniss zu veranlassen, will ich mei- 
ne Gedanken darüber hier aussprechen. 
In jeder Art und Gattung von Dingen sind die 
Thatsachen unzählig, der einzelnen Wesen unendlich 
viele, die Mannigfaltigkeit ihrer Verschiedenheiten 
unerreichbar. Bei einem Blicke daraufschwindelt dem 
wissbegierigen Geiste: er sieht sich, wie weit er auch 
forsche, zur Unwissenheit verdammt. — Aber da 
kommt die Wissenschaft: sie sondert das unzählbar 
Viele aus, sammelt es unter Artbegriffe, und diese 
wieder unter Gattungsbegriffe, wodurch sie den Weg 
zu einer Erkenntniss des Allgemeinen und des Beson- 
dern eröffnet, welche auch das unzählbare Einzelne 
befasst, indem sie von Allem gilt, ohne dass man Jeg- 
liches für sich zu betrachten habe. Dadurch verspricht 
sie dem forschenden Geiste Beruhigung. Dann stellen 
alle Wissenschaften sich neben einander und über die 
reale Welt der einzelnen Dinge, als welche sie unter 
sich vertheilt haben. Ueber ihnen allen aber schwebt 
*) Dieses Kapitel bezieht sich ai]F§. 5i des ersten Bandes. [S. 
393 d. A.] 
**) Beiläufig sei hier bemerkt, dass aus diesem Gegensatz von 
Troirjoii; und lOTOpia der Ursprung und damit der eigentliche 
Sinn des ersteren Wortes ungemein deutlich hervortritt: es 
bedeutet nämlich das Gemachte, Ersonnene, im Gegensatz 
des Erfragten. 
56o 
die Philosophie, als das alljjemeiiiste und deshalb 
wichtijjste Wissen, welches die Aufschlüsse verheisst, 
zu denen die andern nur vorbereiten. — Hloss die 
Geschichte darf eijjentiich nicht in jene Reihe treten; 
da sie sich nicht des selben Vortheils wie die andern 
rühmen kann: denn ihr fehlt der Grundcharakter 
der Wissenschaft, die Subordination des Gewussten, 
statt deren sie blosse Koordination desselben aufzu- 
weisen hat. Daher giebt es kein System der Geschich- 
te, wie doch jeder andern Wissenschaft. Sie ist dem- 
nach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft, 
Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des 
Allgemeinen, sondern muss das Einzelne unmittel- 
bar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Er- 
fahrung fortkriechen; während die wirklichen Wis- 
senschaften darüber schweben, indem sie umfassende 
Begriffe gewonnen haben, mittelst deren sie das Ein- 
zelne beherrschen und, wenigstens innerhalb gewis- 
ser Gränzen, die Möglichkeit der Dinge ihres Berei- 
ches absehen, so dass sie auch über das etwan noch 
Hinzukommende beruhigt seyn können. Die Wissen- 
schaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden 
stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. 
Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen ; 
welches einen Widerspruch besagt. Auch folgt aus 
Ersterem, dass die Wissenschaften sämmtlich von 
Dem reden, was immer ist; die Geschichte hingegen 
von Dem, was nur ein Mal und dann nicht mehr ist. 
Da ferner die Geschichte es mit dem schlechthin Ein- 
zelnen und Individuellen zu thun hat, welches, seiner 
Natur nach, unerschöpflich ist; so weiss sie Alles nur 
unvollkommen und halb. Dabei muss sie zugleich 
noch von jedem neuen Tage, in seiner Alltäglichkeit, 
sich Das lehren lassen, was sie noch gar nicht wusste. 
— Wollte man hiegegen einwenden, dass auch in 
der Geschichte Unterordnung des Besondern unter das 
Allgemeine Statt finde, indem die Zeitperioden, die 
Regierungen und sonstige Haupt- und Staatsverände- 
rungen, kurz. Alles was auf den Geschichtstabellen 
Platz findet, das Allgemeine seien, dem das Specielle 
sich unterordnet; so würde dies auf einer falschen 
36 Schopenhauer II 5 6 I 
Fassung des Begriffes vom Allgemeinen beruhen. Denn 
das hier angeführte Allgemeine in der Geschichte ist 
bloss ein subjektives, d. h. ein solches, dessen Allge- 
meinheit allein aus der Unzulänglichkeit der indivi- 
duellen Kenntniss von den Dingen entspringt, nicht 
aber ein objektives, d. h. ein Begriff, in welchem die 
Dinge wirklich schon mitgedacht wären. Selbst das 
Allgemeinste in der Geschichte ist an sich selbst doch 
nur ein Einzelnes und Individuelles, nämlich ein lan- 
ger Zeitabschnitt, oder eine Hauptbegebenheit: zu 
diesem verhält sich daher das Besondere, wie der 
Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Re- 
gel; wie dies hingegen in allen eigentlichen Wissen- 
schaften Statt hat, weil sie Begriffe, nicht blosse That- 
sachen überliefern. Daher eben kann man in diesen 
durch richtige Kenntniss des Allgemeinen das vor- 
kommende Besondere sicher bestimmen. Kenne ich 
z. B. die Gesetze des Triangels überhaupt; so kann 
ich danach auch angeben, was dem mir vorgelegten 
Triangel zukommen muss: und was von allen Säuge- 
thieren gilt, z, B. dass sie doppelte Herzkammern, 
gerade sieben Halswirbel, Lunge, Zwergfell, Urin- 
blase, fünf Sinne u. s. w. haben, das kann ich auch 
von der soeben gefangenen fremden Fledermaus, vor 
ihrer Sektion, aussagen. Aber nicht so in der Ge- 
schichte, als wo das Allgemeine kein objektives der 
Begriffe, sondern bloss ein subjektives meiner Kennt- 
niss ist, welche nur insofern, als sie oberflächlich ist, 
allgemein genannt werden kann: daher mag ich im- 
merhin vom dreissigjährigen Kriege im Allgemeinen 
wissen, dass er ein im 17. Jahrhundert geführter Re- 
ligionskrieg gewesen; aber diese allgemeine Kennt- 
niss befähigt mich nicht, irgend etwas Näheres über 
seinen Verlauf anzugeben. — Der selbe Gegensatz 
bewährt sich auch darin, dass in den wirklichen Wis- 
senschaften das Besondere und Einzelne das Gewis- 
seste ist, da es auf unmittelbarer Wahrnehmung be- 
ruht: hingegen sind die allgemeinen Wahrheiten erst 
aus ihm abstrahirt; daher in diesen eher etwas irrig 
angenommen seyn kann. In der Geschichte aber ist 
umgekehrt das Allgemeinste das Gewisseste, z. B. die 
562 
Zeitperioden, die Succession der Könige, die Revolu- 
tionen, Kriege und Friedensschlüsse: hingegen das Be- 
sondere der Begebenheiten und ihres Zusammenhangs 
ist ungewisser, und wird es immer mehr, je weiter 
man ins Einzelne gerät. Daher ist die Geschichte zwar 
um so interessanter, je specieller sie ist, aber auch 
um so unzuverlässiger, und nähert sich alsdann in je- 
der Hinsicht dem Romane. — Was es übrigens mit 
dem gerühmten Pragmatismus der Geschichte auf 
sich habe, wird Der am besten ermessen können, 
welcher sich erinnert, dass er bisweilen die Begeben- 
heiten seines eigenen Lebens, ihrem wahren Zusam- 
menhange nach, erst zwanzig Jahre hinterher ver- 
standen hat, obwohl die Data dazu ihm vollständig 
vorlagen : so schwierig ist die Kombination des Wir- 
kens der Motive, unter den beständigen Eingriffen 
des Zufalls und dem Verhehlen der Absichten. — 
Sofern nun die Geschichte eigentlich immer nur das 
Einzelne, die individuelle Thatsache, zum Gegenstan- 
de hat und dieses als das ausschliesslich Reale ansieht, 
ist sie das gerade Gegentheil und Widerspiel der Phi- 
losophie, als welche die Dinge vom allgemeinsten Ge- 
sichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das All- 
gemeine zum Gegenstand hat, welches in allem Ein- 
zelnen identisch bleibt; daher sie in diesem stets nur 
Jenes sieht und den Wechsel an der Erscheinung des- 
selben als unwesentlich erkennt: (pdoxaöoXou yap 6 
cpiXoaocpo? (generalium amator philosophus). Während 
die Geschichte uns lehrt, dass zu jeder Zeit etwas An- 
deres gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der 
Einsicht zu verhelfen, dass zu allen Zeiten ganz das 
Selbe war, ist und seyn wird. In Wahrheit ist das 
Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, 
in jeder Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf da- 
her, um erschöpfend erkannt zu werden, nur der 
Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die 
Tiefe durch die Länge und Breite zu ersetzen: ihr ist 
jede Gegenwart nur ein Bruchstück, welches ergänzt 
werden muss durch die Vergangenheit, deren Länge 
aber unendlich ist und an die sich wieder eine un- 
endliche Zukunft schliesst. Hierauf beruht das Wi- 
36* 563 
derspiel zwischen den philosophischen und liistori- 
schen Köpfen: jene wollen ergründen; diese wollen 
zu Ende zählen. Die Geschichte zeigt auf jeder Seite 
nur das Selbe, unter verschiedenen Formen: wer aber 
solches nicht in einer oder wenigen erkennt, wird 
auch durch das Durchlaufen aller Formen schwer- 
lich zur Erkenntniss davon gelangen. Die Kapitel der 
Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Na- 
men und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich we- 
sentliche Inhalt ist überall derselbe. 
Sofern nun also der Stoff der Kunst die Idee, der 
Stoff der Wissenschaft der Begriff ist, sehen wir Bei- 
de mit Dem beschäftigt, was immer da ist und stets 
auf gleiche Weise, nicht aber jetzt ist und jetzt nicht, 
jetzt so und jetzt anders: daher eben haben Beide es 
mitDem zuthun, wasP/a^oausschliesslich als den Ge- 
genstand wirklichen Wissens aufstellt. Der Stoff der 
Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzel- 
heit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann aui 
immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflech- 
tungen einer wie Wolken im Winde beweglichen 
Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten 
Zufall ganz umgestaltet werden. Von diesem Stand- 
punkt aus erscheint uns der Stoff der Geschichte kaum 
noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung 
des Menschen geistes würdiger Gegenstand, des Men- 
schengeistes, der, gerade weil er so vergänglich ist, 
das Unvergängliche zu seiner Betrachtung wählen 
sollte. 
Was endlich das, besonders durch die überall so 
geistesverderbliche und verdummende Hegeische 
Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Welt- 
geschichte als ein planmässiges Ganzes zu fassen, oder, 
wie sie es nennen, „sie organisch zu konstruiren", 
betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und 
platter Realismus zum Grunde, der die Erscheimmg 
für das Wesen an sich der Welt hält vmd vermeint, 
auf sie, auf ihre (ycstalten und Vorgänge käme es an; 
wobei er noch im Stillen von gewissen mythologischen 
Grundansichten unterstützt wird, die er stillschwei- 
gend voraussetzt: sonst liesse sich fragen, für welchen 
564 
Zuschauer denn eine dergleichen Komödie ei{>entlich 
aufgeführt würde? — Denn, da nur das Individuum, 
nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, un- 
mittelbare Einheit des Bewusstseyns hat; so ist die 
Einheit des Lebenslaufes dieses eine blosse Fiktion. 
Zudem, wie in der Natur nur die Species real, die ge- 
nera blosse Abstraktionen sind, so sind im Menschen- 
geschlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf 
real, die Völker und ihr Leben blosse Abstraktionen. 
Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von 
plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen 
behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgere- 
gelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik 
und Industrie und höchstens auf intellektuelle Ver- 
vollkommnung hinaus; weil diese in der That die 
allein mögliche ist, da das Moralische im Wesent- 
lichen unverändert bleibt. Das Moralische aber ist es, 
worauf, nach dem Zeugniss unsers innersten Bewusst- 
seyns, Alles ankommt: und dieses liegt allein im In- 
dividuo, als die Bichtung seines Willens. In Wahr- 
heit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, 
Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit: er ist als 
eine Belehrung anzusehen, und der Sinn derselben 
ist ein moialischer. Nur die innern Vorgänge, sofern 
sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und 
sind wirkliche Begebenheiten; weil der Wille allein 
das Ding an sich ist. In jedem Mikrokosmos liegt der 
ganze Makrokosmos, und dieser enthält nichts mehr 
als jener. Die Vielheit ist Erscheinung, und die 
äussern Vorgänge sind blosse Konfigurationen der 
Erscheinungswelt, haben daher unmittelbar weder 
Realität noch Bedeutung, sondern erst mittelbar, 
durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen. 
Das Bestreben sie unmittelbar deuten und auslegen 
zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der 
Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu se- 
hen. — W^as die Geschichte erzählt, ist in der That 
nur der lange, schwere und verworrene Traum der 
Menschheit. 
Die Hegelianer, welche die Philosophie der Ge- 
schichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie 
565 
ansehen, sind auf Plato zu verweisen, der unermüd- 
lich wiederholt, dass der Gegenstand der Philosophie 
das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, 
nicht aber Das, was bald so, bald anders ist. Alle Die, 
welche solche Konstruktionen des Weltverlaufs, oder, 
wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben 
die Hauptwahrheit aller Philosophie nicht begriffen, 
dass nämlich zu aller Zeit das Selbe ist, alles Werden 
und Entstehen nur scheinbar, die Ideen allein blei- 
bend, die Zeit ideal. Dies will der Plato, Dies will 
der Kant. Man soll demnach zu verstehen suchen, 
was da ist, wirklich ist, heute und immerdar, — d. h. 
die Ideen (in Plato's Sinn) erkennen. DieThoren hin- 
gegen meynen, es solle erst etwas werden und kom- 
men. Daher räumen sie der Geschichte eine Haupt- 
stelle in ihrer Philosophie ein und konstruiren die- 
selbe nach einem vorausgesetzten Weltplane, wel- 
chem gemäss Alles zum Besten gelenkt wird, welches 
dann finaliter eintreten soll und eine grosse Herrlich- 
keit seyn wird. Demnach nehmen sie die Welt als 
vollkommen real und setzen den Zweck derselben in 
das armsälige Erdenglück, welches, selbst wenn noch 
so sehr von Menschen gepflegt und vom Schicksal 
begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges 
und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konsti- 
tutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen 
und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres 
machen können. Besagte Geschichts-Philosophen und 
-Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten, da- 
zu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Ge- 
sellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigent- 
lich schlechte Christen; da der wahre Geist und Kern 
des Christenthums, eben so wie des Brahmanismus 
und Buddhaismus, die Erkenn tniss der Nichtigkeit 
des Erdenglücks, die völlige Verachtung desselben 
und Hinwendung zu einem ganz anderartigen, ja, 
entgegengesetzten Daseyn ist: Dies, sage ich, ist der 
Geist und Zweck des Christenthums, der wahre ,, Hu- 
mor der Sache"; nicht aber ist es, wie sie meynen, 
der Monotheismus; daher eben der atheistische 
Buddhaismus dem Christenthum viel näher verwandt 
566 
ist, als das optimistische Judenthum und seine Vari- 
etät, der Islam. 
Eine wirkliche Philosophie der Geschichte soll 
also nicht, wie Jene alle thun, Das betrachten, was 
(in Plato's Sprache zu reden) immer wird und nie ist^ 
und Dieses für das eigentliche Wesen der Dinge hal- 
ten ; sondern sie soll Das, was immer ist und nie wird, 
noch vergeht, im Auge behalten. Sie besteht also 
nicht darin, dass man die zeitlichen Zwecke der 
Menschen zu ewigen und absoluten erhebt, und nun 
ihren Portschritt dazu, durch alle Verwickelungen, 
künstlich und imaginär konstruirt; sondern in der 
Einsicht, dass die Geschichte nicht nur in der Aus- 
führung, sondern schon in ihrem Wesen lügenhaft 
ist, indem sie, von lauter Individuen und einzelnen 
Vorgängen redend, vorgiebt, alle Mal etwas Anderes 
zu erzählen; während sie, vom Anfang bis zum Ende, 
stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen 
und in anderm Gewände. Die wahre Philosophie der 
Geschichte besteht nämlich in der Einsicht, dass man, 
bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihrem 
Wirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und un- 
wandelbare Wesen vor sich hat, welches heute das 
Selbe treibt, wie gestern und immerdar: sie soll also 
das Identische in allen Vorgängen, der alten wie der 
neuen Zeit, des Orients wie des Occidents, erkennen, 
und, trotz aller Verschiedenheit der speciellen Um- 
stände, der Kostümes und der Sitten, überall die selbe 
Menschheit erblicken. Dies Identische und unter 
allem Wechsel Beharrende besteht in den Grund- 
eigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes, 
— vielen schlechten, wenigen guten. Die Devise der 
Geschichte überhaupt müsste lauten: Eadem, sed 
aliter. Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in 
philosophischer Absicht, schon genug Geschichte stu- 
dirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende 
Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden 
und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus 
den besagten Eigenschaften und dem physischen 
Erdenloose hervorgeht. — 
Wenn wir im Bisherigen erkannt haben, dass die 
567 
Geschichte, als Mittel zur Erkenntniss des Wesens 
der Menschheit hetrachtet, der Dichtkunst nachsteht; 
sodann, dass sie nicht im eigenthchen Sinne eine 
Wissenschaft ist; endhch, dass das Bestreben, sie als 
ein Ganzes mit Anfanjj, Mittel und Ende, nebst sinn- 
vollem Zusammenhang, zu konstruiren, ein eitles, 
auf Missverstand beruhendes ist; so würde es schei- 
nen, als wollten wir ihr allen Werth absprechen, 
wenn wir nicht nachwiesen, worin der ihrige besteht. 
Wirklich aber bleibt ihr, nach dieser Besiegung von 
der Kunst und Abweisung von der Wissenschaft, ein 
von beiden verschiedenes, ganz eigenthündiches Ge- 
biet, auf welchem sie höchst ehrenvoll dasteht. 
fVas die Vernunft dem Individuo, das ist die Ge- 
schichte dem menschlichen Geschlechte. Vermöge der 
Vernunft nämlich ist der Mensch nicht, wie das Thier, 
auf die enge, anschauliche Gegenwart beschränkt; 
sondern erkennt auch die ungleich ausgedehntere 
Vergangenheit, mit der sie verknüpft und aus der sie 
hervorgegangen ist: hiedurch aber erst hat er ein 
eigentliches Verständniss der Gegenwart selbst, und 
kann sogar auf die Zukunft Schlüsse machen. Hin- 
gegen das Thier, dessen reflexionslose Erkenntniss 
auf die Anschauung und deshalb auf die Gegenwart 
beschränkt ist, wandelt, auch wenn gezähmt, unkun- 
dig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwischen 
den Menschen umher. — Dem nun analog ist ein 
Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die 
Gegenwart der jetzt lebenden Generation beschränkt: 
daher versteht es sich selbst und seine eigene Gegen- 
wart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit 
zu beziehen und aus dieser zu erklären vermag; noch 
weniger kann es die Zukunft anticipiren. Erst durch 
die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst voll- 
ständig bewusst. Demnach ist die Geschichte als das 
vernünftige Selbstbewusstseyn des menschlichen Ge- 
schlechts anzusehen, und ist diesem Das, was dem 
Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene 
und zusammenhängende Bewusstseyn ist, durch des- 
sen Ermangelung das Thier in der engen anschau- 
lichen Gegenwart befangen bleibt. Daher ist jede 
568 
Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnern- 
den Selbstbewusstseyn eines Menschen ; und vor einem 
Denkmal des üralterthums, welches seine eigene 
Kunde überlebt hat, wie z, ß. die Pyramiden, Tempel 
und Paläste in Yukatan, stehen wir so besinnungslos 
und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen 
Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie 
ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, de- 
ren Schlüssel er vergessen hat, ja, wie ein Nacht- 
wandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am 
Morgen vorfindet. In diesem Sinne also ist die Ge- 
schichte anzusehen als die Vernunft, oder das beson- 
nene Bewusstseyn des menschlichen Geschlechts, und 
vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte un- 
mittelbar gemeinsamen Selbstbewusstseyns, so dass 
erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Gan- 
zen, zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre 
Werth der Geschichte; und dem gemäss beruht das 
so allgemeine und überwiegende Interesse an ihr 
hauptsächlich darauf, dass sie eine persönliche Ange- 
legenheit des Menschengeschlechts ist. — Was nun 
für die Vernunft der Individuen, als unumgängliche 
Bedingung des Gebrauchs derselben, die Sprache ist, 
das ist für die hier nachgewiesene Vernunft des ganzen 
Geschlechts die Schrift: denn erst mit dieser fängt 
ihre wirkliche Existenz an ; wie die der individuellen 
Vernunft erst mit der Sprache. Die Schrift nämlich 
dient, das durch den Tod unaufhörlich unterbrochene 
und demnach zerstückelte Bewusstseyn des Menschen- 
geschlechts wieder zur Einheit herzustellen; so dass 
der Gedanke, welcher im Ahnherrn aufgestiegen, 
vom Urenkel zu Ende gedacht wird: dem Zerfallen 
des menschlichen Geschlechts und seines Bewusst- 
seyns in eine Unzahl ephemerer Individuen hilft sie 
ab, und bietet so der unaufhaltsam eilenden Zeit, an 
deren Hand die Vergessenheit geht. Trotz. Als ein 
Versuch, dieses zu leisten, sind, wie die geschriebenen, 
so auch A\e steinet nen Denkmale zu betrachten, welche 
zum Theil älter sind, als jene. Denn wer wird glau- 
ben, dass Diejenigen, welche, mit unermesslichen 
Kosten, die Menschenkräfte vieler Tausende, viele 
569 
Jahre hindurch, in Bewegung setzten, um Pyramiden, 
Monolithen, Felsengräber, Obelisken, Tempel und 
Paläste aufzuführen, die schon Jahrtausende dastehen, 
dabei nur sich selbst, die kurze Spanne ihres Lebens, 
welche nicht ausreichte das Ende des Baues zu sehen, 
oder auch den ostensibeln Zweck, welchen vorzu- 
schützen die Rohheit der Menge heischte, im Auge 
gehabt haben sollten? — Offenbar war ihr wirklicher 
Zweck, zu den spätesten Nachkommen zu reden, in 
Beziehung zu diesen zu treten und so das Bewusstseyn 
der Menschheit zur Einheit herzustellen. Die Bauten 
der Hindu, Aegypter, selbst Griechen und Römer, 
waren auf mehrere Jahrtausende berechnet, weil de- 
ren Gesichtskreis, durch höhere Bildung, ein weiterer 
war; während die Bauten des Mittelalters und neu- 
erer Zeit höchstens einige Jahrhunderte vor Augen 
gehabt haben; welches jedoch auch daran liegt, dass 
man sich mehr auf die Schrift verliess, nachdem ihr 
Gebrauch allgemeiner geworden, und noch mehr, 
seitdem aus ihrem Schooss die Buchdruckerkunst ge- 
boren worden. Doch sieht man auch den Gebäuden 
der spätem Zeit den Drang an, zur Nachkommen- 
schaft zu reden: daher ist es schändlich, wenn man 
sie zerstört, oder sie verunstaltet, um sie niedrigen, 
nützlichen Zwecken dienen zu lassen. Die geschrie- 
benen Denkmale haben weniger von den Elementen, 
aber mehr von der Barbarei zu fürchten, als die stei- 
nernen: sie leisten viel mehr. Die Ae{j^pter wollten, 
indem sie letztere mit Hieroglyphen bedeckten, beide 
Arten vereinigen; ja, sie fügten Malereien hinzu, auf 
den Fall, dass die Hieroglyphen nicht mehr verstan- 
den werden sollten. 
:)'^o 
KAPITEL 39*). 
ZUR METAPHYSIK DER MUSIK. 
AUS meiner, in der unten angeführten Stelle des 
ersten Bandes gegebenen und dem Leser hier 
gegenwärtigen Darlegung der eigentlichen Bedeutung 
dieser wunderbaren Kunst hatte sich ergeben, dass 
zwischen ihren Leistungen und der Welt als Vor- 
stellung, d. i. der Natur, zwar keine Aehnlichkeit, 
aber ein deutlicher Parallelismus Statt finden müsse, 
welcher sodann auch nachgewiesen wurde. Einige 
beachtenswerthe nähere Bestimmungen desselben 
habe ich noch hinzuzufügen. — Die vier Stimmen 
aller Harmonie, also Bass, Tenor, Alt und Sopran, 
oder Grundton, Terz, Quinte und Oktave, entsprechen 
den vier Abstufungen in der Reihe der Wesen, also 
dem Mineralreich, Pflanzenreich, Thierreich und dem 
Menschen. Dies erhält noch eine auffallende Bestä- 
tigung an der musikalischen Grundregel, dass der 
Bass in viel weiterem Abstände unter den drei obern 
Stimmen bleiben soll, als diese zwischen einander 
haben ; so dass er sich denselben nie mehr, als höch- 
stens bis auf eine Oktave nähern darf, meistens aber 
noch weiter darunter bleibt, wonach dann der regel- 
rechte Dreiklang seine Stelle in der dritten Oktave 
vom Grundton hat. Dem entsprechend ist die Wirkung 
der iveiten Harmonie, wo der Bass fern bleibt, viel 
mächtiger und schöner, als die der engen, wo er nä- 
her heraufgerückt ist, und die nur wegen des be- 
schränkten Umfangs der Instrumente eingeführt wird. 
Diese ganze Regel aber ist keineswegs willkürlich, 
sondern hat ihre Wurzel in dem natürlichen Ursprung 
des Tonsvstems; sofern nämlich die nächsten, mittelst 
der Nebenschwingungen mittönenden, harmonischen 
Stufen die Oktave und deren Quinte sind. In dieser 
Regel nun erkennen wir das musikalische Analogen 
der Grundbeschaffenheit der Natur, vermöge welcher 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf § Sa des ersten Bandes. [S. 
3o8 d. A.] 
571 
die organischen Wesen unter einander viel näher 
verwandt sind, als mit der leblosen, unorganischen 
Masse des Mineralreichs, zwischen welcher und ihnen 
die entschiedenste Gränze und die weiteste Kluft in 
der ganzen Natur Statt findet. — Dass die hohe 
Stimme, welche die Melodie singt, doch zugleich inte- 
grirender Theil der Harmonie ist und darin selbst 
mit dem tiefsten Grundbass zusammenhängt, lässt sich 
betrachten als das Analogon davon, dass die seihe 
Materie, welche in einem menschlichen Organismus 
Träger der Idee des Menschen ist, dabei doch zugleich 
auch die Ideen der Schwere und der chemischen Eigen- 
schaften, also der niedrigsten Stufen der Objektivation 
des Willens, darstellen und tragen muss. 
Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, 
die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, 
sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist 
hieraus auch erklärlich, dass sie auf den Willen, d. i. 
die Gefühle, Leidenschaften und x\ffekte des Hörers, 
unmittelbar einwirkt, so dass sie dieselben schnell er- 
höht, oder auch umstimmt. 
So gewiss die Musik, weit entfernt eine blosse Nach- 
hülfe der Poesie zu seyn, eine selbstständige Kunst, 
ja die mächtigste unter allen ist und daher ihre Zwecke 
ganz aus eigenen Mitteln erreicht; so gewiss bedarf 
sie nicht der Worte des Gesanges, oder der Handlung 
einer Oper. Die Musik als solche kennt allein die Töne, 
nicht aber die Ursachen, welche diese hervorbringen. 
Demnach ist für sie auch die vox humana ursprüng- 
lich und wesentlich nichts Anderes, als ein modificir- 
ter Ton, eben wie der eines Instruments, und hat, 
wie jeder andere, die eigenthümlichen Vortheile 
und Nachtheile, welche eine Folge des ihn hervor- 
bringenden Instruments sind. Dass nun, in diesem 
Fall, eben dieses Instrument anderweitig, als Werk- 
zeug der Sprache, zur Mitteilung von Begriffen dient, 
ist ein zufälliger Umstand, den die Musik zwar neben- 
bei benutzen kann, um eine Verbindung mit der Poe- 
sieeinzugehen; jedoch nie darf sie ihn zur Hauptsache 
machen und gänzlich nur auf den Ausdruck der mei- 
stens, ja (wie Diderot im „Neflfen Rameau's" zu ver- 
5^2 
stehen giebt) sogar wesentlich faden Verse bedacht 
seyn. Die Worte sind und bleiben für die Musik eine 
fremde Zugabe, von untergeordnetem Werthe, da die 
Wirkung der Töne ungleich mächtiger, unfehlbarer 
und schneller ist, als die der Worte: diese müssen da- 
her, wenn sie der Musik einverleibt werden, doch nur 
eine völlig untergeordnete Stelle einnehmen und sich 
ganz nach jener fügen. Umgekehrt aber gestaltet sich 
das Verhältniss in Hinsicht auf die gegebene Poesie, 
also das Lied, oder den Operntext, welchem eine Mu- 
sik hinzugefügt wird. Denn alsbald zeigt an diesen 
die Tonkunst ihre Macht und höhere Befähigung, in- 
dem sie jetzt über die in den Worten aus{^edrückte 
Empfindung, oder die in der Oper dargestellte Hand- 
lung,dietieisten, letzten, geheimsten Autschlüsse giebt, 
das eigentliche und wahre Wesen derselben ausspricht 
und uns die inneiste Seele der Vorgänge und Bege- 
benheiten kennen lehrt, deren blosse Hülle und Leib 
die Bühne darbietet. Hinsichtlich dieses Lebergevvichts 
der Musik, wie auch sofern sie zum Text und zur 
Handlung im Verhältniss des Allgemeinen zum Ein- 
zelnen, der Regel zum Beispiele steht, möchte es viel- 
leicht passender scheinen, dass der Text zur Musik 
gedichtet würde, als dass man die Musik zum Texte 
komponirt. Inzwischen leiten, bei der üblichen Me- 
thode, die Worte und Handlungen des Textes den 
Komponisten auf die ihnen zum Grunde liegenden 
Affektionen des Willens, und rufen in ihm selbst die 
auszudrückenden Empfindungen hervor, wirken mit- 
hin als Anregungsmittel seiner musikalischen Phan- 
tasie. — Dass übrigens die Zugabe der Dichtung zur 
Musik uns so willkommen ist, und ein Gesang mit 
verständlichen Worten uns so innig erfreut, beruht 
darauf, dass dabei unsere unmittelbarste und unsere 
mittelbarste Erkenntnissweise zugleich und im Verein 
angeregt werden: die unmittelbarste nämlich ist die, 
für welche die Musik die Regungen des Willens selbst 
ausdrückt, die mittelbarste aber die der durch Worte 
bezeichneten Begriffe. Bei der S[)rache der Empfin- 
dungen mag die Vernunft nicbt gern ganz müssig 
sitzen. Die Musik vermag zwar aus eigenen Mitteln 
jede Bewegung des Willens, jede Empfindung, aus- 
zudrücken; aber durch die Zugabe der Worte erhal- 
ten wir nun überdies auch noch die Gegenstände die- 
ser, die Motive, welche jene veranlassen. — Die Mu- 
sik einer Oper, wie die Partitur sie darstellt, hat eine 
völlig unabhängige, gesonderte, gleichsam abstrakte 
Existenz für sich, welcher die Hergänge und Perso- 
nen des Stücks fremd sind, und die ihre eigenen, un- 
wandelbaren Regeln befolgt; daher sie auch ohne den 
Text vollkommen wirksam ist. Diese Musik aber, da 
sie mit Rücksicht auf das Drama komponirt w'urde, 
ist gleichsam die Seele desselben, indem sie, in ihrer 
Verbindung mit den Vorgängen, Personen und Wor- 
ten, zum Ausdruck der innern Bedeutung und der 
auf dieser beruhenden, letzten und geheimen Notwen- 
digkeit aller jener Vorgänge wird. Auf einem undeut- 
lichen Gefühl hievon beruht eigentlich der Genuss 
des Zuschauers, wenn er kein blosser Gaffer ist. Da- 
bei jedoch zeigt, in der Oper, die Musik ihre hetero- 
gene Natur und höhere Wesenheit durch ihre gänz- 
liche Indifferenz gegen alles Materielle der Vorgänge; 
in Folge welcher sie den Sturm der Leidenschaften 
und das Pathos der Empfindungen überall auf gleiche 
Weise ausdrückt und mit dem selben Pomp ihre Töne 
begleitet, n\ag Agamen)non und Achill, oder der Zwist 
einer Bürgerlamilie, das Materielle des Stückes Hefern. 
Denn für sie sind bloss die Leidenschaften, die Wil- 
lensbewegungen vorhanden, und sie sieht, wie Gott, 
nur die Herzen. Sie assimilirt sich nie dem Stoffe: da- 
her auch wenn sie sogar die lächerlichsten und aus- 
schweifendesten Possen der komischen Oper beglei- 
tet, sie doch in ihrer Avesentlichen Schönheit, Reinheit 
und Erhabenheit bleibt, und ihre Verschmelzung mit 
jenen Vorgängen nicht vermag, sie von ihrer Höhe, 
der alles Lächerliche eigentlich fremd ist, herabzu- 
ziehen. So schwebt über dem Possenspiel und den 
endlosen Miseren des Menschenlebens die tiefe und 
ernste Bedeutung unsers Daseyns, und verlässt sol- 
ches keinen Augenblick. 
Werfen wir jetzt einen Blick auf die blosse Instru- 
mentalmusik; so zeigt uns eine Beethoven'sche Sym- 
phonie die grösste Verwirrung, welcher doch die voll- 
kommenste Ordnung zum Grunde liegt, den heftig- 
sten Kampf, der sich im nächsten Augenblick zur 
schönsten Eintracht gestaltet: es ist rerum concordia 
discors, ein treues und vollkommenes Abbild des We- 
sens der Welt, welche dahin rollt, im unübersehbaren 
Gewirre zahlloser Gestalten und durch stete Zerstörung 
sich selbst erhält. Zugleich nun aber sprechen aus 
dieser Symphonie alle menschlichen Leidenschaften 
und Affekte: die Freude, die Trauer, die Liebe, der 
Hass, der Schrecken, die Hoffnung u. s. w. in zahllo- 
sen Nuancen, jedoch alle gleichsam nur in abstracto 
und ohne alle Besonderung: es ist ihre blosse Form, 
ohne den Stoff, wie eine blosse Geisterwelt, ohne Ma- 
terie. Allerdings haben wir den Hang, sie, beim Zu- 
hören, zu realisieren, sie, in der Phantasie, mit Fleisch 
und Bein zu bekleiden und allerhand Scenen des Le- 
bens und der Natur darin zu sehen. Jedoch befördert 
Dies, im Ganzen genommen, nicht ihr Verständniss, 
noch ihren Genuss, giebt ihr vielmehr einen fremd- 
artigen, willkürlichen Zusatz; daher ist es besser, sie 
in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen. 
Nachdem ich nun im Bisherigen, wie auch im 
Texte, die Musik allein von der metaphysischen Sei- 
te, also hinsichtlich der innern Bedeutung ihrer Lei- 
stungen betrachtet habe, ist es angemessen, auch die 
Mittel, durch welche sie, auf unseren Geist wirkend, 
dieselben zu Stande bringt, einer allgemeinen Betrach- 
tung zu unterwerfen, mithin die Verbindung jener 
metaphysischen Seite der Musik mit der genugsam 
untersuchten und bekannten physischen nachzuwei- 
sen. — ich gehe von der allgemein bekannten und 
durch neuereEin würfe keineswegs erschüttertenTheo- 
rie aus, dass alle Harmonie der Töne auf der Koinci- 
denz der Vibrationen beruht, welche, wann zwei Tö- 
ne zugleich erklingen, etwan bei jeder zweiten, oder 
bei jeder dritten, oder bei jeder vierten Vibration 
eintrifft, wonach sie dann Oktav, Quint, oder Quart 
von einander sind u. s. w. So lange nämlich die Vi- 
brationen zweier Töne ein rationales und in kleinen 
Zahlen ausdrückbares Verhältniss zu einander haben, 
lassen sie sicli durch ilire oft wiederkehrende Koinci- 
denz in unserer Apprehension zusammenfassen: die 
Töne verschmelzen miteinander und stehen dadurch 
im Einklang. Ist hingegen jenes Verhältniss ein ir- 
rationales, oder ein nur in grössern Zahlen ausdrück- 
bares; so tritt keine fassliche Koincidenz der Vibra- 
tionen ein, sondern obstrepunt sibi perpetuo, wodurch 
sie der Zusammenfassung in unserer x\ppreheusion 
"widerstreben und demnach eine Dissonanz heissen. 
Dieser Theorie nun zufolge ist die Musik ein Mittel, 
rationale und irrationale Zahlenverhältnisse, nicht 
etwan, wie die Arithmetik, durch Hülfe des Begriffs 
fasslich zu machen, sondern dieselben zu einer ganz 
unmittelbaren und simultanen sinnlichen Erkennt- 
niss zu bringen. Die Verbindung der metaphysischen 
Bedeutung der Musik mit dieser ihrer physischen und 
arithmetischen Grundlage beruht nun darauf, dass 
das unserer ^y^pr/ien^JOMWiderstrebende, dass Irratio- 
nale, oder die Dissonanz, zum natürlichen Bilde des 
unserm Willen Widerstrebenden wird; und umge- 
kehrt wird die Konsonanz, oder das llationale, indem 
sie unserer Auffassung sich leicht fügt, zum Bilde der 
Befriedigung des Willens. Da nun ferner jenes Ratio- 
nale und Irrationale in den Zahlenverhältnissen der 
Vibrationen unzählige Grade, Nuancen, Folgen und 
Abwechselungen zulässt; so wird, mittelst seiner, die 
Musik der Stoff, in welchem alle Bewegungen des 
menschlichen Herzens, d. i. des Willens, deren We- 
sentliches immer auf Befriedigung und Unzufrieden- 
heit, wiewohl in unzähligen Graden, hinausläuft, sich 
in allen ihren feinsten Schattirungen und Modifika- 
tionen getreu abbilden und wiedergeben lassen, wel- 
ches mittelst Erfindung der Melodie geschieht. Wir 
sehen also hier die Willensbewegungen auf das Ge- 
biet der blossen Vorstellung hinübergespielt, als wel- 
che der ausschliessliche Schauplatz der Leistungen 
aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlan- 
gen, dass der fVille selbst aus dem Spiel bleibe und 
wir durchweg uns als rein Erkennende verhaken. Da- 
her dürfen die Affektionen des Willens seihst, also 
wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht 
376 
erre^^t werden, sondern nur ihre Substitute, das denn 
Intellekt An^jemessene, als Bild der Befriedigunfj des 
Willens, und das jenem mehr oder weniger Wider- 
strebende, alsßi/rf des grössern oder geringern Schmer- 
zes. Nur so verursacht die Musik uns nie wirkliches 
Leiden, sondern bleibt auch in ihren schmerzlichsten 
Ackorden noch erfreulich, und wir vernehmen gern 
in ihrer Sprache die geheime Geschichte unsers Wil- 
lens und aller seiner Regungen und Strebungen, mit 
ihren mannigfaltigen Verzögerungen, Hemmnissen 
und Quaalen, selbst noch in den wehmüthigsten Me- 
lodien. Wo hingegen, in der Wirklichkeit und ihren 
Schrecken, unser fVille selbst das so Erregte und Ge- 
quälte ist; da haben wir es nicht mit Tönen und 
ihren Zahlenverhältnissen zu thun, sondern sind viel- 
mehr jetzt selbst die gespannte, gekniffene und zit- 
ternde Saite. 
Well nun ferner, in Folge der zum Grunde geleg- 
ten physikalischen Theorie, das eigentlich Musika- 
lische der Töne in der Proportion der Schnelligkeit 
ihrer Vibrationen, nicht aber in ihrer relativen Stärke 
liegt; so folgt das musikalische Gehör, bei der Har- 
monie, stets vorzugsweise dem höchsten Ton, nicht 
dem stärksten : daher sticht, auch bei der stärksten 
Orchesterbegleitung, der Sopran hervor und erhält 
dadurch ein natürliches Recht auf den Vortrapf der 
Melodie, welches zugleich unterstützt wird durch 
seine, auf der selben Schnelligkeit der Vibrationen 
beruhende, grosse Beweglichkeit, wie sie sich in den 
figurirten Sätzen zeigt, und wodurch der Sopran der 
geeignete Repräsentant der erhöhten, für den leisesten 
Eindruck empfänglichen und durch ihn bestimmba- 
ren Sensibilität, folglich des auf der obersten Stufe 
der Wesenleiter stehenden, aufs höchste gesteigerten 
Bewusstseyns wird. Seinen Gegensatz bildet, aus den 
umgekehrten Ursachen, der seh wer bewegliche, nur 
in grossen Stufen, Terzen, Quarten und Quinten, stei- 
gende und fallende und dabei in jedem seiner Schritte 
durch feste Regeln geleitete Bass, welcher daher der 
natürliche Repräsentant des gefühllosen, für seine 
Eindrücke unempfänglichen und nur nach allgemei- 
37 Schopenhauer II ^77 
neu Gesetzen bestimmbaren, unorjjanischen Natur- 
reiches ist. Er darf sogar nie imi einen Ton, z. B. von 
Quart aut (^uint steigen; da dies in den obern Stim- 
men die fehlerhafte (Quinten- und Oktaven-Folge her- 
beiftihrt: daher kann er, ursprünglich und in seiner 
eigenen Natur, nie die Melodie vortragen. Wird sie 
ihm dennoch zugetheilt; so geschieht es mittels des 
Kontrapunkts, d. h. er ist ein versetzter Bass, nämlich 
eine der obern Stimmen ist herabgesetzt und als Bass 
verkleidet: eigentlich bedarf er dann noch eines zwei- 
ten Grundbasses zu seiner Begleitung. Diese Wider- 
natürlichkeit einer im Basse liegenden Melodie lührt 
herbei, dass Bassarien, mit voller Begleitung, uns nie 
den reinen, ungetrübten Genuss gewahren, wie die 
Sopranarie, als welche, im Zusammenhang der Har- 
monie, allein naturgemäss ist. Beiläufig gesagt, könnte 
ein solcher melodischer, durch Versetzung erzwun- 
gener Bass, im Sinn unserer Metaphvsik der Musik, 
einem Marmorblocke verglichen werden, dem man 
die menschliche Gestalt aufgezwungen hat: dem stei- 
nernen Gast im ,,Don Juan" ist er eben dadurch 
wundervoll angemessen. 
Jetzt aber wollen wir noch der Genesis der Melodie 
etwas näher auf den Grund gehen, welches durch 
Zerlegung derselben in ihre Bestandtheile zu bewerk- 
stelligen ist und uns jedenfalls das Vergnügen ge- 
währen wird, welches dadurch entsteht, dass man 
sich Dinge, die in concreto Jedem bewusst sind, ein 
Mal auch zum abstrakten und deutlichen Bewusst- 
seyn bringt, wodurch sie den Schein der Neuheit ge- 
winnen. 
Die Melodie besteht aus zwei Elementen, einem 
rhythmischen und einem harmonischen : jenes kann 
man auch als das quantitative, dieses als das qualita- 
tive bezeichnen, da das erstere die Dauer, das letztere 
die Höhe und Tiefe der Töne betrifft. In der Noten- 
schrift hängt das erstere den senkrechten, das letztere 
den horizontalen Linien an. Beiden liegen rein arith- 
metische Verhältnisse, also die der Zeit, zum Grun- 
de : dem einen die relative Dauer der Töne, dem an- 
dern die relative Schnelligkeit ihrer Vibrationen. Das 
578 
rhythmische Element ist das wesentlichste; da es, für 
sich allein und ohne das andere eine Art Melodie 
darzustellen vermag, wie z. B. auf der Trommel ge- 
schieht: die vollkommene Melodie verlangt jedoch 
beide. Sie besteht nämlich in einer abwechselnden 
Entziveiung und Versöhnung derselben; wie ich so- 
gleich zeigen werde, aber zuvor, da von dem harmo- 
nischen Elemente schon im Bisherigen die Rede ge- 
wesen, das rhythmische etwas näher betrachten will. 
Der Rhythmus ist in der Zeit was im Räume die 
Symmetrie ist, nämlich Theilung in gleiche und ein- 
ander entsprechende Theile, und zwar zunächst in 
grössere, welche wieder in kleinere, jenen unterge- 
ordnete, zerfallen. In der von mir aufgestellten Reihe 
der Künste bilden Architektur und Musik die bei- 
den äussersten Enden. Auch sind sie, ihrem innern 
Wesen, ihrer Kraft, dem Umfang ihrer Sphäre und 
ihrer Bedeutung nach, die heterogensten, ja, wahre 
Antipoden : sogar auf die Form ihrer Erscheinung er- 
streckt sich dieser Gegensatz, indem die Architek- 
tur allein im Raum ist, ohne irgend eine Bezie- 
hung auf die Zeit, die Musik allein in der Zeit, 
ohne irgend eine Beziehung auf den Raum*). Hier- 
aus nun entspringt ihre einzige Analogie, dass 
nämlich, wie in der Architektur die Symmetrie das 
Ordnende und Zusammenhaltende ist, so in der Mu- 
sik der Rhythmus, wodurch auch hier sich bewährt, 
dass les extremes se touchent. Wie die letzten Be- 
standtheile eines Gebäudes die ganz gleichen Steine, 
so sind die eines Tonstückes die ganz gleichen Takte: 
diese werden jedoch noch durch Auf- und Nieder- 
schlag, oder überhaupt durch den Zahlenbruch, wel- 
cher die Taktart bezeichnet, in gleiche Theile ge- 
*) Es wäre ein falscher Einwurf, dass auch Skulptur und Ma- 
lerei bloss im Raum seien : denn ihre Werke hängen zwar 
nicht unmittelbar, aber doch mittelbar mit der Zeit zusam- 
men, indem sie Leben, Bewegung, Handlung darstellen. Eben 
so falsch wäre es zu sagen, dass auch die Poesie, als Rede, 
allein der Zeit angehöre: dies gilt, eben so, nur unmittelbar 
von den Worten : ihr Stoff ist alles Daseiende, also das Räum- 
liche. 
37* 579 
theilt, die man allenfalls den Dimensionen des Steines 
vergleichen mag. Aus mehreren Takten besteht die 
musikalische Periode, welche ebenfalls zwei gleiche 
Hälften hat, eine steigende, anstrebende, meistens zur 
Dominante gehende und eine sinkende, beruhigende, 
den Grundton wiederfindende. Zwei, auch wohl meh- 
rere Perioden machen einen Theil aus, der meistens 
durch das Wiederholungszeichen gleichfalls symme- 
trisch verdoppelt wird: aus zwei Theilen wird ein 
kleineres Musikstück, oder aber nur ein Satz eines 
grössern; wie denn ein Koncert oder Sonate aus 
dreien, eine Symphonie aus vier, eine Messe aus fünf 
Sätzen zu bestehen pflegt. Wir sehen also das Ton- 
stück, durch die symmetrische Eintheilung und aber- 
malige Theilung bis zu den Takten und deren Brü- 
chen herab, bei durchgängiger Unter-, Ueber- und 
Nebenordnung seiner Glieder, gerade so zu einem 
Ganzen verbunden und abgeschlossen werden, wie 
das Bauwerk durch seine Symmetrie: nur dass 
bei diesem ausschliesslich im Räume ist, was bei je- 
nem ausschliesslich in der Zeit. Das blosse Gefühl 
dieser Analogie hat das in den letzten 3o Jahren oft 
wiederholte kecke Witzwort hervorgerufen, dass Ar- 
chitektur gefrorene Musik sei. Der Ursprung desselben 
ist auf Goethe zurückzuführen, da er, nach Ecker- 
manns Gesprächen, Bd. II, S. 88 gesagt hat: ,,Ich 
habe unter meinen Papieren ein Blatt gefunden, wo 
ich die Baukunst eine erstarrte Musik nenne: und 
wirklich hat es etwas: die Stimmung, die von der 
Baukunst ausgeht, kommt dem Effekt der Musik 
nahe." Wahrscheinlich hat er viel früher jenes Witz- 
wort in der Konversation fallen lassen, wo es denn 
bekanntlich nie an Leuten gefehlt hat, die was er so 
fallen Hess auflasen, um nachher damit geschmückt 
einher zu gehen. Was übrigens Goethe auch gesagt 
haben mag, so erstreckt die hier von mir auf ihren 
alleinigen Grund, nämlich auf die Analogie des Rhyth- 
mus mit der Symmetrie, zurückgeführte Analogie der 
Musik mit der Baukunst sich demgemäss allein auf 
die äussere Form, keineswegs aber auf das innere 
Wesen beider Künste, als welches himmelweit ver- 
58o 
schieden ist: es wäre sogar lächerlich, die beschränk- 
teste und schwächste aller Künste mit der ausgedehn- 
testen und wirksamsten im Wesentlichen gleichstel- 
len zu wollen. Als Amplifikation der nach gewiesenen 
Analogie könnte man noch hinzusetzen, dass, wann 
die Musik, gleichsam in einem Anfall von Unabhängig- 
keitsdrang, die Gelegenheit einer F'ermate ergreift, 
um sich, vom Zwang des Rhythmus losgerissen, in 
der freien Phantasie einer figurirten Kadenz zu erge- 
hen, ein solches vorn Rhythmus entblösstes Tonstück 
der von der Symmetrie entblössten Ruine analog sei, 
welche man demnach, in der kühnen Sprache jenes 
Witzwortes, eine gefrorene Kadenz nennen mag. 
Nach dieser Erörterung des Rhythmus habe ich 
jetzt darzuthun, wie in der stets erneuerten Entzwei- 
ung und Versöhnung des rhythmischen Elements der 
Melodie mit dem harmonischen das Wesen derselben 
besteht. Ihr harmonisches Element nämlich hat den 
Grundton zur Voraussetzung, wie das rhythmische 
die Taktart, und besteht in einem Abirren von dem- 
selben, durch alle Töne der Skala, bis es, auf kürze- 
rem oder längerem Umwege, eine harmonische Stufe, 
meistens die Dominante oder Unterdominante, er- 
reicht, die ihm eine unvollkommene Beruhigung ge- 
währt : dann aber folgt, auf gleich langem Wege, 
seine Rückkehr zum Grundton, mit welchem die voll- 
kommene Beruhigung eintritt. Beides muss nun aber 
so geschehen, dass das Erreichen der besagten Stufe, 
wie auch das Wiederfinden des Grundtons, mit ge- 
wissen bevorzugten Zeitpunkten des Rhythmus zu- 
sammentreffe, da es sonst nicht wirkt. Also, wie die har- 
monischeTonfolge gewisse? wie verlangt, vorzüglichdie 
Tonika, nächst ihr die Dominante u. s. w.; so fordert 
seinerseits der Rhythmus gewisse Zeitpunkte, gewisse 
abgezählte Takte und gewisse Theile dieser Takte, 
welche man die schweren, oder guten Zeiten, oder die 
accentuii'ten Takttheile nennt, im Gegensatz der leich- 
ten, oder schlechten Zeiten, oder unaccentuirten Takt- 
theile. Nun besteht die Entziveiung jener beiden Grund- 
elemente darin, dass indem die Forderung des einen 
befriedigt wird, die des andern es nicht ist, die Ver- 
58i 
söhnunjj aber darin, dass beide zu^^fleich und auf ein 
Mal befriedi{jt werden. Nämlich jenes Herumirren 
der Tonfolge, bis zum Erreichen einer mehr oder 
minder harmonischen Stufe, muss diese erst nach 
einer bestimmten Anzahl Takte, sodann aber auf 
einem {juten Zeittheil des Taktes antreffen, wodurch 
dieselbe zu einem gewissen Ruhepunkte für sie wird ; 
und ebenso muss die Rückkehr zur Tonika diese nach 
einer gleichen Anzahl Takte und ebenfalls auf einem 
guten Zeittheil wiederfinden, wodurch dann die völ- 
lige Befriedigimg eintritt. So lange dieses geforderte 
Zusammentreffen der Befriedigungen beider Elemente 
nicht erreicht wird, mag einerseits der Rhythmus sei- 
nen regelrechten Gang gehen, und andererseits die 
geforderten Noten oft genvig vorkommen ; sie werden 
dennoch ganz ohne jene Wirkung bleiben,durch wel- 
che die Melodie entsteht: dies zu erläutern diene das 
folgende höchst einfache Beispiel: 
^^ 
Hier trifft die harmonische Tonfolge gleich am 
Schluss des ersten Takts auf die Tonika: allein sie er- 
hält dadurch keine Befriedigiing; weil der Rhythmus 
im schlechtesten Takttheile begriffen ist. Gleich dar- 
auf, im zweiten Takt, hat der Rhythnms das gute 
Takttheil; aber die Tonfolge ist auf die Septime ge- 
kommen. Hier sind also die beiden Elemente der 
Melodie ganz entzweit., und wir fühlen uns beunruhigt. 
In der zweiten Hälfte der Periode trifft Alles umge- 
kehrt, und sie werden, in» letzten Ton, versölmt. Die- 
ser Vorgang ist in jeder Melodie, wiewohl meistens 
in viel grösserer Ausdehnung, nachzuweisen. Die da- 
bei nun Statt findende beständige Entzweiung und 
Versöhnung ihrer beiden Elemente ist, metaphysisch 
betrachtet, das Abbild der Entstehung neuer Wün- 
sche und sodann ihrer Befriedigung. Eben dadurch 
schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, dass sie 
582 
ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche 
vorspiegelt. Näher betrachtet, sehen wir in diesem 
Hergang der Melodie eine gewissermassen innere Be- 
dingung (die harmonische) mit einer äussern (der 
rhythmischen) wie durch einen Zwya// zusammentref- 
fen, — welchen freilich der Komponist herbeiführt 
und der insofern dem Reim in der Poesie zu verglei- 
chen ist: dies aber eben ist das Abbild des Zusam- 
mentreffens unserer Wünsche mit den von ihnen un- 
abhängigen, günstigen, äusseren umständen, also das 
Bild des Glücks. — - Noch verdient hiebei die Wir- 
kung des Vorhalts beachtet zu werden. Er ist eine 
Dissonanz, welche die mit Gewissheit erwartete, finale 
Konsonanz verzögert; wodurch das Verlangen nach 
ihr verstärkt wird und ihr Eintritt desto mehr befrie- 
digt : offenbar ein Analogon der durch Verzögerung 
erhöhten Befriedigung des Willens. Die vollkommene 
Kadenz erfordert den vorhergehenden Septimenackord 
auf der Dominante; weil nur auf das dringendeste 
Verlangen die am tiefsten gefühlte Befriedigung und 
gänzliche Beruhigung folgen kann. Durchgängig also 
besteht die Musik in einem steten Wechsel von mehr 
oder minder beunruhigenden, d. i. Verlangen erre- 
genden Ackorden, mit mehr oder minder beruhigen- 
den und befriedigenden; eben wie das Leben des 
Herzens (der Wille) ein steter Wechsel von grösserer 
oder geringerer Beunruhigung, durch Wunsch oder 
Furcht, mit eben so verschieden gemessener Beruhi- 
gung ist. Demgemäss besteht die harmonische Fort- 
schreitung in der kunstgerechten Abwechselung der 
Dissonanz und Konsonanz. Eine Folge bloss konso- 
nanter Ackorde würde übersättigend, ermüdend und 
leer seyn, wie der languor, den die Befriedigung aller 
Wünsche herbeiführt. Daher müssen Dissonanzen, 
obwohl sie beunruhigend und fast peinlich wirken, 
eingeführt werden, aber nur um, mit gehöriger Vor- 
bereitung, wieder in Konsonanzen aufgelöst zu wer- 
den. Ja, es giebt eigentlich in der ganzen Musik nur 
zwei Grundackorde: den dissonanten Septimenackord 
und den harmonischen Dreiklang, als auf welche alle 
vorkommenden Ackorde zurückzuführen sind. Dies 
583 
ist eben Dem entsprechend, dass es für den Willen im 
Grunde nur Unzufriedenheit und Befriedigung giebt, 
unter wie vielerlei Gestalten sie auch sich darstellen 
mögen. Und wie es zwei allgemeine Grundstimmun- 
gen des (yemüths giebt, Heiterkeit oder wenigstens 
Rüstigkeit, und ßetrübniss oder doch Beklenunung; 
so hat die Musik zwei allgemeine Tonarten Dur und 
Moll, welche jenen entsprechen, und sie muss stets 
sich in einer von beiden befinden. Es ist aber in der 
That höchst wunderbar, dass es ein weder physisch 
schmerzliches, noch auch konventionelles, dennoch 
sogleich ansprechendes und unverkennbares Zeichen 
des Schmerzes giebt; das Moll. Daran lässt sich er- 
messen, wie tief die Musik im Wesen der Dinge und 
des Menschen gegründet ist. — Bei nordischen Völ- 
kern, deren Leben schweren Bediogungen unterliegt, 
namentlich bei den Russen, herrscht das Moll vor, 
sogar in der Kirchenmusik. — Allegro in Moll ist in 
der Französischen Musik sehr häufig und charakteri- 
sirt sie: es ist, wie wenn Einer tanzt, während ihn 
der Schuh drückt. 
Ich füge noch ein Paar Nebenbetrachtungen hin- 
zu. — Unter dem Wechsel der Tonika, und mit ihr 
des Werthes aller Stufen, in Folge dessen der selbe 
Ton als Sekunde, Terz, Quart u. s. w. figurirt, sind 
die Töne der Skala den Schauspielern analog, welche 
bald diese, bald jene Rolle übernehmen müssen, wäh- 
rend ihre Person die selbe bleibt. Dass diese jener oft 
nicht genau angemessen ist, kann man der (am 
Schluss des §. 52 des ersten Bandes erwähnten) un- 
vermeidlichen Unreinheit jedes harmonischen vSystems 
vergleichen, welche die gleichschwebende Tempe- 
ratur heibeigeführt hat. — 
Vielleicht könnte Einer und der Andere daran An- 
stoss nehmen, dass die Musik, welche ja oft so geist- 
erhebend auf uns wirkt, dass uns dünkt, sie rede von 
anderen und besseren Welten, als die unsere ist, nach 
gegenwärtiger Metaphysik derselben, doch eigentlich 
nur dem Willen zum Leben schmeichelt, indem sie 
sein Wesen darstellt, sein Gelingen ihm vormalt und 
am Schluss seine Befriedigung und Genügen aus- 
584 
drückt. Solche Bedenken zu beruhigen mag folgende 
Veda-Stelle dienen : Etanand sroup, quod forma gaudii 
est Tov pra7Ji Jtma ex hoc dicunt, quod quocunque 
loco gaudium est,particula e gaudio ejus est. (Oupnek- 
hat, Vol. I, p. 4o5, et iterum Vol. II, p. 21 5.) 
585 
ERGÄNZUNGEN 
ZUM 
VIERTEN BUCH 
Tous les hommes desirenl uniquement de se delivrer 
de la mort: ils ne savent pas se delivrer de la vie. 
Lao-tseu-Tao-te-king ^ ed Stan. Julien, p. 18 4« 
ZUM VIERTEN BUCH. 
vvivvvu%\\vvvvivi\vvvvivvvu\v\'vvvvvvvvia\A^vvvvvv\vvvvvvvvvvvvvvv\vi\vvvva\vvvvvu^^ 
KAPITEL 4o. 
VORWORT. 
DIE Ergänzungen zu diesem vierten Buche wür- 
den sehr beträchtlich ausfallen, wenn nicht zwei 
ihrer vorzüglich bedürftige Hauptgegenstände, näm- 
lich die Freiheit des Willens und das Fundament der 
Moral, auf Anlass der Preisfragen zweier Skandina- 
vischer Akademien, ausführliche, monographische Be- 
arbeitungen von mir erhallen hätten, welche unter 
dem Titel „Die beiden Grundprobleme der Ethik" im 
Jahre 184 1 dem Publiko vorgelegt sind. Demzufolge 
aber setze ich die Bekanntschaft mit der eben genann- 
ten Schrift bei meinen Lesern eben so unbedingt vor- 
aus, wie ich bei den Ergänzungen zum zweiten Buche 
die mit der Schrift „üeber den Willen in der Natur" 
vorausgesetzt habe. Ueberhaupt mache ich die An- 
forderung, dass wer sich mit meiner Philosophie be- 
kannt machen will, jede Zeile von mir lese. Denn 
ich bin kein Vielschreiber, kein Kompendienfabrikant, 
kein Honorarverdiener, Keiner, der mit seinen Schrif- 
ten nach dem Beifall eines Ministers zielt, mit Einem 
Worte, Keiner, dessen Feder unter dem Einfluss per- 
sönlicher Zwecke steht: ich strebe nichts an, als die 
Wahrheit, und schreibe, wie die Alten schrieben, in 
der alleinigen Absicht, meine Gedanken der Aufbe- 
wahrung zu übergeben, damit sie einst Denen zu Gute 
591 
kommen, die ihnen nachzudenken und sie zu schätzen 
verstehen. Eben daher habe ich nur Weniges, dieses 
aber mit Bedacht und in tveiten Zwischenräumen ge- 
schrieben, auch demgemäss die, in philosophischen 
Schriften, wegen des Zusammenhanges, bisweilen un- 
vermeidlichen Wiederholungen, von denen kein ein- 
ziger Philosoph frei ist, avif das möglich geringste 
Maass beschränkt, so dass das Allermeiste nur an Einer 
Steile zu finden ist. Deshalb also darf, wer von mir 
lernen und mich verstehen will, nichts, das ich ge- 
schrieben habe, ungelesen lassen. Beurtheilen jedoch 
und kritisiren kann man mich ohne Dieses, wie die 
Erfahrung gezeigt hat; wozu ich denn auch ferner 
viel Vergnügen wünsche. 
Inzwischen w ird der, durch die besagte Elimination 
zweier Hauptgegenstände, in diesem vierten Ergän- 
zungsbuche, erübrigte Raum uns willkommen seyn. 
Denn da diejenigen Aufschlüsse, welche dem Men- 
schen vor Allem am Herzen liegen und daher in jedem 
System, als letzte Ergebnisse, den Gipfel seiner Pyra- 
mide bilden, sich auch in ineinem letzten Buche zu- 
sammendrängen; so wird man jeder festeren Begrün- 
dung, oder genaueren Ausführung derselben gern 
einen weiteren Raum gönnen, üeberdies hat hier nun 
noch, als zur Lehre von der „Bejahung des Willens 
zum Leben" gehörend, eine Erörterung zur Sprache 
gebracht werden können, welche in unserm vierten 
Buche selbst unberührt geblieben ist, wie sie denn 
auch von allen mir vorhergegangenen Philosophen 
gänzlich vernachlässigt worden: es ist die innere Be- 
deutung und das Wesen an sich der mitunter bis zur 
heftigsten Leidenschaft anwachsenden Geschlechts- 
liebe; ein Gegenstand, dessen Aufnahme in den ethi- 
schen Theil der Philosophie nicht paradox seyn wür- 
de, wenn man dessen Wichtigkeit erkannt hätte. — 
592 
KAPITEL 4i *). 
UEBER DEN TOD UND SEIN VERHAELTNISS 
ZUR UNZERSTOERBARKEIT UNSERS WESENS 
AN SICH. 
DER Tod ist der eigentliche inspirirende Genius 
oder der Musaget der Philosophie, weshalb So- 
krates diese auch {^avatou [jlsXstt] deHnirt hat. Schwer- 
lich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt 
werden. Daher wird es ganz in der Ordnung seyn, 
dass eine specielle Betrachtung desselben hier an der 
Spitze des letzten, ernstesten und wichtigsten unserer 
Bücher ihre Stelle erhalte. 
Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntniss des To- 
des: daher geniesst das thierische Individuum unmit- 
telbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, in- 
dem es sich seiner nur als endlos bewusst ist. Beim 
Menschen fand sich, mit der Vernunft, nothvvendig 
die erschreckende (iewissheit des Todes ein. Wie aber 
durchgängig in der Natur jedem Uebel ein Heilmittel, 
oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist; so verhilft 
die selbe Reflexion, welche die Erkerintniss des Todes 
herbeiführte, auch zu metaphysischen Ansichten, die 
darüber trösten, und deren das Thier weder bedürftig 
noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck sind 
alle Religionen und philosophischen Systeme gerich- 
tet, sind also zunächst das von der reflektirenden Ver- 
nunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift 
der Gevvissheit des Todes. Der Grad jedoch, in wel- 
chem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, 
und allerdinjfs wird eine Religion oder Philosophie 
viel mehr, als die andere, den Menschen befähigen, 
ruhigen Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehen. 
Brahmanisnuis und Buddhaismus, die den Menschen 
lehren, sich als das Urwesen selbst, das Brahm, zu be- 
trachten, welchem alles Entstehen und Vergehen we- 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 54 des ersten Bandes. [S. 
329 d. A.] 
38 Schopenhauer II ^9" 
sentlicli fremd ist, werden darin viel mehr leisten, 
als solche, welche ihn aus nichts gemacht seyn und 
seine, von einem Andern empfangene Existenz wirk- 
lich mit der Gehurt anfangen lassen. Dem entspre- 
chend finden wir in Indien eine Zuversicht und eine 
Verachtung des Todes, von der man in Europa kei- 
nen Begriff' hat. Es ist in der That eine bedenkliche 
Sache, dem Menschen in dieser wichtigen Hinsicht 
schwache und unhaltbare Begriffe durch frühes Ein- 
prägen aufzuwingen, und ihn dadurch zur Aufnahme 
der richtigeren und standhaltenden auf immer un- 
fähig zu machen. Z. B. ihn lehren, dass er erst kürz- 
lich aus Nichts geworden, folglich eine Ewigkeit hin- 
durch Nichts gewesen sei und dennoch für die Zukunft 
unvergänglich seyn solle, ist gerade so, wie ihn leh- 
ren, dass er, obwohl durch und durch das Werk eines 
Andern, dennoch für sein Thun und Lassen in alle 
Ewigkeit verantwortlich seyn solle. Wenn nämlich 
dann, bei gereiftem Geiste und eingetretenem Nach- 
denken, das Unhaltbare solcher Lehren sich ihm auf- 
dringt; so hat er nichts Besseres an ihre Stelle zu 
setzen, ja, ist nicht mehr fähig es zu verstehen, und 
geht dadurch des Trostes verlustig, den auch ihm die 
Natur, zum Ersatz für die Gewissheit des Todes, be- 
stimmt hatte. In Folge solcher Entwickelung sehen 
wir eben jetzt in England, unter verdorbenen Fabrik- 
arbeitern, die Socialisten, und in Deutschland, unter 
verdorbenen Studenten, die Junghegelianer zur abso- 
lut physischen Ansicht herabsinken, welche zu dem 
Resultate führt: edite, bibite, post mortem nulla vo- 
luptas, und insofern als Besiialismus bezeichnet wer- 
den kann. 
Nach Allem inzwischen, was über den Tod gelehrt 
worden, ist nicht zu leugnen, dass, wenigstens in 
Europa, die Meinung der Menschen, ja oft sogar des 
selben Individuums, gar häufig von Neuem hin und 
her schwankt zwischen der Auffassung des Todes als 
absoluter Vernichtung und der Annahme, dass wir 
gleichsam mit Haut und Haar unsterblich seien. Bei- 
des ist gleich falsch: allein wir haben nicht sowohl 
eine richtige Mitte zu treflen, als vielmehr den höhe- 
594 
ren Gesichtspunkt zu gewinnen, von welchem aus sol- 
che Ansichten von selbst wegfallen. 
Ich will, bei diesen Betrachtungen, zuvörderst vom 
ganz empirischen Standpunkt ausgehen. — Da liegt 
uns zunächst die unleugbare Thatsache vor, dass, dem 
natürlichen Bewusstseyn gemäss, der Mensch nicht 
bloss für seine Person den Tod mehr als alles Andere 
fürchtet, sondern auch über den der Seinigen heftig 
weint, und zwar offenbar nicht egoistisch über seinen 
eigenen Verlust, sondern aus Mitleid, über das grosse 
Unglück, das Jene betroffen; daher er auch Den, 
welcher in solchem Falle nicht weint und keine Be- 
trübniss zeigt, als hartherzig und lieblos tadelt. Die- 
sem geht parallel, dass die Rachsucht, in ihren höch- 
sten Graden, den Tod des Gegners sucht, als das 
grösste Üebel, das sich verhängen lässt. — Meinun- 
gen wechseln nach Zeit und Ort: aber die Stimme 
der Natur bleibt sich stets und überall gleich, ist da- 
her vor Allem zu beachten. Sie scheint nun hier deut- 
lich auszusagen, dass der Tod ein grosses Uebel sei. 
In der Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. 
Und dass es mit dem Tode Ernst sei, liesse sich schon 
daraus abnehmen, dass es mit dem Leben, wie Je- 
der weiss, kein Spaass ist. Wir müssen wohl nichts 
Besseres, als diese Beiden, werth seyn. 
In derThat ist die Todesfurcht von aller Erkennt- 
niss unabhängig: denn das Thier hat sie, obwohl es 
den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird, bringt 
sie schon mit auf die Welt. Diese Todesfurcht a priori 
ist aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, 
welcher wir Alle ja sind. Daher ist jedem Thiere, wie 
die Sorge für seine Erhaltung, so die Furcht vor sei- 
ner Zerstörung angeboren: diese also, und nicht das 
blosse Vermeiden des Schmerzes ist es, was sich in 
der ängstlichen Behutsamkeit zeigt, mit der das Thier 
sich und noch mehr seine Brut vor Jedem, der ge- 
fährlich werden könnte, sicher zu stellen sucht. War- 
um flieht das Thier, zittert und sucht sich zu verber- 
gen? Weil es lauter Wille zum Leben, als solcher 
aber dem Tode verfallen ist und Zeit gewinnen möch- 
te. Eben so ist, von Natur, der Mensch. Das grösste 
38' Sgf) 
der Uebel, das Schlimmste was überall {gedroht wer- 
den kann, ist der Tod, die grösste An{;st Todesangst. 
Nichts reisst uns so unwiderstehlich zur lebhaftesten 
Theilnahme hin, wie fremde Lebens{jefahr: nichts 
ist entsetzlicher, als eine Hinrichtim{j. Die hierin her- 
vortretende gränzenlose Anhänglichkeit an das Leben 
kann nun aber nicht aus der Erkenntniss und Ueber- 
legung entsprungen seyn : vor dieser erscheint sie viel- 
mehr thöricht; da es um den objektiven Werth des 
Lebens sehr misslich steht, und wenigstens zweifel- 
haft bleibt, ob dasselbe dem Nichtseyn vorzuziehen 
sei, ja, wenn Erfahrung und Ueberlegung zum Worte 
kommen, das Nichtseyn wohl gewinnen muss. Klopfte 
man an die Gräber und fragte dieTodten,ob sie wie- 
der aufstehen wollten; sie würden mit den Köpfen 
schütteln. Dahin geht auch des Sok7^ates Meinung, in 
Plato's Apologie, und selbst der heitere und liebens- 
würdige P^oltaii'e ]aar\n nicht undiin zu sagen: on aime 
la vie; mais le neant ne laisse pas d'avoir du hon: 
imd wieder: je ne sais pas ce que c'est que la vie 
eternelle, mais celle-ci est une mauvaise plaisanterie. 
Ueberdies muss ja das Leben jedenfalls bald enden; 
so dass die wenigen Jahre, die man vielleicht noch 
dazuseyn hat, gänzlich verschwinden vor der endlo- 
sen Zeit, da man nicht mehr sevn wird. Demnach er- 
scheint es, vor der Reflexion, sogar lächerlich, um 
diese Spanne Zeit so sehr besorgt zu seyn, so sehr zu 
zittern, wenn eigenes oder fremdes Leben in Gefahr 
geräth, und Trauerspiele zu dichten, deren Schreck- 
liches seinen Nerven bloss in der Todesfurcht hat. 
Jene mächtige Anhänglichkeit an das Leben ist mit- 
hin eine unvernünftige imd blinde: sie ist nur daraus 
erklärlich, dass unser ganzes Wesen an sich selbst 
schon Wille zum Leben ist, dem dieses daher als das 
höchste Gut gelten muss, so verbittert, kurz und un- 
gewiss es auch immer seyn mag; und dass jener Wille, 
an sich und ursprünglich, erkenntnisslos und blind 
ist. Die Erkenntniss hingegen, weit entfernt der Ur- 
sprung jener Anhänglichkeit an das Leben zu seyn, 
wirkt ihr sogar entgegen, indem sie die Werthlosig- 
keit desselben aufdeckt und hiedurch die Todesfurcht 
596 
bekämpft. — Wann sie nun siegt und demnach der 
Mensch dem Tode muthig und gelassen entgegen- 
gehl; so wird dies als gross und edel geehrt: wir fei- 
ern also dann den Triumph der Erkenntniss über den 
blinden Willen zum Leben, der doch der Kern unsers 
eigenen Wesens ist. Imgleichen verachten wir Den, 
in welchem die Erkenntniss in jenem Kampfe unter- 
liegt, der daher dem Leben unbedingt anhängt, ge- 
gen den herannahenden Tod sich aufs Aeusserste 
sträubt und ihn verzweifelnd empfängt:*) und doch 
spricht sich in ihm nur das ursprüngliche Wesen 
unsers Selbst und der Natur aus. Wie könnte, lässt 
sich hier beiläufig fragen, die gränzenlose Liebe zum 
Leben und das Bestreben, es auf alle Weise, so lange 
als möglich, zu erhalten, niedrig, verächtlich, des- 
gleichen von den Anhängern jeder Religion als dieser 
unwürdig betrachtet werden, wenn dasselbe das mit 
Dank zu erkennende Geschenk gütiger Götter wäre? 
Und wie könnte sodann die Geringschätzung dessel- 
ben gross und edel erscheinen? — Uns bestätigt sich 
inzwischen durch diese Betrachtungen: i) dass der 
Wille zum Leben das innerste Wesen des Menschen 
ist; 2) dass er an sich erkenntnisslos, blind ist; 3) dass 
die Erkenntniss ein ihm ursprünglich fremdes, hin- 
zugekommenes Princip ist; 4) dass sie mit ihm streitet 
und unser Urtheil dem Siege der Erkenntniss über 
den Willen Beifall giebt. 
Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen 
lässt der Gedanke des Nichtseyns wäre; so müssten 
wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir 
noch nicht waren. Denn es ist unumstösslich gewiss, 
dass das Nichtseyn nach dem Tode nicht verschieden 
seyn kann von dem vor der Geburt, folglich auch 
nicht beklagenswerther. Eine ganze Unendlichkeit ist 
abgelaufen, als wir noch nicht waren : aber das betrübt 
uns keineswegs. Hingegen, dass nach dem momenta- 
nen hitermezzo eines ephemeren Daseyns eine zweite 
*) In gladiatoiiis pugnis tiniidos et suppiices, et, ut vivere 
liceat, obseciantes etiam odisse solemus; fortes et animosos, 
ot se acriter ipsos moiti ofFerentes servaic cupimus. Cic. pro 
Milone, c 34- 
IJnendliclikeit folfjen sollte, in der wir nicht mehr seyn 
werden, finden wir hart, ja unerträjjlicli. Sollte nun 
dieser Durst nach Daseyn etwan dadurch entstanden 
seyn, dass wir es jetzt gekostet und so gar allerliebst 
gefunden hätten? Wie schon oben kurz erörtert: ge- 
wiss nicht; viel eher hätte die gemachte Erfahrung 
eine unendliche Sehnsucht nach dem verlorenen Pa- 
radiese des Nichtseyns erwecken können. Auch wird 
der Hoflnung der Seelen-Unsterldichkeit allemal die 
einer ,, bessern Welt" angehängt, — ein Zeichen, das-< 
die gegenwärtige nicht viel taugt. — Dieses allen un- 
geachtet ist die Frage nach unserm Zustande nach 
dem Tode gewiss zehntausend Mal öfter, in Büchern 
und mündlich, erörtert worden, als die nach unserm 
Zustande vor der Geburt. Theoretisch ist dennoch die 
eine ein eben so nahe liegendes und berechtigtes Pro- 
blem, wie die andere: auch würde wer die eine be- 
antwortet hätte mit der andern wohl gleichfalls im 
Klaren seyn. Schöne Deklamationen haben wir dar- 
über, wie anstössig es wäre, zu denken, dass der Geist 
des Menschen, der die Welt umfasst und so viele höchst 
vortreffliche Gedanken hat, mit ins Grab gesenkt 
würde: aber darüber, dass dieser Geist eine ganze Un- 
endlichkeit habe verstreichen lassen, ehe er mit die- 
sen seinen Eigenschaften entstanden sei, und die Welt 
eben so lange sich ohne ihn habe behelfen müssen, 
hört man nichts. Dennoch bietet der vom Willen un- 
bestochenen Erkenntniss keine Frage sich natürlicher 
dar, als diese: eine unendliche Zeit ist vor meiner 
Geburt abgelaufen; was war ich alle jene Zeit hin- 
durch? — Metaphysisch liesse sich vielleicht antwor- 
ten: „Ich war immer Ich: nämlich Alle, die jene Zeit 
hindurch Ich sagten, die waren eben Ich." Allein hie- 
von sehen wir auf unserm, vor der Hand noch ganz 
empirischen Staudpunkt ab luid nehmen an, ich wäre 
gar nicht gewesen. Dann aber kann ich mich über 
die unendliche Zeit nach meinem Tode, da ich nicht 
seyn werde, trösten mit der unendlichen Zeit, da ich 
schon nicht gewesen bin, als einem wohl gewohnten 
und wahrlich sehr bequemen Zustande. Denn die Un- 
endlichkeit a parte post ohne mich kann so wenig 
598 
schrecklich seyn, als die Unendlichkeit a parte ante 
ohne mich; indem heide durch nichts sich unter- 
scheiden, als durch die Dazwischenkunft eines ephe- 
meren Lebenstraums. Auch lassen alle Beweise für 
die Fortdauer nach dem Tode sich eben so gut in par- 
tem ante wenden, wo sie dann das Daseyn vor dem 
Leben demonstriren, in dessen Annahme Hindu und 
Buddhais ten sich daher sehr konsequent beweisen, 
Kants Idealität der Zeit allein löst alle diese Räthsel: 
doch davon ist jetzt noch nicht die Rede. Soviel aber 
geht aus dem Gesagten hervor, dass über die Zeit, da 
man nicht mehr seyn wird, zu trauern, eben so absurd 
ist, als es seyn würde über die, da man noch nicht 
gewesen: denn es ist gleichgültig, ob die Zeit, welche 
unser Daseyn nicht füllt, zu der, welche es füllt, sich 
als Zukunft oder Vergangenheit verhalte. 
Aber auch ganz abgesehen von diesen Zeitbetrach- 
tungen, ist es an und für sich absurd, das Nichtseyn 
für ein Uebel zu halten; da jedes üebel, wie jedes 
Gut, das Daseyn zur Voraussetzung hat, ja sogar das 
Bewusstseyn; dieses aber mit dem Leben aufhört, wie 
eben auch im Schlaf und in der Ohnmacht; daher 
uns die Abwesenheit desselben, als gar keine Uebel 
enthaltend, wohl bekannt und veitraut, ihr Eintritt 
aber jedenfalls Sache eines Augenblicks ist. Von die- 
sem Gesichtspunkte aus betrachtete Epikiir den Tod 
und sagte daher ganz richtig 6 Oava-oc {XTjoev irpo«; 
T^jj-a? (der Tod geht uns nichts an); mit der Erläute- 
rung, dass wann wir sind, der Tod nicht ist, und 
wann der Tod ist, wir nicht sind (Diog. Laert., X, 
27). Verloren zu haben was nicht vermisst werden 
kann, ist offenbar kein Uebel: also darf das Nicht- 
seynwerden uns so wenig anfechten, wie das Nicht- 
gewesenseyn. Vom Standpunkt der Erkenntniss aus 
erscheint demnach durchaus kein Grund den Tod zu 
fürchten: im Erkennen aber besteht das Bewusstseyn; 
daher für dieses der Tod kein Uebel ist. Auch ist es 
wirklich nicht dieser erkennende Theil unsers Ichs, 
welcher den Tod fürchtet; sondern ganz allein vom 
blinden Willen geht die fuga mortis, von der alles 
Lebende erfüllt ist, aus. Diesem aber ist sie, wie schon 
oben erwähnt, wesentlich, eben weil er Wille zum 
Leben ist, dessen ganzes Wesen im Drange nach Le- 
ben und Daseyn besteht, und dem die Erkenntniss 
nicht ursprünglich, sondern erst in Kolge seiner Ob- 
jektivation in animalischen Individuen beiwohnt. 
W^enn er nun, mittelst ihrer, den Tod, als das Ende 
der Erscheinung, mit der er sich identihcirt hat und 
also auf sie sich beschrankt sieht, ansichtig wird, 
sträubt sich sein ganzes Wesen mit aller Gewalt da- 
gegen. Ob nun er vom Tode wirklich etwas zu fürch- 
ten habe, werden wir weiter unten untersuchen und 
uns dabei der hier, mit gehöriger Unterscheidung des 
wollenden vom erkennenden Theil unsers Wesens, 
nachgewiesenen eigentlichen Quelle der Todesfurcht 
erinnern. 
Derselben entsprechend ist auch, was uns den Tod 
so furchtbar macht, nicht sowohl das Ende des Le- 
bens, da dieses Keinem als des Regrettirens sonderlich 
werth erscheinen kann; als vielmehr die Zerstörung 
des Organismus: eigentlich, weil dieser der als Leib 
sich darstellende Wille selbst ist. Diese Zerstörung 
fühlen wir aber wirklich nur in den Uebeln der 
Krankheit, oder des Alters: hingegen der Tod selbst 
besteht, für das Subjekt, bloss in dem Augenblick, da 
das Bewusstseyn schwindet, indem die Thätigkeit 
des Gehirns stockt. Die hierauf folgende Verbreitung 
der Stockung auf alle übrigen Theile des Organis- 
mus ist eigentlich schon eine Begebenheit nach dem 
Tode. Der Tod, in subjektiver Hinsicht, betrifft also 
allein das Bewusstseyn. Was nun das Schwinden die- 
ses sei, kann Jeder einigermaassen aus dem Einschla- 
fen beurtheilen: noch besser aber kennt es, wer je 
eine wahre Ohnmacht gehabt hat, als bei welcher 
der üebergang nicht so allmälig, noch durch Träu- 
me vermittelt ist, sondern zuerst die Sehkraft, noch 
bei vollem Bewusstseyn, schwindet, und dann un- 
mittelbar die tiefste Bewusstlosigkeit eintritt: die 
Empfindung dabei, so weit sie geht, ist nichts weni- 
ger als unangenehm, und ohne Zweifel ist, wie der 
Schlaf der Bruder, so die Ohnmacht der Zwillings- 
bruder des Todes. Auch der gewaltsame Tod kann 
600 
nicht schmerzlich seyii; da selbst schwere Verwun- 
dungen in der Regel gar nicht gefühlt, sondern erst 
eine Weile nachher, oft nur an ihren äusserlichen 
Zeichen bemerkt werden: sind sie schnell tödtlich; 
so wird das Bewusstseyn vor dieser Entdeckung 
schwinden: tödten sie später; so ist es wie bei an- 
dern Krankheiten. Auch alle Die, welche im Wasser, 
oder durch Kohlendampf, oder durch Hängen das 
Bewusstseyn verloren haben, sagen bekanntlich aus, 
dass es ohne Pein geschehen sei. Und nun endlich 
gar der eigentlich natiu^gemässe Tod, der durch das 
Alter, die Euthanasie, ist ein alhnäliges Verschwin- 
den und Verseil weben aus dem Daseyn, auf unmerk- 
liche Weise. Nach und nach erlöschen im Alter die 
Leidenschaften und Begierden, mit der Empfänglich- 
keit für ihre Gegenstände; die Affekte finden keine 
Anregung mehr: denn die vorstellende Kraft wird 
immer schwächer, ihre Bilder matter, die Eindrücke 
haften nicht mehr, gehen spurlos vorüber, die Tage 
rollen immer schneller, die Vorfälle verlieren ihre Be- 
deutsamkeit, Alles verblasst. Der Hochbetagte wankt 
umher, oder ruht in einem Winkel, nur noch ein 
Schatten, ein Gespenst seines ehemaligen Wesens. 
Was bleibt da dem Tode noch zu zerstören? Eines 
Tages ist dann ein Schlummer der letzte, und seine 
Träume sind — — - — Es sind die, nach welchen 
schon Hamlet fragt, in dem berühmten Monolog. 
Ich glaube, wir träumen sie eben jetzt. 
Hieher gehört noch die Bemerkung, dass die Un- 
terhaltung des Leben sprocesses, wenn sie gleich eine 
metaphysische Grundlage hat, nicht ohne Wider- 
stand, folglich nicht ohne Anstrengung vor sich geht. 
Diese ist es, welcher der Organismus jeden Abend 
unterliegt, weshalb er dann die Gehirnfunktion ein- 
stellt und einige Sekretionen, die Respiration, den 
Puls und die Wärmeentvvickelung vermindert. Dar- 
aus ist zu schliessen, dass das gänzliche Aufhören des 
Lebensprocesses für die treibende Kraft desselben 
eine wundersame Erleichterung seyn muss; vielleicht 
hat diese Antheil an dem Ausdruck süsser Zufrieden- 
heit auf dem Gesichte der meisten Todten. Ueber- 
60 I 
liaupt ma(j der Augenblick des Sterbens dem des Er- 
wachens aus einem schweren, alligedrückten Traume 
ähnhch seyn. 
Bis hieher hat sich uns ergeben, dass der Tod, so 
sehr er auch gefürchtet wird, doch eigentlich kein 
Uebel seyn könne. Oft aber erscheint er sogar als ein 
Gut, ein Erwünschtes, als Freund Hain. Alles, was 
auf unüberwindliche Hindernisse seines Daseyns, 
oder seiner Bestrebungen gestossen ist, was an un- 
heilbaren Krankheiten, oder an untröstlichem Grame 
leidet, — - hat zur letzten, meistens sich ihm von selbst 
öffnenden Zuflucht die Rückkehr in den Schooss der 
Natur, aus welcliem es, wie alles Andere auch, auf 
eine kurze Zeit heranfgetaucht war, verlockt durch die 
Hoffnung auf günstigere Bedingungen des Daseyns, 
als ihm geworden, und von wo aus ihm der selbe 
Weg stets offen bleibt. Jene Rückkehr ist die cessio 
bonorum des Lebenden. Jedoch wird sie auch hier erst 
nach einem j)hysischen, oder moralischen Kampfe 
angetreten: so sehr striiubt Jedes sich, dahin zurück- 
zugehen, von wo es so leicht und bereitwillig her- 
vorkam, zu einem Daseyn, welches so viele Leiden 
und so wenige Freuden zu bieten hat. — Die Hindu 
geben dem Todesgotte Yama zwei Gesichter: ein sehr 
furchtbares und schreckliches, und ein sehr freudiges 
und gütiges. Dies erklärt sich zum Theil schon durch 
die eben angestellte Betrachtung. 
Auf dem empirischen Standpunkt, auf welchem 
wir noch immer stehen, ist auch die folgende Betrach- 
tung eine sich von selbst darbietende, die daher ver- 
dient, durch Verdeutlichung genau bestimmt und 
dadurch in ihre Gränzen zurückgewiesen zu werden. 
Der Anblick eines Leichnams zeigt mir, dass Sensibi- 
lität, Irritabilität, Blutumlauf, Reproduktion u. s. w. 
hier aufgehört haben. Ich schliesse daraus mit Sicher- 
heit, dass Dasjenige, welches diese bisher aktuirte, 
jedoch ein mir stets Unbekanntes war, sie jetzt nicht 
mehr aktuirt, also von ihnen gewichen ist. — Wollte 
ich nun aber hinzusetzen, dies müsse eben Das gewe- 
sen seyn, was ich nur als Bewusstseyn, mithin als In- 
telligenz, gekannt liabe (Seele); so wäre dies nicht 
602 
bloss unlterethtigt, sondern offenbar falsch geschlos- 
sen. Denn stets hat das Bewusstsevn sich mir nicht 
als Ursaclie, sondern als Produkt und Resultat des 
organischen Lebens gezeigt, indem es in Folge des- 
selben stieg und sank, nämlich in den verschiedenen 
Lebensaltern, in Gesundheit und Krankheit, in Schlaf", 
Ohnmacht, Erwachen u. s. w., also stets als Wirkung, 
nie als Ursache des organischen Lebens auftrat, stets 
sich zeigte als etwas, das entsteht und vergeht, und 
wieder entsteht, so lange liiezu die Bedingungen nocli 
da sind, aber ausserdem nicht. Ja, ich kann auch ge- 
sehen haben, dass die völHge Zerrüttung des Bewusst- 
seyns, der Wahnsinn, weit entfernt, die übrigen 
Kräfte mit sich herabzuziehen nnd zu deprimiren, 
oder gar das Leben zu gefährten, jene, namentlich 
die Irritabilität oder Muskelkraft, sehr erhöht, und 
dieses eher verlängert als verkürzt, wenn nicht andere 
Ursachen konkurriren. — Sodann: Individualität 
kannte ich als Eigenschaft jedes Organischen, und 
daher, wenn dieses ein selbstbewusstes ist, auch des 
Bewusstseyns. Jetzt zu schliessen, dass dieselbe jenem 
entwichenen, Leben ertheilenden, mir völlig unbe- 
kannten Princip inhärire, dazu ist kein Anlass vor- 
handen; um so weniger, als ich sehe, dass überall in 
der Natur jede einzelne Erscheinung das Werk einer 
allgemeinen, in tausend gleichen Erscheinungen thä- 
tigen Kraft ist. — Aber eben so wenig Anlass ist an- 
dererseits zu schliessen, dass, weil hier das organische 
Leben aufgehört hat, deshalb auch jene dasselbe bis- 
her aktuirende Kraft zu Nichts geworden sei ; — so 
wenig, als vom stillstehenden Spinnrade auf den Tod 
der Spinnerin zu schliessen ist. Wenn ein Pendel, 
durch Wiederfinden seines Schwerpunkts, endlich 
zur Ruhe kommt, und also das individuelle Schein- 
leben desselben aufgehört hat ; so wird Keiner wäh- 
nen, jetzt sei die Schw ere vernichtet ; sondern Jeder 
begreift, dass sie in zahllosen Erscheinungen nach 
wie vor thätig ist. Allerdings liesse sich gegen dieses 
Gleichniss einwenden, dass hier auch in diesem Pen- 
del die Schwere nicht aufgehört hat thätig zu seyn, 
sondern nur ihre Thätigkeit augenfällig zu äussern: 
6o3 
wer daraut besteht, ina^j sich statt dessen einen elek- 
trischen Körper denken, in welchem, nach seiner Ent- 
ladung, die Elektricitüt wirklich aufgehört hat thätig 
zu seyn. Ich habe daran nur zeigen wollen, dass wir 
selbst den untersten Natinkrüften eine Aeternität und 
übiquität unmittelbar zuerkennen, an welcher uns 
die Vergänglichkeit ihrer flüchtigen Erscheinungen 
keinen Augenblick irre macht. Um so weniger also 
darf es uns in den Sinn kommen, das Aufhören des 
Lebens für die Vernichtung des belebenden Princips, 
mithin den Tod für den gänzlichen Untergang des 
Menschen zu halten. Weil der kräftige Arm, der, vor 
dreitausend Jahren, den Bogen des Odysseus spannte, 
nicht mehr ist, wird kein nachdenkender und wohl- 
geregelter Verstand die Kraft, Avelche in demselben so 
energisch wirkte, für gänzlich vernichtet halten, aber 
daher, bei fernerem Nachdenken, auch nicht anneh- 
men, dass die Kraft, welche heute den Bogen spannt, 
erst mit diesem Arm zu existiren angefangen habe. 
Viel näher liegt der Gedanke, dass die Kraft, welche 
früher ein nunmehr entwichenes Leben aktuirte, die 
selbe sei, welche in dem jetzt blühenden thätig ist: 
ja, dieser ist fast unabweisbar. Gewiss aber wissen 
wir, dass wie im zweiten Buche dargethan wurde, 
nur Das vergänglich ist, was in der Kausalkette be- 
griffen ist: dies aber sind bloss die Zustände und For- 
men. Unberührt hingegen von dem durch Ursachen 
herbeigeführten Wechsel dieser bleibt einerseits die 
Materie und andererseits die Naturkräfte: denn Bei- 
de sind die Voraussetzung aller jener Veränderungen. 
Das uns belebende Princip aber müssen wir zunächst 
wenigstens als eine Naturkraft denken, bis etwan eine 
tiefere Forschung uns hat erkennen lassen, was es an 
sich selbst sei. Also schon als Naturkraft genommen, 
bleibt die Lebenskraft ganz unberührt von dem 
Wechsel der Formen und Zustände, welche das Band 
der Ursachen und Wirkungen herbei und hin\ve{;- 
führt, und welche allein dem Entstehen und Verge- 
hen, wie es in der Erfahiiing vorliegt, unterworfen 
sind. Soweit also Hesse sich schon die Unvergänglich- 
keit unsers eigentlichen Wesens sicher beweisen. Aber 
6o4 
freilich wird dies den Ansprüchen, welche man an 
Beweise iinsers Forthestehens nach dem Tode zu 
machen gewohnt ist, nicht genügen, noch den Trost 
gewähren, den man von solchen erwartet. Indessen 
ist es immer etwas, und wer den Tod als eine abso- 
lute Vernichtung fürchtet, darf die völlige Gewissheit, 
dass das innerste Princip seines Lebens von demselben 
unberührt bleibt, nicht verschmähen. — Ja, es liesse 
sich das Paradoxon aufstellen, dass auch jenes Zweite, 
welches, eben wie die Naturkräfte, von dem am Leit- 
faden der Kausalität fortlaufenden Wechsel der Zu- 
stände unberührt bleibt, also die Materie, durch sei- 
ne absolute BeharrHchkeit uns eine ünzerstörbarkeit 
zusichert, vermöge welcher, wer keine andere zu fas- 
sen fähig wäre, sich doch schon einer gewissen Un- 
vergänglichkeit getrösten könnte. „Wie?" wird man 
sagen, ,,das Beharren des blossen Staubes, der rohen 
Materie, sollte als eine Fortdauer unsers Wesens an- 
gesehen werden?" — Oho! kennt ihr denn diesen 
Staub? Wisst ihr, was er ist und was er verma;j? Lernt 
ihn kennen, ehe ihr ihn verachtet. Diese Materie, die 
jetzt als Staub und Asche daliegt, wird bald, im 
Wasser aufgelöst, als Krystall anschliessen, wird als 
Metall glänzen, wii'd dann elektrische Funken sprü- 
hen, wird mittelst ihrer galvanischen Spannung eine 
Kraft äussern, welche, die festesten Verbindungen 
zersetzend, Erden zu Metallen reducirt: ja, sie wird 
von selbst sich zu Pflanze und Thier gestalten und 
aus ihrem geheimnissvollen Schooss jenes Leben ent- 
wickeln, vor dessen Verlust ihr in eurer Beschränkt- 
heit so ängstlich besorgt seid. Ist nun, als eine solche 
Materie fortzudauern, so ganz und gar nichts? Ja, 
ich behaupte im Ernst, dass selbst diese Beharrlich- 
keit der Materie von der Unzerstörbarkeit unsers 
wahren Wesens Zeugniss ablegt, wenn auch nur wie 
im Bilde und Gleichniss, oder vielmehr nur wie im 
Schattenriss. Dies einzusehen, dürfen wir uns nur an 
die Kapitel 24 gegebene Erörterung der Materie er- 
innern, aus der sich ergab, dass die lautere, formlose 
Materie, — diese für sich allein nie wahrgenomme- 
ne, aber als stets bleibend vorausgesetzte Basis der 
6o5 
Erfahrun{js\\elt, — der unmittelbare Wiedersoliein, 
die Sichtbarkeit überhaupt, des Dinge-^ an sich, also 
des Willens, ist; daher von ihr, unter den liedinjjun- 
(jungen der Erfahrung, das gilt, ^vas dem Willen an 
sich schlechthin zukommt und sie seine wahre Ewig- 
keit unter dem Bilde der zeitlichen Unvergänjjlich- 
keit wiedergibt. Weil, wie schon gesagt, die Natur 
nicht lügt, so kann keine aus einer rein objektiven 
Auffassung derselben entsprungene und in folgerech- 
tem Denken durchgeführte Ansicht ganz und gar 
falsch seyn, sondern sie ist, im schlimmsten Fall, niu' 
sehr einseitig und unvollständig. Eine solche aber ist 
unstreitig auch der konsequente Materialismus, etwan 
der des Epihuros, eben so gut, wie der ihm entgegen- 
gesetzte absolute Idealismus, etwan der des Bej-keler, 
und überhaupt jede aus einem richtigen appercu her- 
vorgegangene und redlicli ausgeführte philosophische 
Grundansicht. Nur sind sie alle höchst einseitige Auf- 
fassungen und daher, trotz ihrer Gegensätze, zugleich 
wahr, nämlich jede von einem bestimmten Stand- 
punkt aus: sobald man aber sich über diesen erhebt, 
erscheinen sie nur noch als relativ und bedingt wahr. 
Der höchste Standpunkt allein, von welchem aus 
man sie alle übersieht und in ihrer bloss relativen 
Wahrheit, über diese hinaus aber in ihrer Falschheit 
erkennt, kann der der absoluten ^V^ahrheit, so weit 
eine solche überhaupt erreichbar ist, seyn. Dem ent- 
sprechend sehen wir, wie soeben nachgewiesen wur- 
de, selbst in der eigentlich sehr rohen und daher sehr 
alten Grundansicht des Material isnuis die Unzerstör- 
barkeit unsers wahren Wesens an sich noch wie durch 
einen blossen Schatten derselben repräsentirt, näm- 
lich durch die Unvergänglichkeit der INIaterie; wie, 
in dem schon höher stehenden Naturalisnms einer 
absoluten Physik, durch die Ubiquität und Aeterni- 
tät der Naturkräfte, welchen die Lebenskraft doch 
wenigstens beizuzählen ist. Also selbst diese rohen 
Grundansichten enthalten die Aussage, dass das le- 
bende Wesen durdi den Tod keine absolute Vernich- 
tung erleidet, sondern in und mit dem Ganzen der 
Natur fortbesteht. — 
606 
Die Betrachtungen, welche uns his hieher geführt 
haben und an welche die ferneren Erörterungen sich 
knüpften, waren ausgegangen von der auffallenden 
Todesfurcht, welche alle lebenden Wesen erfüllt. 
Jetzt aber wollen wir den Standpunkt wechseln und 
ein Mal betrachten, wie, im Gegensatz der Einzelwe- 
sen, das Ganze der Natur sich hinsichtlich des Todes 
verhält; wobei wir jedoch immer noch auf dem em- 
pirischen Grund und Boden stehen bleiben. 
Wir freilich kennen kein höheres Würfelspiel, als 
das um Tod imd Leben ; jeder Entscheidung über 
diese sehen wir mit der äussersten Spannung, Theil- 
nahme und Furcht entgegen: denn es gilt, in unsern 
Augen, Alles in Allem. — Hingegen die Natur, wel- 
che doch nie lügt, sondern aufrichtig und offen ist, 
spricht über dieses Thema ganz anders, nämlich so, 
wie Krischna im Bhagavad-Gita. Ihre Aussage ist : 
an Tod oder Leben des Individuums ist gar nichts 
gelegen. Dieses nändich drückt sie dadurch aus, dass 
sie das Leben jedes Thieres, und auch des Menschen, 
den unbedeutendesten Zufällen Preis giebt, ohne zu 
seiner Rettung einzutreten. — Betrachtet das Insekt 
auf eurem Wege: eine kleine, unbewusste Wendung 
eures Fusstrittes ist über sein licben oder Tod ent- 
scheidend. Seht die Waldschnecke, ohne alle Mittel 
zur Flucht, zur Wehr, zur Täuschung, zum Verber- 
gen, eine bereite Beute für Jeden. Seht den Fisch 
sorglos im noch offenen Netze spielen ; den Frosch 
durch seine Trägheit von der Flucht, die ihn retten 
könnte, abgehalten; den Vogel, der den über ihm 
schwebenden Falken nicht gewahr wird; die Schaa- 
fe, welche der Wolf aus dem Busch ins Auge fasst und 
mustert. Diese Alle gehen, mit wenig Vorsicht ausge- 
rüstet, arglos unter den Gefahren umher, die jeden 
Augenl>lick ihr Daseyn bedrohen. Indem nun also 
die Natur ihre so unaussprechlich künstlichen Orga- 
nismen nicht nur der Raublust des Stärkeren, son- 
dern auch dem blindesten Zufall und der Laune 
jedes Narren und dem Muthwillen jedes Kindes, 
ohne Rückhalt Preis giebt, spricht sie aus, dass die 
Vernichtung dieser Individuen ihr gleichgültig sei, 
Goy 
ilir nicht .schade, [i;ar nichts zu hedeuten habe, und 
dass, in jenen Fallen, die Wirkung so wenig auf 
sich habe, wie die Ursache. Sie sagt dies sehr 
deuthch aus, und sie lügt nie: nur kommentirt sie 
ihre Aussprüche nicht; vielmehr redet sie im lakoni- 
schen Stil der Orakel. Wenn nun die Allmutter so 
sorglos ihre Kinder tausend drohenden Gefahren, 
ohne Obhut, entgegensendet: so kann es nur seyn, 
weil sie weiss, dass wenn sie fallen, sie in ihren 
Schooss zurückfallen, wo sie geborgen sind, daher 
ihr Fall nur ein Scherz ist. Sie halt es mit dem Men- 
schen nicht anders, als mit den Thieren. Ihre Aus- 
sage also erstreckt sich auch auf diesen: Leben odei 
Tod des Individuums sind ihr gleichgültig. Demzu- 
folge sollten sie es, in gewissem Sinne, auch uns seyn: 
denn wir selbst sind ja die Natur. Gewiss würden 
wir, wenn wir nur tief genug sähen, der Natur bei- 
stimmen und Tod oder Leben als so gleichgültig an- 
sehen, wie sie. Inzwischen müssen wir, mittelst der 
Reflexion, jene Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit der 
Natur gegen das Leben der Individuen dahin ausle- 
gen, dass die Zerstörung einer solchen Erscheinung 
das wahre und eigentliche Wesen derselben im Min- 
desten nicht anficht. 
Erwägen wir nun ferner, dass nicht nur, wie so- 
eben in Betrachtung genommen, Leben und Tod von 
den geringfügigsten Zufällen abhängig sind, sondern 
dass das Daseyn der organischen Wesen überhaupt 
ein ephemeres ist, Thier und Pflanze heute entsteht 
und morgen vergeht; und Geburt und Tod in schnel- 
lem Wechsel folgen, während dem so sehr viel tiefer 
stehenden Unorganischen eine ungleich längere Dauer 
gesichert ist, eine unendlich lange aber nur der ab- 
solut formlosen Materie, welcher wir dieselbe sogar 
a priori zuerkennen; — da muss, denke ich, schon 
der bloss empirischen, aber objektiven und unbefan- 
genen Auffassung einer solchen Ordnung der Dinge 
von selbst der Gedanke folgen, dass dieselbe nur ein 
oberflächliches Phänomen sei, dass ein solches be- 
ständiges Entstehen vmd Vergehen keineswegs an die 
Wurzel der Dinge greifen, sondern nur ein relatives, 
608 
ja nur scheinbares seyn könne, von welchem das ei- 
gentHche, sich ja ohnehin überall unserm Blick ent- 
ziehende und durchweg geheiinnissvolle, innere We- 
sen jedes Dinges nicht niitgetroffen werde, vielmehr 
dabei ungestört fortbestehe; wenn wir gleich die 
Weise, wie das zugeht, weder wahrnehmen, noch be- 
greifen können, und sie daher nur im Allgemeinen, 
als eine Art von tour de passe-passe, der dabei vor- 
gienge, uns denken müssen. Denn, dass, während das 
Unvollkommenste, das Niedrigste, das Unorganische, 
unangefochten fortdauert, gerade die vollkommen- 
sten Wesen, die lebenden, mit ihren unendlich kom- 
plicirten und unbegreiflich kunstvollen Organisatio- 
nen, stets von Grund aus neu entstehen und nach 
einer Spanne Zeit absolut zu nichts werden sollten, 
um abermals neuen, aus dem Nichts ins Daseyn tre- 
tenden, ihres Gleichen, Platz zu machen, — Dies ist 
etwas so augenscheinlich Absurdes, dass es nimmer- 
mehr die wahre Ordnung der Dinge seyn kann, viel- 
mehr bloss eine Hülle, welche diese verbirgt, richti- 
ger, ein durch die Beschaffenheit unsers Intellekts 
bedingtes Phänomen. Ja, das ganze Seyn und Nicht- 
seyn selbst dieser Einzelwesen, in Beziehung auf wel- 
ches Tod und Leben Gegensätze sind, kann nur ein 
relatives seyn: die Sprache der Natur, in weK^her es 
uns als ein absolutes gejjeben wird, kann also nicht 
der wahre und letzte Ausdruck der Beschaffenheit 
der Dinge und der Ordnung der Welt seyn, sondern 
wahrlich nur ein patois dn pays, d. h. ein bloss rela- 
tiv Wahres, ein Sogenanntes, ein cum grano salis zu 
Verstehendes, oder eigentlich zu reden, ein durch un- 
sern Intellekt Bedingtes. — Ich sage, eine unmittel- 
bare, intuitive Ueberzeugung der Art, wie ich sie hier 
mit Woi'ten zu umschreiben gesucht habe, wird sich 
Jedem aufdringen: d. h. freilich nur Jedem, dessen 
Geist nicht von der ganz gemeinen Gattung ist, als 
welche, schlechterdings nur das Einzelne, ganz und 
gar als solches, zu erkermen fähig, streng auf Er- 
kenntniss der Individuen beschränkt ist, nach Art des 
thierischen Intellekts. Wer hingegen, durch eine nur 
etwas höher potenzirte Fähigkeit, auch bloss anfängt, 
39 Schopenhauer II ^^9 
in den Einzelwesen ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu 
erblicken, der wird auch jener Ueberzeugung in ge- 
wissem Grade theilhaft werden, und zwar als einer 
unmittelbaren und darum gewissen. In der That sind 
es auch nur die kleinen, beschränkten Köpfe, welche 
ganz ernstlich den Tod als ihre Vernichtung fürch- 
ten: aber vollends von den entschieden Bevorzugten 
bleiben solche Schrecken gänzlich fern. Plato grün- 
dete mit Recht die ganze Philosophie auf die Er- 
kenntniss der Ideenlehre, d. h. auf das Erblicken des 
Allgemeinen im Einzelnen. Ueberaus lebhaft aber 
muss die hier beschriebene, unmittelbar aus der Auf- 
fassung der Natur hervorgehende Ueberzeugung in 
jenen erhabenen und kaum als blosse Menschen denk- 
baren Urhebern des Upanischads der Veden gewesen 
seyn, da dieselbe aus unzähligen ihrer Aussprüche so 
sehr eindringlich zu uns redet, dass wir diese unmit- 
telbare Erleuchtung ihres Geistes Dem zuschreiben 
müssen, dass diese Weisen, als dem Ursprünge un- 
sers Geschlechtes, der Zeit nach, näher stehend, das 
Wesen der Dinge klarer und tiefer auffassten, als das 
schon abgeschwächte Geschlecht, otoi vuv ßpotoi eioiv, 
es vermag. Allerdings aber ist ihrer Auffassungauch die 
in ganz anderm Grade, als in unserm Norden, belebte 
Natur Indiens entgegengekommen. — Inzwischen lei- 
tet auch die durchgeführte Reflexion, wie Kants gros- 
ser Geist sie verfolgte, auf anderm W^ege, eben da- 
hin, indem sie uns belehrt, dass unser Intellekt, in 
welchem jene so rasch wechselnde Erscheinungswelt 
sich darstellt, nicht das wahre letzte Wesen der Din- 
ge, sondern bloss die Erscheinung desselben auffasst, 
und zwar, wie ich hinzusetze, weil er ursprünglich 
nur bestimmt ist, unserm Willen die Motive vorzu- 
schieben, d. h. ihm beim Verfolgen seiner kleinlichen 
Zwecke dienstbar zu seyn. 
Setzen wir inzwischen unsere objektive und unbe- 
fangene Betrachtung der Natur noch weiter fort. — 
Wenn ich ein Thier, sei es ein Hund, ein Vogel, ein 
Frosch, ja sei es auch nur ein Insekt, tödte; so ist es 
eigentlich doch undenkbar, dass dieses V^esen, oder 
vielmehr die Urkraft, vermöge welcher eine so be- 
6io 
wunderungswürdige Erscheinung, noch den Augen- 
blick vorher, sich in ihrer vollen Energie und Le- 
benslust darstellte, durch meinen boshaften oder 
leichtsinnigen Akt zu Nichts geworden seyn sollte. 
— Und wieder andererseits, die Millionen Thiere jeg- 
licher Art, welche jeden Augenblick, in unendlicher 
Mannigfaltigkeit, voll Kraft und Strebsamkeit ins 
Daseyn treten, können nimmermehr vor dem Akt 
ihrer Zeugung gar nichts gewesen und von nichts zu 
einem absoluten Anfang gelangt seyn. — Sehe ich 
nun auf diese Weise Eines sich meinem Blicke ent- 
ziehen, ohne dass ich je erfahre, wohin es gehe: und 
ein Anderes hervortreten, ohne dass ich je erfahre, 
woher es komme ; haben dazu noch Beide die selbe 
Gestalt, das selbe Wesen, den selben Charakter, nur 
allein nicht die selbe Materie, welche jedoch sie auch 
während ihres Daseyns fortwährend abwerfen und 
erneuern; — so liegt doch wahrlich die Annahme, 
dass Das, was verschwindet, und Das, was an seine 
Stelle tritt. Eines und dasselbe Wesen sei, welches 
nur eine kleine Veränderung, eine Erneuerung der 
Form seines Daseyns, erfahren hat, und dass mithin 
was der Schlaf für das Individuum ist, der Tod für 
die Gattung sei; — - diese Annahme, sage ich, liegt so 
nahe, dass es unmöglich ist, nicht auf sie zu gerathen, 
wenn nicht der Kopf, in früher Jugend, durch Ein- 
prägung falscher Grundansichten verschroben, ihr, 
mit abergläubischer Furcht, schon von Weitem aus 
dem Wege eilt. Die entgegengesetzte Annahme aber, 
dass die Geburt eines Thieres eine Entstehung aus 
Nichts, und dem entsprechend sein Tod seine abso- 
lute Vernichtung sei, und Dies noch mit der Zugabe, 
dass der Mensch, eben so aus Nichts geworden, den- 
noch eine individuelle, endlose Fortdauer und zwar 
mit Bewusstseyn habe, während der Hund, der Affe, 
der Elephant durch den Tod vernichtet würden, — 
ist denn doch wohl etwas, wogegen der gesunde Sinn 
sich empören und es für absurd erklären muss. — 
Wenn, wie zur Genüge wiederholt wird, die Ver- 
gleichung der Resultate eines Systems mit den Aus- 
sprüchen des gesunden Menschenverstandes ein Pro- 
39* 611 
birstein seiner Wahrheit seyn soll; so wünsche ich, 
dass die Anhän{j;er jener von Carteslus bis auf die 
vorkantischen Eklektiker herabgeerbten, ja wohl 
auch jetzt noch bei einer grossen Anzahl der Gebil- 
deten in Europa herrschenden Grundansicht, ein 
Mal hier diesen Probirstein anlegen mögen. 
Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der 
Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr 
ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in 
der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe 
der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung 
organischer Wesen, imd wodurch allein in dem rast- 
losen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein be- 
stehendes Daseyn, d. i. eine Natur, möglich wird. 
Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten 
betrachtet und nun sieht, wie das eine sich sein Bett 
bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden 
Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe 
zu überwintern und einst, im Frühling, verjünjjt und 
vervollkommnet zu erwachen; endlich die meisten, 
als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu 
halten gedenken, bloss ihrem Ei sorgfältig die geeig- 
nete Lagerstätte anpassen, um einst aus diesem er- 
neuet hervorzugehen; — so ist dies die grosse ün- 
sterblichkeitslehre der Natur, welche vms beibringen 
möchte, dass zwischen Schlaf und Tod kein radikaler 
Unterschied ist, sondern der Eine so wenig wie der 
Andere das Daseyn gefährdet. Die Sorgfalt, mit der 
das Insekt eine Zelle, oder Grube, oder Nest bereitet, 
sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommen- 
den Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann 
ruhig stirbt, — gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein 
Mensch am Abend sein Kleid und sein F'rühstück für 
den kommenden Mor{jen bereit legt und dann ruhig 
schlafen geht, und könnte im Grunde gar nicht Statt 
haben, wenn nicht, an sich und seinem wahren We- 
sen nach, das im Herhste sterbende Insekt mit dem 
im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch 
wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem 
aufstehenden. 
Wenn wir nun, nach diesen Betrachtungen, zu uns 
6l 2 
selbst und unserm Geschlechte zurückkehren und 
dann den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft 
weifen, die künfti^^en Generationen, mit den Milli- 
onen ihrer Individuen, in der fremden Gestalt ihrer 
Sitten und Trachten uns zu vergejjenwärtigen suchen, 
dann aber mit der Frage dazwischen fahren: Woher 
werden diese xAlle kommen? Wo sind sie jetzt? — Wo 
ist der reiche Schooss des weltenschwangeren Nichts, 
der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? — 
Wäre darauf nicht die lächelnde und wahre Antwort: 
Wo anders sollen sie seyn, als dort, wo allein das Re- 
ale stets war und seyn wird, in der Gegenwart und 
ihrem Inhalt, also bei Dir, dem bethörten Frager, 
der, in diesem Verkennen seines eigenen Wesens, 
dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste 
welkend und im Begriff abzufallen, jammert über 
seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will 
durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im 
Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend 
spricht: „Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere 
Blätter!" — O thörichtes Blatt! Wohin willst du? 
Und woher sollen andere kommen ? Wo ist das Nichts, 
dessen Schlund du fürchtest? — Erkenne doch dein 
eigenes Wesen, gerade Das, was vom Durst nach 
Daseyn so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, 
geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets 
eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, 
unberührt bleibt vom Entstehen und Vergehen. 
Und nun 
oirj irsp (fuXXoDV '[ever], Tonrjoe xai avopojv. 
(Qualis foliorum generatio, talis et hominum.) 
Ob die Fliege, die jetzt lan mich summt, am Abend 
einschläft und morgen wieder summt; oder ob sie am 
Abend stirbt, und im Frühjahr, aus ihrem Ei ent- 
standen, eine andere Fliege summt; das ist an sich 
die selbe Sache: daher aber ist die Erkenntniss, die 
solches als zwei grundverschiedene Dinge darstellt, 
keine unbedingte, sondern eine relative, eine Erkennt- 
niss der Erscheinung, nicht des Dinges an sich. Die 
Fliege ist am Morgen wieder da; sie ist auch im Früh- 
6i3 
Jahr wieder da. Was unterscheidet für sie den Winter 
von der Nacht? — In Bvtdachs Physiolojjie, Bd. i, 
§. 275, lesen wir: ,,Bis Morjjens 10 Uhr ist noch keine 
Cercaria ephemera (ein Infusionsthier) zu sehen (in 
der Infusion): und um 12 wimmelt das ganze Wasser 
davon. Abends sterben sie, und am andern Morgen 
entstehen wieder neue. So beobachtete es Nitzsch sechs 
Tage hinter einander." 
So weilt Alles nur einen Augenblick und eilt dem 
Tode zu. Die Pflanze und das Insekt sterben am Ende 
des Sommers, das Thier, der Mensch, nach wenig 
Jahren: der Tod mäht tmermüdlich. Desungeachtet 
aber, ja, als ob dem ganz und gar nicht so wäre, ist 
jederzeit Alles da und an Ort und Stelle, eben als 
wenn Alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und 
blüht die Pflanze, schwirrt das Insekt, steht Thier und 
Mensch in unverwüstlicher Jugend da, und die schon 
tausend Mal genossenen Kirschen haben wir jeden 
Sommer wieder vor uns. Auch die Völker stehen da, 
als unsterbliche Individuen; wenn sie gleich bisweilen 
die Namen wechseln; sogar ist ihr Thun, Treiben und 
Leiden allezeit das selbe; wenn gleich die Geschichte 
stets etwas Anderes zu erzählen vorgiebt: denn diese 
ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung 
eine neue Konfiguration zeigt, während wir eigent- 
lich immer das Selbe vor Augen haben. Was also 
dringt sich unwiderstehlicher auf, als der Gedanke, 
dass jenes Entstehen und Vergehen nicht das eigent- 
liche Wesen der Dinge treff«, sondern dieses davon 
unberührt hleibe, also unvergänglich sei, daher denn 
Alles und Jedes, was daseyn will, wirklich fortw ährend 
und ohne Ende da ist. Demgemäss sind in jedem ge- 
gebenen Zeitpunkt alle Thiergeschlechter, von der 
Mücke bis zum Elephanten, vollzählig beisammen. 
Sie haben sich bereits viel Tausend Mal erneuert und 
sind dabei die selben geblieben. Sie wissen nicht von 
Andern ihres Gleichen, die vor ihnen gelebt, oder 
nach ihnen leben werden: die Gattung ist es, die alle- 
zeit lebt, und, im Bewusstsevn der Unvergänglichkeit 
derselben und ihrer Identität mit ihr, sind die Indi- 
viduen da und wohlgemuth. Der Wille zum Leben 
6l4 
erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese die 
Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht 
altert, sondern immer jung bleibt. Der Tod ist für 
sie, Avas der Schlaf für das Individuum, oder was für 
das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die 
Indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Men- 
schengestalt erscheinen. Wie durch den Eintritt der 
Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen 
Augenblick zu seyn aufhört; eben so scheinbar ver- 
geht Mensch und Thier durch den Tod, und eben so 
ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun 
denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt 
in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die 
beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden 
Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Re- 
genbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche 
Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz Jahr- 
tausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts 
verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch we- 
niger etwas von dem innern Wesen, welches als die 
Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden 
Augenblick wohlgemuth ausrufen: „Trotz Zeit, Tod 
und Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!" 
Etwan Der wäre auszunehmen, der zu diesem 
Spiele ein Mal aus Herzensgrunde gesagt hätte: „Ich 
mag nicht mehr." Aber davon zu reden ist hier noch 
nicht der Ort. 
Wohl aber ist darauf aufmerksam zu machen, dass 
die Wehen der Geburt und die Bitterkeit des Todes 
die beiden konstanten Bedingungen sind, unter denen 
der Wille zum Leben sich in seiner Objektivation 
erhält, d. h. unser Wesen an sich, unberührt vom 
Laufe der Zeit und dem Hinsterben der Geschlechter, 
in immerwährender Gegenwart da ist und die Frucht 
der Bejahung des Willens zum Leben geniesst. Dies 
ist dem analog, dass wir nur unter der Bedingung, all- 
nächtlich zu schlafen, am Tage wach seyn kön- 
nen ; sogar ist Letzteres der Kommentar, den die Na- 
tur zum Verständniss jenes schwierigen Passus liefert. 
Denn das Substrat, oder die Ausfüllung, 7rX7;pa>[xa, 
oder der Stoff der Gegenwart ist durch alle Zeit eigen t- 
6l5 
lieh der selbe. Die Unmöglichkeit, diese Identität un- 
mittelbar zu erkennen, ist eben die Zeit, eine Form 
und Schranke unsers Intellekts. Dass, vermöge der- 
selben, z. B. das Zukünftige noch nicht ist, beruht 
auf einer Täuschung, welcher wir inne werden, wann 
es gekommen ist. Dass die wesentliche Form unsers 
Intellekts eine solche Täuschung herbeiführt, erklärt 
und rechtfertigt sich daraus, dass der Intellekt kei- 
neswegs zum Auffassen des Wesens der Dinge, son- 
dern bloss zu dem der Motive, also zum Dienst einer 
individuellen xmd zeitlichen Willenserscheinung, aus 
den Händen der Natur hervorgegangen ist. 
Wenn man die uns hier beschäftigenden Betrach- 
tungen zusammenfasst, wird man auch den wahren 
Sinn der paradoxen Lehre der Eleaten verstehen, dass 
es gar kein Entstehen und Vergehen gebe, sondern 
das Ganze unbeweglich feststehe: IlapfxeviOTj^xai MsXio- 
aoc avi[]0&uv "(svsoiv y.ai cpdopav, oia xo vofjLiCstv ro Tiav 
axivr^Tov. (Parmenides et Mellissus ortum et iuteritum 
tollebant, quoniam nihil moveri putabant. Stob. Eck, 
I, 21.) Inigleichen erhält hier auch die schöne Stelle 
des Empedoklefi Licht, welche Plutarch uns aufbehal- 
ten hat, im Buche Adversus Coloten, c. 12: 
NT,:rtoi' ou yap o<ptv BoXi^ocppove? sioi [xepijxvai, 
Ol orj YivöoBai irapo? oox eov eXTriCduot, 
H Tt •/aia&vT^axctv xai £;oXXuoOai a-avnr;. 
Oüx av avTjp ToiauTa oocpo? cppeoi fjiavTsuoaiTO, 
'ß? ocppa [x£v T£ ßiu)oi (-0 07j ^lOTOv xaXeouoi), 
Tocppa jjLSv ouv stoiv, xai ooiv Trapa oetva xai so&Xa 
npiv T£ -a^sv -£ jBpoToi, xai £7:£i Xud£v, ouo£v ap' EIOIV. 
(Stulta. et prolixas non admittentia curas 
Pectora: qui spcraiit, cxistere posse, quod ante 
Non fnit, aut iillam rem pcssum protinus ire; — 
Non animo priulens liomo (juod pracscntiat ulius, 
Dum vivnnt (nanique hoc vitai nomine signant), 
Sunt, et Fortuna tum conflictantiir utraque: 
Ante orluni nihil est homo, nee post funera quidquam.) 
Nicht weniger verdient hier erwähnt zu werden 
die so höchst merkwürdige und an ihrem Ort über- 
616 
raschende Stelle in DideroCs Jacques le fataliste: uii 
chäleau immense, au frontispice duquel on lisait: „Je 
n'appartiens ä personne, et j'appartiens ä tout le mon- 
de: vous y etiez avant que d'y entrer, vous y serez en- 
core, quand vous en sortirez." 
In dem Sinne freilich, in welchem der Mensch hei 
der Zeugung aus Nichts entsteht, wird er durch den 
Tod zu JNichts. Dieses Nichts aher so ganz eigent- 
lich kennen zu lernen, wäre sehr interessant; da nur 
mittehnässiger Scharfsinn erfordert ist, einzusehen, 
dass dieses empirische Nichts keineswegs ein absolu- 
tes ist, d. h. ein solches, welches in jedem Sinne nichts 
wäre. Auf diese Einsicht leitet schon die empirische 
Bemerkung hin, dass alle Eigenschaften der Eltern 
sich im Erzeugten wiederfinden, also den Tod über- 
standen haben. Hievon werde ich jedoch in einem 
eigenen Kapitel reden. 
Es giebt keinen grösserenKontrast,als den zwischen 
der unaufhaltsamen Flucht der Zeit, die ihren ganzen 
Inhalt mit sich fortreisst, und der starren Unbeweg- 
lichkeit des wirklich Vorhandenen, welches zu allen 
Zeiten das eine und selbe ist. Und fasst man, von die- 
sem Gesichtspunkte aus, die unmittelbaren Vorgänge 
des Lebens recht objektiv ins x\uge; so wird Einem 
das Nunc stans im Mittelpunkte des Rades der Zeit 
klar und sichtbar. — Einem unvergleichlich länger 
lebenden Auge, welches mit einem Blick das Men- 
schengeschlecht, in seiner ganzen Dauer, umfasste, 
würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich 
nur darstellen wie eine anhaltende Vibration, und 
demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues 
Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm 
würde, gleichwie unserm Blick der schnell gedrehte 
Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrirende 
Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Saite 
als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und 
Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen. 
Von der Unzerstörbarkeit vmsers wahren Wesens 
durch den Tod werden wir so lange falsche Begriffe 
haben, als wir uns nicht entschliessen, sie zuvörderst 
an den Thieren zu studieren, sondern eine aparte 
6l 7 
Art derselben, unter dem prahlerischen Namen der 
Unsterblichkeit, uns allein anmaassen. Diese Anmaas- 
sung aber und die Beschränktheit der Ansicht, aus 
der sie hervor^jeht, ist es ganz allein, weswegen die 
meisten Menschen sich so hartnäckig dagegen sträu- 
ben, die am Tage liegende Wahrheit anzuerkennen, 
dass wir, dem Wesentlichen nach und in der Haupt- 
sache, das Selbe sind wie die Thiere; ja, dass sie vor 
jeder Andeutung unserer Verwandtschaft mit diesen 
zurückbeben. Diese Verleugnung der Wahrheit aber 
ist es, welche mehr als alles Andere ihnen den Weg 
versperrt zur wirklichen Erkenntniss der Unzerstör- 
barkeit unsers Wesens. Denn wenn man etwas auf 
einem falschem Wege sucht; so hat man eben des- 
halb den rechten verlassen und wird auf jenem am 
Ende nie etwas Anderes erreichen, als späte Enttäu- 
schung. Also frisch weg, nicht nach vorgefassten Gril- 
len, sondern an der Hand der Natur, die Wahrheit 
verfolgt! Zuvorderst lerne man beim Anblick jedes 
jungen Thieres das nie alternde Daseyn der Gattung 
erkennen, welche, als einen Abglanz ihrer ewigen 
Jugend, jedem neuen Individuo eine zeitliche schenkt, 
und es auftreten lässt, so neu, so frisch, als wäre die 
Welt von heute. Man frage sich ehrlich, ob die 
Schwalbe des heurigen Frühlings eine ganz und gar 
andere, als die des ersten sei, imd ob wirklich zwi- 
schen beiden das Wunder der Schöpfung aus Nichts 
sich Millionen Mal erneuert habe, um eben so oft 
absoluter Vernichtung in die Hände zu arbeiten. — 
Ich weiss wohl, dass, wenn ich Einen ernsthaft ver- 
sicherte, die Katze, welche eben jetzt auf dem Hofe 
spielt, sei noch die selbe, welche dort vor dreihun- 
dert Jahren die nämlichen Sprünge und Schliche ge- 
macht hat, er mich für toll halten würde: aber ich 
weiss auch, dass es sehr viel toller ist, zu glauben, die 
heutige Katze sei durch und durch und von Grund 
aus eine ganz andere, als jene vor dreihundert Jahren. 
— Man braucht sich nur treu und ernst in den An- 
blick eines dieser obern Wirbelthiere zu vertiefen, um 
deutlich inne zu werden, dass dieses unergründliche 
Wesen, wie es da ist, im Ganzen genommen, unmög- 
6i8 
lieh zu Nichts werden kann: und doch kennt man 
andererseits seine Vergänglichkeit. Dies beruht dar- 
auf, dass in diesem Thiere die Ewigkeit seiner Idee 
(Gattung) in der EndHchkeit des Individui ausgeprägt 
ist. Denn in gewissem Sinne ist es allerdings wahr, 
dasS wir im Individuo stets ein anderes Wesen vor 
uns haben, nändich in dem Sinne, der auf dem Satz 
vom Grunde beruht, unter welchem auch Zeit und 
Raum begriffen sind, welche das principium indivi- 
duationis ausmachen. In einem andern Sinne aber ist 
es nicht wahr, nämlich in dem, in welchem die Rea- 
lität allein den bleibenden Formen der Dinge, den 
Ideen zukommt, und welcher dem Plato so klar ein- 
geleuchtet hatte, dass derselbe sein Grundgedanke, 
das Centrum seiner Philosophie, und die Auffassung 
desselben sein Kriterium der Befähigung zum Philo- 
sophiren überhaupt wurde. 
Wie die zerstäubenden Tropfen des tobenden Was- 
serfalls mit Blitzesschnelle wechseln, während der 
Regenbogen, dessen Träger sie sind, in unbeweglicher 
Ruhe feststeht, ganz unberührt von jenem rastlosen 
Wechsel; so Weibt jede Idee, d. i. jede Gattung leben- 
der Wesen, ganz unberührt vom fortwährenden 
Wechsel ihrer Individuen. Die Idee aber, oder die 
Gattung, ist es, darin der Wille zum Leben eigent- 
lich jwurzelt und sich manifestirt: daher auch ist an 
ihrem Bestand allein ihm wahrhaft gelegen. Z. B. die 
Löwen, welche geboren werden und sterben, sind 
wie die Tropfen des Wasserfalls; aber die leonitas, 
die Idee, oder Gestalt, des Löwen, gleicht dem uner- 
schütterten Regenbogen darauf. Darum also legte 
Plato den Ideeti allein, d. i. den species, den Gattun- 
gen, ein eigentliches Seyn bei, den Individuen nur 
ein rastloses Entstehen und Vergehen. Aus dem tief- 
innersten Bewusstseyn seiner Unvergänglichkeit ent- 
springt eigentlich auch die Sicherheit und Gemüths- 
ruhe, mit der jedes thierische und auch das mensch- 
liche Individuum unbesorgt dahin wandelt zwischen 
einem Heer von Zufällen, die es jeden Augenblick 
vernichten können, und überdies dem Tod gerade 
entgegen: aus seinen iVugen blickt inzwischen die 
619 
Ruhe der Gattung, als welche jener Unter(i[an(j nicht 
anficht und nicht angeht. Auch dem Menschen könn- 
ten diese Ruhe die unsichern und wechselnden Dog- 
men nicht verleihen. Aber, wie gesagt, der Anblick 
jedes Thieres lehrt, dass dem Kern des Lebens, dem 
Willen, in seiner Manifestation der Tod nicht hin- 
derlich ist. Welch ein unergründliches Mysterium 
liegt doch in jedem Thiere! Seht das nächste, seht 
euern Hund an: wie wohlgemuth und ruhig er da- 
steht! Viele Tausende von Hunden haben sterben 
müssen, ehe es an diesen kam, zu leben. Aber der 
Untergang jener Tausende hat die Idee des Hundes 
nicht angefochten: sie ist durch alles jenes Sterben 
nicht im Mindesten getrübt worden. Daher steht der 
Hund so frisch und urkräftig da, als wäre dieser Tag 
sein erster und könne keiner sein letzter seyn, und 
aus seinen Augen leuchtet das unzerstörbare Princip 
in ihm, der Archaeus. Was ist denn nun jene Jahr- 
tausende hindurch gestorben? — Nicht der Hund, er 
steht unversehrt vor uns; bloss sein Schatten, sein 
Abbild in unserer an die Zeit gebundenen Erkennt- 
nissweise. Wiekann man doch nur glauben,dass Das ver- 
gehe, was immer und immer da ist und alle Zeit aus- 
füllt? — Freilich wohl ist die Sache empirisch er- 
klärlich: nämlich in dem Maasse, wie der Tod die 
Individuen vernichtete, brachte die Zeugung neue 
hervor. Aber diese empirische Erklärung ist bloss 
scheinbar eine solche: sie setzt ein Räthsel an die Stel- 
le des andern. Der metaphysische Verstand der Sache 
ist, wenn auch nicht so wohlfeil zu haben, doch der 
allein wahre und genügende. 
Kant, in seinem subjektiven Verfahren, brachte die 
grosse, w iewohl negative Wahrheit zu Tage, dass dem 
Ding an sich die Zeit nicht zukommen könne; weil 
sie in unserer Auffassung präformirt liege. Nun ist 
der Tod das zeitliche Ende der zeitlichen Erschei- 
nung: aber sobald wir die Zeit wegnehmen, giebt es 
gar kein Ende mehr und hat dies Wort alle Bedeu- 
tung verloren. Ich aber, hier auf dem objektiven W^e- 
ge, bin jetzt bemüht, das Positive der Sache nachzu- 
weisen, dass nändich das Ding an sich von der Zeit 
620 
und Dem, was nur durch sie möjjlich ist, dem Ent- 
stehen und Vergehen, unherührt bleibt, und dass die 
Ers(;heinungen in der Zeit sogar jenes rastlos flüch- 
tige, dem Nichts zunächst stehende Daseyn nicht ha- 
ben könnten, wenn nicht in ihnen ein Kern aus der 
Ewigkeit wäre. Die Ewigkeit ist heilich ein Begriff, 
dem keine Anschauung zum Grunde liegt: er ist auch 
deshalb bloss negativen Inhalts, besagt nämlich ein 
zeitloses Daseyn. Die Zeit ist dennoch ein blosses Bild 
der Ewigkeit, 6 y^povoz eixcov xoo atcuvoc, wie es Ploti- 
nus hat: und ebenso ist unser zeitliches Daseyn das 
blosse Bild unsers Wesens an sich. Dieses muss in der 
Ewigkeit liegen, eben weil die Zeit nur die Form un- 
sers Erkennens ist; vermöge dieser allein aber erken- 
nen wir unser und aller Dinge Wesen als vergäng- 
lich, endlich und der Vernichtung anheimgefallen. 
Im zweiten Buche habe ich ausgeführt, dass die 
adäquate Objektität des Willens als Dinges an sich, 
auf jeder ihrer Stufen die (Platonische) Idee ist; des- 
.gleicben im dritten Buche, dass die Ideen der Wesen 
das reine Subjekt des Erkennens zum Korrelat haben, 
folglich die Erkenntniss derselben nur ausnahmsweise, 
luiter besondern Begünstigungen und vorübergehend 
eintritt. Für die individuelle Erkenntniss hingegen, 
also in der Zeit, stellt die Idee sich dar unter der 
Form der Species, welches die durch Eingehen in die 
Zeit auseinandergezogene Idee ist. Daher ist also die 
Species die unmittelbarste Objektivation des Dinges 
an sich, d. i. des Willens zum Leben. Das innerste 
Wesen jedes Thieres, und auch des Menschen, liegt 
demgemäss in der Species: in dieser also wurzelt der 
sich so mächtig regende Wille zum Leben, nicht 
eigentlich im Individuo. Hingegen liegt in diesem 
allein das unmittelbare Bewusstseyn: deshalb wähnt 
es sich von der Gattung verschieden, und darum fürch- 
tet es den Tod. Der Wille zum Leben manifestirt sich 
in Beziehung auf das Individuum als Hunger und 
Todesfurcht; in Beziehung auf die Species als Ge- 
schlechtstrieb und leidenschaftliche Sorge für die 
Brut. In Uebereinstimmung hiemit finden wir die 
Natur, als welche von jenem Wahn des Individuums 
62 1 
frei ist, so sorf^sain für die Erhalliinf} der Gattunfj, 
wie {;l(^iclijjülti{j {}<'{f<^" <'<-" Unterjjanj; der Indivi- 
duen: diese sind ihr stets nur Mittel, jene ist ihr Zweck, 
Daher tritt ein {jreMer Kontrast hervor zwischen ihrem 
Geiz hei Ausstattun{j der Individuen und ilirer Ver- 
schvvcndun{j, wo es die (Jattun{; {jilt. Hier niiinUch 
werden ol't von einem Individuo jahrlich hundert 
Tausend Ktrinie und <larüher {jewoniKMi, z. H. von 
Bäumen, l''ischen, Kiehs(!n, Termiten u. a. m. Dort 
hin{je{»en ist Jedem an Kräften und Oqjanen nur 
kna|)[) so viel {je{;ehen, dass es bei unaus{»esetzter An- 
stren{}un{j sein Lehen fristen kann; weshalh (iinTliier, 
wenn es verstünunclt oder {jeschwa<:ht wird, in derRc- 
5j(dverhun{jernnmss.Und vvoeineff(!le{jentlicheKrs|)ai- 
nissmöjflich war,dadiu"ch dass ein 'l'heil zur Noth ent- 
hehrt wiM'den konnte, ist er, sell)st ausser der Ord- 
nung,, zurückhehalien w(M"den; daher fehlen z. B. vie- 
len Raupen di<; Au(;('u: die armen 'J'iere ta[){)en im 
Finstern von Blatt zu Blatt, welclu^s heim Man{;el der 
Kiihlhörnei- dadurch j;cschieht, dass sie; sich mit drei 
Viertel ihres Leibes in der Luft hin und her bewe- 
{jen, bis sie einen Gegenstand treflen; wobei sie oft 
ihr dicht danel)en anzutreffendes Futter verfehlen. 
Allein dies geschieht in Folge der lex parsimoniae 
naturae, zu <ler(Mj Ausdruck natiua nihil f'acit super- 
vacaneum man noch fügen kann et nihil largitur. — 
Die selbe Richtung der Natur zei{;t sich auch darin, 
dass je tauglicher das Individuum, vermöge seines 
Alters, zui- l'\trlpflanzuii{; ist, desto kräftiger in ihm 
die vis naturae mcdicatrix sich äussert, seine Wun- 
den daher leicht heilen und es von Krankheiten leicht 
genest. Dieses nimmt ab mit der Zeugungsfahigkeit, 
und sinkt tief, nachdem sie erloschen ist: denn jetzt 
ist, in den Augen der Natur, das Individmun werth- 
los geworden. 
Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Stufen- 
leiter der Wesen, mit sammtder sie begleitenden Gra- 
dation des Bewusstseyns, vom Polypen bis zum Men- 
schen; so sehen wir diese wundervolle; l'yiamide zwar 
durch den steten 'J'od der Individuen in unaus(jesetzter 
Oscillation erhalten, jedoch, mittelst des Bandes der 
622 
Zeuf;iin{;, in den (Jattunffcn, die llnen<lli<.likeit der 
Zeit hindurch beharren. Wahrend nun also, wieohen 
ausjjeführt worden, das Objektive, die (Jattun{;, sich 
als unzerstörbar darstellt, scheint das Subjektive, als 
welches bloss im Selbstbewusstseyn dieser Wesen be- 
steht, von der kürz(!sten Dauer zu seyn und unabliis- 
si{j zerstört zu werden, um eben so oft, au('unbe{;reir- 
liclic Weise, wieder aus d(;m iNichts hcrvorzujjehen. 
Wahrlich aber muss man sehr kiu-zsichti{j seyn, inn 
sich durch diesen Schein tausch(!n zu lassen und nicht 
zu beifreilen, dass, wenn {gleich die T'orm der zeitli- 
chen Fortdauer nui* dem Objektiven zukommt, das 
8ubj(!ktive, d. i. d<!r IVille, welcher in i\v.\u Allen 
lebt und erscheint, und mit ihm das Subjekt 
des Erkennens, in welchem dasselbe sich darstellt, 
— nicht minder unzerstörbar seyn nuiss; indem di<^ 
F^ortdauer d<!s ()bjektiv(!n, odcü* Aeusseru, doch nur 
die Erscheinun{{ d(!r Unzerstörbarkeit desSubjektivtiu, 
oder Innern, seyn kann; da Jenes nichts besitzen kann, 
was es nicht von Diesem zu Lehn empCanjjen hatte; 
nicht aber wesentlich und ursprünjflicb ein ()l)j(^kti- 
ves, eine h^rscheinunj}, und sodatui s(;kun(liu' und acci- 
dentell (mu Subjj^ktives, cÄu Dinjf an sich, (un Si^lbst- 
bewusstes seyn kann. Denn oflenbar setzt .Ien(!s als 
Erscheinim(j ein Erscheinendes, als Seyn für Anderes 
ein Seyn iiir sich, luid als ()bj<;kt ein Subjekt voraus; 
nicht aber umjjekebrt: weil id)erall die Wurzel der 
Din{je in dem, was sie Iiir sich selbst sind, also im 
Subjektiven lie{jen nuiss, nicht im Objcsktiven, d. b. 
in Dem, was sie erst Iiir Andere, in einem fremden 
ßewusstseyn sind. Demgcmäss landen wir, im (jrsten 
Buch, dass der ricbtijje Aus{jan{;sj)unkt für die l'hilo- 
sophie wesentlich und nothwendifj der sid)jektive, 
d. i. der idealistis(;b(! ist; wie auch, dass der ent{je- 
{{en{jesetzte, v()m()bjektivcnausj;elu!r4de,zumIVIal(!ria- 
iismus führt. — im (^nuuJeaber sind wir mit derWelt 
viel mehr Eins, als wir {jewöhnlich dcnk(;n: ihr inn(!- 
res Wesen ist unser Wille; ihr iMscbeinun/j ist unseie 
Vorstellun{j. Wer dieses Einsseyn sich zum deutlichen 
Bewusstseyn brin{;cn hönnt(!, (U'.in würde der Unter- 
schied zwischen der Fortdauer der Aussenwelt, nacb- 
623 
dem er gestorben, und seiner eigenen Fortdauer nach 
dem Tode verschwinden: Beides würde si(;h ihm als 
Eines und Dasselbe darstellen, ja, er würde über den 
Wahn lachen, der sie trennen konnte. Denn das Ver- 
ständniss der ünzerstörbarkeit unsers Wesens fällt 
mit dem der Identität des Makrokosmos und Mikro- 
kosmos zusammen. Einstweilen kann man das hier 
Gesagte sich durch ein eigenthümliches, mittelst der 
Phantasie vorzunehmendes Experiment, welches ein 
metaphysisches genannt werden könnte, erläutern. 
Man versuche nämlich, sich die keinen Falls gar ferne 
Zeit, da man gestorben seyn wird, lebhaft zu verge- 
genwärtigen. Da denkt man sich weg und lässt die 
Welt fortbestehen; aber bald wird man, zu eigener 
Verwunderung, entdecken, dass man dabei doch noch 
dawar. Denn man hat vermeint, die Welt ohne sich 
vorzustellen: allein im Bewusstseyn ist das Ich das 
Unmittelbare, durch welches die Welt erst vermit- 
telt, für welches allein sie vorhanden ist. Dieses Cen- 
trum alles Daseyns, diesen Kern aller Realität soll man 
aufheben und dabei dennoch die Welt fortl)estehen 
lassen : es ist ein Gedanke, der sich wohl in abstracto 
denken, aber nicht realisiren lässt. Das Bemühen, die- 
ses zu leisten, der Versuch, das Sekundäre ohne das 
Primäre, das Bedingte ohne die Bedingung, das Ge- 
tragene ohne den Träger zu denken, misslingt jedes 
Mal, ungefähr so, wie der, sich einen gleichseitigen 
rechtwinklichten Triangel, oder ein Vergehen oder 
Entstehen von Materie und ähnliche Unmöglichkei- 
ten mehr zu denken. Statt des Beabsichtigten dringt 
sich uns dabei das Gefühl auf, dass die Welt nicht 
weniger in uns ist, als wir in ihr, und dass die Quelle 
aller Realität in unserm Innern liegt. Das Resultat ist 
eigentlich dieses: die Zeit, da ich nicht seyn werde, 
wird objektiv konunen: aber subjektiv kann sie nie 
kommen. — Es liesse daher sich sogar fragen, wie 
weit denn Jeder, in seinem Herzen, wirklich an eine 
Sache glaube, die er sich eigentlich gar nicht denken 
kann; oder ob nicht vielleicht gar, da sich zu jenem 
bloss intellektuellen, aber mehr oder jninder deutlich 
von Jedem schon gemachten Experiment, noch das 
624 
tiefinnere Bewusstseyn der Unzerstörbarkeit unsers 
Wesens an sich gesellt, der ei}>ene Tod uns im Grun- 
de die fabelhafteste Sache von der Welt sei. 
Die tiefe Ueberzeugunfj von unserer Unvertilgbar- 
keit durch den Tod, welche, wie auch die unausbleib- 
lichen Gewissenssorgen bei Annäherung desselben be- 
zeugen, Jeder im Grunde seines Herzens trägt, hängt 
durchaus an dem Bewusstseyn unserer Ursprünglich- 
keit und Ewigkeit; daher Spinoza sie so ausdrückt: 
sentimus, experimurque, nos aeternos esse. Denn als 
unvergänglich kann ein vernünftiger Mensch sich nur 
denken, sofern er sich als anfangslos, als ewig, eigent- 
lich als zeitlos denkt. Wer hingegen sich für aus 
Nichts geworden hält, muss auch denken, dass er wie- 
der zu Nichts wird: denn dass eine Unendlichkeit ver- 
strichen wäre, ehe er war, dann aber eine zweite an- 
gefangen habe, welche hindurch er nie aufhören wird 
zu seyn, ist ein monströser Gedanke. Wirklich ist der 
sohdeste Grund für unsere Unvergänglichkeit der 
alte Satz: Ex nihilo nihil fit, et in nihilum nihil po- 
test reverti. Ganz treffend sagt daher Theophrastus Pa- 
?^acelsns (Werke, Strasburg i6o3, Bd. 2, S. 6): „Die 
Seel in mir ist aus Etwas geworden ; darum sie nicht 
zu Nichts kommt: denn aus Etwas kommt sie." Er 
giebt den wahren Grund an. Wer aber die Geburt 
des Menschen für dessen absoluten Anfang hält, dem 
muss der Tod das absolute Ende desselben seyn. Denn 
beide sind was sie sind in gleichem Sinne: folglich 
kann Jeder sich nur ivi sofern als unsterblich denken, 
als er sich auch als iingehoren denkt, und in gleichem 
Sinn. Was die Gebuit ist, das ist, dem Wesen und 
der Bedeutung nach, auch der Tod; es ist die selbe 
Linie in zwei Richtungen beschrieben. Ist jene eine 
wirkliche Entstehung aus Nichts; so ist auch dieser 
eine wirkliche Vernichtung. In Wahrheit aber lässt 
sich nur mittelst der Ewigkeil unsers eigentlichen 
Wesens eine Unvergänglichkeit desselben denken, 
welche mithin keine zeitliche ist. Die Annahme, dass 
der Mensch aus Nichts geschaffen sei, führt nothwen- 
dig zu der, dass der Tod sein absolutes Ende sei. Hier- 
in ist also das A. T. völlig konsequent: denn zu einer 
40 Schopenhauer II 02 D 
Schöpfung ausNichts passt keineUnsterblichkeitslehre. 
Das neutestamentliche Christenthum hat eine solche, 
weil es Indischen Geistes und daher, mehr als wahr- 
scheinlich, auch Indischer Herkunft ist, wenn gleich 
nur unter Aegyptischer Vermittelung. Allein zu dem 
Jüdischen Stamm, auf welchen jene Indische Weis- 
heit im gelobten Land gepfropft werden musste, passt 
solche wie die Freiheit des Willens zum Geschafi^'en- 
seyn desselben, oder wie 
Ilumano capiti cerviccm pictor equinam 
Jüngere si velit. 
Es ist immer schlimm, wenn man nicht von Grund 
aus originell seyn und aus ganzem Holze schneiden 
darf. — Hingegen haben Brahmanismus und Bud- 
dhaismus ganz konsequent zur Fortdauer nach dem 
Tode ein Daseyn vor der Geburt, dessen Verschuldung 
abzubüssen dieses Leben da ist. Wie deutlich sie auch 
der nothwendigen Konsequenz hierin sich bewusst 
sind, zeigt folgende Stelle aus Coleb7'ookes Geschichte 
der Indischen Philosophie in den Transact. of the 
Asiatic London Society, Vol. i, p, 677: Against the 
System of the Bhagavatas, which is but partially here- 
tical, the objection upon which the chief stress is laid 
by Vyasa is, that the soul would not be eternal, if it 
were a production, and consequently had a beginning*). 
Ferner in Upham's Doctrine of Buddhism, S. 1 10, 
heisst es: The lot in hell of impious persons call'd 
Deitty is the most severe : these are they, who discre- 
diting the evidence of Buddha, adhere to tbeheretical 
doctrine, that all living belngs had their beginning in 
the mother's womb, and will have their end in death**). 
') „Gegen das System der Bhagavatas, welches nur zumTheil 
ketzerisch ist, ist dieEinwendung, auf welche Vyasa das grösste 
Gewicht legt, diese, dass die Seele nicht ewig seyn würde, 
wenn sie hervorgchraclit wäre und folglich einen Anfang hätte." 
**) „In der Hölle ist das härteste Loos das jener Irreligiösen, 
dieDeittv genannt werden: dies sind solche, welche, dasZeug- 
niss Buddhas verwerfend, der ketzerischen Lehre anhängen, 
dass alle lehenden Wesen ihren Anfang im Mutterleibe nehmen 
und ihr Ende im Tode erreichen." 
626 
Wer sein Daseyn bloss als ein zufälliges auffasst, 
muss allerdings fürchten, es durch den Tod zu ver- 
lieren. Hingegen wer auch nur im Allgemeinen ein- 
sieht, dass dasselbe auf irgend einer ursprünglichen 
Nothwendigkeit beruhe, wird nichtglauben, dassdiese, 
die etwas so wundervolles herbeigefiUirt hat, auf eine 
solche Spanne Zeit beschränkt sei, sondern dass sie in 
jeder wirke. Als ein noth wendiges aber wird sein Daseyn 
erkennen, wer erwägt, dass bis jetzt, da er existirt, be- 
reits eine unendliche Zeit, also auch eine Unendlichkeit 
von Veränderungen abgelaufen ist, er aber dieser un- 
geachtet doch da ist: die ganze Möglichkeit aller Zu- 
stände hat sich also bereits erschöpft, ohne sein Da- 
seyn aufheben zu können. Könnte er jemals nicht seyn ; 
so wäre er schon jetzt nicht. Denn die Unendlichkeit 
der bereits abgelaufenen Zeit, mit der darin erschöpften 
Möglichkeit ihrer Vorgänge, verbürgt, dass was exi- 
stirt nothwendig existirt. Mithin hat Jeder sich als ein 
nothwendiges Wesen zu begreifen, d. h. als ein solches, 
aus dessen wahrer und erschöpfender Definition, wenn 
man sie nur hätte, das Daseyn desselben folgen würde. 
In diesem Gedankengange liegt wirklich der allein 
immanente, d. h. sich im Bereich erfahrungsmässiger 
Data haltende Beweis der Unvergänglichkeit unsers 
eigentlichen Wesens. Diesem nämlich muss die Exi- 
stenz inhäriren, weil sie sich als von allen durch die 
Kausalkette möglicherweise herbeiführbaren Zustän- 
den unabhängig erweist: denn diese haben bereits das 
Ihrige gethan, und dennoch ist unser Daseyn davon 
so unerschüttert geblieben, wie der Lichtstrahl vom 
Sturmwind, den er durchschneidet. Könnte die Zeit, 
aus eigenen Kräften, uns einem glücksäligen Zustande 
entgegenführen; so wären wir schon lange da: denn 
eine unendliche Zeit liegt hinter uns. Aber ebenfalls: 
könnte sie uns dem Untergange entgegenführen; so 
wären wir schon längst nicht mehr. Daraus, dass wir 
jetzt da sind, folgt, wohlerwogen, dass wir jederzeit 
daseyn müssen. Denn wir sind selbst das Wesen, wel- 
ches die Zeit, um ihre Leere auszufüllen, in sich auf- 
genommen hat: deshalb füllt es eben die ganze Zeit, 
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf gleiche 
4o* 627 
Weise, und es ist uns so unmöglich, aus dem Daseyn, 
wie aus dem Raum hinauszufallen. — Genau hetrachtet 
ist es undenkbar, dass Das, was ein Mal in aller Kraft 
der Wirklichkeit da ist, jemals zu nichts werden und 
dann eine unendliche Zeit hindurch nicht seyn sollte. 
Hieraus ist die Lehre der Christen von der Wieder- 
bringimg aller Dinge, die der Hindu von der sich stets 
erneuernden Schöpfung der Welt durch Brahma, nebst 
ähnlichen Dogmen Griechischer Philosophen hervor- 
gegangen. — Das grosse Geheimniss unsers Seyns und 
Nichtseyns, welches aufzuklären diese und alle damit 
verwandten Dogmen erdacht wurden, beruht zuletzt 
darauf, dass das Selbe, was objektiv eine unendliche 
Zeitreihe ausmacht, subjektiv ein Punkt, eine untheil- 
bare, allezeit gegenwärtige Gegenwart ist: aber wer 
fasst es? Am deutlichsten hat es Kant dargelegt, in 
seiner unsterblichen Lehre von der Idealität der Zeit 
und der alleinigen Realität des Dinges an sich. Denn 
aus dieser ergiebt sich, dass das eigentlich Wesentliche 
der Dinge, des Menschen, der Welt, bleibend und be- 
harrend im Nunc sians liegt, fest und unbeweglich; 
und dass der Wechsel der Erscheinungen und Begeben- 
heiten eine blosse Folge unserer Auffassung desselben 
mittelst unserer Anschauungsform der Zeit ist. Dem- 
nach, statt zu den Menschen zu sagen : „ihr seid durch 
die Geburt entstanden, aber unsterblich"; sollte man 
ihnen sagen: ,,ihr seid nicht Nichts", und sie dieses 
verstehen lehren, im Sinne des dem Hermes Trisme- 
gistos beigelegten Ausspruchs: To Yap 6v dsi datat. 
(Ouod enini est, erit semper. Stob. Ecl., I, 43, 6.) Wenn 
es jedoch hiemit nicht gelingt, sondern das beängstigte 
Herz sein altes Klagelied anstimmt: „Ich sehe alle 
Wesen durch die (jeburt aus dem Nichts entstehen 
und diesem nach kurzer Frist wieder anheimfallen; 
auch mein Dasevn, jetzt in der Gegenwart, wird bald 
in ferner Vergangenheit liegen, und ich werde Nichts 
seyn!" — so ist die richtige Antwort: „Bist du nicht 
da? Hast du sie nicht inne, die kostbare Gegenwart, 
nach der ihr Kinder der Zeit alle so gierig trachtet, 
jetzt inne, wirklich inne? Und verstehst du, wie du 
zu ihr gelangt bist? Kennst du die Wege, die dich zu 
628 
ihr {geführt haben, dass du einsehen könntest, sie 
würden dir durch den Tod versperrt? Ein Daseyn 
deines Selbst, nach der Zerstörung deines Leibes, ist 
dir seiner Möyhchk ei t nach unbegreiflich: aber kann 
es dii- unbegreifHcher seyn, als dir dein jetziges Da- 
seyn ist, und wie du dazu gelangtest? Warum solltest 
du zweifeln, dass die geheimen Wege, die dir zu dieser 
Gegenwart offen standen, dir nicht auch zu jeder künf- 
tigen offen stehen werden?" 
Wenn also Betrachtungen dieser Art allei'dings ge- 
eignet sind, die Ueberzeugung zu erwecken, dass in 
uns etwas ist, das der Tod nicht zerstören kann; so 
geschieht es doch nur mittelst Erhebung auf einen 
Standpunkt, von welchem aus die Geburt nicht der 
Anfang unsers Daseyns ist. Hieraus aber folgt, dass 
was als durch den Tod unzerstörbar dargethan wird, 
nicht eigentlich das Individuum ist, welches überdies 
durch die Zeugung entstanden und die Eigenschaften 
des Vaters und der Mutter an sich tragend, als eine 
blosse Differenz der Species sich darstellt, als solche aber 
nur endlich seyn kann. Wie, Dem entsprechend, das 
Individuum keine Erinnerung seines Daseyns vor seiner 
Geburt hat, so kann es von seinem jetzigen keine nach 
dem Tode haben. In das Beumsstseyn aber setzt Jeder 
sein Ich: dieses erscheint ihm daher als an die Indi- 
vidualitat gebunden, mit welcher ohnehin alles Das 
untergeht, was ihm, als Diesem, eigenthümlich ist 
und ihn von den Andern unterscheidet. Seine Fort- 
dauer ohne die Individualität wird ihm daher vom 
Fortbestehen der übrigen Wesen ununterscheidbar, 
und er sieht sein Ich versinken. Wer nun aber so sein 
Daseyn an die Identität des Bexvusstseyns knüpft und 
daher für dieses eine endlose Fortdauer nach dem Tode 
verlangt, sollte bedenken, dass er eine solche jedenfalls 
nur um den Preis einer eben so endlosen Vergangen- 
heit vor der Geburt erlangen kann. Denn da er von 
einem Daseyn vor der Geburt keine Erinnerung hat, 
sein Bewusstseyn also mit der Geburt anfängt, miiss 
ihm diese für ein Hervorgehen seines Daseyns aus dem 
Nichts gelten. Dann aber erkauft er die unendliche 
Zeit seines Daseyns nach dem Tode für eine eben so 
629 
lange vor der Geburt: wobei die Rechnung, ohne 
Profit für ihn, aufgeht. Ist hingegen das Daseyn, wel- 
ches der Tod unberührt lässt, ein anderes, als das des 
individuellen Bewusstseyns; so muss es, eben so wie 
vom Tode, auch von der Geburt unabhängig seyn, 
und demnach in Beziehung auf dasselbe es gleich wahr 
seyn zu sagen: „ich werde stets seyn" und „ich bin 
stets gewesen"; welches dann doch zwei Unendlich- 
keiten für eine giebt. — Eigentlich aber liegt im Worte 
Ich das grösste Aequivokum, wie ohne Weiteres Der 
einsehen wird, dem der Inhalt unsers zweiten Buches 
und die dort durchgeführte Sonderung des wollenden 
vom erkennenden Theil unsers Wesens gegenwärtig 
ist. Je nachdem ich dieses Wort verstehe, kann ich 
sagen : ,,Der Tod ist mein gänzliches Ende"; oder aber 
auch: ,,Ein so unendlich kleiner Theil der Welt ich 
bin; ein eben so kleiner Theil meines wahren Wesens 
ist diese meine persönliche Erscheinung." Aber das 
Ich ist der finstere Punkt im Bewusstseyn, wie auf der 
Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehenerven 
blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, 
der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, 
nur sich selbst nicht. Unser Erkenntnissvermögen ist 
ganz nach Aussen gerichtet. Dem entsprechend, dass 
es das Produkt einer zum Zwecke der blossen Selbst- 
erhaltung, also des Nahrungsuchens und Beutefangens 
entstandenen Gehirnfunktion ist. Daher weiss Jeder von 
sich nur als von diesem Individuo, wie es in der äus- 
seren Anschauung sich darstellt. Könnte er hingegen 
zum Bewusstseyn bringen was er noch überdies und 
ausserdem ist; so würde er seine Individualität willig 
fahren lassen, die Tenacität seiner Anhänglichkeit an 
dieselbe belächeln und sagen: „Was kümmert der Ver- 
lust dieser Individualität mich, der ich die Möglich- 
keit zahlloser Individualitäten in mir trage?" Er würde 
einsehen, dass, wenn ihm gleich eine Fortdauer seiner 
Individualität nicht bevorsteht, es doch ganz so gut 
ist, als hätte er eine solche; weil er einen vollkomme- 
nen Ersatz für sie in sich trägt. — Ueberdies liesse 
sich nun aber noch in Erwägimg bringen, dass die 
Individualität der meisten Menschen eine so elende 
63o 
und nichtswürdige ist, dass sie wahrlieh nichts daran 
verheren, und dass was an ihnen noch einigen Werth 
haben mag, das allgemein Menschliche ist: diesem 
aber kann man die Un Vergänglichkeit versprechen. Ja, 
schon die starre ünveränderlichkeit und wesentliche 
Beschränkung jeder Individualität, als solcher, müsste, 
bei einer endlosen Fortdauer derselben, endlich, durch 
ihre Monotonie, einen so grossen Ueberdruss erzeugen, 
dass man, um ihrer nur entledigt zu seyn, lieber zu 
Nichts würde. Unsterblichkeit der Individualität ver- 
langen, heisst eigentlich einen Irrthum ins Unendliche 
perpetuiren wollen. Denn im Grunde ist doch jede 
Individualität nur ein specieller Irrthum, Fehltritt, 
etwas das besser nicht wäre, ja, wovon uns zurück- 
zubringen der eigentliche Zweck des Lebens ist. Dies 
findet seine Bestätigung auch darin, dass die aller- 
meisten, ja, eigentlich alle Menschen so beschaffen 
sind, dass sie nicht glücklich seyn könnten, in welche 
Welt auch immer sie versetzt werden möchten. In 
dem Maasse nämlich, als eine solche Noth und Be- 
schwerde ausschlösse, würden sie der Langenweile 
anheimfallen, und in dem Maasse, als dieser vorgebeugt 
wäre, würden sie in Noth, Plage und Leiden gerathen. 
Zu einem glücksäligen Zustande des Menschen wäre 
also keineswegs hinreichend, dass man ihn in eine 
„bessere Welt" versetzte, sondern auch noch erfordert, 
dass mit ibm selbst eine Grundveränderung vorgienge, 
also dass er nicht mehr wäre was er ist, und dagegen 
würde was er nicht ist. Dazu aber muss er zuvörderst 
aufhören zu seyn was er ist : dieses Erforderniss erfüllt 
vorläufig der Tod, dessen moralische Noth wendigkeit 
sich von diesem Gesichtspunkt aus schon absehen lässt. 
In eine andere Welt versetzt werden, und sein ganzes 
Wesen verändern, — ist im Grunde Eins und dasselbe. 
Hierauf beruht auch zuletzt jene Abhängigkeit des 
Objektiven vom Subjektiven, welche der Idealismus 
unsers ersten Buches darlegt : demnach liegt hier der 
Anknüpfungspunkt der Transscendentalphilosophie 
an die Ethik. Wenn man dies berücksichtigt, wird 
man das Erwachen aus dem Traume des Lebens nur 
dadurch möglich finden, dass mit demselben auch sein 
63l 
ganzes Grundgewebe zerrinnt; dies aber ist sein Organ 
selbst, der Intellekt, sanimt seinen Formen, als mit 
welchem der Traum sich ins Unendliche fortspinnen 
würde; so fest ist er mit jenem verwachsen. Das, was 
ihn eigentlich träutntc, ist doch noch davon verschieden 
und bleibt allein übrig. Hingegen ist die Besorgniss, 
es möchte mit dem Tode Alles aus seyn. Dem zu ver- 
gleichen, dass Einer im Traume dächte, es gäbe bloss 
Träume, ohne einen Träumenden. — Nachdem nun 
aber durch den Tod ein individuelles Bewusstseyn ein 
Mal geendigt hat; wäre es da auch nur wünschens- 
werth, dass es wieder angefacht würde, um ins End- 
lose fortzubestehen? Sein Inhalt ist, dem grössten 
Theile nach, ja meistens durchweg, nichts als ein Strom 
kleinlicher, irdischer, armsäliger Gedanken und end- 
loser Sorgen ; lasst diese doch endlich beruhigt wer- 
den! — Mit richtigem Sinne setzten daher die Alten 
auf ihre Grabsteine: securitati perpetuae; — oderbonae 
quieti. Wollte man aber gar hier, w ie so oft geschehen, 
Fortdauer des individuellen Bewusstseyns verlangen, 
um eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung daran 
zu knüpfen; so würde es hiemit im Grunde nur auf 
die Vereinbarkeit der Tugend mit dem Egoismus ab- 
gesehen seyn. Diese Beiden aber werden sich nie um- 
armen: sie sind von Grund aus Entgegengesetzte. 
Wohlbegründet hingegen ist die unmittelbare Ueber- 
zeugung, welche der Anblick edler Handlungen her- 
vorruft, dass der Geist der Liebe, der Diesen seiner 
Feinde schonen, Jenen des zuvor nie Gesehenen sicli 
mit Lebensgefahr annehmen heisst, nimmermehr ver- 
fliegen und zu Nichts werden kann. — 
Die gründlichste Antwort auf die Frage nach der 
Fortdauer des Individuums nach dem Tode liegt in 
Kants grosser Lehre von der Idealität der Zeit, als welche 
gerade hier sich besonders folgenreich imd fruchtbar 
erweist, indem sie, durch eine völlig theoretische 
aber wohlerwiesene Einsicht, Dogmen, die auf dem 
einen wie auf dem andern Wege zum Absurden führen, 
ersetzt und so die excitirendeste aller metaphysischen 
Fragen mit einem Male beseitigt. Anfangen, Enden 
und F'ortdauern sind Begriffe, welche ihre Bedeutung 
632 
einzig und allein von der Zeit entlehnen und folglich 
nur unter Voraussetzung dieser gelten. Allein die Zeit 
hat kein absolutes Daseyn, ist nicht die Art und Weise 
des Seyns an sich der Dinge, sondern bloss die Form 
unserer Erkenntniss von unserni und aller Dinge Da- 
seyn und Wesen, welche eben dadurch sehr unvoll- 
kommen und auf blosse Erscheinungen beschränkt 
ist. In Hinsicht aul diese allein also finden die Begrifl^ 
von Aulhören und Fortdauern Anwendimg, nicht in 
Hinsicht auf das in ihnen sich Darstellende, das Wesen 
an sich der Dinge, auf welches angewandt jene Be- 
griffe daher keinen Sinn mehr haben. Dies zeigt sich 
denn auch daran, dass eine Beantwortung der von 
jenen Zeit-Begriflen ausgehenden Frage unmöglich 
wird und jede Behauptung einer solchen, sei sie auf 
der einen oder der andern Seite, schlagenden Einwür- 
fen unterliegt. Man könnte zwar behaupten, dass unser 
Wesen an sich nach dem Tode fortdauere, weil es 
falsch sei, dass es untergienge; aber eben so gut, dass 
es untergienge, weil es falsch sei, dass es fortdauere: 
im Grunde ist das Eine so wahr wie das Andere. Hier 
liesse sich demnach allerdings so etwas, wie eine An- 
tinomie aufstellen. Allein sie würde auf lauter Nega- 
tionen beruhen. Man spräche darin dem Subjekt des 
Unheils zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Prä- 
dikate ab; aber nur weil die ganze Kategorie derselben 
auf jenes nicht anwendbar wäre. Wenn man nun aber 
jene beiden Prädikate nicht zusammen, sondern ein- 
zeln ihm abspricht, gewinnt es den Schein, als wäre 
das kontradiktorische Gegentheil des jedesmal abge- 
sprochenen Prädikats dadurch von ihm bewiesen. 
Dies beruht aber darauf, dass hier inkommensurable 
Grössen verglichen werden, insofern das Problem uns 
auf einen Schauplatz versetzt, welcher die Zeit auf- 
hebt, dennoch aber nach Zeitbestimmvmgen fragt, 
welche folglich dem Subjekt beizulegen und ihm ab- 
zusprechen gleich falsch ist: dies eben heisst: das Prob- 
lem ist transscendent. In diesem Sinne bleibt der Tod 
ein Mysterium. 
Hingegen kann man, eben jenen Unterschied zwi- 
schen Erscheinung und Ding an sich festhaltend, die 
Behauptung aufstellen, dass der Mensch zwar als 
Erscheinunjj vergänglich sei, das Wesen an sich des- 
selben jedoch hievon nicht niitgetroffen werde, das- 
selbe also, obwohl man, wegen der diesem anhängen- 
den Elimination der Zeit-Begriffe, ihm keine Fort- 
dauer beilegen könne, doch unzerstörbar sei. Demnach 
würden wir hier auf den Begriff einer ünzerstörbar- 
keit, die jedoch keine Fortdauer wäre, geleitet. Dieser 
Begriff nun ist ein solcher, der, auf dem Wege der 
Abstraktion gewonnen, sich auch allenfalls in ab- 
stracto denken lässt, jedoch durch keine Anschauung 
belegt, mithin nicht eigentlich deutlich werden kann. 
Andererseits jedoch ist hier festzuhalten, dass wir 
nicht, mit Kant, die Erkennbarkeit des Dinges an sich 
schlechthin aufgegeben haben, sondern wissen, dass 
dasselbe im Willen zu suchen sei. Zwar haben wir 
eine absolute und erschöpfende Erkenntniss des Dinges 
an sich nie behauptet, vielmehr sehr wohl eingesehen, 
dass, Etwas nach dem, was es schlechthin an und für 
sich sei, zu erkennen, unmöglich ist. Denn sobald ich 
erkenne, habe ich eine Vorstellung; diese aber kann, 
eben weil sie meine Vorstellung ist, nicht mit dem 
Erkannten identisch seyn, sondern glebt es, indem sie 
es aus einem Seyn für sich zu einem Seyn für Andere 
macht, in einer ganz andern Form wieder, ist also 
stets noch als Erscheinung desselben zu betrachten. 
Für ein ej-kennendes Bewusstseyn, wie immer solches 
auch beschaffen seyn möge, kann es daher stets nur 
Erscheinungen geben Dies wird selbst dadurch nicht 
ganz beseitigt, dass mein eigenes Wesen das Erkannte 
ist: denn sofern es in mein erkennendes Bewusstseyn 
fallt, ist es schon ein Beflex meines Wesens, ein von 
diesem selbst Verschiedenes, also schon in gewissem 
Grad Erscheinung. Sofern ich also ein Erkennendes 
bin, habe ich selbst an meinem eigenen Wesen eigent- 
lich nur eine Erscheinung: sofern ich hingegen dieses 
Wesen selbst unmittelbar bin, bin ich nicht erken- 
nend. Denn dass die Erkenntniss nur eine sekundäre 
Eigenschaft unsers Wesens und dur( h die animalische 
Natur desselben herbeigeführt sei, ist im zweiten 
Buch genugsam bewiesen. Streng genommen erken- 
634 
nen Avir also auch unsern Willen immer nur noch 
als Erscheinung und nicht nach Dem, was er schlecht- 
hin an und für sich seyn mag. Allein eben in jenem 
zweiten Buch, wie auch in der Schrift vom Willen 
in der Natur, ist ausführlich dargethan und nach- 
gewiesen, dass, wenn wir, um in das Innere der Dinge 
zu dringen, das nur mittelbar und von Aussen Gege- 
bene verlassend, die einzige Erscheinung, in deren 
Wesen uns eine unmittelbare Einsicht von Innen zu- 
gänglich ist, festhalten, wir in dieser als das Letzte 
und den Kern der Realität ganz entschieden den Wil- 
len finden, in welchem wir daher das Ding an sich 
insofern erkennen, als es hier nicht mehr den Raum, 
aber doch noch die Zeit zur Form hat, mithin eigent- 
lich nur in seiner unmittelbarsten Manifestation und 
daher mit dem Vorbehalt, dass diese Erkenntniss des- 
selben noch keine erschöpfende und ganz adäquate 
sei. In diesem Sinne also halten wir auch hier den 
Begriff des Willens als des Dinges an sich fest. 
Auf den Menschen, als Erscheinung in der Zeit, ist 
der Begriff des Aufhörens allerdings anwendbar und 
die empirische Erkenntniss legt unvei'hohlen den 
Tod als das Ende dieses zeitlichen Daseyns dar. Das 
Ende der Person ist eben so real, wie es ihr Anfang 
war, und in eben dem Sinne, wie wir vor der Geburt 
nicht waren, werden wir nach dem Tode nicht mehr 
seyn. Jedoch kann durch den Tod nicht mehr auf- 
gehoben werden, als durch die Geburt gesetzt war; 
also nicht Das, wodurch die Geburt allererst möglich 
geworden. In diesem Sinne ist natus et denatus ein 
schöner Ausdruck. Nun aber liefert die gesammte 
empirische Erkenntniss blosse Erscheinungen; nur 
diese daher werden von den zeitlichen Hergängen des 
Entstehens und Vergehens getroffen, nicht aber das 
Erscheinende, das Wesen an sich. Für dieses existiert 
der durch das Gehirn bedingte Gegensatz von Ent- 
stehen und Vergehen gar nicht, sondern hat hier 
Sinn und Bedeutung verloren. Dasselbe bleibt also 
unangefochten vom zeitlichen Ende einer zeitlichen 
Erscheinung und behält stets dasjenige Daseyn, auf 
welches die Begriffe von Anfang, Ende und Fortdauer 
635 
nicht anwendbar sind. Dasselbe aber ist, so weit wir 
es verfol{jen können, in jedem erscheinenden Wesen 
der Wille desselben: so auch im Menschen. Das Be- 
wusstsein hinge{jen besteht im Erkennen: dieses aber 
gehört, wie {;enugsam nachgewiesen, als Thätigkeit 
des Gehirns, mithin als Funktion des Organismus, 
der blossen Erscheinung an, endigt daher mit dieser: 
der Wille allein, dessen Werk oder vielmehr Abbild 
der Leib war, ist das Unzerstörbare. Die strenge Un- 
terscheidung des Willens von der Erkenntniss, nebst 
dem Primat des erstem, welche den Grundcharakter 
meiner Philosophie ausmacht, ist daher der alleinige 
Schlüssel zu dem sich auf mannigfaltige Weise kund 
gebenden und in jedem, sogar dem ganz rohen Be- 
wusstseyn stets von Neuem aufsteigenden Wider- 
spruch, dass der Tod unser Ende ist, und wir den- 
noch ewig und unzerstörbar sein müssen, also dem 
sentimus, experimurque nos aeternos esse des Spinoza. 
Alle Philosophen haben darin geirrt, dass sie das 
Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im 
Menschen in den Intelleht setzten : es liegt ausschliess- 
lich im fVillen, der von jenem gänzlich verschieden 
und allein ursprünglich ist. Der Intellekt ist, wie im 
zweiten Buche auf das Gründlichste dargeihan wor- 
den, ein sekundäres Phänomen und durch das Gehirn 
bedingt, daher mit diesen) anfangend und endend. 
Der Wille allein ist das Bedingende, der Kern der 
ganzen Erschein unjj, von den F'ormen dieser, zu wel- 
chen die Zeit gehört, somit frei, also auch unzerstör- 
bar. Mit dem Tode geht demnach zwar das Bewusstseyn 
verloren, nicht aber Das, was das Bewusstsevn hervor- 
brachte und erhielt: das Leben erlischt, nicht aber 
mit ihm das Princip des Lebens, welches in ihm sich 
manifestirte. Daher also sagt Jedem ein sicheres 
Gefühl, dass in ihm etwas schlechthin Unvergäng- 
liches und Unzerstörbares sei. Sogar das Frische und 
Lebhafte der Erinnerungen aus der fernsten Zeit, aus 
der ersten Kindheit, zeugt davon, dass irgend etwas 
in uns nicht mit der Zeit sich fortbewegt, nicht altert, 
sondern unverändert beharrt. Aber was dieses Unver- 
gängliche sei, konnte man sich nicht deutlich machen. 
636 
Es ist nicht das Bewusstseyn, so wenig wie der Leib, 
auf welchem offenbar das ßewusstseyn beruht. Es ist 
viehiiehr Das, worauf der Leib, mit sammt dem ße- 
wusstseyn beruht. Dieses aber ist eben Das, was, in- 
dem es ins Bewusstseyn fällt, sich als JVille darstellt. 
Ueber diese unmittelbarste Erscheinung desselben 
hinaus können wir freilich nicht, weil wir nicht über 
das Bewusstseyn hinaus können: daher bleibt die 
Frage, was denn Jenes seyn möge, sofern es nicht ins 
Bewusstseyn fällt, d. h. was es schlechthin an sich 
selbst sei, unbeantwortbar. 
In der Erscheinung und mittelst deren Formen, 
Zeit und Raum, als principium individuationis, stellt 
es sich so dar, dass das menschliche Individuum 
untergeht, hingegen das Menschengeschlecht immer- 
fort bleibt und lebt. Allein im Wesen an sich der 
Dinge, als welches von diesen Formen frei ist, fällt 
auch der ganze Unterschied zwischen dem Individuo 
und dem Geschlechte weg, und sind Beide unmittel- 
bar Eins. Der ganze Wille zum Leben ist im Indi- 
viduo, wie er im Geschlechte ist, und daher ist die 
Fortdauer der Gattung bloss das Bild dej" Unzerstör- 
barkeit des Individui. 
Da nun also das so unendlich wichtige Verständ- 
niss der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch 
den Tod gänzlich auf dem Unterschiede zwischen 
Erscheinung und Ding an sich beruht, will ich eben 
diesen jetzt dadurch in das hellste Licht stellen, dass 
ich ihn am Gegentheil des Todes, also an der Ent- 
stehung der animalischen Wesen, d. i. der Zeugung, 
erläutere. Denn dieser mit dem Tode gleich geheim- 
nissvolle Vorgang stellt uns den fundamentalen Gegen- 
satz zwischen Erscheinung und Wesen an sich der 
Dinge, d. i. zwischen der Welt als Vorstellung und 
der Welt als Wille, wie auch die gänzliche Hetero- 
geneität der Gesetze Beider, am unmittelbarsten vor 
Augen. Der Zeugungsakt nämlich stellt sich uns auf 
zweifache Weise dar: erstlich für das Selbstbewusst- 
seyn, dessen alleiniger Gegenstand, wie ich oft nach- 
gewiesen habe, der W^ille mit allen seinen Affektionen 
ist; und sodann für das Bewusstseyn anderer Dinge, 
637 
(1. i. der Welt der Vorstellung, oder der empirischen 
Realität der T3inge. Von der Willensseite nun, also 
innerlich, subjektiv, für das Selbstbewusstseyn, stellt 
jener Akt sich dar als die unmittelbarste und voll- 
kommenste Befriedigung des Willens, d. i. als Wollust. 
Von der Vorstellungsseite hingegen, also äusserlich, 
objektiv, für das Bevvusstseyn von andern Dingen, ist 
eben dieser Akt der Einschlag zum allerkünstlichsten 
Gewebe, die Grundlage des unaussprechlich kompli- 
cirten animalischen Organisnms, der dann nur noch 
der Entwickelung bedarf, um unsern erstaunten 
Augen sichtbar zu werden. Dieser Organismus, dessen 
ins Unendliche gehende Komplikation und Vollen- 
dung nur Der kennt, welcher Anatomie studirt hat, 
ist, von der Vorstellungsseite aus, nicht anders zu 
begreifen und zu denken, als ein mit der planvollsten 
Kombination ausgedachtes und mit überschwänglicher 
Kunst und Genauigkeit ausgeführtes System, als das 
mühsäligste Werk der tiefsten Ueberlegung: — nun 
aber von der Willensseite kennen wir, durch das 
Selbstbewusstseyn, seine Hervorbringung als das Werk 
eines Aktes, der das gerade Gegentheil aller Ueber- 
legung ist, eines ungestümen Jilinden Dranges, einer 
überschwän glich wollüstigen Empfindung. Dieser 
Gegensatz ist genau verwandt mit dem oben nach- 
gewiesenen unendlichen Kontrast zwischen der abso- 
luten Leichtigkeit, mit der die Natur ihre Werke 
hervorbringt, nebst der dieser entsprechenden grän- 
zenlosen Sorglosigkeit, mit welcher sie solche der 
Vernichtung Preis gibt, — und der unberechenbar 
künstlichen und durchdachten Konstruktion eben 
dieser Werke, nach welcher zu urtheilen sie unend- 
lich schwer zu machen und daher über ihre Erhal- 
tung mit aller ersinnlichen Sorgfalt zu wachen sevn 
müsste; wahrend wir das Gegentheil vorxVugen haben. 
— Haben wir nun, durch diese, freilich sehr imge- 
wöhnliche Betrachtung die beiden heterogenen Seiten 
der Welt aufs schroffeste an einander gebracht und 
sie gleichsam mit einer Faust umspannt; so müssen 
wir sie jelzt festhalten, um uns von der ganzlichen 
Ungültigkeit der Gesetze der Erscheinung, oder Welt 
638 
als Vorstellung, für die des Willens, oder der Dinge 
an sich, zu überzeugen: dann wird es uns fasslicher 
werden, dass, während auf der Seite der Vorstellung, 
d. i. in der Erscheinungswelt, sich uns bald ein Ent- 
stehen aus Nichts, bald eine gänzliche Vernichtung 
des Entstandenen darstellt, von jener andern Seite 
aus, oder an sich, ein Wesen vorliegt, auf welches 
angewandt die Begriffe von Entstehen und Vergehen 
gar keinen Sinn haben. Denn wir haben soeben, in- 
dem wir auf den Wurzelpunkt zurückgiengen, wo, 
mittelst des Selbstbewusstseyns, die Erscheinung und 
das Wiesen an sich zusammenstossen, es gleichsam 
mit Händen gegriffen, dass Beide schlechthin inkom- 
mensurabel sind, und die ganze Weise des Seyns des 
Einen, nebst allen Grundgesetzen dieses Seyns, im 
Andern nichts und weniger als nichts bedeutet. — 
ich glaube, dass diese letzte Betrachtung nur von 
Wenigen recht verstanden werden, und dass sie Allen, 
die sie nicht verstehen, missfällig und selbst anstössig 
seyn wird: jedoch werde ich deshalb nie etwas weg- 
lassen, was dienen kann, meinen Grundgedanken zu 
erläutern. — 
Am Anfange dieses Kapitels habe ich auseinander- 
gesetzt, dass die grosse Anhänglichkeit an das Leben, 
oder vielmehr die Furcht vor dem Tode, keineswegs 
aus der Erkennbiiss entspringt, in welchem Fall sie 
das Resultat des erkannten Werthes des Lebens seyn 
würde; sondern dass jene Todesfurcht ihre Wurzel 
unmittelbar im Willen hat, aus dessen ursprünglichem 
Wesen, in welchem er ohne alle Erkenntnis«, und 
daher blinder Wille zum Leben ist, sie hervorgeht. 
Wie wir in das Leben hineingelockt werden durch 
den ganz illusorischen Trieb zur Wollust; so werden 
wir darin festgehalten durch die gewiss eben so illu- 
sorische Furcht vor dem Tode. Beides entspringt 
unmittelbar aus dem Willen, der an sich erkenntniss- 
los ist. Wäre, umgekehrt, der Mensch ein bloss er- 
kennendes Wesen ; so müsste der Tod ihm nicht nur 
gleichgültig, sondern sogar willkommen seyn. Jetzt 
lehrt die Betrachtung, zu der wir hier gelangt sind, 
dass was vom Tode getroffen wird, bloss das ei^kennende 
639 
Bewusstseyn ist, hinfjejjen der JVille, sofern er das 
Ding an sich ist, welches jeder individuellen Erschei- 
nung zum Grunde liegt, von allein auf Zeitbestim- 
mungen Beruhenden frei, also auch unvergänglich 
ist. Sein Streben nach Daseyn imd Manifestation, 
woraus die Welt hervorgeht, wird stets erfüllt: denn 
diese begleitet ihn wie den Körper sein Schatten, 
indem sie bloss die Sichtbarkeit seines Wesens ist. 
Dass er in uns dennoch den Tod fürchtet, kommt 
daher, dass hier die Erkenntniss ihm sein Wesen bloss 
in der individuellen Erscheinung vorhält, woraus ihm 
die Täuschung entsteht, dass er mit dieser untergehe, 
ctwan wie mein Bild im Spiegel, wenn man diesen 
zerschlägt, mit vernichtet zu werden scheint: Dieses 
also, als seinem ursprünglichen Wesen, welches blin- 
der Drang nach Dasevn ist, zuwider, erfüllt ihn mit 
Abscheu. Hieraus nun folgt, dass Dasjenige in uns, 
was allein den Tod zu fürchten fähig ist und ihn auch 
allein fürchtet, der Wille, von ihm nicht getroffen 
wird; und dass hingegen was von ihm getroffen wird 
und wirklich untergeht. Das ist, was seiner Natiu' 
nach keiner Furcht, wie überhaupt keines Wollens 
oder Affektes, fähig, daher gegen Seyn und Nichtseyn 
gleichgültig ist, nämlich das blosse Subjekt der Er- 
kenntniss, der Intellekt, dessen Daseyn in seiner Be- 
ziehung zur Welt der Vorstellung, d. h. der objektiven 
Welt besteht, deren Korrelat er ist und mit deren 
Daseyn das seinige im Grunde Eins ist. Wenngleich 
also nicht das individuelle Bewusstsein den Tod über- 
lebt; so überlebt ihn doch Das, was allein sich gegen 
ihn sträidjt: der Wille. Hieraus erklärt sich auch der 
Widerspiuch, dass die Philosophen, vom Standpunkt 
der Erkenntniss aus, allezeit mit treffenden Gründen 
bewiesen haben, der Tod sei kein Uebel; die Todes- 
furcht jedoch dem Allen unzugänglich bleibt: weil 
sie eben nicht in der Erkenntniss, sondern allein im 
Willen wurzelt. Eben daher, dass nur der Wille, nie ht 
aber der Intellekt das Unzerstörbare ist, kommt es auch, 
dass alle Religionen und Philosophien allein den Tugen- 
den des Willens, oder Herzens, einen Lohn in der Ewig- 
keit zuerkennen,nicht denen des 1 ntel lekts, oder Kopfes , 
64o 
Zur Erläuterung dieser Betrachtung diene noch 
Folgendes. Der Wille, welcher unser Wesen an sich 
ausmacht, ist einfacher Natur: er will bloss und er- 
kennt nicht. Das Subjekt des Erkennens hingegen ist 
eine sekundäre, ans der Objektivation des Willens 
hervorgehende Erscheinung: es ist der Einheitspunkt 
der Sensibilität des Nervensystems, gleichsam der 
P'okus, in welchem die Strahlen der Thätigkeit aller 
Theile des Gehirns zusammenlaufen. Mit diesem muss 
es daher untergehen. Im Selbstbewusstseyn steht es, 
als das allein Erkennende, dem Willen als sein Zu- 
schauer gegenüber und erkennt, obgleich aus ihm 
entsprossen, ihn doch als ein von sich Verschiedenes, 
ein Fremdes, deshalb auch nur empirisch, in der Zeit, 
stückweise, in seinen successiven Erregungen und 
Akten, erfährt auch seine EntSchliessungen erst 
a posteriori und oft sehr mittelbar. Hieraus erklärt 
sich, dass unser eigenes Wesen uns, d. h. eben unserm 
Intellekt, ein Räthsel ist, und dass das Individuum sich 
als neu entstanden und vergänglich erblickt; obschon 
sein Wesen an sich ein zeitloses, also ewiges ist. Wie 
nun der Wille nicht erkaint, so ist umgekehrt der 
Intellekt, oder das Subjekt der Erkenntniss, einzig 
und allein erkennend, ohne irgend zu wollen. Dies ist 
selbst physisch daran nachweisbar, dass, wie schon 
im zweiten Buch erwähnt, nach Bichat, die verschie- 
denen Affekte alle Theile des Organismus unmittelbar 
erschüttern und ihre Funktionen stören, mit Aus- 
nahme des Gehirns, als welches höchstens mittelbar, 
d. h. in Folge eben jener Störungen, davon affizirt 
werden kann (De la vie et de la mort, art. 6, §. 2). 
Daraus aber folgt, dass das Subjekt des Erkennens, 
für sich und als solches, an nichts Antheil oder 
Interesse nehmen kann, sondern ihm das Seyn oder 
Nichtseyn jedes Dinges, ja sogar seiner selbst, gleich- 
gültig ist. Warum nun sollte dieses antheilslose Wesen 
unsterblich sein? Es endet mit der zeitlichen Erschei- 
nung des Willens, d. i. dem Individuo, wie es mit 
diesem entstanden war. Es ist die Laterne, welche 
ausgelöscht wird, nachdem sie ihren Dienst geleistet 
hat. Der Intellekt, wie die in ihm allein vorhandene 
4i Schopenhauer II 04 l 
anscliauliche Welt, ist blosse Erscheinun{}: aber die 
Endlichkeit Beider ficht nicht Das an, davon sie die 
Erscheinung; sind. Der Intellekt ist Funktion des 
cerebralen Nervensystems : aber dieses, wie der übri^je 
Leib, ist die Objektität des JVillens. Daher beruht der 
Intellekt auf dem somatischen Leben des Orjjanismus: 
dieser selbst aber beruht auf dem Willen. Der organi- 
sche Leib kann also, in gewissem Sinne, angesehen 
werden als Mittelglied zwischen dem Willen und dem 
Intellekt; wiewohl er eigentlich nur der in der An- 
schauung des Intellekts sich räumlich darstellende 
Wille selbst ist. Tod und Geburt sind die stete Auf- 
frischung des Bewusstseyns des an sich end- und 
anfangslosen Willens, der allein gleichsam die Sub- 
stanz des Daseyns ist (jede solche Auffrischung aber 
bringt eine neue Möglichkeit der Verneinung des 
Willens zum Leben). Das Bewusstseyn ist das Leben 
des Subjekts des Erkennens, oder des Gehirns, und 
der Tod dessen Ende. Daher ist das Bewusstseyn end- 
lich, stets neu, jedesmal von vorne anfangend. Der 
Wille allein beharrt; aber auch ihm allein ist am Be- 
harren gelegen: denn er ist der Wille zum Leben. 
Dem erkennenden Subjekt für sich ist an nichts ge- 
legen. Im Ich sind jedoch Beide verbunden. — In 
jedem animalischen Wesen hat der W^ille einen In- 
tellekt errungen, welcher das Licht ist, bei dem er 
hier seine Zwecke verfolgt. Beiläufig gesagt, mag die 
Todesfurcht zum Theil auch darauf beruhen, dass 
der individuelle W^ille so ungern sich von seinem, 
durch den Naturlauf ihm zugefallenen Intellekt trennt, 
von seinem Führer und Wächter, ohne den er sich 
hülflos und blind weiss. 
Zu dieser Auseinandersetzung stimmt endlich auch 
noch jene tägliche moralische Erfahrung, die uns 
belehrt, dass der Wille allein real ist, hingegen die 
Objekte desselben als durch die Erkenntniss bedingt, 
nur Erscheinungen, nur Schaum und Dunst sind, 
gleich dem Weine, welchen Mephistopheles in Auer- 
bachs Keller kredenzt: nämlich nach jedem sinnlichen 
Genuss sagen auch wir: „Mir däuchte doch als tränk' 
ich Wein.'' 
642 
Die Schrecken des Todes beruhen grossentheils auf 
dem falschen Schein, dass Jetzt das Ich verschwinde, 
und die Welt bleibe. Vielmehr aber ist das Gegen- 
theil wahr: die Welt verschwindet; hingegen der 
innerste Kern des Ich, der Träger und Hervorbringer 
jenes Subjekts, in dessen Vorstellung allein die Welt 
ihr Daseyn hatte, beharrt. Mit dem Gehirn geht der 
fntellekt, und mit diesem die objektive Welt, seine 
blosse Vorstellung, unter. Dass in andern Gehirnen, 
nach wie vor, eine ähnliche Welt lebt und schwebt, 
ist in Beziehung auf den untergehenden Intellekt 
gleichgültig. — Wenn daher nicht im Willen die 
eigentliche Realität läge und nicht das moralisclie 
Daseyn das sich über den Tod hinaus erstreckende 
Aväre; so würde, da der Intellekt und mit ihm seine 
Welt erlischt, das Wesen der Dinge überhaupt nichts 
weiter seyn, als eine endlose Folge kurzer und trüber 
Träume, ohne Zusammenhang unter einander: denn 
das Beharren der erkenntnisslosen Natur besteht bloss 
in der Zeilvorstellung der erkennenden. Also ein, ohne 
Ziel tmd Zweck, meistens sehr trübe und schwere Träu- 
me träumender Weltgeist wäre dann Alles inAllem. 
Wann nun ein Individuum Todesangst empfindet; 
so hat man eigentlich das seltsame, ja, zu belächelnde 
Schauspiel, dass der Herr der Welten, welcher Alles 
mit seinem Wesen erfüllt, und durch welchen allein 
Alles was ist sein Daseyn hat, verzagt und unterzu- 
gehen befürchtet, zu versinken in den Abgrund des 
ewigen Nichts; — während, in Wahrheit, Alles von 
ihm voll ist und es keinen Ort giebt, wo er nicht 
wäre, kein Wesen in welchem er nicht lebte; da das 
Daseyn nicht ihn trägt, sondern er das Daseyn. Den- 
noch ist er es, der im Todesangst leidenden Individuo 
verzagt, indem er der, durch das principium indivi- 
duationis hervorgebrachten Täuschung unterliegt, 
dass seine Existenz auf die des jetzt sterbenden We- 
sens beschränkt sei: diese Täuschung gehört zu dem 
schweren Traum, in welchen er als Wille zum Leben 
verfallen ist. Aber man könnte zu dem Sterbenden 
sagen: ,,Du hörst auf, etwas zu seyn, welches du besser 
gethan hättest, nie zu werden." 
4r 643 
Solange keine Verneinung jenes Willens eingetre- 
ten, ist was der Tod von uns übrig lässt der Keim 
und Kern eines ganz andern Daseyns, in welchem ein 
neues Individuum sich wiederfindet, so frisch und 
ursprünglich, dass es über sich selbst verwundert 
brütet. Daher der schwärmerische und träumerische 
Hang edler Jünglinge, zur Zeit wo dieses frische Be- 
wusstsevn sich eben ganz entfaltet hat. Was für das 
Individuum der Schlaf, das ist für den Willen als 
Ding an sich der Tod. Er würde es nicht aushalten, 
eine Unendlichkeit hindurch das selbe Treiben und 
Leiden, ohne wahren Gewinn, fortzusetzen, wenn ihm 
Erinnerung und Individualität bliebe. Er wirft sie ab, 
dies ist der Lethe, und tritt, durch diesen Todesschlaf 
erfrischt und mit einem andern Intellekt ausgestattet, 
als ein neues Wesen wieder auf: ,,zu neuen Ufern lockt 
ein neuer Tag!" — 
Als sich bejahender Wille zum Leben hat der 
Mensch die Wurzel seines Dasevns in der Gattung. 
Demnach ist sodann der Tod das Verlieren einer In- 
dividualität und Empfangen einer andern, folglich 
ein Verändern der Individualität unter der ausschliess- 
lichen Leitung seines eigenen Willens. Denn in die- 
sem allein liegt die ewige Kraft, welche sein Daseyn 
mit seinem Ich hervorbringen konnte, jedoch, seiner 
Beschaffenheit wegen, es nicht darin zu erhalten ver- 
mag. Denn der Tod ist das dementi, welches das We- 
sen (essentia) eines Jeden in seinem Anspruch auf 
Daseyn (existentia) erhält, das Hervortreten eines Wi- 
derspruchs, der in jedem individuellen Daseyn liegt: 
denn Alles was entsteht, 
Ist werth dass es zu Grunde geht. 
Jedoch steht der selben Kraft, also dem Willen, eine 
unendliche Zahl eben solcher Existenzen, mit ihrem 
Ich, zu Gebote, welche aber wieder eben so nichtig 
und vergänglich seyn werden. Da nun jedes Ich sein 
gesondertes Bewusstseyn hat; so ist, in Hinsicht auf 
ein solches, jene unendliche Zahl derselben von 
einem einzigen nicht verschieden. — Von diesem Ge- 
sichtspunkt aus erscheint es mir nicht zufällig, dass 
644 
aevum, aicov, zugleich die einzelne Lebensdauer und 
die endlose Zeit bedeutet: es lässt sich nämlich von 
hier aus, wiewohl undeutlich, absehen, dass, an sich 
und im letzten Grunde, Beide das Selbe sind; wonach 
eigentlich kein Unterschied wäre, ob ich nur meine 
Lebensdauer hindurch, oder eine unendliche Zeit 
existirte. 
Allerdings aber können wir die Vorstellung von 
allem Obigen nicht ganz ohne Zeitbegriffe durch- 
führen: diese sollten jedoch, wo es sich vom Dinge 
an sich handelt, ausgeschlossen bleiben. Allein es ge- 
hört zu den unabänderlichen Gränzen unsers Intel- 
lekts, dass er diese erste und unmittelbarste Form 
aller seiner Vorstellungen nie ganz abstreifen kann, 
um nun ohne sie zu operiren. Daher gerathen wir 
hier freilich auf eine Art Metern psychose; wiewohl 
mit dem bedeutenden Unterschiede, dass solche nicht 
die ganze ^uj(7j, nämlich nicht das erkennende Wesen 
betrifft, sondern den Willen allein; wodurch so viele 
Ungereimtheiten wegfallen, welche die Metempsy- 
chosenlehre begleiten; sodann mit dem Bewusstseyn, 
dass die Form der Zeit hier nur als unvermeidliche 
Ackommodation zu der Beschränkung unsers Intel- 
lekts eintritt. Nehmen wir nun gar die, Kapitel 43 zu 
erörternde Thatsache zur Hülfe, dass der Charakter, 
d. i. der Wille, vom Vater erblich ist, der Intellekt 
hingegen von der Mutter; so tritt es gar wohl in den 
Zusammenhang unserer Ansicht, dass der Wille des 
Menschen, an sich individuell, im Tode sich von dem, 
bei der Zeugung von der Mutter erhaltenen Intellekt 
trennte und nun seiner jetzt modifizirten Beschaffen- 
heit gemäss, am Leitfaden des mit dieser harmoni- 
renden durchweg nothwendigen Weltlaufs, durch 
eine neue Zeugung, einen neuen Intellekt empflenge, 
mit welchem er ein neues Wesen würde, welches 
keine Erinnerung eines frühern Daseyns hätte, da der 
Intellekt, welcher allein die Fähigkeit der Erinnerung 
hat, der sterbliche Theil, oder die Form ist, der Wille 
aber der ewige, die Substanz: demgemäss ist zur Be- 
zeichnung dieser Lehre das Wort Palingenesie rich- 
tiger,als Metempsychose. Diese steten Wiedergeburten 
645 
machten dann die Succession der Lebenstraunie eines 
an sich unzerstörl^aren Willens aus, bis er, durch so 
viele und versehiedenartige, successive Erkenntniss, 
in stets neuer Form, belehrt und {{gebessert, sich selbst 
aufhöbe. 
Mit dieser Ansicht stimmt auch die eigentliche, so 
zu sagen esoterische Lehre des Buddhaismus, \vie wir 
sie durch die neuesten Forschungen kennen gelernt 
haben, überein, indem sie nicht Metempsychose, son- 
dern eine eigenthümliche, auf moralischer Basis ru- 
hende Palingenesie lehrt, welche sie mit grossem 
Tiefsinn ausführt und darlegt; wie Dies zu ersehen 
ist aus der, in Spence Hardy\s Manual of Buddhism, 
p. 394 — 96, gegebenen, höchst lesens- und beach- 
tungswerthen Darstellung der Sache (womit zu ver- 
gleichen p. 429, iio und 44^ desselben Buches), de- 
ren Bestätigungen man findet in Taylors Prabodh 
Chandro Dava, London 1812, p. 35; desgleichen in 
Sangermano's Burmese emplre, p. 6; wie auch in den 
Asiat, researches. Vol. 6, p. 179, und Vol. 9, p. 256. 
Auch das sehr brauchbare Deutsche Kompendium 
des Buddhaismus von Koppen giebt das Richtige über 
diesen Punkt. Für den grossen Haufen der Buddha- 
isten jedoch ist diese Lehre zu subtil; daher demselben, 
als fassliches Surrogat, eben Metempsychose gepredigt 
wird. 
Uebrigens darf nicht ausser Acht gelassen werden, 
dass sogar empirische Gründe für eine Palingenesie 
dieser Art sprechen. Thatsächlich ist eine Verbindung 
vorhanden zwischen der Geburt der neu auftretenden 
Wesen und dem Tode der abgelebten: sie zeigt sich 
nämlich an der grossen Fruchtbarkeit des Menschen- 
geschlechts, welche als Folge verheeiender Seuchen 
entsteht. Als im 14. Jahrhundert der schwarze Tod 
die alte Welt grösstenteils entvölkert hatte, trat eine 
ganz ungewöhnliche Fruchtbarkeit unter dem Men- 
schengeschlechte ein, und Zwillingsgeburten waren 
sehr häufig: höchst seltsam war dabei der Umstand, 
dass keines der in dieser Zeit geborenen Kinder seine 
vollständigen Zähne bekam ; also die sich anstrengende 
Natur im Einzelnen geizte. Dies erzählt F. Schnuf?e?; 
Chronik der Seuchen, 182:"). Auch Casper, „Ueber die 
wahrscheinliche Lebensdauer des Menschen", i835, 
bestätigt den Grundsatz, dass den entschiedensten 
Einfluss auf Lebensdauer und SterbHchkeit, in einer 
gegebenen Bevölkerung, die Zahl der Zeugungen in 
derselben habe, als welche mit der Sterblichkeit stets 
gleichen Schritt halte; so dass die Sterbefälle und die 
Geburten allemal und allerorten sich in gleichem 
Verhältniss vermehren und vermindern, welches er 
durch aufgehäufte Belege aus vielen Ländern und 
ihren verschiedenen Provinzen ausser Zweifel setzt. 
Und doch kann unmöglich ein yVi^^/scAe?- Kausalnexus 
seyn zwischen meinem frühern Tode und der Frucht- 
barkeit eines fremden Ehebettes, oder umgekehrt. 
Hier also tritt unleugbar und auf eine stupende Weise 
das Metaphysische als unmittelbarer Erklärungsgrund 
des Physischen auf. ■ — Jedes neugeborene Wesen 
zwar tritt frisch und freudig in das neue Daseyn und 
geniesst es als ein geschenktes: aber es giebt und kann 
nichts Geschenktes geben. Sein frisches Daseyn ist 
bezahlt durch das Alter und den Tod eines abgelebten, 
welches untergegangen ist, aber den unzerstörbaren 
Keim enthielt, aus dem dieses neue entstanden ist: 
sie sind ein Wesen. Die Brücke zwischen Beiden 
nachzuweisen, wäre freilich die Lösung eines grossen 
Räthsels. 
Die hier ausgesprochene grosse Wahrheit ist auch 
nie ganz verkannt worden, wenn sie gleich nicht auf 
ihren genauen und richtigen Sinn zurückgeführt 
werden konnte, als welches allein durch die Lehre 
vom Primat und metaphysischen Wesen des Willens, 
und der sekundären, bloss organischen Natur des In- 
tellekts möglich wird. Wir finden nämlich die Lehre 
von der Metempsychose, aus den urältesten und edel- 
sten Zeiten des Menschengeschlechts stammend, stets 
auf der Erde verbreitet, als den Glauben der grossen 
Majorität des Menschengeschlechts, ja, eigentlich als 
Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jüdischen 
und der zwei von dieser ausgegangenen ; am subtilsten 
jedoch und der Wahrheit am nächsten kommend, 
wie schon erwähnt, im Buddhaismus. Während dem- 
647 
gemäss die Christen sich trösten mit dem Wieder- 
sehen in einer andern Welt, in welcher man sich in 
vollständiger Person wiederfindet und sogleich er- 
kennt, ist in jenen übrigen Religionen das Wiedersehen 
schon jetzt im Gange, jedoch incognito: nämlich im 
Kreislauf der Geburten und kraft der Metempsychose, 
oder Palingenesie, werden die Personen, welche jetzt 
in naher Verbindung oder Berührung mit uns stehen, 
auch bei der nächsten Geburt zugleich mit uns ge- 
boren, und haben die selben, oder doch analoge Ver- 
hältnisse und Gesinnungen zu uns, wie jetzt, diese 
mögen nun freundlicher, oder feindlicher Art seyn. 
(Man sehe z. B. Spence Hardy's Manual of Buddhism, 
p. 162.) Das Wiedererkennen beschränkt sich dabei 
freilich auf eine dunkle Ahndung, eine nicht zum 
deutlichen Bewusstseyn zu bringende und auf eine 
unendliciie Ferne hindeutende Erinnerung; — mit 
Ausnahme jedoch des Buddha selbst, der das Vorrecht 
hat, seine und der Andern frühere Geburten deutlich 
zu erkennen; — wie Dies in den Jatakas beschrieben 
ist. Aber, in der That, wenn man, in begünstigten 
Augenblicken, das Thun und Treiben der Menschen, 
in der Realität, rein objektiv ins Auge fasst; so drängt 
sich Einem die intuitive Ueberzeugung auf, dass es 
nicht nur, den (Platonischen) Ideen nach, stets das 
selbe ist und bleibt, sondern auch, dass die gegen- 
wärtige Generation, ihrem eigentlichen Kern nach, 
geradezu, und substantiell identisch ist mit jeder vor 
ihr dagewesenen. Es fragt sich nur, worin dieser Kern 
besteht: die Antwort, welche meine Lehre darauf 
giebt, ist bekannt. Die erwähnte intuitive Ueber- 
zeugung kann man sich denken als dadurch entste- 
hend, dass die Vervielfältigungsgläser, Zeit und Raum, 
momentan eine Intermittenz ihrer Wirksamkeit er- 
litten. — Hinsichtlich der Allgemeinheit des Glaubens 
an Metempsychose sagt Obry in seinem vortrefflichen 
Buche: Du iSirvana Indien, p. i3 mit Recht: Cette 
vieille crovance a fait le tour du monde, et etait telle- 
ment repandue dans la haute antiquite, qu'un docte 
Anglican Tavait jugee sans pere, sans mere, et saus 
gencalogie (Ths. Burnet, dans Beausobre, Hist. du 
648 
Manicheisme, II, p. Spi). Schon in den Veden, wie in 
allen heiligen Büchern Indiens gelehrt, ist bekannt- 
lich die Metempsychose der Kern des Brahmanismus 
und Buddhaismus, herrscht demnach noch jetzt im 
ganzen nicht islamisirten Asien, also bei mehr als der 
Hälfte des ganzen Menschengeschlechts, als die festeste 
Ueberzeugung und mit unglaublich starkem prak- 
tischen Einfluss. Ebenfalls war sie der Glaube der 
Aegypter (Herod., II, 123), von welchen Orpheus, 
Pythagoras und Plato sie mit Begeisterung entgegen- 
nahmen: besonders aber hielten die Pvthagoreer sie 
fest. Dass sie auch in den Mysterien der Griechen ge- 
lehrt wurde, geht unleugbar hervor aus Plato's neun- 
tem Buch von den Gesetzen (p. 38 et 42» ed. Bip.). 
Nemesius (De nat. hom., c. 2) sagt sogar: Koivt] fxsv ouv 
7ravTc<; 'EXXtjVS«;, ot ttjv <j>t>5(r|V af^avatov a-ocprjvajxevoi, tt^v 
Ix£-£vo<u[jLata)aiv ooYfjLaTiCQUoi. (Communiter igitur om- 
nes Graeci, qui animam immortalem statuerunt, eam 
de uno corpore in aliud transferri censuerunt.) Auch 
die Edda, namentlich in der Voluspa, lehrt Metem- 
psychose. iNicht weniger war sie die Grundlage der 
Religion der Druiden (Caes. de hello Gall., VI. — 
A. Pictet, Le mystere des Bardes de Tile de Bretagne, 
i856). Sogar eine Mohammedanische Sekte in Hin- 
dostan, die Bohrahs, von denen Colebrooke in den 
Asiat, res., Vol. 7, p. 336 sqq. ausführlich berichtet, 
glaubt an die Metempsychose und enthält demzufolge 
sich aller Fleischspeise, Selbst bei Amerikanischen 
und Negervölkern, ja sogar bei den Australiern Hnden 
sich Spuren davon, wie hervorgeht aus einer in der 
Englischen Zeitung, theThimes, vom 29. Januar 1841, 
gegebenen genauen Beschreibung der wegen Brand- 
stiftung und Mord erfolgten Hinrichtung zweier 
Australischer Wilden. Daselbst nämlich heisst es : ,,Der 
jüngere von ihnen gieng seinem Schicksal mit ver- 
stocktem und entschlossenem Sinn, welcher, wie sich 
zeigte, auf Rache gerichtet war, entgegen: denn aus 
dem einzigen verständlichen Ausdruck, dessen er sich 
bediente, gieng hervor, dass er wieder auferstehen 
würde als ,ein weisser Kerl', und dies verlieh ihm die 
Entschlossenheit." Auch in einem Buche von Umje- 
649 
untter, „Der Welttheil Australien", i853, wird erzahlt, 
dass die Papuas in Neuholland die Weissen für ihre 
eigenen, auf die Welt zurückgekehrten Anverwandten 
hielten. Diesem Allen zufolge stellt iler Glaube an 
Metern psy< hose sich dar als die natürliche Ueber- 
zeugung des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend 
nachdenkt. Er ^väre demnach wirklich Das, was Kant 
falschlich von seinen drei vorgeblichen Ideen der Ver- 
nunft behauptet, nämlich ein der menschlichen Ver- 
nunft natürliches, aus ihren eigenen Formen hervor- 
gehendes Philosophem; und wo er sich nicht findet, 
wäre er durch positive, anderweitige Religionslehren 
erst verdrängt. Auch habe ich bemerkt, dass er Jedem, 
der zum ersten Mal davon hört, sogleich einleuchtet. 
Man sehe nur, wie ernstlich sogar Lessing ihm das 
Wort redet in den letzten sie])en Paragraphen seiner 
,,Erziehung des Menschengeschlechts'''. Auch Lichten- 
berg sagt, in seiner Selbstcharakteristik: „hh kann 
den Gedanken nicht los werden, dass ich gestorben 
war, ehe ich geboren wurde." Sogar der so übermässig 
empirische Hume sagt in seiner skeptischen Abhand- 
lung über die Unsterblichkeit, p. 23: The metempsy- 
chosis is therefore the only svstem of this kind that 
philosophy can hearken to*). Was diesem, über das 
ganze Menschengeschlecht verbreiteten und den Wei- 
sen, wie dem Volke einleuchtenden Glauben entgegen- 
steht, ist das Judenthum, nebst den aus diesem ent- 
sprossenen zwei Religionen, sofern sie eine Schöpfung 
des Menschen aus Nichts lehren, an welche er dann 
*) „Die Metenipsychose ist daher das einzige Svstem dieser Art, 
auf weldies die Philosophie hören kann." — Diese posthume 
Ahhandhing findet sich in den Essays on sincide and the im- 
niortalitv of the soul, bv the late Dav. Hume, Basil -, 799, sold 
by James Decker. Durch diesen Hascler rs'achdrurk nämlich 
sind jene beiden Werke eines der grössten Denker mul Schrift- 
steller Ivnglands vom Untergänge gerettet worden, nachdem 
sie in ihrem Vaterlande, in Folge der daselbst lierrschenden 
sttipiden und ülieraus verächtlichen Bigotterie, durch den 
Kinfliiss einer mächtigen imd frechen Pfaffenschaft unter- 
drückt worden waren, zur bleibenden Schande Englands. Es 
sind ganz leidenschaftslose, kalt vernünftige Untersuchungen 
der beiden genannten Gegenstände. 
(iSo 
den Glauben an eine endlose Fortdauer a parte post 
zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich ist 
es, mit Feuer und Schwert, {gelungen, aus Europa 
und einem Theile Asiens jenen tröstlichen Urglauben 
der Menschheit zu verdrängen: es steht noch dahin 
auf wie lange. Wie schwer es jedoch gehalten hat. 
bezeugt die älteste Kirchengeschichte: die meisten 
Ketzer, z. B. Simonisten, Basilidianer, Valentinianer, 
Marcioniten, Gnostiker und Manichäer waren eben 
jenem Urglauben zugethan. Die Juden selbst sind 
zum Theil hineingerathen, wie Tertullian und Justi- 
nus (in seinen Dialogen) berichten. Im Talmud wird 
erzählt, dass Abels Seele in den Leib des Seth und 
dann in den des Moses gewandert sei. Sogar die Bibel- 
stelle, Matth. i6, i3 — 15, erhält einen vernünftigen 
Sinn nur dann, wann man sie als unter der Voraus- 
setzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen 
versteht. Lukas freilich, der sie (9, 18 — 20) auch hat, 
fügt hinzu 611 TrpocpTjr; -ic, rcov apyanov avea-r^, schiebt 
also den Juden die Voraussetzung unter, dass so ein 
alter Prophet noch mit Haut und Haar wieder auf- 
erstehen könne, welches, da sie doch wissen, dass er 
schon 6 bis 700 Jahr im Grabe liegt, folglich längst 
zerstoben ist, eine handgreifliche Absurdität wäre. 
Im Christenthum ist übrigens an die Stelle der Seelen- 
wanderung und der Abbüssung aller in einem frühern 
Leben begangenen vSünden durch dieselbe die Lehre 
von der Erbsünde getreten, d. h. von der Busse für 
die Sünde eines andern Individuums. Beide nämlich 
identifizieren, und zwar mit moralischer Tendenz, 
den vorhandenen Menschen mit einem früher dage- 
wesenen: die Seelenwanderung unmittelbar, die Erb- 
sünde mittelbar. — 
Der Tod ist die grosse Zurechtweisung, welche der 
Wille zum Leben, und näher der diesem wesentliche 
Egoismus, durch den Lauf der Natur erhält; und er 
kann aufgefasst werden als eine Strafe für unser Da- 
seyn. Er ist die schmerzliche Lösung des Knotens, 
den die Zeugung mit Wollust geschürzt hatte, und 
die von aussen eindringende, gewaltsame Zerstöiung 
des Grundirrthums unsers Wesens: die grosse Ent- 
65 I 
täuschimg. Wir sind im Grunde etwas, das nicht seyn 
sollte: darum hören wir auf zu seyn. Der Egoismus 
besteht eigentlich darin, dass der Mensch alle Realität 
auf seine eigene Person beschränkt, indem er in dieser 
allein zu existiren wähnt, nicht in den andern. Der 
Tod belehrt ihn eines Bessern, indem er diese Person 
aufhebt, so dass das Wesen des Menschen, welches 
sein Wille ist, fortan nur in andern Individuen leben 
wird, sein Intellekt aber, als welcher selbst nur der 
Erscheinung, d. i. der Welt als Vorstellung, ange- 
hörte und bloss die Form der Aussenwelt war, eben 
auch im Vorstellungseyn, d. h. im objektiven Seyn 
der Dinge als solchem, also ebenfalls nur im Daseyn 
der bisherigen Aussenwelt, fortbesteht. Sein ganzes 
Ich lebt also von jetzt an nur in Dem, was er bisher 
als Nicht-Ich angesehen hatte: denn der Unterschied 
zwischen Aeusserem und Innerem hört auf. Wir er- 
innern uns hier, dass der bessere Mensch der ist, wel- 
cher zwischen sich und den Andern den wenigsten 
Unterschied macht, sie nicht als absolut Nicht-Ich 
betrachtet, während dem Schlechten dieser Unter- 
schied gross, ja absolut ist; — wie ich dies in der 
Preisschrift über das Fundament der Moral ausgeführt 
habe. Diesem Unterschiede gemäss fällt, dem Obigen 
zufolge, der Grad aus, in welchem der Tod als die 
Vernichtung des Menschen angesehen werden kann. 
■ — Gehen wir aber davon aus, dass der Unterschied 
von Ausser mir und in mir, als ein räumlicher, nur 
in der Erscheinung, nicht im Dinge an sich gegründet, 
also kein absolut realer ist; so werden wir in dem 
Verlieren der eigenen Individualität nur den Verlust 
einer Erscheinung sehen, also nur scheinbaren Ver- 
lust. So viel Realität jener Unterschied auch im em- 
pirischen Bewusstsevn hat; so sind doch vom meta- 
physischen Standpunkt aus, die Sätze: „ich gehe unter, 
aber die Welt dauert fort", und „die Welt geht un- 
ter, aber ich dauere fort", im Grund nicht eigentlich 
verschieden. 
Ueber dies Alles nun aber ist der Tod die grosse 
Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seyn: wohl Dem, der 
sie benutzt. Während des Lebens ist der Wille des 
652 
Menschen ohne Freiheit: auf der Basis seines unver- 
änderlichen Charakters geht sein Handeln, an der 
Kette der Motive, mit Noth wendigkeit vor sich. Nun 
trägt aber Jeder in seiner Erinnerung gar Vieles, das 
er gethan, und worüber er nicht mit sich selbst zu- 
frieden ist. Lebte er nun immerfort; so würde er, ver- 
möge der UnVeränderlichkeit des Charakters, auch 
immerfort auf die selbe Weise handeln. Demnach 
muss er aufhören zu seyn was er ist, um aus dem 
Keim seines Wesens als ein neues und anderes her- 
vorgehen zu können. Daher löst der Tod jene Bande: 
der Wille wird wieder frei: denn im Esse, nicht im 
Operari liegt die Freiheit: Finditur nodus cordis, dis- 
solvuntur omnes dubitationes, ejusque opera evanes- 
cunt, ist ein sehr berühmter Ausspruch des Veda, den 
alle Vedantiker häufig wiederholen*). Das Sterben ist 
der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit 
einer Individualität, welche nicht den innersten Kern 
unsers Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Ver- 
irrung desselben zu denken ist: die wahre, ursprüng- 
liche Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, 
welcher, im angegebenen Sinn, als eine restitutio in 
integrum betrachtet werden kann. Der Friede und 
die Beruhigung auf dem Gesichte der meisten Todten 
scheint daher zu stammen. Ruhig und sanft ist, in 
der Regel, der Tod jedes guten Menschen: aber wil- 
lig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vor- 
recht des Resignirten, Dessen, der den Willen zum 
Leben aufgiebt und verneint. Denn nur er will wirk- 
lich und nicht bloss scheiiihar sterben, folglich braucht 
und verlangt er keine Fortdauer seiner Person. Das 
Daseyn, welches wir kennen, giebt er willig auf: was 
ihm statt dessen wird, ist in unsern Augen nichts; 
weil unser Daseyn, auf jenes bezogen, nichts ist. Der 
Buddhaistische Glaube nennt jenes Niy^wana, d. h. 
Erloschen**). 
« 
*) Sancara, s. de tbeologumenis Vedanticorum, ed. F. H. H. 
Windischmann, p. 87. — Oupnekhat, Vol. I, p. 887, et p. 78. 
— Golebrooke's Miscellaneous essays. Vol. I, p. 363. 
*') Die Etymologie des Wortes Nirwana wird verschieden an- 
653 
KAi'inx 42. 
LEBEN DER GATTUNG. 
IM vorhergehenden Kapitel wurde in Erinnerung ge- 
hracht, dass die (Platonischen) Ideen der verschie- 
denen Stuten der Wesen, welche die adäquate Objek- 
tivation des Willens zum Leben sind, in der an die 
Form der Zeit gebundenen Erkenntniss des Individu- 
ums sich als die Gattungen, d. h. als die durch das 
Band der Zeugung verbundenen, successiven und 
gleichartigen Individuen darstellen, und dass daher 
die Gattung die in der Zeit auseinandergezojjene Idee 
(sioo;, species) ist. Demzufolge liegt das Wesen an 
sich jedes Lebenden zunächst in seiner Gattung: die- 
se hat jedoch ihr Daseyn wieder nur in den Individu- 
en. Obgleich nun der Wille nur im Individuo zum 
fjegeben. Nacli Colebroohe (Transact. of the llov. Asiat, soc. 
Vol. I, p. 566) koiniiit es von /Fa, weiten^ wie der Wind, mit 
vorgesetzter iNegation iViV, bedeutet also Windstille, aber als 
Adjektiv „erloschen". — Auch Obry, du Nirvana Indien, sagt 
p. 3 : Nirvanam en sanscrit signifie ä la lettre extmction, teile 
que Celle d'un feu. — JNach dem Asiatic Journal, Vol. 24, p. 
735, heisst es eigentlich Nerawana, von nera, ohne, und wana, 
Leben, und die Bedeutung wiire annihilatio. — Im Eastern 
Monachism, by Spence Hardy, wird, S. 296, Nirwana abgeleitet 
von IFana^ sündliche Wünsclie, mit der Negation nir. — J. .1. 
.Schmidt, in seiner Uebersetzung der Geschichte der Ostmon- 
golen, S. 307, sagt, das .Sanskritwort Nirwana werde im Mon- 
golischen übersetzt durch eine Phrase, welche bedeutet: „vom 
Jammer abgeschieden", — ,,dem Jammer entwichen". — 
Nach des selben Gelehrten Vorlesungen in der Petersburger 
Akademie ist Nirwana das Gegentheil von Sansara^ welches die 
Welt der steten Wiedergeburten, des Gelüstes und Verlangens, 
der .Siimentäuschung und wandelbaren Formen, des Geboren- 
werdens, Alterns, Erkrankens und Sterbens ist. — In der 
Burmesischen Sprache wird das Wort Nirwana, nach Analogie 
der übrigen Sanskritworte, umgestaltet in Nieban und wird 
übersetzt durch „vollständige Verschwindung". Siehe .Sanger- 
mano's Description of the Burmese cmpire, transl. by Tandy, 
Rome i833, ^. 27. In der ersten Auflage von 18 19 schrieb 
auch ich Nieban, wir wir damals den Buddhaismus nur aus 
dürftigen Nachrichten von den Birmanen kannten. 
654 
Selbstbewusstseyn gelangt, sich also unmittelbar nur 
als das [ndividuum erkennt; so tritt das in der Tiefe 
liegende Bewusstseyn, dass eigentlich die Gattung es 
ist, in der sein Wesen sich objektivirt, doch darin 
hervor, dass dem Individuo die Angelegenheiten der 
Gattung als solcher, also die Geschlechtsverhältnisse, 
die Zeugung und Ernährung der Brut, ungleich wich- 
tiger und angelegener sind, als alles Andere. Daher 
also bei den Thieren die Brunst (von deren Vehe- 
menz man eine vortrell liehe Schilderung findet in 
Burdach \s Physiologie, Bd. i, §§. 247, 267), und beim 
Menschen die sorgfältige und kapriziöse Auswahl des 
andern Individuums zur Befriedigung des Geschlechts- 
triebes, welche sich bis zur leidenschaftlichen Liebe 
steigern kann, deren näherer Untersuchung ich ein 
eigenes Kapitel widmen werde: eben daher endlich 
die überscliAvängliche Liebe der Eltern zu ihrer Brut. 
In den Ergänzungen zum zweiten Buch wurde der 
Wille der Wurzel, der Intellekt der Krone des Bau- 
mes verglichen: so ist es innerlich, oder psychologisch. 
Aeusserhcli aber, oder physiologisch, sind die Geni- 
talien die Wurzel, der Kopf die Krone. Das Ernäh- 
rende sind zwar nicht die Genitalien, sondern die 
Zotten der Gedäi-me: dennoch sind nicht diese, son- 
dern jene die Wurzel: weil durch sie das Individuum 
mit der Gattung zusammenhängt, in welcher es wur- 
zelt. Denn es ist physisch ein Erzeugniss der Gattung, 
metaphysisch ein mehr oder minder unvollkommenes 
Bild der Idee, welche, in der Form der Zeit, sich als 
Gattung darstellt. In Uebereinstimmung mit dem hier 
ausgesprochenen Verhältniss ist die grösste Vitalität, 
wie auch die Dekrepität, des Gehirns und der Geni- 
talien gleichzeitig und steht in Verbindung. Der Ge- 
schlechtstrieb ist anzusehen als der innere Zug des 
Baumes (der Gattung), auf welchem das Leben des 
Individuums sprosst, wie ein Blatt, das vom Baume 
genährt wird und ihn zu nähren beiträgt: daher ist 
jener Trieb so stark und aus der Tiefe unserer Natur. 
Ein Individuum kastriren, heisst es vom Baum der 
Gattung, auf welchem es sprosst, abschneiden und 
so gesondert verdorren lassen : daher die Degradation 
655 
seiner Geistes- und Leibeskräfte. — Dass auf den 
Dienst der Gattun^j, d. i. die Befruchtun(j, bei jedem 
thierischen Individuo, augenblickliche Erschöpfung 
und Abspannung aller Kräfte, bei den meisten In- 
sekten sogar baldiger Tod erfolgt, weshalb Celsus 
sagte seminis emissio est partis animae jactura; dass 
beim Menschen das Erlöschen der Zeugungskraft an- 
zeigt, das Individuum gehe nunmehr dem Tode ent- 
gegen; dass übertriebener Gebrauch jener Kraft in 
jedem Alter das Leben verkürzt, Enthaltsamkeit hin- 
gegen alle Kräfte, besonders aber die Muskelkraft, 
erhöht, weshalb sie zur Vorbereitung der Griechi- 
schen Athleten gehörte; dass dieselbe Enthaltsam- 
keit das Leben des Insekts sogar bis zum folgenden 
Frühling verlängert; — alles Dieses deutet darauf 
hin, dass das lieben des Individuums im Grunde nur 
ein von der Gattung erborgtes und dass alle Lebens- 
kraft gleichsam durch Abdämmung gehemmte Gat- 
tungskraft ist. Dieses aber ist daraus zu erklären, 
dass das metaphysische Substrat des Lebens sich un- 
mittelbar in der Gattung und erst mittelst dieser im 
Individuo offenbart. Demgemäss wird in Indien der 
Lingam mit der Joni als das Symbol der Gattung und 
ihrer Unsterblichkeit verehrt und, als das Gegenge- 
wicht des Todes, gerade der diesem vorstehenden 
Gottheit, dem Schiwa, als Attribut beigegeben. 
Aber ohne Mythos und Symbol bezeugt die Hef- 
tigkeit des Geschlechtstriebes, der rege Eifer und der 
tiefe Ernst, mit welchem jedes Thier, und eben so 
der Mensch, die Angelegenheiten desselben betreibt, 
dass durch die ihm dienende Funktion das Thier 
Dem angehört, worin eigentlich und hauptsächlich 
sein wahres Wesen liegt, nämlich der Gattung; wäh- 
rend alle andern Funktionen und Organe unmittel- 
bar nur dem Individuo dienen, dessen Daseyn im 
Grunde nur ein sekundäres ist. In der Heftigkeit je- 
nes Triebes, welcher die Koncentration des ganzen 
thierischen Wesens ist, drückt ferner sich das Be- 
wusstseyn aus, dass das Individuum nicht fortdauere 
und daher Alles an die Erhaltung der Gattung zu 
setzen habe, als in welcher sein wahres Daseyn liegt. 
656 
Vergeg^en\värtigen wir, zur Erläuterung des Gesag- 
ten, uns jetzt ein Thier in seiner Brunst und im Akte 
der Zeugung. Wir sehen einen an ihm sonst nie ge- 
kannten Ernst und Eifer. Was geht dabei in ihm vor? 
— Weiss es, dass es sterben muss und dass durch 
sein gegenwärtiges Geschäft ein neues, jedoch ihm 
völHg ähnhches Individuum entstehen wird, um an 
seine Stelle zu treten? — - Von dem Allen weiss es 
nichts, da es nicht denkt. Aber es sorgt für die Fort- 
dauer seiner Gattung in der Zeit, so eifrig, als ob es 
jenes Alles wüsste. Denn es ist sich bewusst, dass es 
leben und daseyn will, und den höchsten Grad dieses 
Wollens drückt es aus durch den Akt der Zeugung: 
dies ist Alles, was dabei in seinem Bewusstseyn vor- 
geht. Auch ist dies völlig hinreichend zum Bestände 
der Wesen; eben weil der Wille das Radikale ist, die 
Erkenntnissdas Adventitium.Dieserhalb eben braucht 
der Wille nicht durchweg von der Erkenntniss ge- 
leitet zu werden; sondern sobald er in seiner Ur- 
sprünglichkeit sich entschieden hat, wird schon von 
selbst dieses Wollen sich in der Welt der Vorstellun- 
gen objektiviren. Wenn nun solchermaassen jene be- 
stimmte Thiergestalt, die wir uns gedacht haben, es 
ist, die das Leben und Daseyn will; so will sie nicht 
Leben und Daseyn überhaupt, sondern sie will es in 
eben dieser (restalt. Darum ist es der Anblick seiner 
Gestalt im Weibchen seiner Art, der den Willen des 
Thieres zur Zeugung anreizt. Dieses sein Wollen, an- 
geschaut von xVussen und unter der Form der Zeit, 
stellt sich dar als solche Thiergestalt eine endlose Zeit 
hindurch erhalten durch die immer wiederholte Er- 
setzung eines Individuums durch ein anderes, also 
diuch das Wechselspiel des Todes und der Zeugung, 
welche, so betrachtet, nur noch als der Pulsschlag je- 
ner durch alle Zeit beharrenden Gestalt (losa, sioo^, 
species) erscheinen. Man kann sie der Attraktions- 
und Repulsionskraft, durch deren Antagonismus die 
Materie besteht, vergleichen. — Das hier am Thiere 
Nachgewiesene gilt auch vom Menschen ; denn wenn 
gleich bei diesem der Zeugungsakt von der vollstän- 
digen Erkenntniss seiner Endursache begleitet ist ; so 
42 Schopenliauer II OD'J 
ist er doch nicht von ihr geleitet, sondern geht un- 
mittelbar aus dem Willen zum Leben hervor, als des- 
sen Koncentration. Er ist sonach den instinktiven 
Handlungen beizuzählen. Denn so wenig bei der 
Zeugung das Thier durch die Erkenntniss des Zwek- 
kes geleitet ist, so Avenig ist es dieses bei den Kunst- 
trieben: auch in diesen äussert sich der Wille, in der 
Hauptsache, ohne dieVermittelung der Erkenntniss, als 
welcher, hier wie dort, nur das Detail anheimgestellt 
ist. Die Zeugung ist gewissermaassen der bewunde- 
rungswürdigste der Kunsttriebe und sein Werk das 
erstaunlichste. 
Aus diesen Betrachtungen erklärt es sich, warum 
die Begierde des Geschlechts einen von jeder andern 
sehr verschiedenen Charakter trägt: sie ist nicht nur 
die Stärkeste, sondern sogar specihsch von mächtige- 
rer Art als alle andern. Sie wird überall stillschwei- 
gend vorausgesetzt, als nothwendig und unausbleib- 
lich, und ist nicht, wie andere W^ünsche, Sache des 
Geschmacks und der Laime. Denn sie ist aer Wunsch, 
welcher selbst das Wesen des Menschen ausmacht. 
Im Konflikt mit ihr ist kein Motiv so stark, dass es 
des Sieges gewiss wäre. Sie ist so sehr die Hauptsa- 
che, dass für die Entbehrung ihrer Befriedigung kei- 
ne andern Genüsse entschädigen: auch übernimmt 
Thier und Mensch ihretwegen jede Gefahr, jeden 
Kampf. Ein gar naiver Ausdruck dieser natürlichen 
Sinnesart ist die bekannte Ueberschrift der mit dem 
Phallus verzierten Thüre der fornix zu Pompeji: Heic 
habitat felicitas: diese war für den Hineingehenden 
naiv, für den Herauskonnnenden ironisch, und an 
sich selbst humoristisch. — Mit Ernst und Würde 
hingegen ist die überschwän gliche Macht des Zeu- 
gungstriebes ausgedrückt in der Inschrift, welche 
(nach Theo von Smyrna, de musica, c. 4?) Osiris auf 
einer Säule, die er den ewigen Göttern setzte, ange- 
bracht hatte: „Dem Geiste, dem Himmel, der Sonne, 
dem Monde, der Erde, der Nacht, dem Tage, und 
dem Vater alles Dessen, was ist und was seyn wird, 
dem Eros"; — ebenfalls in der schönen Apostrophe, 
mit welcher Liihretius sein Werk eröffnet: 
658 
Aedeaduni genetiix, hominum divomque voluptas, 
Alma Venus oet. 
Dem Allen entspricht die wichtige Rolle, welche 
das Geschlechtsverhältniss in der Menschen weit spielt, 
als wo es eigentlich der unsichtbare Mittelpunkt al- 
les Thuns und Treibens ist und trotz allen ihm über- 
geworfenen Schleiern überall hervorguckt. Es ist die 
Ursache des Krieges und der Zweck des Friedens, die 
Grundlage des Ernstes und das Ziel des Scherzes, die 
unerschöpfliche Quelle des Witzes, der Schlüssel zu 
allen Anspielungen und der Sinn aller geheimen 
Winke, aller unausgesprochenen Anträge und aller 
verstohlenen Blicke, das tägliche Dichten und Trach- 
ten der Jungen und oft auch der Alten, der stündli- 
che Gedanke des ünkeuschen und die gegen seinen 
Willen stets wiederkehrende Träumerei des Keuschen, 
der allezeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur weil 
ihm der tiefste Ernst zum Grunde liegt. Das aber ist 
das Pikante und der Spaass der Welt, dass die Haupt- 
angelegenheit aller Menschen heimlich betrieben und 
ostensibel möglichst ignorirt wird. In der That aber 
sieht man dieselbe jeden Augenblick sich als den 
eigentlichen und erblichen Herrn der Welt, aus eige- 
ner Machtvollkommenheit, auf den angestammten 
Thron setzen und von dort herab mit höhnenden 
Blicken der Anstalten lachen, die man getroffen hat, 
sie zu bändigen, einzukerkern, wenigstens einzuschrän- 
ken und wo möglich ganz verdeckt zu halten, oder 
doch so zu bemeistern, dass sie nur als eine ganz un- 
tergeordnete Nebenangelegenheit des Lebens zum Vor- 
schein komme. — Dies Alles aber stimmt damit über- 
ein, dass der Geschlechtstrieb der Kern des Willens 
zum Leben, mithin die Koncentration alles Wollens 
ist; daher eben ich im Texte die Genitalien den Brenn- 
punkt des Willens genannt habe. Ja, man kann sagen, 
der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb; da seine 
Entstehung ein Kopulationsakt und der Wunsch 
seiner Wünsche ein Kopulationsakt ist, und dieser 
Trieb allein seine ganze Erscheinung perpetuirt und 
zusammenhält. Der Wille zum Leben äussert sich 
42 
659 
z%var zunächst als Streben zur Erhaltung des Indivi- 
duums; jedoch ist dies nur die Stufe zum Streben 
nach Erhaltung der Gattung, welches letztere in dem 
Grade heftiger seyn muss, als das Leben der Gattung, 
an Dauer, Ausdehnung und Werth, das des Indivi- 
duums übertrifft. Daher ist der Geschlechtstrieb die 
vollkommenste Aeusserung des Willens zum Leben, 
sein am deutlichsten ausgedrückter Typus: und hie- 
mit ist sowohl das Entstehen der Individuen aus ihm, 
als sein Primat über alle andern Wünsche des natür- 
lichen Menschen in vollkommener üebereinstimmung. 
Hieher gehört noch eine physiologische Bemerkung, 
welche auf meine im zweiten Buche dargelegte Grund- 
lehre Licht zurückwirft. Wie nämlich der Geschlechts- 
trieb die häufigste der Begierden, der Wunsch der 
Wünsche, die Koncentration alles unsers Wollens ist, 
und demnach die dem individuellen, mithin auf ein 
bestimmtes Individuum gerichteten Wunsche eines 
Jeden genau entsprechende Befriedigung desselben 
der Gipfel und die Krone seines Glückes, nämlich das 
letzte Ziel seiner natürlichen Bestrebungen ist, mit 
deren Erreichung ihm Alles erreicht und mit deren 
Verfehlung ihm Alles verfehlt scheint; — so finden 
wir, als physiologisches Korrelat hievon, im objekti- 
virten Willen, also im menschlichen Organismus, das 
Sperma als die Sekretion der Sekretionen, die Quint- 
essenz aller Säfte, das letzte Resultat aller organischen 
Funktionen, und haben hieran einen abermaligen Be- 
leg dazu, dass der Leib nur dieObjektität des Willens, 
d. h. der Wille selbst unter der Form der Vorstel- 
lung ist. 
An die Erzeugung knüpft sich die Erhaltung der 
Brut und an den Geschlechtstrieb die Elternliebe; in 
welchen also sich das Gattungsleben fortsetzt. Dem- 
gemäss hat die Liebe des Thieres zu seiner Brut, gleich 
dem Geschlechtstriebe, eine Stärke, welche die der 
bloss auf das eigene Individuum gerichteten Bestre- 
bungen weit übertrifft. Dies zeigt sich darin, dass selbst 
die sanftesten Thiere bereit sind, für ihre Brut auch 
den ungleichsten Kampf, auf Tod und Leben, zu über- 
nehmen und, bei fast allen Thiergattungen, die Mut- 
660 
ter für die Beschützung der Jungen jeder Gefahr, ja 
in manchen Fällen sogar dem gewissen Tode entge- 
gengeht. Beim Menschen wird diese instinktive El- 
ternliebe durch die Vernunft, d. h. die Ueberlegung, 
geleitet und vermittelt, bisweilen aber auch gehemmt, 
welches, bei schlechten Charakteren, bis zur völligen 
Verleugnung derselben gehen kann: daher können 
wir ihre Wirkungen am reinsten bei den Thieren be- 
obachten. An sich selbst ist sie jedoch im Menschen 
nicht weniger stark: auch hier sehen wir sie, in ein- 
zelnen Fällen, die Selbstliebe gänzlich überwinden 
und sogar bis zur Aufopferung des eigenen Lebens 
gehen. So z. B. berichten noch soeben die Zeitungen 
aus Frankreich, dass zu Chahars, im Departement du 
Lot, ein Vater sich das Leben genommen hat, damit 
sein Sohn, den das Loos zum Kriegsdienst getrotten 
hatte, der älteste einer Witwe und als solcher davon 
befreit seyn sollte. (Galignani's Messenger vom 22. 
Juni 1843.) Bei den Thieren jedoch, da sie keiner 
UeberlegungfähigsindjZeigt die instinktive Mutterliebe 
(das Männchen ist sich seiner Vaterschaft meistens 
nicht bewusst) sich unvermittelt und unverfälscht, 
daher mit voller Deutlichkeit und in ihrer ganzen 
Stärke. Im Grunde ist sie der Ausdruck des Bewusst- 
seyns im Thiere, dass sein wahres Wesen unmittel- 
barer in der Gattung, als im Individuo liegt, daher 
es nöthigenfalls sein Leben opfert, damit, in den Jun- 
gen, die Gattung erhalten werde. Also wird hier, wie 
auch im Geschlechtstriebe, der Wille zum Leben ge- 
wissermaassen transszendent, indem sein Bewusstseyn 
sich über das Individuum, welchem es inhärirt, hin- 
aus, auf die Gattung erstreckt. Um diese zweite Aeus- 
serung des Gattungslebens nicht bloss abstrakt aus- 
zusprechen, sondern sie dem Leser in ihrer Grösse 
und Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, will ich von 
der überschwänglichen Stärke der instinktiven Mut- 
lerliebe einige Beispiele anführen. 
Die Seeotter, wenn verfolgt, ergreift ihr Junges und 
taucht damit unter: wann sie, um zu athmen, wieder 
auftaucht, deckt sie dasselbe mit ihrem Leibe und 
empfängt, während es sich rettet, die Pfeile des Jä- 
661 
gers. — Einen jungen Wallfisch erlegt man bloss, um 
die Mutter herbeizulocken, welche zu ihm eilt und 
ihn selten verlässt, so lange er noch lebt, wenn sie 
auch von mehreren Harpunen getroffen wird. (Sco- 
reby's Tagebuch einer Reise auf den Wallfischfang; 
aus dem Englischen von Kries, S. 196) — An der 
Drei-Königs-Insel, bei ISeuseeland, leben kolossale 
Phoken, See-Elephanten genannt (Phoca proboscidea). 
In geordneter Schaar um die Insel schwimmend näh- 
ren sie sich von Fischen, haben jedoch unter dem 
Wasser gewisse, uns unbekannte, grausame Feinde, 
von denen sie oft schwer verwundet w erden : daher 
verlangt ihr gemeinsames Schwimmen eine eigene 
Taktik. Die Weibchen werfen auf dem Ufer: während 
sie dann säugen, welches sieben bis acht Wochen dau- 
ert, schliessen alle Männchen einen Kreis um sie, um 
zu vei'hindern, dass sie nicht, vom Hunger getrieben, 
in die See gehen, und wenn dies versucht wird, weh- 
ren sie es durch Beissea. So hungern sie alle mit ein- 
ander sieben bis acht Wochen hindurch und werden 
sämmtlich sehr mager, bloss damit die Jungen nicht 
in See gehen, bevor sie im Stande sind, wohl zu schwim- 
men und die gehörige Taktik, welche ihnen dann 
durch Stossen und Beissen beigebracht wird, zu be- 
obachten. (Freycinet, Voy. aux terres australes, 1826.) 
Hier zeigt sich auch, wie die Elternliebe, gleich jeder 
starken Bestrebung des Willens (siehe Kap. 19, 6), 
die Intelligenz steigert. — Wilde Enten, Grasmücken 
und viele andere Vögel fliegen, wann der Jäger sich 
dem Neste nähert, mit lautem Geschrei ihm vor die 
Füsse und flattern hin und her, als wären ihre Flügel 
gelähmt, um die Aufmerksamkeit von der Brut ab auf 
sich zu lenken. — Die Lerche sucht den Himd von 
ihrem Neste abzulocken, indem sie sich selbst preis- 
giebt. Eben so locken weibliche Hirsche und Rehe 
an, sie selbst zu jagen, damit ihre Jungen nicht ange- 
griffen werden. — - Schwalben sind in brennende Häu- 
ser geflogen, um ihre Jungen zu retten, oder mit ihnen 
unterzugehen. In Delft't liess sich, bei einer heftigen 
Feuersbrunst, ein Storch im Neste verbrennen, um 
seine zarten Jungen, die noch nicht fliegen konnten, 
662 
nicht zu verlassen. (Hadr. Jiinius, Descriptio HoUan- 
diae.) Auerhahn und Waldschnepfe lassen sich brü- 
tend auf dem Neste fangen. Muscicapa tyrannus ver- 
theidigt ihr Nest mit besonderem Muthe und setzt 
sich selbst gegen Adler zur Wehr. — Eine Ameise 
hat man quer durchgeschnitten, und sah die vordere 
Hälfte noch ihre Puppen in Sicherheit bringen. — 
Eine Hündin, der man die Jungen aus dem Leibe ge- 
schnitten hatte, kroch sterbend zu ihnen hin, liebkoste 
sie und lieng erst dann heftig zu winseln an, als man 
sie ihr nahm. (Bwdach, Physiologie als Erfahrungs- 
wissenschaft, Bd. 2 und 3.) 
KAPITEL 43. 
ERBLICHKEIT DER EIGENSCHAFTEN. 
DASS, bei der Zeugung, die von den Eltern zu- 
sammengebrachten Keime nicht nur die Eigen- 
thümlichkeiten der Gattung, sondern auch die der 
Individuen fortpflanzen, lehrt, hinsichtlich der leib- 
lichen (objektiven, äussern) Eigenschaften, die alltäg- 
lichste Erfahrung, auch ist es von jeher anerkannt 
worden : 
Naturae sequilur seiiiina (juisque suae. 
Catull. 
Ob dies nun ebenfalls von den geistigen (subjektiven, 
innern) Eigenschaften gelte, sodass auch diese sich von 
den Eltern auf die Kinder vererbten, ist eine schon 
öfter aufgeworfene und fast allgemein bejahte Frage. 
Schwieriger aber ist das Problem, ob sich hiebei son- 
dern lasse, was dem Vater und was der Mutter ange- 
hört, welches also das geistige Erbtheil sei, das wir 
von jedem der Eltein überkommen. Beleuchten wir 
nun dieses Problem mit unserer Grunderkenntniss, 
dass der fFille das Wesen an sich, der Kern, das Ra- 
dikale im Menschen; der Intellekt hingegen das Sekun- 
663 
däre, das Adventitium, das Acridenz jener Substanz 
sei, so werden wir, vor Befragung der Erfahrung, es 
wenigstens als wahrsclieinlich annehmen, dass, bei der 
Zeugung, der Vater, als sexus potior und zeugendes 
Princip, die Basis, das Radikale des neuen Lebens, also 
den Willen verleihe, die Mutter aber, als sexus sequior 
und bloss empfangendes Princip, das Sekundäre, den 
Intellekt., dass also der Mensch sein Moralisches, sei- 
nen Charakter, seine Neigungen, sein Herz, vom Vater 
erbe, hingegen den Grad, die Beschaffenheit und Rich- 
tung seiner Intelligenz von der Mutter. Diese Annah- 
me nun findet wirklich ihre Bestätigung in der Er- 
fahrung; nur dass diese hier nicht durch ein physi- 
kalisches Experiment auf dem Tisch entschieden wer- 
den kann, sondern theils aus vieljähriger, sorgfälti{;er 
und feiner Beobachtung und theils aus der Geschiclite 
hervorgeht. 
Die eigene Erfahrung hat den Vorzug völliger Ge- 
wissheit und grösster Special ität, wodurch der Nach- 
theil, der ihr daraus erwächst, dass ihre Sphäre be- 
schränkt und ihre Beispiele nicht allbekannt sind, 
überwogen wird. An sie zunächst weise ich daher 
einen Jeden. Zuvörderst betrachte er sich selbst, ge- 
stehe sich seine Neigungen und Leidenschaften, seine 
Charakterfehler und Schwächen, seine Laster, wie 
auch seine Vorzüge und Tugenden, wenn er deren 
hat, ein: dann aber denke er zurück an seinen Vater, 
und es wird nicht fehlen, dass er jene sämmthchen 
Charakterzüge auch an ihm gewahr werde. Hingegen 
wird er die Mutter oft von einem ganz verschiedenen 
Charakter finden, und eine moralische Lebereinstim- 
nmng mit dieser wird höchst selten, nämlich nur durch 
den besondern Zufall der Gleichheit des Charakters 
beider Eltern, Statt finden. Er stelle diese Prüfung an 
z. B. in Hinsicht auf Jähzornigkeit, oder Gedidd, Geiz, 
oder Verschwendung, Neigung zur Wollust, oder zur 
Völlerei, oder zum Spiel, Hartherzigkeit, oder Güte, 
Redlichkeit, oder Falschheit, Stolz, oder Leutselig- 
keit, Muth, oder Feigheit, Friedfertigkeit, oder Zank- 
sucht, Versöhnlichkeit, oder Groll U.S. f. Danach stelle 
er die selbe Untersuchung an, an allen Denen, deren 
664 
Charakter und deren Eltern ihm genau bekannt ge- 
worden sind. Wenn er aufmerksam, mit richtigem 
Urtheil und aufrichtig verfährt, wird die Bestätigung 
iHisers Satzes nicht ausbleiben. So z. B. wird er den, 
manchen Menschen eigenen, speciellen Hang zum Lü- 
gen in zwei Brüdern gleichmässig vorhanden finden; 
weil sie ihn vom Vater geerbt haben: dieserlialb ist 
auch die Komödie „Der Lügner und sein Sohn" psy- 
chologisch richtig. - — Inzwischen sind hier zwei un- 
vermeidliche Beschränkungen zu berücksichtigen, 
welche nur offenbare Ungerechtigkeit als Ausflüchte 
deuten könnte. Nämlich erstlich; pater semper incer- 
tns. Nur eine entschiedene körperliche Aehnlichkeit 
mit dem Vater beseitigt diese Beschränkung; hinge- 
gen ist eine oberflächliche hiezu nicht hinreichend: 
denn es giebt eine Nachwirkung früherer Befruchtung, 
vermöge welcher bisweilen die Kinder zweiter Ehe 
noch eine leichte Aehnlichkeit mit dem ersten Gatten 
haben, und die im Ehebruch erzeugten mit dem legi- 
timen Vater. Noch deutlicher ist solche Nachwirkung 
bei Thieren beobachtet worden. Die zweite Beschrän- 
kung ist, dass im Sohn zwar der moralische Charak- 
ter des Vaters auftritt, jedoch unter der Modifikation, 
die er durch einen andern, oft sehr verschiedenen In- 
tellekt (dem Erbtheil von der Mutter) erhalten hat, 
wodurch eine Korrektion der Beobachtung nöthig 
wird. Diese Modifikation kann, nach Maassgabe jenes 
l nterschiedes, bedeutend oder gering sevn, jedoch nie 
so gross, dass nicht auch unter ihr die Grundzüge des 
väterlichen Charakters noch immer kenntlich genug 
aufträten; etwan wie ein Mensch, der sich durch eine 
ganz fremdartige Kleidung, Perrücke und Bart ent- 
stellt hätte. Ist z. B., vermöge des Erbtheils von der 
Mutter, ein Mensch mit überwiegender Vernunft, al- 
so der Fähigkeit zum Nachdenken, ziir Lebei'legxing, 
ausgestattet; so werden durch diese seine vom Vater 
ererbten Leidenschaften theils gezügelt, theils ver- 
steckt werden, imd demnach nur zu methodischer 
und planmässiger, oder heimlicher Aeusserung ge- 
Jangen, woraus dann eine von der des Vaters, welcher 
etwan nur einen ganz beschränkten Kopf hatte, sehr 
66.5 
\ erschiedene Erscheinunj; hervorgehen wird : und eben 
so kann der uni{jekehrte Fall eintreten. — Die Nei- 
gungen und Leidenschaften der Mutter hingegen fin- 
den sich in den Kindern durchaus nicht wieder, oft 
sogar ihr Gegentheil. 
Die historischen Beispiele haben vor denen des Pri- 
vatlebens den Vorzug, allgemein bekannt zu seyn; 
wogegen sie freilich durch die Unsicherheit und häu- 
fige Verfälschung aller Ueberlieferung, zudem auch 
dadurch beeinträchtigt werden, dass sie in der Regel 
nur das öftentliche, nicht das Privatleben und dem- 
nach nur die Staatshandlungen, nicht die feineren 
Aeusserungen des Charakters enthalten. Inzwischen 
will ich die in Rede stehende Wahrheit durch einige 
historische Beispiele belegen, zu denen Die, welche 
aus der Geschichte ein Hauptstudium gemacht haben, 
ohne Zweifel noch eine viel grössere Anzahl eben so 
treffender werden hinzufügen können. 
Bekanntlich brachte P. Deciiis Mus, mit heroischem 
Edelmuth, sein Leben dem Vaterlande zum Opfer, 
indem er, sich und die Feinde feierlich den unter- 
irdischen Göttern weihend, mit verhülltem Haupte, 
in das Heer der Lateiner sprengte. Ungefähr vierzig 
Jahre später that sein Sohn, gleiches Namens, genau 
das Selbe, im Kriege gegen die Gallier (Liv., VHI, 6; 
X, 28.) Also ein rechter Beleg zu dem Horazischen: 
fortes creantur fortibus et bonis: — dessen Kehrseite 
Shakespeare liefert: 
Cowards father cowards, aiid base things siie base*). 
Cymb., IF, 2. 
Die ältere römische Geschichte führt uns ganze Fami- 
lien vor, deren Glieder, in zahlreicher Succession, sich 
durch hingebende Vaterlandsliebe und Tapferkeit aus- 
zeichnen : so die gens Fabia und die gens Fabricia. — 
Wiederum Jlexandev der Grosse war herrsch- und 
eroberungssüchtig, wie sein Vater Philipp. — Sehr 
beachtenswerth ist der Stammbaum des Nero, wel- 
chen Suetonius (c. 4 et 5), in moralischer Absicht, der 
') Memmen zeugen Memmen, und Niederträchtiges Niedeiw 
trächtiges. 
666 
Schilderung dieses Ungeheuers voransetzt. Es ist die 
gens Claudia, die er beschreibt, welche sechs Jahr- 
hunderte hindurch in Rom geblüht und lauter thätige, 
aber übermüthige und grausame Männer hervorge- 
bracht hat, Ihr ist Tiberius, Caligula und endlich Nero 
entsprossen. Schon in seinem Grossvater und noch 
stärker im Vater zeigen sich alle die entsetzlichen 
Eigenschaften, welche ihre völlige Entwickelung erst 
im Nero erhalten konnten, theils weil sein hoher Stand- 
platz ihnen freiem Spielraum gestattete, theils weil 
er noch dazu die unvernünftige Mänade Agrippina 
zur Mutter hatte, welche ihm keinen Intellekt ver- 
leihen konnte, seine Leidenschaften zu zügeln. Ganz 
in unserm Sinn erzählt daher Suetonius, dass bei sei- 
ner Geburt praesagio fuit etiam Domitii, patris, vox, 
inter gratulationes amicorum, negantis, quidquam ex 
se et Agrippina, nisi detestabile et malo publico nasci 
potuisse. — Hingegen war Kimon der Sohn des Mil- 
tiades, und Hannihal des Hamilkars, und die Scipioneu 
bilden eine ganze Familie von Helden und edlen Ver- 
theidiger des Vaterlandes. — Aber des Papstes Alex- 
anders VI. Sohn war sein scheussliches Ebenbild 
Cäsar Borgia. Der Sohn des berüchtigten Herzogs von 
Alba ist ein eben so grausamer und böser Mensch ge- 
wesen, wie sein Vater. — Der tückische, ungerechte, 
zumal durch die grausame Folterung und Hinrich- 
tung der Tempelherren bekannte Philipp IF. von 
Frankreich hatte zur Tochter Isabella, Gemahlin Edu- 
ards II. von England, welche gegen diesen feindlich 
auftrat, ihn gefangen nahm und, nachdem er die Ab- 
dankungsakte unterschrieben hatte, ihn im Gefäng- 
niss, da der Versuch ihn durch Misshandlungen zu 
tödten erfolglos blieb, auf eine Weise umbringen Hess, 
die zu schauderhaft ist, als dass ich sie wieder erzäh- 
len möchte. — - Der blutdürstige Tyrann und defensor 
fidei Heinrich VIIL von England hatte zur Tochter 
erster Ehe die durch Bigotterie und Grausamkeit gleich 
ausgezeichnete Königin Maria, welche durch ihre 
zahlreichen Ketzerverbrennungen sich die Bezeich- 
nung bloody Mary erworben hat. Seine Tochter zwei- 
ter Ehe, Elisabeth, hatte von ihrer Mutter, Anna Bul- 
667 
len, einen ausgezeiclnietcn Verstand überkonimen, 
welcher die Bigotterie niclit zuliess und den väterli- 
chen Charakter in ihr zügelte, jedoch nicht aufhob; 
so dass er immer noch gelegentlich durchschimmerte 
und in dem grausamen Verfahren gegen die Maria 
von Schottland deutlich hervortrat. — Van Geuns*) 
erzählt, nach Markus Donatus, von einem Schotti- 
schen Mädchen, deren Vater, als sie erst ein Jahr alt 
gewesen, als Strassenräuber und Menschenfresser ver- 
brannt worden war: obwohl sie unter ganz andern 
Leuten aufwuchs, entwickelte sich, bei zunehmendem 
Alter, in ihr die selbe Gier nach Menschenfleisch, und 
bei deren Befriedigung ertappt, wurde sie lebendig 
begraben. — Im „Freimüthigen", vom i3. Juli i8s>i, 
lesen wir die Nachricht, dass im Departement de 
l'Aube die Polizei ein Mädchen verfolgt habe, weil 
sie zwei Kinder, die sie ins Findelhaus bringen sollte, 
gemordet hatte, um das wenige, den Kindern beigeleg- 
te Geld zu behalten. Endlich fand die Polizei das Mäd- 
chen, auf dem Wege nach Paris, bei Romillv ersäuft, 
und als ihr Mörder ergab sich ihr eigener Vater. — 
Endlich seien hier noch ein Paar Fälle aus der neue- 
ren Zeit erwähnt, welche demgemäss nur die Zeitun- 
gen zu Gewährsmännern liaben. Im Oktober l836 
wurde in Ungarn ein Graf Delecznai zum Tode ver- 
urtheilt, weil er einen Beamten gemordet und seine 
eigenen Verwandten schwer verwundet hatte: sein 
älterer Bruder war früher als Vatermörder hingerich- 
tet worden und sein Vater ebenfalls ein Mörder ge- 
wesen. (Frankfurter Postzeitung, den 26. Okt. i836.) 
Ein Jahr später hat der jüngste Bruder jenes Grafen 
auf eben der Strasse, wo dieser den Beamten ermor- 
det hatte, auf den Fiskalagenten seiner Güter ein Pistol 
abgeschossen, jedoch ihn verfehlt. (Frankfurter Jour- 
nal, den 16. Sept. 1887.) In der Frankfurter Postzei- 
tung vom 19. Nov. 1857 meldet ein Schreiben aus 
Paris die Verurtheilung eines sehr gefährlichen Stras- 
senräubers Leniaüe und seiner Gesellen zum Tode, 
imd fügt hinzu: „Der verbrecherische Hang erscheint 
') Disputatio de corponim habitudiiie, aiiiniac, hiijiisfjne viri- 
uni indice. Hardcrov. 1789. 5. g. 
668 
als erblich in seiner und seiner Genossen Familie, in- 
dem mehrere ihres Geschlechts auf dem Schaffet ge- 
storben sind". — Die Annalen der Kriminalistik wer- 
den gewiss manche ähnliche Stammbäume aufzuwei- 
sen haben. — Vorzüglich erblich ist der Hang zum 
Selbstmord. 
Sehen wir nun aber andererseits den vortrefflichen 
Mark Aurel den schlechten Kommodus zum Sohne 
haben; so macht uns Dies nicht irre; da wir wissen, 
dass die Diva Faustina eine uxor infamis war. Im Ge- 
gentheil, wir merken uns diesen Fall, um bei analo- 
gen einen analogen Grund zu vermuthen; z. B. dass 
Domitian der vollständige Bruder des Titus gewesen 
sei, glaube ich nimmermehr, sondern dass auch Ves- 
pasian ein betrogener Ehemann gewesen. — 
Was nun den zweiten Theil des aufgestellten Grund- 
satzes, also die Erblichkeit des Intellekts von der Mut- 
ter, betrifft; so geniesst dieser einer viel allgemeine- 
ren Anerkennung als der erste, als welchem an sich 
selbst das libei'um arbitrium indifferentiae, seiner ge- 
sonderten Auffassung aber die Einfachheit und Un- 
theilbarkeit der Seele entgegensteht. Schon der alte 
und populäre Ausdruck „Mutterwitz" bezeugt die 
frühe Anerkennung dieser zweiten Wahrheit, welche 
auf der an kleinen, wie an grossen intellektuellen Vor- 
zügen gemachten Erfahrung beruht, dass sie die Be- 
gabung Derjenigen sind, deren Mütter sich verhält- 
nissmässig durch ihre Intelligenz auszeichneten. Dass 
hingegen die intellektuellen Eigenschaften des Vaters 
nicht auf den Sohn übergehen, beweisen sowohl die 
Väter als die Söhne der durch die eminentesten Fähig- 
keiten ausgezeichneten Männer, indem sie, in der Re- 
gel, ganz gewöhnliche Köpfe und ohne eine Spur der 
väterlichen Geistesgaben sind. Wenn nun aber gegen 
diese vielfach bestätigte Erfahrung ein Mal eine ver- 
einzelte Ausnahme auftritt, wie z. B. Pitt und sein 
Vater Lord Chathani eine darbieten; so sind wir be- 
fugt, ja genöthigt, sie dem Zufall zuzuschreiben, ob- 
gleich derselbe, wegen der ungemeinen Seltenheit 
grosser Talente, gewiss zu den ausserordentlichsten 
669 
gehört. Hier gilt jedoch die Regel: es ist unwahr- 
scheinlich, dass das Unwahrscheinliche nie geschehe. 
Zudem sind grosse Staatsmanner ('wie schon Kap. 22 
erwähnt) es ehen so sehr durch die Eigenschaften 
ihres Charakters, also durch das väterliche Erbtheil, 
wie durch die Vorzüge ihres Koples. Hingegen von 
Künstlern, Dichtern und Philosophen, deren Leistun- 
gen allein es sind, die man dem eigentlichen Genie 
zuschreibt, ist mir kein jenem analoger Fall bekannt. 
Zwar war Raphaels Vater ein Maler, aber kein grosser; 
Mozarts Vater, wie auch sein Sohn, waren Musiker, 
jedoch nicht grosse. Wohl aber müssen wir es be- 
wundern, dass das Schicksal, welches jenen beiden 
grössten Männern ihrer Fächer nur eine sehr kurze 
Lebensdauer bestimmt hatte, gleichsam zur Kompen- 
sation, dafür sorgte, dass sie, ohne den bei andern Ge- 
nies meistens eintretenden Zeitverlust in der Jugend 
zu erleiden, schon von Kindheit auf, durch väterliches 
Beispiel und Unterweisung, die nöthige x\nleilung in 
der Kunst, zu welcher sie ausschliesslich bestimmt 
waren, erhielten, indem es sie schon in ihrer Werk- 
stätte geboren werden liess. Diese geheime und räthsel- 
hafte Macht, welche das individuelle Leben zu len- 
ken scheint, ist mir der Gegenstand besonderer Be- 
trachtungen gewesen, welche ich in dem Aufsatze 
„Ueber die scheinbare Absichtlichkeit im Schicksale 
des Einzelnen" (Parerga, Bd. i) mitgeteilt habe. — 
Noch ist hier zu bemerken, dass es gewisse wissen- 
schaftliche Beschäftigungen giebt, welche zwar gute, 
angeborene Fähigkeiten voraussetzen, jedoch nicht 
die eigentlich seltenen und überschwänglichen, wäh- 
rend eifriges Bestreben, Fleiss, Geduld, frühzeitige 
Unterweisung, anhaltendes Studium tmd vielfache 
Uebung die Haupterfordernisse sind. Hieraus, und 
nicht aus der Erblichkeit des Intellekts vom Vater, 
ist es erklärlich, dass, da überall gern der Sohn den 
vom Vater gebahnten Weg betritt und fast alle Ge- 
werbe in gewissen Familien erblich sind, auch in eini- 
gen Wissenschaften, welche vor Allem Fleiss und Be- 
harrlichkeit erfordern, einzelne Familien eine Succes- 
sion von verdienten Männern aufzuweisen haben: 
670 
dahin gehören die Scahger, die Bernouillys, die Cas- 
sinis, die Herschel. 
Für die wirkhche Erbhchkeit des Intellekts von der 
Mutter würde die Zahl der Belege viel grösser seyn, 
als sie vorliegt, wenn nicht der Charakter und die Be- 
stimmung des weiblichen Geschlechts es mit sich 
brächte, dass die Frauen von ihren Geisteslähigkeiten 
selten öffentliche Proben ablegen, daher solche nicht 
geschichtlich werden und zur Kunde der Nachwelt ge- 
langen. Ueberdies können, wegen der durchweg schwä- 
cheren Beschaffenheit des weiblichen Geschlechts, 
diese Fähigkeiten selbst nie bei ihnen den Grad er- 
reichen, bis zu welchem sie, unter günstigen Umstän- 
den, nachmals im Sohne gehen: in Hinsicht auf sie 
selbst aber haben wir ihre Leistungen in eben diesem 
Verhältniss höher anzuschlagen. Demgemäss nun bie- 
ten sich mir vor der Hand nur folgende Beispiele als 
Belege unserer Wahrheit dar. Joseph II. war Sohn 
der Maria Theresia. — Cai-danus sagt im dritten Ka- 
pitel De vita propria : mater mea fuit memoria et in- 
genio pollens. — /. /. Bousseau sagt, im ersten Buche 
der Confessions: la beaute de ma mere, son esprit, 
ses talents, — eile en avait de trop brillans pour son 
etat u. s. w., und bringt dann ein allerliebstes Cou- 
plet von ihr bei. — D'Alenihert war der uneheliche 
Sohn der Claudine v. Tencin, einer Frau von überle- 
genem Geiste und Verfasserin mehrerer Bomane und 
ähnlicher Schriften, welche zu ihrer Zeit grossen Bei- 
fall fanden und auch noch geniessbar seyn sollen. (Siehe 
ihre Biographie in den „Blättern für litterarische Un- 
terhaltung", März 1 845, Nr. 7 1 — ^78.) - — Dass Büßons 
Mutter eine ausgezeichnete Frau gewesen ist, bezeugt 
folgende Stelle aus dem Voyage ä Montbar, par Herault 
de Sechelles, welche Flourens beibringt, in seiner 
Histoire des travaux de Buffon, S. a88: Buffon avait 
ce principe qu'en general les enfants tenaient de leur 
mere leurs qualites intellectuelles et morales: et lors- 
qu'il Favait developpe dans la conversation, il en fai- 
sait sur-le-champ Fapplication ä lui-meme, en faisant 
un eloge pompeux de sa mere, qui avait en effet, beau- 
coup d'esprit, des connaissances etendues, et une tete 
67 I 
tres bien oqjanisc'C. Dass er die moralisclien Eigen- 
schaften niitnennt, ist ein Irrthuni,den entweder der 
Berichterstatter hegeht, oder der darauf beruht, dass 
seine INIntter zufäHig den selben Cliarakter hatte, wie 
er und sein Vater. Das Gegentheil hievon bieten uns 
unzähhge Fälle dar, wo Mutter und Sohn den ent- 
gegengesetzten Charakter haben: daher konnten, im 
Orest und Hamlet, die grössten Dramatiker Mutter 
und Sohn in feindlichem Widerstreit darstellen, wo- 
bei der Sohn als moralischer Stellvertreter und Rächer 
des Vaters auftritt. Hingegen würde der umgekehrte 
Fall, dass der Sohn als moralischer Stellvertreter und 
Rächer der Mutter gegen seinen Vater aufträte, em- 
pörend und zugleich fast lächerlich sevn. Dies beruht 
darauf, dass zwischen Vater und Sohn wirkliche Iden- 
tität des Wesens, welches der Wille ist, besteht, zwi- 
schen Mutter und Sohn aber blosse Identität des Intel- 
lekts, und selbst diese noch bedingter Weise. Zwischen 
Mutter und Sohn kann der grösste moralische Gegen- 
satz bestehen, zwischen Vater und Sohn nur ein in- 
tellektueller. Auch von diesem Gesichtspunkt aus soll 
man die Nothwendigkeit des Salischen Gesetzes er- 
kennen: das Weib kann den Stamm nicht fortführen 
- — - Hwne, in seiner kurzen Selbstbiographie, sagt: 
Our mother was a woman of singular merit*). Ueber 
Kants Mutter heisst es in der neuesten Biographie von 
F. W. Schubert: „Nach dem eigenen Urtheil ihres 
Sohnes war sie eine Frau von grossem natürlichen 
Verstände. F'ür die damalige Zeit, bei der so seltenen 
Gelegenheit zur Ausbildung der Mädchen, war sie 
vorzugsweise gut unterrichtet und sorgte auch später- 
hin durch sich selbst für ihre weitere Ausbildung 
fort. Auf Spaziergängen machte sie ihren Sohn 
auf allerlei Erscheinungen der ISatur aufmerksam und 
versuchte sie durch die Macht Gottes zu erklären." — 
Welche ungemein verständige, geistreiche und über- 
legene Frau Goethe s Mutter gewesen, ist jetzt allbe- 
kannt. Wie viel ist nicht in der Litteratur von ihr 
geredet worden! von seinem Vater aber gar nicht: er 
selbst schildert ihn als einen Manu von untergeord- 
*) Unsere Mutter war eine Frau von ausgezeichneten Vorzügen. 
672 
neten Fähigkeiten. — Schillers Mutter war für Poesie 
empfänglich und machte selbst Verse, von denen ein 
Bruchstück zu finden ist in seiner Biographie von 
Schivab. — Bürger, dieses ächte Dichtergenie, dem 
vielleicht die erste Stelle nach Goethen unter den 
Deutschen Dichtern gebürt, da, gegen seine Balladen 
gehalten, die Schillerschen kalt und gemacht erschei- 
nen, hat über seine Eltern einen für uns bedeutsamen 
Bericht erstattet, welchen sein Freund und Arzt Alt- 
hof, in seiner 1798 erschienenen Biographie, mit die- 
sen Worten wiedergiebt: „Bürgers Vater war zwar 
mit mancherlei Kenntnissen, nach der damaligen 
Studierart, versehen, und dabei ein guter, ehrlicher 
Mann : aber er liebte eine ruhige Bequemlichkeit und 
seine Pfeife Tabak so sehr, dass er, wie mein Freund 
zu sagen pflegte, immer erst einen Anlauf nehmen 
musste, wenn er ein Mal ein Viertelstündchen auf den 
Unterricht seines Sohnes verwenden sollte. Seine Gat- 
tin war eine Frau von den ausserordentlichsten Gei- 
stesanlagen, die aber so wenig angebaut waren, dass 
sie kaum leserlich schreiben gelernt hatte. Bürger 
meinte, seine Mutter würde, bei gehöriger Kultur, 
die Berühmteste ihres Geschlechts geworden seyn; ob 
er gleich mehrmals eine starke Missbilligung ver- 
schiedener Züge ihres moralischen Charakters äusser- 
te. Indessen glaubte er, von seiner Mutter einige An- 
lagen des Geistes, von seinem Vater aber eine Ueber- 
einstimmungmit dessen moralischem Charakter geerbt 
zu haben." — Walter Scotts Mutter war eine Dich- 
terin und stand mit den schönen Geistern ihrer Zeit 
in Verbindung, wie uns der Nekrolog W. Scotts im 
Englischen Globe, vom 24. Sept. 1 882, berichtet. Dass 
Gedichte von ihr 1 789 im Druck erschienen sind, fin- 
de ich in einem „Mutterwitz" überschriebenen Auf- 
satz, in den von Blockhaus herausgegebenen „Blättern 
für litterarische Unterhaltung", vom 4- Okt. 1841, 
welcher eine lange Liste geistreicher Mütter berühm- 
ter Männer liefert, aus der ich nur zwei entnehmen 
will: „^aAo'5 Mutter war eine ausgezeichnete Sprach- 
kennerin, schrieb und übersetzte mehrere Werke und 
bewies in jedem Gelehrsamkeit, Scharfsinn und Ge- 
43 Schopenhauer II 673 
schmack. — Boerhaves Mutter zeichnete sich durch 
medicinische Kenntnisse aus." — Andererseits hat uns 
für die Erbhchkeit der Geistesschwäche von den Müt- 
tern einen starken Beleg Haller aufbewahrt, indem 
er anführt: E duabus patriciis sororibus, ob divitias 
jnaritos nactis, quum tarnen fatuis essent proximae, 
novimus in nobihssimas gentes nunc a seculo retro 
ejus morbi ma nasse seminia, ut etiam in quarta gene- 
ratione, quintave, omniiun posterorum ahqui fatui 
supersint, (Elementa physiol., hb. XXIX, §. 8.) — 
Auch nach Esquirol vererbt der Wahnsinn sich häu- 
figer von der Mutter, als vom Vater. Wenn er jedoch 
von diesem sich vererbt, schreibe ich es den Gemüths- 
anlagen zu, deren Wirkung ihn veranlasst. 
Aus unserm Grundsatz scheint zu folgen, dass Söhne 
der selben Mutter gleiche Geisteskräfte haben und, 
wenn Einer hochbegabt wäre, auch der andere es seyn 
müsste. Mitunter ist es so: Beispiele sind die Can^acci, 
Joseph und Michael Haydn., Bernhard und Andreas 
Rombei'g, Georg und Friedrich Cuvie?-: ich würde auch 
hinzusetzen, die Gebrüder Schlegel; wenn nicht der 
jüngere, Friedrich, durch den in seinem letzten Le- 
bensviertel, im Verein mit Adam Müller getriebenen, 
schimpflichen Obskurantismus, sich der Ehre, neben 
seinem vortrefflichen, untadelhaften und so höchst 
ausgezeichneten Bruder, August Wilhelm, genannt zu 
werden, unwürdig gemacht hätte. Denn Obskuran- 
tismus ist eine Sünde, vielleicht nicht gegen den hei- 
ligen, doch gegen den menschlichen Geist, die man 
daher nie verzeihen, sondern Dem, der sich ihrer 
schuldig gemacht, Dies, unversöhnlich, stets und über- 
all nachtragen und bei jeder Gelegenheit ihm Ver- 
achtung bezeugen soll, so lange er lebt, ja, noch nach 
dem Tode. — Aber eben so oft trifft die obige Folge- 
rung nicht zu ; wie denn z. B. Kants Bruder ein ganz 
gewöhnlicher Mann war. Um dies zu erklären, erin- 
nere ich an das im 3i. Kapitel über die physiologi- 
schen Bedingungen des Genies Gesagte. Nicht nur ein 
ausserordentlich entwickeltes, durchaus zweckmässig 
gebildetes Gehirn (der Antheil der Mutter) ist erfor- 
dert, sondern auch ein sehr energischer Herzschlag, 
674 
es zu aniniiren, d. h. subjektiv ein leidenschaftlicher 
Wille, ein lebhaftes Temperament: dies ist das Erb- 
theil vom Vater. Allein eben Dieses steht nur in des- 
sen kräftigsten Jahren auf seiner Höhe, und noch 
schneller altert die Mutter. Demgemäss werden die 
hochbegabten Söhne, in der Regel, die ältesten, bei 
voller Kraft beider Eltern gezeugten seyn: so war 
auch Kants Bruder elf Jahre jünger als er. Sogar von 
zwei ausgezeichneten Brüdern wird, in der Regel, der 
ältere der vorzüglichere seyn. Aber nicht nur das Al- 
ter, sondern jede vorübergehende Ebbe der Lebens- 
kraft, oder sonstige Gesundheitsstörung, in den Eltern, 
zur Zeit der Zeugung, vermag den Antheil des Einen 
oder des Andern zu verkümmern und die eben daher 
so überaus seltene Erscheinung eines eminenten Ta- 
lents zu hintertreiben. — Beiläufig gesagt, ist das 
Wegfallen aller soeben berührten Unterschiede bei 
Zwillingen die Ursache der Quasi -Identität ihres 
Wesens. 
Wenn einzelne Fälle sich finden sollten, wo ein 
hochbegabter Sohn keine geistig ausgezeichnete Mut- 
ter gehabt hätte; so liesse Dies sich daraus erklären, 
dass diese Mutter selbst einen phlegmatischen Vater 
gehabt hätte, weshalb ihr ungewöhnlich entwickel- 
tes Gehirn nicht durch die entsprechende Energie des 
Blutumlaufs gehörig excitirt gewesen wäre; — ein 
Erforderniss, welches ich oben, Kapitel 3i, erörtert 
habe. Nichtsdestoweniger hätte ihr höchst vollkom- 
menes Nerven- und Cerebralsystem sich auf den Sohn 
vererbt, bei welchem nun aber ein lebhafter und lei- 
denschaftlicher Vater, von energischem Herzschlag, 
hinzugekommen wäre, wodurch dann erst hier die 
andere somatische Bedingung grosser Geisteskraft ein- 
getreten sei. Vielleicht ist dies Byrons Fall gewesen; 
da wir die geistigen Vorzüge seiner Mutter nirgends 
erwähnt finden. — Die selbe Erklärung ist auch auf 
den Fall anzuwenden, dass die durch Geistesgaben 
ausgezeichnete Mutter eines genialen Sohnes selbst 
keine geistreiche Mutter gehabt hätte; indem der Va- 
ter dieser ein Phlegma tikus gewesen. 
Das Disharmonische, Ungleiche, Schwankende im 
43* 675 
Charakter der meisten Menschen möchte vielleicht 
daraus abzuleiten seyn, dass das Individuum keinen 
einfachen Ursprung hat, sondern den Willen vom 
Vater, den Intellekt von der Mutter üijerkommt. Je 
heterogener, unangemessener zu einander beide Eltern 
"waren, desto grösser wird jene Disharmonie, jener 
innere Zwiespalt seyn. Während Einige durch ihr 
Herz, Andere durch ihren Kopf excellii'en, giebt es 
noch Andere, deren Vorzug bloss in einer gewissen 
Harmonie und Einheit des ganzen Wesens liegt, wel- 
che daraus entsteht, dass bei ihnen Herz und Kopf 
einander so überaus angemessen sind, dass sie sich 
wechselseitig unterstützen und hervorheben ,• welches 
vermuthen lässt, dass ihre Eltern eine besondere An- 
gemessenheit und Uebereinstimmung zu einander 
hatten. 
Das Physiologische der dargelegten Theorie be- 
treffend, will ich nur anführen, dass Burdach^ wel- 
cher irrig annimmt, die selbe psychische Eigenschaft 
könne bald vom Vater, bald von der Mutter vererbt 
werden, dennoch (Physiologie als Erfahrungs Wissen- 
schaft, Bd. I, §. 3o6) hinzusetzt: „Im Ganzen genom- 
men, hat das Männliche mehr Einfluss auf Bestim- 
mung des irritabeln Lebens, das Weibliche hingegen 
mehr auf die Sensibilität." — Auch geholt hieher, 
was Linne sagt, im wSvstema naturae, Tom. I, p, 8: 
Mater prolifera promit, ante generationem, vivum 
compendium medulläre novi animalis suique similli- 
mi, carinam Malpighianam dictum, tanquam plumu- 
lam vegetabilium : hoc ex genitura Co?- adsociat ra- 
mificandum in corpus. Punctum enim saliens ovi in- 
cubantis avis ostendit primum cor micans, cerebrum- 
que cum medulla: corculum hoc, cessans a frigore, 
excitatur calido halitu, premitque bulla aerea, sensim 
dilatata, liquores, secundum canales fluxiles. Punctum 
vitalitatis itaque in viventibus est tanquam a prima 
creatione continuata medullaris vitae ramiticatio, cum 
Ovum sit genmia medullaris maM's a primordio viva, 
licet non sua ante proprium cor paternvm. 
Wenn wir nun die hier gewonnene Ueberzeugung 
von der Erblichkeit des Charakters vom Vater und 
676 
1 
des Intellekts von der Mutter in Verbindung setzen mit 
unserer frühern Betrachtung des weiten Abstandes, den 
die Natur, in moralischer, wie in intellektueller Hin- 
sicht, zwischen Mensch und Mensch gesetzt hat, wie 
auch mit unserer Erkenntniss der völligen Unverän- 
derlichkeit sowohl des Charakters, als derGeistesfähig- 
keiten ; so werden wir zu der Ansicht hingeleitet, dass 
eine wirkliche und gründliche Veredelung des Men- 
schengeschlechts, nicht sowohl von Aussen als von 
Innen, also nicht sowohl durch Lehre und Bil- 
dung, als vielmehr auf dem Wege der Generation zu 
erlangen sein möchte. Schon Plato hat so etwas im 
Sinne gehabt, als er, im fünften Buche seiner Repu- 
blik, den wunderlichen Plan zur Vermehrung und 
Veredelung seiner Kriegerkaste darlegte. Könnte man 
alle Schurken kastriren und alle dummen Gänse ins 
Kloster stecken, den Leuten von edelem Charakter ein 
ganzes Harem beigeben, und allen Mädchen von Geist 
und Verstand Männer, und zwar ganze Männer ver- 
schaffen; so würde bald eine Generation erstehen, 
die ein mehr als Perikleisches Zeitalter darstellte. — - 
Ohne jedoch auf solche Utopische Pläne einzugehen, 
liesse sich in Erwägung nehmen, dass wenn, wie es, irre 
ich mich nicht, bei einigen alten Völkern wirklich ge- 
wesen ist, nach der Todesstrafe die Kastration als die 
schwerste Strafe bestände, ganze Stammbäume von 
Schurken der Welt erlassen seyn würden ; um so ge- 
wisser, als bekanntlich die meisten Verbrechen schon 
in dem Alter zwischen zwanzig und dreissig Jahren be- 
gangen werden. Imgleichen liesse sich überlegen, ob es 
nicht, in Betracht der Folgen, erspriesslicher seyn wür- 
de, die bei gewissen Gelegenheiten auszutheilenden öf- 
fentlichen Aussteuern nicht, wie jetzt üblich, den an- 
(;eblich tugendhaftesten, sondern den verständigsten 
und geistreichsten Mädchen zuzuerkennen ; zumal da 
über die Tugend das Urtheil gar schwierig ist: denn 
nur Gott, sagt man, sieht die Herzen; die Gelegenhei- 
ten, einen edlen Charakter an den Tag zu legen, sind 
selten und dem Zufall anheimgestellt; zudem hat die 
Tugend manches Mädchens eine kräftige Stütze an der 
Hässlichkeit desselben: hingegen über den Verstand 
677 
können Die, >velche selbst damit begabt sind, nacli 
einiger Prüfung, mit vieler Sicherbeiturtheilen. — Eine 
andere praktische Anwendung ist folgende. In vielen 
Ländern, auch im südlichen Deutschland, herrscht 
die schlimme Sitte, dass Weiber Lasten, und oft sehr 
beträchtliche, auf dem Kopfe tragen. Dies muss nach- 
theilig auf das Gehirn wirken; wodurch dasselbe, 
beim weiblichen Geschlechte im Volke, sich allmälig 
deteriorirt, und da von ihm das männliche das seinige 
empfangt, das ganze Volk immer dümmer wird; wel- 
ches bei vielen gar nicht nöthig ist. Durch Abstellung 
dieser Sitte würde man demnach das Quantum der 
Intelligenz im Ganzen des Volkes vermehren; welches 
zuverlässig die grösste Vermehrung desNationalreich- 
thums wäre. 
Wenn wir aber jetzt, dergleichen praktische An- 
wendungen Andern überlassend, auf unsern eigen- 
thümlichen, also den ethisch-metaphysischen Stand- 
punkt zurückkehren; so wird sich uns, indem wir 
den Inhalt des /^i. Kapitels mit dem des gegen- 
wärtigen verbinden, folgendes Ergebniss darstellen, 
welches, bei aller seiner Transscendenz, doch eine un- 
mittelbare, empirische Stütze hat. — Es ist der selbe 
Charakter, also der selbe individuell bestimmte Wille, 
welcher in allen Descendenten eines Stammes, vom 
Ahnherrn bis zum gegenwärtigen Stammhalter, lebt. 
Allein in jedem derselben ist ihm ein anderer Intellekt, 
also ein anderer Grad vmd eine andere Weise der 
Erkenntniss beigegeben. Dadurch nun stellt sich ihm, 
in jedem derselben, das Lehen von einer andern Seite 
und in einem verschiedenen Lichte dar: er erhält 
eine neue Grundansicht davon, eine neue Belehrung. 
Zwar kann, da der Intellekt mit dem Individuo er- 
lischt, jener Wille nicht die Einsicht des einen Le- 
benslaufes durch die des andern unmittell)ar ergän- 
zen. Allein in der Folge jeder neuen Grundansicht 
des Lebens, wie nur eine erneuete Persönlichkeit sie 
ihm verleihen kann, erhält sein Wollen selbst eine 
andere Richtung, erfahrt also eine Modifikation da- 
durch, und was die Hauptsache ist, er hat, auf die- 
selbe, von Neuem das Leben zu bejahen, oder zu ver- 
(i78 
neinen. Solchermaassen wiid die, aus der Nothwen- 
digkeit zweier Geschlechter zur Zeugung entsprin- 
gende Naturanstalt der immer wechselnden Verbin- 
dung eines Willens mit einem Intellekt zur Basis 
einer Heilsordnung. Denn vermöge derselben kehrt 
das Leben dem Willen (dessen Abbild und Spiegel es 
ist) unaufhörlich neue Seiten zu, dreht sich gleichsam 
ohne Unterlass vor seinem Blicke herum, lässt andere 
und immer andere Anschauungsweisen sich an ihm 
versuchen, damit er, auf jede derselben, sich zur Be- 
jahung oder Verneinung entscheide, welche beide 
ihm beständig offen stehen ; nur dass, wenn Ein Mal 
die Verneinung ergriffen wird, das ganze Phäno- 
men für ihn, mit dem Tode, aufhört. Weil nun 
hienach dem selben Willen gerade die beständige Er- 
neuerung und völlige Veränderung des Intellekts, als 
eine neue Weltansicht verleihend, den Weg des Heils 
offen hält, der Intellekt aber von der Mutter kommt; 
so möchte hier der tiefe Grund liegen, aus welchem 
alle Völker (mit sehr wenigen, ja schwankenden Aus- 
nahmen) die Geschwisterehe verabscheuen und ver- 
bieten, ja sogar eine Geschlechtsliebe zwischen Ge- 
schwistern gar nicht entsteht, es sei denn in höchst 
seltenen, auf einer naturwidrigen Perversität der 
Triebe, wo nicht auf der Unächtheit des Einen von 
ihnen, beruhenden Ausnahmen. Denn aus einer Ge- 
schwisterehe könnte nichts Anderes hervorgehen, als 
stets nur der selbe Wille mit dem selben Intellekt, 
wie beide schon vereint in beiden Eltern existiren, 
also die hoffnungslose Wiederholung der schon vor- 
handenen Erscheinung. 
Wenn wir aber nun, im Einzelnen und in der 
Nähe, die unglaublich grosse und doch so augenfällige 
Verschiedenheit der Charaktere ins Auge fassen, den 
Einen so gut und menschenfreundlich, den Andern 
so boshaft, ja, grausam vorfinden, wieder Einen ge- 
recht, redlich und aufrichtig, einen Andern voller 
Falsch, als einen Schleicher, Betrüger, Verräther, in- 
korrigibeln Schurken erblicken ; da eröffnet sich uns 
ein Abgrund der Betrachtung, indem wir, über den 
Ursprung einer solchen Verschiedenheit nachsinnend, 
vergeblich brüten. Hindu und Buddhaisten lösen das 
Problem dadurch, dass sie sagen: „es ist die Folge 
der Thaten des vorhergegangenen Lebenslaufes". 
Diese Lösung ist zwar die älteste, auch die fasslichste 
und von den Weisesten der Menschheit ausgegangen : 
sie schiebt jedoch nur die Frage weiter zurück. Eine be- 
friedigendere wird dennoch schwerlich gefunden wer- 
den. Vom Standpunkt meiner ganzen Lehre aus bleibt 
mir zu sagen übrig, dass hier, wo der Wille als Ding 
an sich zur Sprache kommt, der Satz vom Grunde, 
als blosse Form der Erscheinung, keine Anwendung 
mehr findet, mit ihm aber alles Warum und Woher 
wegfällt. Die absolute Freiheit besteht eben darin, 
dass Etwas dem Satz vom Grunde, als dem Prinzip 
aller Nothwendigkeit, gar nicht unterworfen ist: eine 
solche kommt daher nur dem Dinge an sich zu, 
dieses ist aber gerade der Wille. Er ist demnach in 
seiner Erscheinung, mithin im Operari, der Notwen- 
digkeit unterworfen: im Esse aber, wo er sich als 
Ding an sich entschieden hat, ist er frei. Sobald wir 
daher, wie hier geschieht, an dieses kommen, hört 
alle Erklärung mittelst Gründen und Folgen auf, und 
uns bleibt nichts übrig, als zu sagen : hier äussert sich 
die wahre Freiheit des Willens, die ihm zukommt, 
sofern er das Ding an sich ist, welches aber eben als 
solches grundlos ist, d. h. kein Warum kennt. Eben 
dadurch aber hört für uns hier alles Verständniss auf; 
weil all unser Verstehn auf dem Satz vom Grunde be- 
ruht, indem es in der blossen Anwendung desselben 
besteht. 
680 
KAPITEL 44. 
METAPHYSIK DER GESCHLECHTSLIEBE. 
Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt, 
Die ihr's ersinnt und wisst. 
Wie, wo und wann sich Alles paart? 
Warum sich's liebt und küsst? 
Ihr hohen Weisen sagt mir's an ! 
Ergrübelt, was mir da, 
Ergrübelt mir, wo, wie und wann. 
Warum mir so geschah ? 
Bürger, 
DIESES Kapitel ist das letzte von vieren, deren 
mannigfaltige, gegenseitige Beziehungen zu ein- 
ander, vermöge welcher sie gewissermaassen ein unter- 
geordnetes Ganzes bilden, der aufmerksame Leser er- 
kennen wird, ohne dass ich nöthig hätte, durch Be- 
rufungen und Zurückweisungen meinen Vortrag zu 
unterbrechen. 
Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der 
Schilderung der Geschlechtsliebe beschäftigt zu se- 
hen. Diese ist in der Regel das Hauptthema aller dra- 
matischen Werke, der tragischen, wie der komischen, 
der romantischen wie der klassischen, der Indischen, 
wie der Europäischen : nicht weniger ist sie der Stoff 
des bei Weitem grössten Theils der lyrischen Poesie, 
und ebenfalls der epischen; zumal wenn wir dieser 
die hohen Stösse von Romanen beizählen wollen, 
welche, in allen civilisirten Ländern Europas, jedes 
Jahr so regelmässig wie die Früchte des Bodens er- 
zeugt, schon seit Jahrhunderten. Alle diese Werke 
sind, ihrem Hauptinhalte nach, nichts Anderes, als 
vielseitige, kurze oder ausführliche Beschreibungen 
der in Rede stehenden Leidenschaft. Auch haben die 
gelungensten Schilderungen derselben, wie z. ß. Ro- 
meo und Julie, die neue Heloise, der Werther, un- 
sterblichen Ruhm erlangt. Wenn dennoch Rochefou- 
cauld meint, es sei mit der leidenschaftlichen Liebe 
wie mit den Gespenstern, Alle redeten davon, aber 
681 
Keiner hätte sie gesehen ; und ebenfalls Lichte nbenj 
in seinem Aufsatze ,,Ueber die Macht der Liebe" die 
Wirklichkeit und rsaturgeniässheit jener Leidenschaft 
bestreitet und ableugnet; so ist dies ein grosser Irr- 
thum. Denn es ist unmöglich, dass ein der menschli- 
chen Natur Fremdes und ihr Widersprechendes, also 
eine bloss aus der Luft gegriffene Fratze, zu allen 
Zeiten vom Dichtergenie unermüdlich dargestellt und 
von der Menschheit mit unveränderter Theilnahme 
aufgenommen werden könne; da ohne Wahrheit kein 
Kunstschönes seyn kann: 
Rien n'est bean que le vrai ; le vrai seul est ainiable. 
Boil. 
Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung, wenn 
gleich nicht die alltägliche, dass Das, was in der Re- 
gel nur als eine lebhafte, jedoch noch bezwingbare 
Neigung vorkommt, unter gewissen Umständen an- 
wachsen kann zu einer Leidenschaft, die an Heftig- 
keit jede andere übertrifft, und dann alle Rücksich- 
ten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher Kraft 
und Ausdauer überwindet, so dass für ihre Befriedi- 
gung unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn sol- 
che schlechterdings versagt bleibt, in den Kauf ge- 
geben wird. Die \Verther und Jacopo Ortis existiren 
nicht bloss im Romane; sondern jedes Jahr hat deren 
in Europa wenigstens ein halbes Dutzend aufzuwei- 
sen: sed ignotis perierunt mortibus illi: denn ihre 
Leiden finden keinen andern Chronisten, als den 
Schreiber amtlicher Protokolle, oder den Berichter- 
statter der Zeitungen. Doch werden die Leser der 
polizeigerichtlichen Aufnahmen in Englischen und 
Französichen Tagesblättern die Richtigkeit meiner 
Angabe bezeugen. Noch grösser aber ist die Zahl 
Derer, welche die selbe Leidenschaft ins Irrenhaus 
bringt. Endlich hat jedes Jahr auch einen und den 
andern Fall von gemeinschaftlichem Selbstmordeines 
liebenden, aber durch äussere Umstände verhinder- 
ten Paares aufzuweisen; wobei mir inzwischen uner- 
klärlich bleibt, wie Die, welche, gegenseitiger Liebe 
gewiss, im Genüsse dieser die höchste Säligkeit zu 
682 
finden erwarten, nicht lieber durch die äussersten 
Schritte sich allen Verhältnissen entziehen und jedes 
Ungejnach erdulden, als dass sie mit dem Leben ein 
Gl ück aufgeben, über welches hinaus ihnen kein grösse- 
res denkbar ist. — Was aber die niedern Grade und die 
blossen Anflüge jener Leidenschaft anlangt, so hat 
Jeder sie täglich vor Augen und, so lange er nicht 
alt ist, meistens auch im Herzen. 
Also kann man, nach dem hier in Erinnerung Ge- 
brachten, weder an der Realität, noch an der Wich- 
tigkeit der Sache zweifeln, und sollte daher, statt sich 
zu wundern, dass auch ein Philosoph dieses bestän- 
dige Thema aller Dichter ein Mal zu dem seinigen 
macht, sich darüber wundern, dass eine Sache, welche 
im Menschenleben durchweg eine so bedeutende 
Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie 
gar nicht in Betrachtung genommen ist und als ein 
vinbearbeiteter Stoff vorliegt. W^er sich noch am mei- 
sten damit abgegeben hat, ist Plato, besonders im 
,, Gastmahl" und im „Phädrus": was er jedoch dar- 
über vorbringt, hält sich im Gebiete der Mythen, Fa- 
beln und Scherze, betrifft auch grösstentheils nur die 
Griechische Knabenliebe. Das Wenige, was Rousseau 
im Discours sur rinegalilc (S. 96, ed. ßip.) über un- 
ser Thema sagt, ist falsch und ungenügend. Kants 
Erörterung des Gegenstandes, im dritten Abschnitt 
der Abhandlung „Ueber das Gefühl des Schönen und 
Erhabenen" (S. 4^5 fg. der Rosenkranzischen Aus- 
gabe), ist sehr oberflächlich und ohne Sachkenntniss, 
daher zum Theil auch unrichtig. Endlich Platners 
Behandlung der Sache in seiner Anthropologie, §^V 
i347 fg., wird Jeder platt und seicht finden. Hinge- 
gen verdient Spinoza's Definition, wegen ihrer über- 
schwänglichen Naivetät, zur Aufheiterung angeführt 
zu werden: Amor est titillatio, cpncomitante idea 
causae externae (Eth., IV, prop. 44? dem.). Vorgän- 
ger habe ich demnach weder zu benutzen, noch zu 
widerlegen: die Sache hat sich mir objektiv aufge- 
drungen und ist von selbst in den Zusammenhang 
meiner Weltbetrachtung getreten. — Den wenigten 
Beifall habe ich übrigens von Denen zu hoffen, wel- 
683 
che gerade selbst von dieser Leidenschaft beherrscht 
sind, lind demnach in den subHmsien und ätherische- 
sten Bildern ihre überschwänglichen Gefühle auszu- 
drücken suchen: ihnen wird meine Ansicht zu phy- 
sisch, zu materiell erscheinen; so metaphysisch, ja 
transscendent, sie auch im Grunde ist. Mögen sie vor- 
läufig erwägen, dass der Gegenstand, welcher sie 
heute zu Madrigalen und Sonetten begeistert, wenn 
er 18 Jahre früher geboren wäre, ihnen kaum einen 
Blick abgewonnen hätte. 
Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch 
geberden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, 
ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, speciali- 
sirter, wohl gar im strengsten Sinn individualisirter 
Geschlechtstrieb. Wenn man nun, dieses lest haltend, 
die wichtige Rolle betrachtet, welche die Geschlechts- 
liebe in allen ihren Abstufungen und Nuancen, nicht 
bloss in Schauspielen und Romanen, sondern auch in 
der wirklichen Welt spielt, wo sie, nächst der Liebe 
zum Leben, sich als die stärkste und thätigste aller 
Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte und Ge- 
danken des jüngeren Theiles der Menschheit fort- 
während in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast je- 
des menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten 
Angelegenheiten nachtheiligen Einfluss erlangt, die 
ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde unter- 
bricht, bisweilen selbst die grössten Köpfe auf eine 
Weile in Verwirrung setzt, sich nicht schevit, zwi- 
schen die Verhandlungen der Staatsmänner und 
die Forschungen der Gelehrten, störend, mit ihrem 
Plunder einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haar- 
löckchen sogar in ministerielle Portefeuilles und phi- 
losophische Manuscripte einzuschieben versteht, nicht 
minder täglich die verworrensten und schlimmsten 
Händel anzettelt, die werthvollsten Verhältnisse auf- 
löst, die festesten Bande zerreisst, bisweilen Leben, 
oder Gesundheit, bisweilen Reichthum, Ran{f und 
Glück zu ihrem Opfer nimmt, ja, den sonst Redlichen 
gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräthermacht, 
demnach im Ganzen auftritt als ein feindsäliger Dä- 
mon, der Alles zu verkehren, zu verwirren und um- 
684 
zuwerfen bemüht ist ; — da wird man veranlasst aus- 
zurufen : Wozu der Lerm ? Wozu das Drängen, Toben, 
die Angst und die INoth? Es handelt sich ja bloss dar- 
um, dass j«der Hans seine Grethe*) finde: weshalb 
sollte eine solche Kleinigkeit eine so wichtige Rolle 
spielen und unaufhörlich Störung und Verwirrung in 
das wohlgeregelte Menschenleben bringen ? — Aber 
dem ernsten Forscher enthüllt allmälig der Geist der 
Wahrheit die Antwort : Es ist keine Kleinigkeit, war- 
um es sich hier handelt; vielmehr ist die Wichtigkeit 
der Sache dem Ernst und Eifer des Treibens voll- 
kommen angemessen. Der Endzweck aller Liebes- 
händel, sie mögen auf dem Sockus, oder dem Kothurn 
gespielt werden, ist wirklich wichtiger, als alle andern 
Zwecke im Menschenleben, und daher des tiefen 
Ernstes, womit Jeder ihn verfolgt, völlig werth. Das 
nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts 
Geringeres, als die Ztisammeiisetzimg der nächsten Ge- 
neration. Die dramatis personae, welche auftreten 
werden, wann wir abgetreten sind, werden hier, 
ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, be- 
stimmt, durch diese so frivolen Liebeshändel. Wie das 
Seyn, die Existentia, jener künftigen Personen durch 
unsern Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, 
die Essentia derselben durch die individuelle Auswahl 
bei seiner Befriedigung, d. i. die Geschlechtsliebe, 
durchweg bedingt, und wird dadurch, in jeder Rück- 
sicht, unwiderruflich festgestellt. Dies ist der Schlüs- 
sel des Problems : wir werden ihn, bei der Anwen- 
dung, genauer kennen lernen, wann wir die Grade 
der Verliebtheit, von der flüchtigsten Neigung bis 
zxiv heftigsten Leidenschaft, durchgehen, wobei wir 
erkennen werden, dass die Verschiedenheit derselben 
aus dem Grunde der Individualisation der Wahl ent- 
springt. 
Die sämmtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen 
Generation zusammengenommen sind demnach des 
ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio com- 
*) Ich habe mich hier nicht eigentlich ausdrücken dürfen : dei' 
geneigte Leser hat daher die Phrase in eine Aristophanische 
Sprache zu übersetzen. 
685 
positionis generationis futurae, e qua iterum pendent 
innumerae generationes. Diese hohe Wichtigkeit der 
Angelegenheit, als in welcher es sich nicht, wie in 
allen ührigen, um individuelles Wohl und Wehe, 
sondern um das Daseyn und die specielle Beschaffen- 
heit des Menschengeschlechts in künftigen Zeiten 
handelt und daher der Wille des Einzelnen in er- 
höhter Potenz, als Wille der Gattung, auftritt, diese 
ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der Lie- 
besangelegenheiten, das Transscendente ihrer Ent- 
zückungen und Schmerzen beruht, welches in zahl- 
losen Beispielen darzustellen die Dichter seit Jahr- 
tausenden nicht müde werden; weil kein Thema es 
an Interesse diesem gleich thun kann, als welches, in- 
dem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu 
allen übrigen, die nur das Wohl der Einzelnen be- 
treffen, sich verhält wie Körper zu Fläche. Daher 
eben ist es so schwer, einem Drama ohne Liebeshän- 
del Interesse zu ertheilen und wird andererseits, 
selbst durch den täglichen Gebrauch, dies Thema 
niemals abgenutzt. 
Was im individuellen Bewusstseyn sich kund giebt 
als Geschlechtstrieb überhaupt und ohne die Rich- 
tung auf ein bestimmtes Individuum des andern Ge- 
schlechts, das ist an sich selbst und ausser der Er- 
scheinung der Wille zum Leben schlechthin. Was 
aber im Bewusstseyn erscheint als auf ein bestimm- 
tes Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist 
an sich selbst der W^ille, als ein genau bestimmtes 
Individuum zu leben. In diesem Falle nun weiss der 
Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein subjektives Be- 
dürfniss, sehr geschickt die Maske einer objektiven 
Bewundervmg anzunehmen und so das Bewusstseyn 
zu täuschen: denn die Natur bedarf dieses Stratagems 
zu ihren Zwecken. Dass es aber, so objektiv und von 
erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erschei- 
nen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgese- 
hen ist auf die Erzeugung eines Individuums von be- 
stimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch be- 
stätigt, dass nicht etwan die Gegenliebe, sondern der 
Besitz, d. h. der physische Genuss, das Wesentliche 
686 
ist. Die Gewissheit jener kann daher über den Man- 
gel dieses keineswegs trösten : vielmehr hat in solcher 
Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen neh- 
men stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe er- 
langen können, mit dem Besitz, d, i. dem physischen 
Genuss, vorlieb. Dies belegen alle gezwungenen Hei- 
rathen, imgleichen die so oft, ihrer Abneigung zum 
Trotz, mit grossen Geschenken, oder sonstigen Op- 
fern, erkaufte Gunst eines Weibes, ja auch die Fälle 
der Nothzucht. Dass dieses bestimmte Kind erzeugt 
werde, ist der wahre, wenngleich den Theilnehmern 
unbewusste Zweck des ganzen Liebesromans: die Art 
und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache. — 
Wie laut auch hier die hohen und empfindsamen, 
zumal aber die verliebten Seelen aufschreien mögen, 
über den derben Realismus meiner Ansicht; so sind 
sie doch im Irrthum. Denn, ist nicht die genaue Be- 
stimmung der Individualitäten der nächsten Genera- 
tion ein viel höherer und würdigerer Zweck, als jene 
ihre überschwänglichen Gefühle und übersinnlichen 
Seifenblasen? Ja, kann es unter irdischen Zwecken, 
einen wichtigeren und grösseren geben? Er allein 
entspricht der Tiefe, mit welcher die leidenschaftliche 
Liebe gefühlt wird, dem Ernst, mit welchem sie auf- 
tritt, und der Wichtigkeit, die sie sogar den Kleinig- 
keiten ihres Bereiches und ihres Anlasses beilegt. Nur 
sofern man diesen Zweck als den wahren unterlegt, 
erscheinen dieWeitläuftigkeiten, die endlosen Bemü- 
hungen und Plagen zur Erlangung des geliebten Ge- 
genstandes, der Sache angemessen. Denn die künftige 
Generation, in ihrer ganzen individuellen Bestimmt- 
heit, ist es, die sich inittelst jenes Treibens und Mü- 
hens ins Daseyn drängt. Ja, sie selbst regt sich schon 
in der so umsichtigen, bestimmten und eigensinnigen 
Auswahl zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, die 
man Liebe nennt. Die wachsende Zuneigung zweier 
Liebenden ist eigentlich schon der Lebenswille des 
neuen Individuums, welches sie zeugen können und 
möchten; ja, schon im Zusammentreffen ihrer sehn- 
suchtsvollen Blicke entzündet sich sein neues Leben, 
und giebt sich kund als eine künftig harmonische, 
687 
wohl zusammengesetzte Individualität. Sie fühlen die 
Sehnsucht nach einer wirklichen Vereinijjung und 
Verschmelzung zu einem einzigen Wesen, um alsdann 
nur noch als dieses fortzulehen; und diese erhält ihre 
Erfüllung in dem von ihnen Erzeugten, als in wel- 
chem die sich vererbenden Eigenschaften Beider, zu 
Einem Wesen verschmolzen und vereinigt, fortleben. 
Umgekehrt, ist die gegenseitige, entschiedene und 
beharrliche Abneigung zwischen einem Mann und 
einem Mädchen die Anzeige, dass was sie zeugen 
könnten nur ein übel organisirtes, in sich disharmo- 
nisches, unglückliches Wesen seyn würde. Deshalb 
liegt ein tiefer Sinn darin, dass Galderon die entsetz- 
liche Semiramis zwar die Tochter der Luft benennt, 
sie jedoch als die Tochter der Nothzucht, aufweiche 
der Gattenmord folgte, einführt. 
Was nun aber zuletzt zwei Individuen verschiede- 
nen Geschlechts mit solcher Gewalt ausschliesslich 
zu einander zieht, ist der in der ganzen Gattung sich 
darstellende Wille zum Leben, der hier eine seinen 
Zwecken entsprechende Objektivation seines Wesens 
anticipirt in dem Individuo, welches jene Beiden 
zeugen können. Dieses nämlich wird vom Vater den 
Willen, oder Charakter, von der Mutter den Intellekt 
haben, die Korporisation von Beiden: jedoch wird 
meistes die Gestalt sich mehr nach dem Vater, die 
Grösse mehr nach der Mutter richten, — dem Ge- 
setze gemäss, welches in den ßastarderzeugungen der 
Thiere an den Tag tritt und hauptsächlich darauf 
beruht, dass die Grösse des Fötus sich nach der 
Grösse des Uterus richten muss. So unerklärlich die 
ganz besondere und ihm ausschliesslich eigenthüm- 
liche Individualität eines jeden Menschen ist; so ist 
es eben auch die ganz besondere und individuelle 
Leidenschaft zweier Liebenden; — - ja, im tiefsten 
Grunde ist Beides Eines und dasselbe: die Erstere ist 
explicite was die Letztere implicite war. Als die al- 
lererste Entstehung eines neuen Individuums und 
das wahre punctum saliens seines Lebens ist wirk- 
lich der Augenblick zu betrachten, da die Eltern an- 
fangen einander zu lieben, — to fancy each other 
688 
nennt es ein sehr treffender Englischer Ausdruck, — 
und, wie gesagt, im Begegnen und Heften ihrer sehn- 
süchtigen BHcke entsteht der erste Keim des neuen 
Wesens, der freilich, wie alle Keime, meistens zertre- 
ten wird. Dies neue Individuum ist gewissermassen 
eine neue (Platonische) Idee: wie nun alle Ideen 
mit der grössten Heftigkeit in die Erscheinung zu 
treten strehen, mit Gier die Materie hiezu ergreifend, 
welche das Gesetz der Kausalität unter sie alle aus- 
teilt; so strebt eben auch diese besondere Idee einer 
menschlichen Individualität mit der grössten Gier 
und Heftigkeit nach ihrer Realisation in der Erschei- 
nung. Diese Gier und Heftigkeit eben ist die Leiden- 
schaft der beiden künftigen Eltern zu einander. Sie 
hat unzählige Grade, deren beide Extreme man im- 
merhin als AcppooiTv -iravoYjij-o? und oupavia bezeichnen 
mag: — dem Wesen nach ist sie jedoch überall die 
selbe. Hingegen dem Grade nach wird sie um so 
mächtiger seyn, je individualisirter sie ist, d. h. je 
mehr das geliebte Individuum, vermöge aller seiner 
Theile und Eigenschaften, ausschliesslich geeignet 
ist, den Wunsch und das durch seine eigene Indivi- 
dualität festgestellte Bedürfniss des liebenden zu be- 
friedigen. Worauf es nun aber hiebei ankommt, wird 
uns im weiteren Verfolge deutlich werden. Zunächst 
und wesentlich ist die verliebte Neigung gerichtet 
auf Gesundheit, Kraft und wSchönheit, folglich auch 
auf Jugend; weil der Wille zuvörderst den Gattungs- 
charakter der Menschenspecies, als die Basis aller 
Individualität, darzustellen verlangt: die alltägliche 
Liebelei (Acppootxv TravoTjfjLO?) geht nicht viel weiter. 
Daran knüpfen sich sodann speciellere Anforderun- 
gen, die wir weiterhin im Einzelnen untersuchen 
werden, und mit denen, wo sie Befriedigung vor sich 
sehen, die Leidenschaft steigt. Die höchsten Grade 
dieser aber entspringen aus derjenigen Ange- 
messenheit beider Individualitäten zu einander, ver- 
möge welcher der Wille, d. i. der Charakter, des Va- 
ters und der Intellekt der Mutter, in ihrer Verbin- 
dung, gerade dasjenige Individuum vollenden, nach 
welchem der Wille zum Leben überhaupt, welcher 
44 Schopenhauer II ^^9 
in der ganzen Gattung sich darstellt, eine diese sei- 
ner Grösse angemessene, daher das Maass eines sterh- 
lichen Herzens übersteigende Sehnsucht empfindet, 
deren Motive eben so über den Bereich des indivi- 
duellen Intellekts hinausliegen. Dies ist also die Seele 
einer eigentlichen, grossen Leidenschaft. — Je voll- 
kommener nun die gegenseitige Angemessenheit 
zweier Individuen zu einander, in jeder der so man- 
nigfachen, weiterhin zu betrachtenden Rücksichten 
ist, desto stärker wird ihre gegenseitige Leidenschaft 
ausfallen. Da es nicht zwei ganz gleiche Individuen 
giebt, muss jedem bestimmten Mann ein bestimmtes 
Weib, — ■ stets in Hinsicht auf das zu Erzeugende, - — 
am vollkommensten entsprechen. So selten, wie der 
Zufall ihres Zusammentreffens, ist die eigentlich lei- 
denschaftliche Liebe. Weil inzwischen die Möglich- 
keit einer solchen in Jedem vorhanden ist, sind uns 
die Darstellungen derselben in den Dichterwerken 
verständlich. — ^ Eben weil die verliebte Leidenschaft 
sich eigentlich um das zu Erzeugende und dessen 
Eigenschaften dreht und hier ihr Kern liegt, kann 
zwischen zwei jungen und wohlgebildeten Leuten 
verschiedenen Geschlechts, vermöge der Ueberein- 
stimmung ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer 
Geistesrichtung, Freundschaft bestehen, ohne dass 
Geschlechtsliebe sich einmischte; ja sogar kann in 
dieser Hinsicht eine gewisse Abneigung zwischen ih- 
nen vorhanden seyn. Der Grund hievon ist darin zu 
suchen, dass ein von ihnen erzeugtes Kind körperlich 
oder geistig disharmonirende Eigenschaften haben, 
kurz, seine Existenz und Beschaffenheit den Zwecken 
des Willens zum Leben, wie er sich in der Gattung 
darstellt, nicht entsprechen würde. Im entgegenge- 
setzten Fall kann, bei Heterogeneität der Gesinnung, 
des Charakters und der Geistesrichtung, und bei der 
daraus hervorgehenden Abneigung, ja Feindsälig- 
keit, doch die Geschlechtsliebe aufkommen und be- 
stehen; wo sie dann über jenes Alles verblendet: 
verleitet sie hier zur Ehe, so wird es eine sehr un- 
glückliche. — 
Jetzt zur gründlicheren Untersuchung der Sache. 
690 
— Der Egoismus ist eine so tiet wurzelnde Eigen- 
schaft aller Individualität überhaupt, dass, um die 
Thätigkeit eines individuellen Wesens zu erregen, 
egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man 
mit Sicherheit rechnen kann. Zwar hat die Gattung 
auf das Individuum ein früheres, näheres und grös- 
seres Recht, als die hinfällige Individualität selbst: 
jedoch kann, wann das Individuum für den Bestand 
und die Beschaffenheit der Gattung thätig seyn und 
sogar Opfer bringen soll, seinem Intellekt, als wel- 
cher bloss auf individuelle Zwecke berechnet ist, die 
Wichtigkeit der Angelegenheit nicht so fasslich ge- 
macht werden, dass sie derselben gemäss wirkte. Da- 
her kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur 
dadurch erreichen, dass sie dem Individuo einen ge- 
wissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein 
Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloss 
eines für die Gattung ist, so dass dasselbe dieser dient, 
während es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem 
Hergang eine blosse, gleich darauf verschwindende 
Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle 
einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der In- 
stinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen, an- 
zusehen als der Sinn der Gattung., welcher das ihr 
Frommende dem Willen darstellt. Weil aber der 
Wille hier individuell geworden; so muss er derge- 
stalt getäuscht werden, dass er Das, was der Sinn der 
Gattung ihm vorhält, durch den Sinn des Individui 
wahrnimmt, also individuellen Zwecken nachzuge- 
hen wähnt, während er in Wahrheit bloss generelle 
(dies Wort hier im eigentlichsten Sinn genommen) 
verfolgt. Die äussere Erscheinung des Instinkts beob- 
achten wir am besten an den Thieren, als wo seine 
Rolle am bedeutendesten ist; aber den innern Her- 
gang dabei können wir, wie alles Innere, allein an 
uns selbst kennen lernen. Nun meint man zwar, 
der Mensch habe fast gar keinen Instinkt, allenfalls 
bloss den, dass das Neugeborene die Mutterbrust 
sucht und ergreift. Aber in der That haben wir ei- 
nen sehr bestimmten, deutlichen, ja komplicirten In- 
stinkt, nämlich den der so feinen, ernstlichen und 
44' 69 1 
eigensinnigen Auswahl des andern Individuums zur 
Gesclilechtsbefriedigung. Mit dieser Befriedigung au 
sich selbst, d. h. sofern sie ein auf dringendem Be- 
dürfniss des Individuums beruhender sinnlicher Ge- 
nuss ist, hat die Schönheit oder Hässlichkeit des an- 
dern hidividuums gar nichts zu schaffen. Die dennoch 
so eifrig verfolgte Rücksicht auf diese, nebst der dar- 
aus entspringenden sorgsamen Auswahl, bezieht sich 
also offenbar nicht auf den Wählenden selbst, ob- 
schon er es wähnt, sondern auf den wahren Zweck, 
auf das zu Erzeugende, als in welchem der Typus 
der Gattung möglichst rein und richtig erhalten wer- 
den soll. Nämlich durch tausend physische Zufälle 
und moralische Widerwärtigkeiten entstehen gar 
vielerlei Ausartungen der menschlichen Gestalt: den- 
noch wird der ächte Typus derselben, in allen sei- 
nen Theilen, immer wieder hergestellt; welches ge- 
schieht unter der Leitung des Schönheitssinnes, der 
durchgängig dem Geschlechtstriebe vorsteht, und 
ohne welchen dieser zum ekelhaften Bedürfniss her- 
absinkt. Demgemäss wird Jeder, erstlich, die schön- 
sten Individuen, d. h. solche, in welchen der Gat- 
tungscharakter am reinsten ausgeprägt ist, entschie- 
den vorziehen und heftig begehren; zweitens aber 
^vird er am andern Individuo besonders die Vollkom- 
menheiten verlangen, welche ihm selbst abgehen, ja 
sogar die Unvollkommenheiten, w^elche das Gegen- 
theil seiner eigenen sind, schön finden ; daher suchen 
z. B. kleine Männer grosse Frauen, die Blonden lie- 
ben die Schwarzen u. s. w. — Das schwindelnde Ent- 
zücken, welches den Mann beim Anblick eines Wei- 
bes von ihm angemessener Schönheit ergreift und 
ihm die Vereinigung mit ihr als das höchste Gut vor- 
spiegelt, ist eben der Sinn der Gattung, welcher den 
deutlich ausgedrückten Stämpel derselben erkennend, 
sie mit diesem perpetuiren möchte. Auf diesem ent- 
schiedenen Hange zur Schönheit beruht die Erhal- 
tung des Typus der Gattung: daher wirkt derselbe 
mit so grosser Macht. Wir werden die Rücksichten, 
welche er befolgt, weiter unten speciell betrachten. 
Was also den Menschen hiebei leitet, ist wirklich ein 
692 
Instinkt, der auf das Beste der Gattung gerichtet ist, 
während der Mensch selbst bloss den erhöhten eige- 
nen Genuss zu suchen wähnt. — In der That haben 
wir hieran einen lehrreichen Aufschluss über das in- 
nere Wesen alles Instinkts, als welcher fast durch- 
gängig, wie hier, das Individuum für das Wohl der 
Gattung in Bewegung setzt. Denn offenbar ist die 
Sorgfalt, mit der ein Insekt eine bestimmte Blume, 
oder Frucht, oder Mist, oder Fleisch, oder, wie die 
Ichneumonien, eine fremde Insektenlarve aufsucht, 
um seine Eier nur dort zu legen, und um dieses zu 
erreichen weder Mühe noch Gefahr scheut, derjenigen 
sehr analog, mit welcher ein Mann zur Geschlechts- 
hefriedigung ein Weib von bestimmter, ihm indivi- 
duell zusagender Beschaffenheit sorgsam auswählt 
und so eifrig nach ihr strebt, dass er oft, um diesen 
Zweck zu erreichen, aller Vernunft zum Trotz, sein 
eigenes Lebensglück opfert, durch thörichte Heirath, 
durch Liebeshändel, die ihm Vermögen, Ehre und Le- 
ben kosten, selbst durch Verbrechen, wie Ehebruch, 
oderNothzucht; Alles nur, um dem überall souveränen 
Willen der Natur gemäss, der Gattung auf das Zweck- 
massigste zu dienen, wenn gleich auf Kosten des In- 
dividuums. Ueberall nämlich ist der Instinkt ein Wir- 
ken wie nach einem Zweckbegriff, und doch ganz 
ohne denselben. Die Natur pflanzt ihn da ein, 
wo das handelnde Individuum den Zweck zu versie- 
ben unfähig, oder ihn zu verfolgen unwillig seyn 
würde: daher ist er, in der Regel, nur den Thieren, 
und zwar vorzüglich den untersten, als welche den 
wenigsten Verstand haben, beigegeben, aber fast al- 
lein in dem hier betrachteten Fall auch dem Men- 
schen, als welcher den Zweck zwar verstehen könn- 
te, ihn aber nicht mit dem nöthigen Eifer, nämlich 
sogar auf Kosten seines individuellen Wohls, verfol- 
gen würde. Also nimmt hier, wie bei allem Instinkt, 
die Wahrheit die Gestalt des Wahnes an, um auf den 
Willen zu wirken. Ein wollüstiger Wahn ist es, der 
dem Manne vorgaukelt, er werde in den Armen ei- 
nes Weibes von der ihm zusagenden Schönheit einen 
grössern Genuss finden, als in denen eines jeden an- 
693 
dem; oder der g^ar, ausschliesslich auf ein einzigem 
Individuum {jerichtet, ihn fest überzeuget, dass dessen 
Besitz ihm ein überschwängliches Glück gewähren 
werde. Demnach wähnt er, für seinen eigenen Ge- 
nuss Mühe und Opfer zu verwenden, während es 
hloss für die Erhaltung des regelrechten Tvpus der 
Gattung geschieht, oder gar eine ganz bestimmte In- 
dividualität, die nur von diesen Eltern kommen kann, 
zum Daseyn gelangen soll. So völlig ist hier der Cha- 
rakter des Instinkts, also ein Handeln wie nach einem 
Zweckbegriff und doch ganz ohne denselben, vor- 
handen, dass der von jenem Wahn Getriebene den 
Zweck, welcher allein ihn leitet, die Zeugung, oft so- 
gar verabscheut und verhindern möchte: nämlich 
bei fast allen unehelichen Liebschaften. Dem darge- 
legten Charakter der Sache gemäss wird, nach dem 
endlich erlangten Genuss, jeder Verliebte eine wun- 
dersame Enttäuschung erfahren, und darüber erstau- 
nen, dass das so sehnsuchtsvoll Begehrte, nichts mehr 
leistet, als jede andere Geschlechtsbefriedigung; so 
dass er sich nicht sehr dadurch gefördert sieht. Jener 
Wunsch nämlich verhielt sich zu allen seinen übri- 
gen Wünschen, wie sich die Gattung verhält zum 
Individuo, also wie ein Unendliches zu einem Endli- 
chen. Die Befriedigung hingegen kommt eigentlich 
nur der Gattung zu Gute und fällt deshalb nicht in 
das Bevvusstsevn des Individuums, welches hier, vom 
Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher Aufopfe- 
rung, einem Zwecke diente, der gar nicht sein eige- 
ner war. Daher also findet jeder Verliebte, nach end- 
licher Vollbringung des grossen Werkes, sich ange- 
führt: denn der Wahn ist verschwunden, mittelst 
dessen hier das Individuum der Betrogene der Gattung 
war. Demgemäss sagt Plato sehr treffend: t^oovtj airav- 
Toiv aXal^oveoTatov (voluptas omnium maxime vanilo- 
qua). Phileb. 819. 
Dies Alles aber wirft seinerseits wieder Licht zu- 
rück auf die Instinkte und Kunsttriebe der Thiere. 
Ohne Zweifel sind auch diese von einer Art Wahn, 
der ihnen den eigenen (^enuss vorgaukelt, befangen, 
während sie so emsig und mit Selbstverleugnung für 
die Gattung arbeiten, der Vogel sein Nest baut, das 
Insekt den allein passenden Ort für die Eier sucbt, 
oder gar Jagd auf Raub macht, der, ihm selber un- 
geniessbar, als Futter für die künftigen Larven ne- 
ben die Eier gelegt werden muss, die Biene, die Wes- 
pe, die Ameise ihrem künstlichen Bau und ihrer 
höchst komplicirten Oekonomie obliegen. Sie alle lei- 
tet sicherlich ein Wahn, welcher dem Dienste der 
Gattung die Maske eines egoistischen Zweckes vor- 
steckt. Um uns den innern oder subjektiven Vorgang, 
der den Aeusserungen des Instinkts zum Grunde liegt, 
fasslich zu machen, ist dies wahrscheinlich der ein- 
zige Weg. Aeusserlich aber, oder objektiv, stellt sich 
ims, bei den vom Instinkt stark beherrschten Thie- 
ren, namentlich den Insekten, ein Ueberwiegen des 
Ganglien- d. i. des subjektiven Nervensystems über 
das objektive oder Cerebral-System dar; woraus zu 
schliessen ist, dass sie nicht sowohl von der objekti- 
ven, richtigen Auffassung, als von subjektiven, 
Wunsch erregenden Vorstellungen, welche durch die 
Einwirkving des Gangliensystems auf das Gehirn ent- 
stehen, und demzufolge von einem gewissen Walin 
getrieben werden: und dies wird der physiologische 
Hergang bei allem Instinkt seyn. — Zur Erläuterung 
erwähne ich noch, als ein anderes, wiewohl schwäche- 
res Beispiel vom Instinkt im Menschen, den kapriziösen 
Appetit der Schwangeren: er scheint daraus zu ent- 
springen, dass die Ernährung des Embryo bisweilen 
eine besondere oder bestimmte Modifikation des ihm 
zufliessenden Blutes verlangt; worauf die solche be- 
wirkende Speisse sich sofort der Schwangeren als Ge- 
genstand heisser Sehnsucht darstellt, also auch hier 
ein Wahn entsteht. Demnach hat das Weib einen 
Instinkt mehr als der Mann: auch ist das Ganglien- 
system beim Weibe viel entwickelter. — Aus dem 
grossen Ueberge wicht des Gehirns beim Menschen er- 
klärt sich, dass erwenigereInstinktehat,alsdieThiere, 
und dass selbst diese wenigen leicht irre geleitet wer- 
den können. Nämlich der die Auswahl zur Ge- 
schlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheits- 
sinn wird irre geführt, wenn er in Hang zur Pädera- 
695 
stie ausariet; Dem analog, wie die Schmeissfliege 
(Musca vomitoria), statt ihre Eier, ihrem Instinkt ge- 
mäss, in faulendes Fleisch zu legen, sie in die Blüthe 
des Arum dracunculus legt, verleitet durch den ka- 
daverosen Geruch dieser Pflanze. 
Das nun aller Geschlechtsliebe ein durc;haus auf 
das zu Erzeugende gerichteter Instinkt zum Grunde 
liegt, wird seine volle Gewissheit durch genauere Zer- 
gliederung desselben erhalten, der wir uns deshalb 
nicht entziehen können. — Zuvörderst gehört hieher, 
dass der Mann von Natur zur Unbeständigkeit in der 
Liebe, das Weib zur Beständigkeit geneigt ist. Die 
Liebe des Mannes sinkt merklich, von dem Augenblick 
an, wo sie Befriedigung erhalten hat: fast jedes andere 
Weib reizt ihn mehr als das, welches er schon besitzt: 
er sehnt sich nach Abwechselung. Die Liebe des Weibes 
hingegen steigt von eben jenem Augenblick an. Dies 
ist eine Folge des Zwecks der Natur, welche auf Er- 
haltung und daher auf möglichst starke Vermehrung 
der Gattung gerichtet ist. Der Mann nämlich kann, 
bequem, über hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn 
ihm eben so viele Weiber zu Gebote stehen ; das Weib 
hingegen könnte, mit noch so vielen Männern, doch 
nur em Kind im Jahr (von Zwillingsgeburten abge- 
sehen) zur Welt bringen. Daher sieht er sich stets 
nach andern Weibern um ; sie hingegen hängt fest dem 
Einen an : denn die Natur treibt sie, instinktmässig 
und ohne Beflexion, sich den Ernährerund Beschützer 
der künftigen Brut zu erhalten. Demzufolge ist die 
eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe 
natürlich, und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv, 
wegen der Folgen, so auch subjektiv, wegen der Na- 
turwidrigkeit, viel unverzeihlicher, als der des Mannes. 
Aber um gründlich zu seyn und die volle üeber- 
zeugung zu gewinnen, dass das Wohlgefallen am an- 
dern Geschlecht, so objektiv es uns dünken mag, doch 
bloss verlarvter Instinkt, d. i. Sinn der Gattung, welche 
ihren Typus zu erhalten strebt, ist, müssen wir sogar 
die bei diesem Wohlgefallen uns leitenden Bücksichten 
näher untersuchen und auf das Specielle derselben 
eingehen, so seltsam auch die hier zu erwähnenden 
696 
Specialitäten in einem philosophischen Werke fißu- 
riren mögen. Diese Rücksichten zerfallen in solche, 
welche unmittelbar den Typus der Gattung, d. i. die 
Schönheit, betreffen, in solche, welche auf psychische 
Eigenschaften gerichtet sind, und endlich in bloss re- 
lative, welche aus der erforderten Korrektion oder 
Neutralisation der Einseitigkeiten und Abnormitäten 
der beiden Individuen durch einander hervorgehen. 
Wir wollen sie einzeln durchgehen. 
Die oberste, unsere Wahl und Neigung leitende 
Rücksicht ist das Alter. Im Ganzen lassen wir es gelten 
von den Jahren der eintretenden bis zu denen der auf- 
hörenden Menstruation, geben jedoch der Periode vom 
achtzehnten bis achtundzwanzigsten Jahre entschieden 
den Vorzug. Ausserhalb jener Jahre hingegen kann 
kein Weib uns reizen: ein altes, d. h. nicht mehr 
menstruirtes Weib erregt unsern Abscheu. Jugend 
ohne Schönheit hat immer noch Reiz : Schönheit ohne 
Jugend keinen. — Offenbar ist die hiebei uns unbe- 
wusst leitende Absicht die Möglichkeit der Zeugung 
überhaupt: daher verliert jedes Individuum an Reiz 
für das andere Geschlecht in dem Maasse, als es sich 
von der zur Zeugung oder zur Empfängniss tauglich- 
sten Periode entfernt. — Die zweite Rücksicht ist die 
der Gesundheit: akute Krankheiten stören nur vor- 
übergehend, chronische, oder gar Kachexien, schrecken 
ab; — w^eil sie auf das Kind übergehen. — Die dritte 
Rücksicht ist das Skelett: weil es die Grundlage des 
Typus der Gattung ist. Nächst Alter und Krankheit 
stösst nichts uns so sehr ab, wie eine verwachsene 
Gestalt: sogar das schönste Gesicht kann nicht dafür 
entschädigen; vielmehr wird selbst das hässlichste, 
bei geradem Wüchse, unbedingt vorgezogen. Ferner 
empfinden wir jedes Missverhältniss des Skeletts am 
stärksten, z. B. eine verkürzte, gestauchte, kurzbeinige 
Figur u. dgl. m., auch hinkenden Gang, wo er nicht 
Folge eines äussern Zufalls ist. Hingegen kann ein 
auffallend schöner Wuchs alle Mängel ersetzen : er 
bezaubert uns. Hieher gehört auch der hohe Werth, 
den alle auf die Kleinheit der Füsse legen: er beruht 
darauf, dass diese ein wesentlicher Charakter der Gat- 
697 
tung sind, indem kein Thier Tarsus und Metatarsus 
zusamrnen(jenommen so klein hat, wie der Mensch, 
welches mit dem aufrechten Gange zusammenhangt: 
er ist ein Platigrade. Demgemäss sagt auch Jesus Sirach 
(26, 23 : nach der verbessertenUehersetzung von Kraus) : 
„Ein Weih, das gerade gebaut ist und schöne Füsse 
hat, ist wie die goldenen Säulen auf den silbernen 
Stühlen." Auch die Zähne sind uns wichtig; weil sie 
für die Ernährung wesentlich und ganz besonders 
erblich sind. — Die vierte Rücksicht ist eine gewisse 
Fülle des Fleisches, also ein Vorherrschen der vegeta- 
tiven Funktion, der Plasticität; weil diese dem Fötus 
reichliche Nahrun^j verspricht: daher stössi grosse 
Magerkeit uns auffallend ab. Ein voller weiblicher 
Busen übt einen ungemeinen Reiz auf das männliche 
Geschlecht aus: weil er, mit den Propagationsfunktio- 
nen des Weibes in direktem Zusammenhange stehend, 
dem Neugeborenen reichliche Nahrung verspricht. 
Hingegen erregen übermässig fette Weiber unsern Wi- 
derwillen: die Ursache ist, dass diese Beschaffenheit 
auf Atrophie des Uterus, also auf Unfruchtbarkeit 
deutet; welches nicht der Kopf, aber der Instinkt 
weiss. — Erst die letzte Rücksicht ist die auf die 
Schönheit des Gesichts. Auch hier kommen vor Allem 
die Knochentheile in Betracht; daher hauptsächlich 
auf eine schöne Nase gesehen wird, und eine kurze, 
aufgestülpte Nase Alles verdirbt. Ueber das Lebens- 
glück unzähliger Mädchen hat eine kleine Biegung 
der Nase, nach unten oder nach oben, entschieden, 
und mit Recht: denn es gilt den Typus der Gattung. 
Ein kleiner Mund, mittelst kleiner Maxillen, ist sehr 
wesentlich, als specifischer Charakter des Menschen- 
antlitzes, im Gegensatz der Thiermäuler. Ein zurück- 
liegendes, gleichsam weggeschnittenes Kinn ist be- 
sonders widerlich; weil mentum prominulum ein aus- 
schliesslicher Charakterzug unserer Species ist. Endlich 
kommt die Rücksicht auf schöne Augen und Stirn : 
sie hängt mit den psychischen Eigenschaften zusam- 
men, zumal mit den intellektuellen, welche von der 
Mutter erben. 
Die unbewussten Rücksichten, welche andererseits 
698 
die Neigung der Weiber befolgt, können wir natürlich 
nicht so genau angeben. Im Ganzen lässt sich Fol- 
gendes behaupten. Sie geben dem Alter von 3o bis 
35 Jahren den Vorzug, namentlich auch vor dem der 
Jünglinge, die doch eigentlich die höchste menschliche 
Schönheit darbieten. Der Grund ist, dass sie nicht vom 
Geschmack, sondern vom Instinkt geleitet werden, 
welcher im besagten Alter die Akme der Zeugungs- 
kraft erkennt. Ueberhaupt sehen sie wenig auf Schön- 
heit, namentlich des Gesichts: es ist als ob sie diese 
dem Kinde zu geben allein auf sich nähmen. Haupt- 
sächlich gewinnt sie die Kraft und der damit zusam- 
menhängende Muth des Mannes: denn diese verspre- 
chen die Zeugung kräftiger Kinder und zugleich einen 
tapfern Beschützer derselben. Jeden körperlichen 
Fehler des Mannes, jede Abweichung vom Typus, 
kann, in Hinsicht auf das Kind, das Weib bei der 
Zeugung aufheben, dadurch dass sie selbst in den 
nämlichen Stücken untadelhaft ist, oder gar auf der 
entgegengesetzten Seiteexcedirt.Hievon ausgenommen 
sind allein die Eigenschaften des Mannes, welche sei- 
nem Geschlecht eigenthümlich sind und welche daher 
die Mutter dem Kinde nicht geben kann: dahin ge- 
hört der männliche Bau des Skeletts, breite Schultern, 
schmale Hüften, gerade Beine, Muskelkraft, Muth, 
Bart u. s. w. Daher kommt es, dass Weiber oft häss- 
liche Männer lieben, aber nie einen unmännlichen 
Mann: weil sie dessen Mängel nicht neutralisiren 
können. 
Die zweite Art der Rücksichten, welche der Ge- 
schlechtsliebe zum Grunde liegen, ist die aufdie psy- 
chischen Eigenschaften. Hier werden wir finden, dass 
das Weib durchgängig von den Eigenschaften des 
Herzens oder Charakters im Manne angezogen wird,- — 
als welche vom Vater erben. Vorzüglich ist es Festig- 
keit des Willens, Entschlossenheit und Muth, vielleicht 
auch Redlichkeit und Herzensgüte, wodurch das Weib 
gewonnen wird. Hingegen üben intellektuelle Vor- 
züge keine direkte und instinktmässige Gewalt über 
sie aus; eben weil sie nicht vom Vater erben. Unver- 
stand schadet bei Weibern nicht: eher noch könnte 
699 
überwiej^ende Geisteskraft, oder gar Genie, als eine 
Abnormität, ungünstig wirken. Daher sieht man oft 
einen hässlichen, dummen und rohen Menschen einen 
wohlgebildeten, geistreichen und liebenswürdigen 
Mann bei Weibern ausstechen. Auch werden Ehen 
aus Liebe bisweilen geschlossen zwischen geistig höchst 
heterogenen Wesen : z. B. er roh, kräftig und be- 
schränkt, sie zart empfindend, fein denkend, gebildet, 
ästhetisch u. s. w.; oder er gar genial und gelehrt, 
sie eine Gans : 
Sic visum Veneri; ciii placet itnparcs 
Fornias atque animos sub jiiga aenea 
Saevo niittere cum joco. 
Der Grund ist, dass hier ganz andere Rücksichten 
vorwalten, als die intellektuellen: — die des Instinkts. 
Bei der Ehe ist es nicht auf geistreiche Unterhaltung, 
sondern auf die Erzeugiing der Kinder abgesehen: sie 
ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Es ist ein 
eitles und lächerliches Vorgeben, wenn Weiber be- 
haupten, in den Geist eines Mannes sich verliebt zu 
haben, oder es ist die Ueberspannung eines entarte- 
ten Wesens. — Männer hingegen werden in der in- 
stinktiven Liebe nicht durch die Chat-akter-Eigenschaf- 
ten des Weibes bestimmt; daher so viele Sokratesse 
ihre Xantippen gefunden haben, z. B. Shakespeare, 
Albrecht Dürer, Byron u. s. w. Wohl aber wirken 
hier die intellektuellen Eigenschaften ein; weil sie von 
der Mutter erben : jedoch w ird ihr Einfluss von dem 
der körperlichen Schönheit, als welche, Avesentlichere 
Punkte betreffend, unmittelbarer wirkt, leicht über- 
wogen. Inzwischen geschieht es, im Gefühl oder nach 
der Erfahrung jenes Einflusses, dass Mütter ihre Töch- 
ter schöne Künste, Sprachen u. dgl. erlernen lassen, 
um sie für Männer anziehend zu machen ; wobei sie 
dem Intellekt durch künstliche Mittel nachhelfen 
wollen, eben wie vorkommenden Falls den Hüften 
und Busen. — Wohl zu merken, dass hier überall 
die Rede allein ist von der ganz unmittelbaren, in- 
stinktartigen Anziehung, aus welcher allein die eigent- 
liche Verliebtheit erwächst. Dass ein verständiges und 
700 
gebildetes Weib Verstand und Geist an einem Manne 
schätzt, dassein Mann, aus vernünftiger Ueberlegung, 
den Charakter seiner Braut prüft und berücksichtigt, 
thut nichts zu der Sache, wovon es sich hier handelt : 
dergleichen begründet eine vernünftige Wahl bei der 
Ehe, aber nicht die leidenschaftliche Liebe, welche 
unser Thema ist. 
Bis hieher habe ich bloss die absoluten Rücksich- 
ten, d. h. solche, die für Jeden gelten, in Betracht 
genommen: ich komme jetzt zu den relativen, welche 
individuell sind; weil bei ihnen es darauf abgesehen 
ist, den bereits sich mangelhaft darstellenden Typus; 
der Gattung zu rektifiziren, die Abweichungen von 
demselben, welche die eigene Person des Wählenden 
schon an sich trägt, zu korrigiren und so zur reinen 
Darstellung des Typus zurückzuführen. Hier liebt 
daher Jeder, was ihm abgeht. Von der individuellen 
Beschaffenheit ausgehend und auf die individuelle 
Beschaffenheit gerichtet, ist die auf solchen relativen 
Rücksichten beruhende Wahl viel bestimmter, ent- 
schiedener und exklusiver, als die bloss von den ab- 
absoluten ausgehende; daher der Ursprung der eigent- 
lich leidenschaftlichen Liebe, in der Regel, in diesen 
relativen Rücksichten liegen wird, und nur der der 
gewöhnlichen, leichteren Neigung in den absoluten. 
Demgemäss pflegen es nicht gerade die regelmässi- 
gen, vollkommenen Schönheiten zu seyn, welche die 
grossen Leidenschaften entzünden. Damit eine solche 
wirklich leidenschaftliche Neigung entstehe, ist etwas 
erfordert, welches sich nur durch eine chemische 
Metapher ausdrücken lässt: beide Personen müssen 
einander neutralisiren, wie Säure und Alkali zu einem 
Mittelsalz. Die hiezu erforderlichen Bestimmungen 
sind im Wesentlichen folgende. Erstlich: alle Ge- 
schlechtlichkeit ist Einseitigkeit. Diese Einseitigkeit 
ist in Einem Individuo entschiedener ausgesprochen 
und in höherem Grade vorhanden, als im Andern : 
daher kann sie in jedem [ndividuo besser durch Eines 
als das Andere vom andern Geschlecht ergänzt und 
neutralisirt werden, indem es einer der seinigen indi- 
viduell entgegengesetzten Einseitigkeit bedarf, zur 
701 
Ergänzung des Typus der Menschheit im neu zu er- 
zeugenden Individuo, als auf dessen Beschaffenheit 
immer Alles hinausläuft. Die Physiologen wissen, dass 
Mannheit und Weihlichkeit unzählige Grade zulas- 
sen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynan- 
der und Hypospadäus sinkt, diese bis zur anmuthigen 
Androgyne steigt: von beiden Seiten aus kann der 
vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden, 
auf welchem Individuen stehen, welche, die gerade 
Mitte zwischen beiden Geschlechtern haltend, keinem 
beizuzählen, folglich zur Fortpflanzung untauglich 
sind. Zur in Rede stehenden Neutralisation zweier 
Individualitäten durch einander ist dem zu Folge er- 
fordert, dass der bestimmte Grad seiner Mannheit 
dem bestimmten Grad i'Arer Weiblichkeit genau ent- 
spreche; damit beide Einseitigkeiten einander gerade 
aufheben. Demnach wird der männlichste Mann das 
weiblichste Weib suchen und vice versa, und eben so 
jedes Individuum das ihm im Grade der Geschlecht- 
lichkeit entsprechende. Inwiefern nun hierin zwischen 
Zweien das erforderliche Verbal tniss Statt habe, wird 
instinktmässig von ihnen gefühlt, und liegt, nebst den 
andern relativen Rücksichten, den höhern Graden der 
Verliebtheit zum Grunde. Während daher die Lie- 
benden pathetisch von der Harmonie ihrer Seele re- 
den, ist meistens die hier nachgewiesene, das zu er- 
zeugende Wesen und seine Vollkommenheit betref- 
fende Zusammenstimmung der Kern der Sache, und 
an derselben auch offenbar viel mehr gelegen, als an 
der Harmonie ihrer Seelen, — welche oft, nicht lange 
nach der Hochzeit, sich in eine schreiende Dishar- 
monie auflöst. Hieran schliessen sich nun die ferneren 
relativen Rücksichten, welche darauf beruhen, dass 
Jedes seine Schwächen, Mängel und Abweichungen 
vom Typus durch das Andere aufzuheben trachtet, 
damit sie nicht im zu erzeugenden Kinde sich perpe- 
tuiren, oder gar zu völligen Abnormitäten anwach- 
sen. Je schwächer in Hinsicht auf Muskelkraft ein 
Mann ist, desto mehr wird er kräftige Weibersuchen : 
eben so das Weib ihrerseits. Da nun aber dem Weibe 
eine schwächere Muskelkraft naturgemäss und in 
•^02 
der Regel ist ; so werden auch in der Regel die Wei- 
ber den kräftigeren Männern den Vorzug geben. — 
Ferner ist eine wichtige Rücksicht die Grösse. Kleine 
Männer haben einen entschiedenen Hang zu grossen 
Weibern, und vice versa: und zwar wird in einem 
kleinen Mann die Vorliebe für grosse Weiber um so 
leidenschaftlicher seyn, als er selbst von einem gros- 
sen Vater gezeugt und nur durch den Einfluss der Mut- 
ter klein geblieben ist; weil er vom Vater dasGefässsys- 
tem und die Energie desselben, die einen grossen Kör- 
per mit Blut zu versehen vermag, überkommen hat: 
waren hingegen sein Vater und Grossvater schon klein • 
so wird jener Hang sich weniger fühlbar machen. 
Der Abneigung eines grossen Weibes gegen grosse 
Männer liegt die Absicht der Natur zum Grunde, eine 
zu grosse Rasse zu vermeiden, wenn sie, mit den 
von diesem Weibe zu ertheilenden Kräften, zu schwach 
ausfallen würde, um lange zu leben. Wählt dennoch 
ein solches Weib einen grossen Gatten, etwan um sich 
in der Gesellschaft besser zu präsentiren; so wird, in 
der Regel, die Nachkommenschaft die Thorheit büs- 
sen. — Sehr entschieden ist ferner die Rücksicht auf 
die Komplexion. Blonde verlangen durchaus Schwar- 
ze oder Braune ; aber nur seilen diese jene. Der Grund 
hievon ist, dass blondes Haar und blaue Augen schon 
eine Spielart, fast eine Abnormität ausmachen: den 
weissen Mäusen, oder wenigstens den Schimmeln ana- 
log. In keinem andern Welttheil sind sie, selbst nicht 
in der Nähe der Pole, einheimisch, sondern allein in 
Europa, und offenbar von Skandinavien ausgegangen. 
Beiläufig sei hier meine Meinung ausgesprochen, dass 
dem Menschen die weisse Hautfarbe nicht natürlich 
ist, sondern er von Natur schwarze, oder braune Haut 
hat, wie unsere Stammväter die Hindu; dass folglich 
nie ein weisser Mensch ursprünglich aus dem Schoosse 
der Natur hervorgegangen ist, und es also keine weis- 
se Rasse giebt, so viel auch von ihr geredet wird, 
sondern jeder weisse Mensch ein abgeblichener ist. 
In den ihm fremden Norden gedrängt, wo er nur so 
besteht, wie die exotischen Pflanzen, und, wie diese, 
im Winter des Treibhauses bedarf, wurde der Mensch, 
7o3 
im Laufe der Jahrtausende, weiss. Die Zif^jeuner, ein 
ludischer, erst seit ungefähr vier Jahrhunderten ein- 
(jewanderter Stamm, zeigen den Uebergang von der 
Komplexion der Hindu zur unsrigen*). In der Ge- 
schlechtsliebe strebt daher die Natur zum dunkeln 
Haar und braunen Auge, als zum Urtypus, zurück: 
die weisse Hautfarbe aber ist zur zweiten Natur ge- 
worden ; wiewohl nicht so, dass die braune der Hindu 
uns abstiesse. — Endlich sucht auch in den einzelnen 
Körpertheilen Jedes das Korrektiv seiner Mängel und 
Abweichungen, und um so entschiedener, je wichti- 
ger der Theil ist. Daher haben stumpfnasige Indivi- 
duen ein unaussprechliches Wohlgefallen an Habichts- 
nasen, an Papageiengesichtern: eben so ist es rück- 
sichtlich aller übrigen Theile. Menschen von über- 
mässig schlankem, lang gestreckten Körper- und Glie- 
derbau können sogar einen über die Gebühr gedrun- 
genen und verkürzten schön finden. — Analog wal- 
ten die Rücksichten auf das Temperament : Jeder 
wird das entgegengesetzte vorziehen; jedoch nur in 
dem Maass als das seinige ein entschiedenes ist. — 
Wer selbst, in irgend einer Rücksicht, sehr vollkom- 
men ist, sucht und liebt zwar nicht die Unvollkom- 
menheit in eben dieser Rücksicht, söhnt sich aber 
leichter als Andere damit aus; weil er selbst die Kin- 
der vor grosser Unvollkommenheit in diesem Stücke 
sichert. Z. R. wer selbst sehr weiss ist, wird sich an 
einer gelblichen Gesichtsfarbe nicht stossen : w er aber 
diese hat, wird die blendende Weisse göttlich schön fin- 
den. — Der seltene Fall, dass ein Mann sich in ein ent- 
schieden hässliches Weib verliebt, tritt ein, wann, 
bei der oben erörterten genauen Harmonie des Gra- 
des der Geschlechtlichkeit, ihre sämmtlichen Abnor- 
mitäten gerade die entgegengesetzten, also das Kor- 
rektiv, der seinigen sind. Die Verliebtheit pflegt als- 
dann einen hohen Grad zu erreichen. 
Der tiefe Ernst, mit welchem wir jeden Körpertheil 
des Weibes prüfend betrachten, und sie ihrerseits das 
Selbe thut, die kritische Skrupulosität, mit der wir 
*) Das Ausführlichere hierüber findet man in Parerga, Bd. 2, 
§.92 der ersten Auflage. 
704 
ein Weib, das uns zu gefallen anfangt, mustern, der 
Eigensinn unserer Wahl, die gespannte Aufmerksam- 
keit, womit der Bräutigam die Braut beobachtet, seine 
Behutsamkeit, um in keinem Theile getäuscht zu 
werden, und der grosse Werth, den er auf jedes Mehr 
oder Weniger, in den wesentlichen Theilen, legt, - — 
Alles dieses ist der Wichtigkeit des Zweckes ganz an- 
gemessen. Denn das Neuzuerzeugende wird, ein gan- 
zes Leben hindurch, einen ähnlichen Theil zu tragen 
haben: ist z, B. das Weib nur ein wenig schief; so 
kann dies leicht ihrem Sohn einen Puckel aufladen, 
und so in allem Uebrigen. — Bewusstseyn von dem 
Allen ist freilich nicht vorhanden; vielmehr wähnt 
Jeder nur im Interesse seiner eigenen Wollust (die 
im Grunde gar nicht dabei betheiligt seyn kann) jene 
schwierige Wahl zu treffen: aber er trifft sie genau 
so, wie es, unter Voraussetzung seiner eigenen Kor- 
porisation, dem Interesse der Gattung gemäss ist, de- 
ren Typus möglichst rein zu erhalten die geheime 
Aufgabe ist. Das Individuum handelt hier, ohne es 
zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der Gattung: 
daher die Wichtigkeit, welche es Dingen beilegt, die 
ihm, als solchem, gleichgültig seyn könnten, ja müss- 
ten. — Es liegt etwas ganz Eigenes in dem tiefen, 
unbewussten Ernst, mit welchem zwei junge Leute 
verschiedenen Geschlechts, die sich zum ersten Male 
sehen, einander betrachten; dem forschenden und 
durchdringenden Blick, den sie auf einander werfen ; 
der sorgfältigen Musterung, die alle Züge und Theile 
ihrer beiderseitigen Personen zu erleiden haben. Die- 
ses Forschen und Prüfen nämlich ist die Meditation 
des Genius der Gattung über das durch sie Beide mög- 
liche Individuum und die Kombination seiner Eigen- 
schaften. Nach dem Resultat derselben fällt der Grad 
ihres Wohlgefallens an einander und ihres Begehrens 
nach einander aus. Dieses kann, nachdem es schon 
einen bedeutenden Grad erreicht hatte, plötzlich wie- 
der erlöschen, durch die Entdeckung von Etwas, das 
vorhin unbemerkt geblieben war. — Dergestalt also 
meditirt in Allen, die zeugungsfähig sind, der Genius 
der Gattung das kommende Geschlecht. Die Beschaf- 
45 Schopenhauer II "7 3 
fenheit desselben ist das grosse Werk, womit Kupido, 
unablässig thätig, spekulirend und sinnend, beschäf- 
tigt ist. Gegen die Wichtigkeit seiner grossen Ange- 
legenheit, als welche die Gattung und alle kommen- 
den Geschlechter betrifft, sind die Angelegenheiten 
der Individuen, in ihrer ganzen ephemeren Gesammt- 
heit, sehr geringfügig: daher ist er stets bereit, diese 
rücksichtslos zu opfern. Denn er verhält sich zu ihnen 
"wie ein Unsterblicher zu Sterblichen, und seine Inter- 
essen zu den ihren wie unendliche zu endlichen. Im 
Bewusstseyn also, Angelegenheiten höherer Art, als 
alle solche, welche nur individuelles W^ohl und Wehe 
betreffen, zu verwalten, betreibt er dieselben, mit er- 
habener üngestörtheit, mitten im Getümmel des Krie- 
ges, oder im Gewühl des Geschäftslebens, oder zwi- 
schen dem Wüthen einer Pest, und geht ihnen nach 
bis in die Abgeschiedenheit des Klosters. 
Wir haben im Obigen gesehen, dass die Intensität 
der Verliebtheit mit ihrer Individualisirung wächst, 
indem wir nachwiesen, wie die körperliche Beschaf- 
fenheit zweier Individuen eine solche seyn kann, dass, 
zum Behuf möglichster Herstellung des Typus der 
Gattung, das eine die ganz specielle und vollkommene 
Ergänzung des andern ist, welches daher seiner aus- 
schliesslich begehrt. In diesem Fall tritt schon eine 
bedeutende Leidenschaft ein, welche eben dadurch, 
dass sie auf einen einzigen Gegenstand und nur auf 
diesen gerichtet ist, also gleichsam im speciellen Auf- 
trag der Gattimg auftritt, sogleich einen edleren imd 
erhabeneren Anstrich gewinnt. Aus dem entgegenge- 
setzten Grunde ist der blosse Geschlechtstrieb, weil 
er, ohne Individualisirung, auf alle gerichtet ist und 
die Gattung bloss der Quantität nach, mit wenig 
Rücksicht auf die Qualität, zu erhalten strebt, ge- 
mein. Nun aber kann die Individualisirung, und mit 
ihr die Intensität der Verliebtheit, einen so hohen 
Grad erreichen, dass, ohne ihre Befriedigung, alle 
Güter der Welt, ja, das Leben selbst seinen Werth 
verliert. Sie ist alsdann ein W^unsch, welcher zu einer 
Heftigkeit anwächst, wie durchaus kein anderer, da- 
her zu jedem Opfer bereit macht inid, im Fall die 
706 
Erfüllung unabänderlich versagt bleibt, zum Wahn- 
sinn, oder zum Selbstmord führen kann. Die einer 
solchen überschwänglichen Leidenschaft zum Grunde 
liegenden unbewussten Rücksichten müssen, ausser 
den oben nachgevviessenen, noch andere seyn, wel- 
che wir nicht so vor Augen haben. Wir müssen da- 
her annehmen, dass hier nicht nur die Korporisation, 
sondern auch der Wille des Mannes, und der Intellekt 
des Weibes eine specielle Angemessenheit zu einan- 
der haben, in Folge welcher von ihnen allein ein 
ganz bestimmtes Individuum erzeugt werden kann, 
dessen Existenz der Genius der Gattung hier beab- 
sichtigt, aus Gründen, die, als im Wesen des Dinges 
an sich liegend, uns unzugänglich sind. Oder eigent- 
licher zu reden : der Wille zum Leben verlangt hier, 
sich in einem genau bestimmten Individuo zu objek- 
tiviren, welches nur von diesem Vater mit dieser 
Mutler gezeugt werden kann. Dieses metaphysische 
Begehr des Willens an sich hat zunächst keine andere 
Wirkungssphäre in der Reihe der Wesen, als die Her- 
zen der künftigen Eltern, welche demnach von die- 
sem Drange ergriffen werden und nun ihrer selbst 
wegen zu wünschen wähnen, was bloss einen für jetzt 
noch rein metaphysischen, d. h. ausserhalb der Reihe 
wirklich vorhandener Dinge liegenden Zweck hat. 
Also der aus der Urquelle aller Wesen hervorgehende 
Drang des künftigen, hier erst möglich gewordenen 
Individuums, ins Daseyn zu treten, ist es, was sich in 
der Erscheinung darstellt als die hohe. Alles ausser 
sich gering achtende Leidenschaft der künftigen El- 
tern für einander, in der That als ein Wahn ohne 
Gleichen, vermöge dessen ein solcher Verliebter alle 
Güter der Welt hingeben würde, für den Beischlaf 
mit diesem Weibe, — der ihm doch in Wahrheit 
nicht mehr leistet, als jeder andere. Dass er dennoch 
bloss hierauf abgesehen sei, geht daraus hervor, dass 
auch diese hohe Leidenschaft, so gut wie jede andere, 
im Genuss erlischt, — zur grossen Verwunderung 
der Theilnehmer. Sie erlischt auch dann, wann, durch 
etwanige Unfruchtbarkeit des Weibes (welche, nach 
Hufeland, aus 19 zufälligen Konstitutionsfehlern ent- 
45- 707 
springen kann), der eigentliche metaphysische Zweck 
vereitelt wird; eben so, wie er es täglich wird in Mil- 
lionen zertretener Keime, in denen doch auch das 
selbe metaphysische Lebensprincip zuniDaseyn strebt; 
wobei kein anderer Trost ist, als dass dem Willen 
zum Leben eine Unendlichkeit von Raum, Zeit, Ma- 
terie und folglich unerschöpfliche Gelegenheit zur 
Wiederkehr offen steht. 
Dem Theophrastus Paracelsus, der dieses Thema 
nicht behandelt hat und dem mein ganzer Gedanken- 
gang fremd ist, muss doch ein Mal die hier dargelegte 
Einsicht, wenn auch nur flüchtig, vorgeschwebt ha- 
ben, indem er, in ganz anderem Kontext und in sei- 
ner desultorischen Manier, folgende merkwürdige 
Aeusserung hinschrieb: Hi sunt, qvios Deus copula- 
vit, ut eam, quae fuit Uriae et David; quamvis ex 
diametro (sie enim sibi humana mens persuadebat) 
cum justo et legitimo matrimonio pugnaret hoc. 
— — — sed propter Salomonen!, qui aliunde nasci 
non potuit, nisi ex Bathsebea, conjuncto David semi- 
ne, quamvis meretrice, conjunxit eos Deus (De vita 
longa, 1, 5). 
Die Sehnsucht der Liebe, der lixepo?, welchen in 
zahllosen Wendungen auszudrücken die Dichter aller 
Zeiten unablässig beschäftigt sind und den Gegen- 
stand nicht erschöpfen, ja, ihm nicht genug thun 
können, diese Sehnsucht, welche an den Besitz eines 
bestimmten Weibes die Vorstellung einer unend- 
lichen Säligkeil knüpft und einen unaussprech- 
lichen Schmerz an den Gedanken, dass er nicht zu 
erlangen sei, — diese Sehnsucht und dieser Schmerz 
der Liebe können nicht ihren Stoff entnehmen aus 
den Bedürfnissen eines ephemeren Individuums; son- 
dern sie sind der Seufzer des Geistes der Gattung, 
welcher hier ein unersetzliches Mittel zu seinen Zwek- 
ken zu gewinnen, oder zu verlieren sieht und daher 
tief aufstöhnt. Die Gattung allein hat unendliches 
Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unend- 
licher Befriedigung und unendlicher Schmerzen fä- 
hig. Diese aber sind hier in der engen Brust einer 
Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn 
708 
eine solche bersten zu wollen scheint und keinen 
Ausdruck finden kann für die sie erfüllende Ahn- 
dung unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes. 
Dies also giebt den Stoff zu aller erotischen Poesie 
erhabener Gattung, die sich demgemäss in transscen- 
dente, alles Irdische überfliegende Metaphern ver- 
steigt. Dies ist das Thema des Petrarca, der Stoff zu 
den St. Preuxs, Werthern und Jakopo Ortis, die aus- 
serdem nicht zu verstehen, noch zu erklären seyn 
würden. Denn auf etwanigen geistigen, überhaupt 
auf objektiven, realen Vorzügen der Geliebten kann 
jene unendliche Werthschätzung derselben nicht be- 
ruhen; schon weil sie dazu dem Liebenden oft nicht 
genau genug bekannt ist; wie dies Petrarka's Fall 
war. Der Geist der Gattung allein vermag mit Einem 
Blicke zu sehen, welchen Werth sie für ?7/n, zu seinen 
Zwecken hat. Auch entstehen die grossen Leiden- 
schaften in der Regel beim ersten Anblick: 
Who ever lov'd, that lov'd not at first siglit?') 
Shakespeare, As yoii iike it, III, 5. 
Merkwürdig ist in dieser Hinsicht eine Stelle in dem 
seit aSo Jahren berühmten Roman Guzmann de Al- 
farache, von Mateo Aleman: No es necessario, para 
que uno ame, que pase distancia de tiempo, que siga 
discurso, ni haga eleccion, sino que con aquella pri- 
inera y sola vista, concurran juntaniente cierta corre- 
spondencia 6 consonancia, ö lo que acti solemos vulgar- 
mente decir, una con frontadon de sangre, ä que por par- 
ticular influxo suelen mover las estrellas. (Damit Einer 
liebe, ist es nicht nöthig,dass viel Zeit verstreiche, dass 
er Ueberlegung anstelle und eine Wahl treffe; sondern 
nur, dass bei jenem ersten und alleinigen Anblick 
eine gewisse Angemessenheit und Uebereinstimmung 
gegenseitig zusammentreffe, oder Das, was wir hier 
im gemeinen Leben eine Sympathie des Blutes zu 
nennen pflegen, und wozu ein besonderer Einfluss der 
Gestirne anzutreiben pflegt.) P. II, L. III, c. 5. Dem- 
gemäss ist auch der Verlust der Geliebten, durch 
einen Nebenbuhler, oder durch den Tod, für den lei- 
*) Wer liebte je, der nicht beim ersten Anblick liebte? 
denschaftlicli Liebenden ein Schmerz, der jeden an- 
dern übersteigt; eben weil er transscendenter Art ist, 
indem er ihn nicht bloss als Individuum trifft; sondern 
ihn in seiner essen tia aeterna, im Leben der Gattung 
angreift, in deren speciellem Willen und Auftrage er 
hier berufen war. 13aher ist Eifersucht, so qiiaalvoU 
und so grimmig, und ist die Abtretung der Geliebten 
das grösste aller Opfer. — Ein Held schämt sich aller 
Klagen, nur nicht der Liebesklagen; weil in diesen 
nicht er, sondern die Gattung winselt. — In der 
„grossen Zenobia" des Calderon ist im zweiten Akt 
eine Scene zwischen der Zenobia und dem Decius, 
w^o dieser sagt: 
Cielos, luego tu nie quieres? 
Perdiera cien mil victorias, 
Volvieraine, etc. 
(Himmel! also Du liebst mich?! Dafür würde icli 
hunderttausend Siege aufgeben, MÜrde umkehren , u .s.w.) . 
Hier wird die Ehre, welche bisher jedes Interesse 
überwog, aus dem Felde geschlagen, sobald die Ge- 
schlechtsliebe, d. i. das Interesse der Gattung, ins 
Spiel kommt imd einen entschiedenen Vortheil vor 
sich sieht: denn dieses ist gegen jedes, auch noch so 
wichtige Interesse blosser Individuen unendlich über- 
wiegend. Ihm allein weichen daher Ehre, Pflicht und 
Treue, nachdem sie jeder andern Versuchung, nebst 
der Drohung des Todes, widerstanden haben. — 
Eben so finden wir im Privatleben, dass in keinem 
Punkte Gewissenhaftigkeit so selten ist, wie in diesem : 
sie wird hier bisweilen sogar von sonst redlichen und 
gerechten Leuten bei Seite gesetzt, und der Ehebruch 
rücksichtslos begangen, wann die leidenschaftliche 
Liebe, d. h. das Interesse der Gattung, sich ihrer be- 
mächtigt bat. Es scheint sogar, als ob sie dabei einer 
höheren Berechtigung sich bewusst zu seyn glaubten, 
als die Interessen der Individuen je verleihen kön- 
nen; eben weil sie im Interesse der Gattung bandeln. 
Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Cliomfort<i Aeusse- 
rung: Quand nn homme et ime femme ont Tun pour 
Tautre une passiun vioiente, il me semble toujours 
1 lo 
que, quelque soient les obstacles qui les separent, im 
main, des parens etc., les deux ainans sont Tun k Tautre, 
de par la Nature^ qu'ils s'appartiennent de droit divin, 
malfjre les lois et les Conventions humaines. Wer sich 
hierüber ereifern wollte, wäre auf die auffallende 
Nachsicht zu verweisen, welche der Heiland im Evan- 
gelio der Ehebrecherin widerfahren lässt, indem er 
zugleich die selbe Schuld bei allen Anwesenden 
voraussetzt. — Der grösste Theil des Dekanieron er- 
scheint, von diesem Gesichtspunkt aus, als blosser 
Spott und Hohn des Genius der Gattung über die von 
ihm mit Füssen getretenen Rechte und Interessen der 
Individuen. — Mit gleicher Leichtigkeit werden 
Standesunterschiede und alle ähnlichen Verhältnisse, 
wann sie der Verbindung leidenschaftlich Liebender 
entgegenstehen, beseitigt und für nichtig erklärt vom 
Genius der Gattung, der seine, endlosen Generationen 
angehörenden Zwecke verfolgend solche Menschen- 
satzungen und Bedenken wie Spreu wegbläst. Aus 
dem selben tief liegenden Grunde wird, wo es die 
Zwecke verliebter Leidenschaft gilt, jede Gefahr wil- 
lig übernommen, und selbst der sonst Zaghafte wird 
hier muthig. — Auch im Schauspiele und im Roman 
sehen wir, mit freudigem Antheil, die jungen Leute, 
welche ihre Liebeshändel, d. i. das Interesse der Gat- 
tung, verfechten, den Sieg davontragen über die Alten, 
welche nur auf das Wohl der Individuen bedacht 
sind. Denn das Streben der Liebenden scheint uns 
um so viel wichtiger, erhabener und deshalb gerech- 
ter, als jedes ihm etwan entgegenstehende, wie die 
Gattung bedeutender ist, als das Individuum. Dem- 
gemäss ist das Grund thema fast aller Komödien das 
Auftreten des Genius der Gattung mit seinen Zwecken, 
welche dem persönlichen Interesse der dargestellten 
Individuen zuwiderlaufen und daher das GUick der- 
selben zu untergraben drohen. In der Regel setzt er 
es durch, welches, als der poetischen Gerechtigkeit 
gemäss, den Zuschauer befriedigt; weil dieser fühlt, 
dass die Zwecke der Gattung denen der Individuen 
weit vorgehen. Daher verlässt er, am Schluss, die 
sieggekrönten Liebenden ganz getrost, indem er mit 
I I 
ihnen den Wahn theilt, sie hatten ihr ei{>enes Glück 
gegründet, welches sie viehnehr dem Wohl der Gat- 
tung zum Opfer gehracht hahen, dem Willen der 
vorsorglichen Alten entgegen. In einzelnen, abnormen 
Lustspielen hat man versucht, die Sache umzukehren 
und das Glück der Individuen, auf Kosten der Zwecke 
der Gattung, durchzusetzen: allein da empfindet der 
Zuschauer den Schmerz, den der Genius der Gattung 
erleidet, und wird durch die dadurch gesicherten 
Vortheile der Individuen nicht getröstet. Als Beispiele 
dieser Art fallen mir ein Paar sehr bekannte kleine 
Stücke bei: La reine de i6 ans, und Le mariage de 
raison. In Trauerspielen mit Liebeshändeln gehen 
meistens, indem die Zwecke der Gattung vereitelt 
werden, die Liebenden, welche deren Werkzeug 
waren, zugleich unter: z. B. in Romeo und Julia, 
Tankred, Don Karlos, Wallenstein, Braut von Mes- 
sina u. a. m. 
Das Verliebtseyn eines Menschen liefertoft komische, 
mitunter auch tragische Phänomene; Beides, weil er 
vom Geiste der Gattung in Besitz genommen, jetzt 
von diesem beherrscht wird und nicht mehr sich 
selber angehört: dadurch wird sein Handeln dem 
Individuo unangemessen. Was, bei den höheren Gra- 
den des Verliebtseyns, seinen Gedanken einen so 
poetischen und erhabenen Anstrich, sogar eine trans- 
scendente und hyperphysische Richtung giebt, ver- 
möge welcher er seinen eigentlichen, sehr physischen 
Zweck ganz aus den Augen zu verlieren scheint, ist 
im Grunde Dieses, dass er jetzt vom Geiste der Gat- 
tung, dessen Angelegenheiten unendlich wichtiger, 
als alle, blosse Individuen betreffende sind, beseelt ist, 
um, in dessen speciellem Auftrag, die ganze Existenz 
einer indefinit langen Nachkommenschaft, von dieser 
individuell und genau Ijestimmten Beschaffenheit, 
welche sie ganz allein von ihm als Vater und seiner 
Geliebten als Mutter erhalten kann, zu begründen, 
und die ausserdem, als eine solche, nie zum Daseyn 
gelangt, während die Objektivation des Willens zum 
Leben dieses Daseyn ausdrücklich erfordert. Das Ge- 
fühl, in Angelegenheiten von so transscendenter Wich- 
712 
tigkeit zu handeln, ist es, was den Verliebten so hoch 
über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebt und 
seinen sehr physischen Wünschen eine so hyper- 
physische Einkleidung giebt, dass die Liebe eine poe- 
tische Episode sogar im Leben des prosaischesten 
Menschen wird; in welchem letzteren Fall die Sache 
bisweilen einen komischen Anstrich gewinnt. — Jener 
Auftrag des in der Gattung sich objektivirenden Wil- 
lens stellt, im Bewusstseyn des Verliebten, sich dar 
unter der Maske der Anticipation einer unendlichen 
Säligkeit, welche für ihn in der Vereinigung mit die- 
sem weiblichen Individuo zu finden wäre. In den 
höchsten Graden der Verliebtheit wird nun diese Chi- 
märe so strahlend, dass, wenn sie nicht erlangt wer- 
den kann, das Leben selbst allen Reiz verliert und 
nunmehr so freudenleer, schaal und ungeniessbar er- 
scheint, dass der Ekel davor sogar die Schrecken des 
Todes überwindet; daher es dann bisweilen freiwillig 
abgekürzt wird. Der Wille eines solchen Menschen 
ist in den Strudel des Willens der Gattung gerathen, 
oder dieser hat so sehr das Uebergewicht über den 
individuellen Willen erhalten, dass, wenn solcher in 
ersterer Eigenschaft nicht wirksam seyn kann, er 
verschmäht, es in letzterer zu seyn. Das Individuum 
ist hier ein zu schwaches Gefäss, als dass es die, auf 
ein bestimmtes Objekt koncentrirte, unendliche Sehn- 
sucht des Willens der Gattung ertragen könnte. In 
diesem Fall ist daher der Ausgang Selbstmord, bis- 
weilen doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei 
denn, dass die Natur, zur Rettung des Lebens, Wahn- 
sinn eintreten Hesse, welcher dann mit seinem Schleier 
das Bewusstseyn jenes hoffnungslosen Zustandes um- 
hüllt. — Kein Jahr geht hin, ohne durch mehrere 
Fälle aller dieser Arten die Realität des Dargestellten 
zu belegen. 
Aber nicht allein hat die unbefriedigte verliebte 
Leidenschaft bisweilen einen tragischen Ausgang, 
sondern auch die befriedigte führt öfter zum Unglück, 
als zum Glück. Denn ihre Anforderungen kollidiren 
oft so sehr mit der persönlichen Wohlfahrt des Be- 
theiligten, dass sie solche untergraben, indem sie mit 
7l3 
seinen übrigen Verhältnissen unvereinbar sind und 
den darauf gebauten Lebensplan zerstören. Ja, niclit 
allein mit den äusseren Verhältnissen ist die Liebe 
oft im Widerspruch, sondern sogai- mit der eigenen 
Individualität, indem sie sich auf Personen wirft, 
welche, abgesehen vom Geschlechtsverhältniss, dem 
Liebenden verhasst, verächtlich, ja zum Abscheu seyn 
würden. Aber so sehr viel mächtiger ist der Wille 
der Gattung als der des Individuums, dass der Lie- 
bende über alle jene ihm widerlichen Eigenschaften 
die x\ugen schliesst, Alles übersieht. Alles verkennt 
und sich mit dem Gegenstande seiner Leidenschaft 
auf immer verbindet: so gänzlich verblendet ihn jener 
Wahn, welcher, sobald der Wille der Gattung einfällt 
ist, verschwindet und eine verhasste Lebensgefährtinn 
übrig lässt. Nur hieraus ist es erklärlich, dass wir oft 
sehr vernünftige, ja ausgezeichnete Männer mit Dra- 
chen und Eheteufeln verbunden sehen, und nicht 
begreifen, wie sie eine solche Wahl haben treffen 
können. Diesei-halb stellten die Alten den Amor blind 
dar. Ja, ein Verliebter kann sogar die unerträglichen 
Temperaments- und Charakterfehler seiner Braut, 
welche ihm ein gequältes Leben verheissen, deutlich 
erkennen und bitter emplinden, und doch nicht ab- 
geschreckt werden : 
I ask not, I care not, 
If guilt's in tliy lieart; 
I know that I love thee, 
Wliatever thou art*). 
Denn im Grunde sucht er nicht seine Sache, sondern 
die eines Dritten, der erst entstehen soll; wiewohl ihn 
der Wahn umfängt, als wäre was er sucht seine Sache. 
Aber gerade dieses Nicht-ieme-Sache-suchen, welches 
überall der Stämpel der Grösse ist, giebt auch der 
leidenschaftlichen Liebe den iVnstrich des Erhabenen 
und macht sie zum würdigen Gegenstande der Dich- 
*) Ich l'ray' nicht, ich sorg' nicht, 
Oh Schuld in dir ist: 
Ich lieb' dich, das weiss ich, 
Was innner du bist. 
7>4 
tiing. — Endlich verträgt sich die Geschlechtsliehe 
sogar mit dem äussersten Hass gegen ihren Gegen- 
stand ; daher schon Plato sie der Liebe der Wölfe zu 
den Schaafen vergHchen hat. Dieser Fall tritt nämlich 
ein, wann ein leidenschaftlich Liebender, trotz allem 
Bemühen und Flehen, unter keiner Bedingung Er- 
hörung finden kann: 
I love and hate her*). 
Shakespeare^ Cvmb., III, 5. 
Der Hass gegen die Geliebte, welcher sich dann ent- 
zündet, geht bisweilen so weit, dass er sie ermordet 
und darauf sich selbst. Ein Paar Beispiele dieser Art 
pflegen sich jährlich zu ereignen: man wird sie in 
den Zeitungen finden. Ganz richtig ist daher der 
Goethe'sche Vers: 
Bei aller verschmähten Liehe, heim höIHschen Elemente! 
Ich wollt', ich wüsst' was ärf;ers, tlass ich fluchen könnte! 
Es ist wirklich keine Hyperbel, wenn ein Liebender 
die Kälte der Geliebten und die Freude ihrer Eitel- 
keit, die sich an seinem Leiden weidet, als Grausam- 
keit bezeichnet. Denn er steht unter dein Einfluss 
eines Triebes, der, dem Instinkt der Insekten ver- 
wandt, ihn zwingt, allen Gründen der Vernunft zum 
Trotz, seinen Zweck luibedingt zu verfolgen, und alles 
Andere hintanzusetzen, er kann nicht davon lassen. 
Nicht Einen, sondern schon manchen Petrarka hat es 
gegeben, der unerfüllten Liebesdrang, wie eine Fessel, 
wie einen Eisenblock am Fuss, sein Leben hindurch 
schleppen musste und in einsamen Wäldern seine 
Seufzer aushauchte: aber niu- dem einen Petrarka 
wohnte zugleich die Dichtergabe ein; so dass von ihm 
Goethe's schöner Vers gilt: 
Und wenn der Mensch in seiner Quaal verstummt, 
Gah mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide. 
In der That führt der Genius der Gattung durch- 
gängig Krieg mit den schützenden Genien der Indivi- 
duen, ist ihr Verfolger und Feind, stets bereit das 
persönliche Glück schonungslos zu zerstören, um seine 
*) Ich liehe und hasse sie. 
7l5 
Zwecke durchzusetzen; ja, das Wohl ganzer iSationen 
ist bisweilen das Opfer seiner Launen geworden: ein 
Beispiel dieser Art führt uns Shakespeare vor in Hein- 
rich VI., Th. 3, A. 3, Sc. 2 und 3. Dies Alles beruht 
darauf, dass die Gattung, als in welcher die Wurzel 
unsers Wesens liegt, ein näheres und früheres Recht 
auf uns hat, als das Individuum; daher ihre Ange- 
legenheiten vorgehen. Im Gefühl hievon haben die 
Alten den Genius der Gattung im Kupido personifi- 
zirt, einem, seines kindischen Ansehns ungeachtet, 
feindsäligen, grausamen und daher verschrienen Gott, 
einem kapriziösen, despotischen Dämon, aber dennoch 
Herrn der Götter und Menschen: 
OU 5' CO {)£(ÜV TUpaVVS x' avdptÜTTCDV, LpU)?! 
('I\i, (leoiuin lioiiiimuiKjue tyraiin«*, Aiiiorl) 
Mörderisches Geschoss, Blindheit und Flügel sind 
seine Attribute. Die letzteren deuten auf den Unbe- 
stand: dieser tritt, in der Regel, erst mit der Ent- 
täuschung ein, welche die Folge der Befriedigung ist. 
Weil nämlich die Leidenschaft auf einem Wahn 
beruhte, der Das, was nur für die Gattung Werth 
hat, vorspiegelte als für das Individuum werthvoll, 
muss, nach erlangtem Zwecke der Gattung, die Täu- 
schung verschwinden. Der Geist der Gattung, w elcher 
das Individuum in Besitz genommen hatte, lässt es 
wieder frei. Von ihm verlassen fällt es zurück in seine 
ursprüngliche Beschränkung und Armuth, und sieht 
mit Verwunderung, dass nach so hohem, heroischen 
und unendlichen Streben, für seinen Genuss nichts 
abgefallen ist, als was jede Geschlechtsbefriedigung 
leistet: es findet sich, wider Erwarten, nicht glück- 
licher als zuvor. Es merkt, dass es der Betrogene des 
Willens der Gattung gewesen ist. Daher wird, in der 
Regel, ein beglückter Theseus seine Ariadne verlassen. 
Wäre Petrar/.as Leidenschaft befriedigt worden; so 
wäre von Dem an sein Gesang verstummt, wie der 
des Vogels, sobald die Eier gelegt sind. 
Hier sei es beiläufig bemerkt, dass, so sehr auch 
jneine Metaphysik der Liebe gerade den in dieser 
716 
Leidenschaft Verstrickten missfallen wird, dennoch, 
wenn ge(;en dieselbe Vernunftbetrachtungen über- 
haupt etwas vermöchten, die von mir aufgedeckte 
Grundwahrheit, vor allem Andern, zur üeberwälti- 
gung derselben befähigen müsste. Allein es wird wohl 
beim Ausspruch des alten Komikers bleiben : Quae 
res in se neque consilium, neque modum habet ullum, 
eam consilio regere non potes. 
Ehen aus Liebe werden im hiteresse der Gattung, 
nicht der Individuen geschlossen. Zwar wähnen die 
Betheiligten ihr eigenes Glück zu fördern: allein ihr 
wirklicher Zweck ist ein ihnen selbst fremder, indem er 
in der Hervorbringung eines nur durch sie möglichen 
Individuums liegt. Durch diesen Zweck zusammen- 
geführt sollen sie fortan suchen, so gut als möglich 
mit einander auszukommen. Aber sehr oft w^ird das 
durch jenen instinktiven Wahn, welcher das Wesen 
der leidenschaftlichen Liebe ist, zusammengebrachte 
Paar im tJebrigen von der heterogensten Beschaffen- 
heit seyn. Dies kommt an den Tag, wann der Wahn, 
wie er nothwendig muss, verschwindet. Demgemäss 
fallen die aus Liebe geschlossenen Ehen in der Regel 
unglücklich aus: denn durch sie wird für die kom- 
mende Generation auf Kosten der gegenwärtigen ge- 
sorgt. Quien se casa por amores, ha de vivir con 
dolores (Wer aus Liebe heirathet, hat unter Schmer- 
zen zu leben) sagt das Spanische Sprichwort. — Um- 
gekehrt verhält es sich mit den aus Konvenienz, 
meistens nach Wahl der Eltern, geschlossenen Ehen. 
Die hier waltenden Rücksichten, welcher Art sie 
auch seyn mögen, sind wenigstens reale, die nicht 
von selbst verschwinden können. Durch sie wird für 
das Glück der Vorhandenen, aber freilich zum Nach- 
theil der Kommenden, gesorgt; und jenes bleibt doch 
problematisch. Der Mann, welcher, bei seiner Ver- 
heirathung, auf Geld, statt auf Befriedigung seiner 
Neigung sieht, lebt mehr im Individuo, als in der Gat- 
tung; welches der Wahrheit gerade entgegengesetzt 
ist, daher es sich als naturwidrig darstellt und eine 
gewisse Verachtung erregt. Ein Mädchen, welches, 
dem Rath seiner Eltern entgegen, den Antrag eines 
/ ' l 
reichen und nicht aken Mannes ausschlägt, um mit 
Hintansetzung aller Konvenienzrücksichten, allein 
nach seinem instinktivem Hange zu wählen, bringt 
sein individuelles Wohl dem der Gattung zum Opfer. 
Aber eben deswegen kann man ihm einen gewissen 
Beifall nicht versagen: denn es hat das Wichtigere 
vorgezogen und im Sinne der Natur (näher, der Gat- 
tung) gehandelt; während die Eltern im Sinne des 
individuellen Egoismus riethen. — Dem Allen zu- 
folge gewinnt es den Anschein, als müsste, bei Ab- 
schliessung einer Ehe, entweder das Individuum oder 
das Interesse der Gattung zu kurz kommen. Meistens 
steht es auch so: denn dass Konvenienz und leiden- 
schaftliche Liebe Hand in Hand giengen, ist der 
seltenste Glücksfall. Die physisch, moralisch, oder 
intellektuell elende Beschaffenheit der meisten Men- 
schen mag zum Theil ihren Grund darin haben, dass 
die Ehen gewöhnlich nicht aus reiner AVahl und 
Neigung, sondern aus allerlei äusseren Rücksichten 
und nach zufälligen Umständen geschlossen werden. 
Wird jedoch neben der Konvenienz auch die Neigung 
in gewissem Grade berücksichtigt; so ist dies gleich- 
sam eine Abfindung mit dem Genius der Gattung. 
Glückliche Ehen sind bekanntlich selten; eben weil 
es im Wesen der Ehe liegt, dass ihr Hauptzweck 
nicht die gegenwärtige, sondern die kommende Ge- 
neration ist. Indessen sei zum Tröste zarter und lie- 
bender Gemüther noch hinzugefügt, dass bisweilen 
der leidenschaftlichen Geschlechtsliebe sich ein Gefühl 
ganz andern Ursprungs zugesellt, nämlich wirkliche, 
auf Uebereinstimmung der Gesinnung gegründete 
Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann her- 
vortritt, wann die eigentliche Geschlechtsliebe in der 
Befriedigung erloschen ist. Jene wird alsdann meistens 
daraus entspringen, dass die einander ergänzenden 
und entsprechenden physischen, moralischen und 
intellektuellen Eigenschaften beider Individuen, aus 
welchen, in Rücksicht auf das zu Erzeugende, die 
Geschlechtsliebe entstand, eben auch in Beziehung 
auf die Individuen selbst, als entgegengesetzte Tem- 
peramentseigenschaften und geistige Vorzüge sich zu 
-18 
einander ergänzend verhalten und dadurch eine Har- 
monie der Gemüther begründen. 
Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe 
steht mit meiner Metaphysik überhaupt in genauer 
Verbindung, und das Licht, welches sie auf diese 
zurückwirft, lässt sich in Folgendem resumiren. 
Es hat sich ergeben, dass die sorgfältige und durch 
unzählige Stufen bis zur leidenschaftlichen Liebe stei- 
gende Auswahl bei der Befriedigung des Geschlechts- 
triebes auf dem höchst ernsten Antheil beruht, wel- 
chen der Mensch an der speciellen persönlichen Be- 
schaffenheit des kommenden Geschlechtes nimmt. 
Dieser überaus merkwürdige Antheil nun bestätigt 
zwei in den vorhergegangenen Kapiteln dargethane 
Wahrheiten: i) Die ünzerstörbarkeit des Wesens an 
sich des Menschen, als welches in jenem kommenden 
Geschlechte fortlebt. Denn jener so lebhafte und 
eifrige, nicht aus Reflexion und Vorsatz, sondern aus 
dem innersten Zuge und Triebe unsers Wesens ent- 
springende Antheil könnte nicht so unvertilgbar vor- 
handen seyn und so grosse Macht über den Menschen 
ausüben, wenn dieser absolut vergänglich wäre und 
ein von ihm wirklich und durchaus verschiedenes 
Geschlecht bloss der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Dass 
sein Wesen an sich mehr in der Gattung als im In- 
dividuo liegt. Denn jenes Interesse an der speciellen 
Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller 
Liebeshändel, von der flüchtigsten INeigung bis zur 
ernstlichsten Leidenschaft ausmacht, ist Jedem eigent- 
lich die höchste Angelegenheit, nämlich die, deren 
Gelingen oder Misslingen ihn am empfindlichsten 
berührt; daher sie vorzugsweise die Herzensangelegen- 
heit genannt wird : auch wird diesem Interesse, wann 
es sich stark und entschieden ausgesprochen hat, jedes 
bloss die eigene Person betreffende nachgesetzt und 
nöthigenfalls aufgeopfert. Dadurch also bezeugt der 
Mensch, dass ihm die Gattung näher liegt, als das 
Individuum, und er unmittelbarer in Jener, als in 
Diesem lebt. — Warum demnach hängt der Verliebte 
mit gänzlicher Hingebung an den Augen seiner Aus- 
7^9 
erkorenen und ist bereit, ihr jedes Opfer zu bringen? 
— Weil sein unsterblicher Theil es ist, der nach ihr 
verlangt; nach allem Sonstigen immer nur der sterb- 
liche. — Jenes lebhafte oder gar inbrünstige, auf ein 
bestimmtes Weib gerichtete Verlangen ist sonach ein 
unmittelbares Unterpfand der Unzerstörbarkeit des 
Kerns unsers Wesens und seines Fortbestandes in der 
Gattung. Diesen Fortbestand nun aber für etwas 
Geringfügiges und Ungenügendes zu halten, ist ein 
Irrthum, der daraus entspringt, dass man unter dem 
Fortleben der Gattung sich nichts weiter denkt, als 
das künftige Dasevn uns ähnlicher, jedoch in keinem 
Betracht mit uns identischer Wesen, und dies wieder, 
weil man, von der nach Aussen gerichteten Erkennt- 
niss ausgehend, nur die äussere Gestalt der Gattung, 
wie wir diese anschaulich auffassen, und nicht ihr 
inneres Wesen in Betracht zieht. Dieses innere Wesen 
aber gerade ist es, was unserem eigenen Bew usstseyn, 
als dessen Kern, zum Grunde liegt, daher sogar un- 
mittelbarer, als dieses selbst ist und, als Ding an sich, 
frei vom principio individuationis, eigentlich das Selbe 
und Identische ist in allen hidividuen, sie mögen 
neben, oder nach einander daseyn. Dieses nun ist der 
Wille zum Leben, also gerade Das, was Leben und 
Fortdauer so dringend verlangt. Dies eben bleibt 
demnach vom Tode verschont und unangefochten. 
Aber auch: es kann es zu keinem bessern Zustande 
bringen, als sein gegenwärtiger ist: mithin ist ihm, 
mit dem Leben, das i)eständige Leiden und Sterben 
der Individuen gewiss. Von diesem es zu befreien, ist 
der Verneinung des Willens zum Leben vorbehalten, 
als durch welche der individuelle Wille sich vom 
Stamm der Gattung losreisst und jenes Daseyn in 
derselben aufgiebt. Für Das, was er sodann ist, fehlt 
es uns an Begriffen, ja, an allen Datis zu solchen. 
Wir können es nur bezeichnen als Dasjenige, welches 
die Freiheit hat, Wille zum Leben zu seyn, oder 
nicht. Für den letztern Fall bezeichnet der Buddhais- 
mus es mit dem Worte Nitioana, dessen Etymologie 
in der Anmerkung zum Schluss des 4i- Kapitels ge- 
geben worden. Es ist der Punkt, w elcher aller mensch- 
720 
liehen Erkenntniss, eben als solcher, auf immer un- 
zugänglich bleibt. — 
Wenn wir nun, vom Standpunkte dieser letzten 
Betrachtung aus, in das Gewühl des Lebens hinein- 
schauen, erblicken wir Alle mit der Noth und Plage 
desselben beschäftigt, alle Kräfte anstrengend, die 
endlosen Bedürfnisse zu befriedigen und das viel- 
gestaltete Leiden abzuwehren, ohne jedoch etwas An- 
deres dafür hoffen zu dürfen, als eben die Erhaltung 
dieses geplagten, individuellen Daseyns, eine kurze 
Spanne Zeit hindurch. Dazwischen aber, mitten in 
dem Getümmel, sehen wir die Blicke zweier Lieben- 
der sich sehnsüchtig begegnen: — jedoch warum so 
heimlich, furchtsam und verstohlen? — Weil diese 
Liebenden die Verräther sind, welche heimlich da- 
nach trachten, die ganze Noth und Plackerei zu per- 
petuiren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde, 
welches sie vereiteln wollen, wie ihres Gleichen es 
früher vereitelt haben. Diese Betrachtung greift nun 
schon in das folgende Kapitel hinüber. 
ANHANG ZUM VOBSTEHENDEN KAPITEL. 
OuTco«; avaiocu«; i^exiVYjoa? toos 
xo p^jJ.a' xat Tzoo xouto cpeu^soSat ooxsTc; 
necpeuya* x'dXTjftsi; yap layppov xpecpo). 
Soph. 
Auf Seite 6i8*) habe ich der Päderastie beiläufig er- 
wähnt und sie als einen irre geleiteten Instinkt be- 
zeichnet. Dies schien mir, als ich die zweite Auflage 
bearbeitete, genügend. Seitdem hat weiteres Nach- 
denken über diese Verirrung mich in derselben ein 
merkwürdiges Problem, jedoch auch dessen Lösung 
entdecken lassen. Diese setzt das vorstehende Kapitel 
voraus, wirft aber auch wieder Licht auf dasselbe 
zurück, gehört also zur Vervollständigung, wie zum 
Beleg der dort dargelegten Grundansicht. 
An sich selbst betrachtet nämlich stellt die Päde- 
*) [S. 695 d. A.] 
46 Schopenhauer II "^2 1 
rastie sich dar als eine nicht bloss widernatürliche, 
sondern auch im höchsten Grade widerwärtige und 
Abscheu erregende Monstrosität, eine Handlung, auf 
welche allein eine völlig perverse, verschrobene und 
entartete Menschennatur irgend ein Mal hätte gera- 
then können, und die sich höchstens in ganz verein- 
zelten Fällen wiederholt hätte. Wenden wir nun aber 
uns an die Erfahrung; so finden wir das Gegentheil 
hievon: wir sehen nämlich dieses Laster, trotz seiner 
Abscheulichkeit, zu allen Zeiten und in allen Ländern 
der Welt, völlig im Schwange und in häufiger Aus- 
übung, Allbekannt ist, dass dasselbe bei Griechen und 
Römern allgemein verbreitet war, und ohne Scheu 
und Schaam öffentlich eingestanden und getrieben 
wurde. Hievon zeugen alle alten Schriftsteller, mehr 
als zur Genüge. Zumal sind die Dichter sammt und 
sonders voll davon : nicht ein Mal der keusche Virgil 
ist auszunehmen (Ecl. 2). Sogar den Dichtern der 
Urzeit, dem Orpheus (den deshalb die Mänaden zer- 
rissen) und dem Thamyris, ja, den Göttern selbst, 
wird es angedichtet. Ebenfalls reden die Philosophen 
viel mehr von dieser, als von der Weiberliebe: be- 
sonders scheint Plato fast keine andere zu kennen, 
und eben so die Stoiker, welche sie als des Weisen 
würdig erwähnen (Stob. ecl. eth., L. II, c. 7). Sogar 
dem Sokrates rühmt Plato, im Symposion, es als eine 
beispiellose Heldentat nach, dass er den, sich ihm dazu 
anbietenden Alkibiades verschmäht habe. Auch Aristo- 
teles (Pol. II, 9) spricht von der Päderastie als etwas 
Gewöhnlichem, ohne sie zu tadeln, führt an, dass sie 
bei den Kelten in öffentlichen Ehren gestanden habe, 
und bei den Kretern die Gesetze sie begünstigt hätten, 
als Mittel gegen Uebervölkerung, erzählt (c. 10) die 
Männerliebschaft des Gesetzgebers Philolaos u. s. w. 
Cicero sagt sogar: Apud Graecos opprobrio fuit ado- 
lescentibus, si amatores non haberent. Für gelehrte 
Leser bedarf es hier überhaupt keiner Belege: sie er- 
innern sich deren zu Hunderten: denn bei den Alten 
ist Alles voll davon. Aber selbst bei den roheren Völ- 
kern, namentlich bei den Galliern, war das Laster 
sehr im Schwange. Wenden wir uns nach Asien, so 
722 
sehen wir alle Länder dieses Welttheils, und zwar 
von den frühesten Zeiten an, bis zur gegenwärtigen 
herab, von dem Laster erfüllt, und zwar ebenfalls 
ohne es sonderlich zu verhehlen : Hindu und Chinesen 
nicht weniger, als die Islamitischen Völker, deren 
Dichter wir ebenfalls viel mehr mit der Knaben-, als 
mit der Weiberliebe beschäftigt finden; wie denn 
z. B. im Gulistan des Sadi das Buch ,,von der Liebe" 
ausschliesslich von jener redet. Auch den Hebräern war 
dies Laster nicht unbekannt; da Altes und Neues Testa- 
ment desselben als strafbar erwähnen. Im Christli- 
chen Europa endlich hat Beligion, Gesetzgebung und 
öffentliche Meinung ihm mit aller Macht entgegen- 
arbeiten müssen : im Mittelalter stand überall Todes- 
strafe darauf, in Fi-ankreich noch im 1 6. Jahrhundert 
der Feuertod, und in England wurde noch während 
des ersten Drittels dieses Jahrhunderts die Todesstrafe 
dafür unnachlässlich vollzogen; jetzt ist es Deporta- 
tion auf Lebenszeit. So gewaltiger Maassregeln also 
bedurfte es, um dem Laster Einhalt zu thun; was 
denn zwar in bedeutendem Maasse gelungen ist, jedoch 
keineswegs bis zur Ausrottung desselben; sondern es 
schleicht, unter dem Schleier des tiefsten Geheim- 
nisses, allezeit und überall umher, in allen Ländern 
und unter allen Ständen, und kommt, oft wo man es 
am wenigsten erwartete, plötzlich zu Tage. Auch ist 
es in den früheren Jahrhunderten, trotz allen Todes- 
strafen, nicht anders damit gewesen: dies bezeugen 
die Erwähnungen desselben und Anspielungen darauf 
in den Schriften aus allen jenen Zeiten. — Wenn wir 
nun alles Dieses uns vergegenwärtigen und wohl erwä- 
gen ; so sehen wir die Päderastie zu allen Zeiten und in 
allen Ländern auf eineWeise auftreten, die gar weit ent- 
fernt ist von der, welche wir zuerst, als wir sie bloss an 
sich selbst betrachteten, also a priori, vorausgesetzt 
hatten. Nämlich die gänzliche Allgemeinheit und be- 
harrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, dass sie 
irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervor- 
geht; da sie nur aus diesem Grunde jederzeit vind über- 
all unausbleiblich auftreten kann als ein Beleg zu dem 
NaUiram expelles fiirca, tarnen usque recurret. 
46* 723 
Dieser Folgerung können wir daher uns schlechter- 
dings nicht entziehen, wenn wir redlich verfahren 
wollen. Ueber diesen Thatbestand aber hinwegzu- 
gehen und es beim Schelten und Schimpfen auf das 
Laster bewenden zu lassen, wäre freilich leicht, ist 
jedoch nicht meine Art mit den Problemen fertig zu 
werden; sondern meinem angeborenen Beruf, überall 
der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf 
den Grund zu kommen, auch hier getreu, erkenne 
ich zunächst das sich darstellende und zu erklärende 
Phänomen, nebst der unvermeidlichen Folgerung 
daraus, an. Dass nun aber etwas so von Grund aus 
Naturwidriges, ja, der Natur gerade in ihrem wich- 
tigsten und angelegensten Zweck Entgegentretendes 
aus der Natur selbst hervorgehen sollte, ist ein so 
unerhörtes Paradoxon, dass dessen Erklärung sich als 
ein schweres Problen» darstellt, welches ich jedoch 
jetzt, durch Aufdeckung des ihm zu Grunde liegenden 
Naturgeheimnisses lösen werde. 
Zum Ausgangspunkt diene mir eine Stelle des Ari- 
stoteles in Polit., VII, i6. — Daselbst setzt er ausein- 
ander, erstlich: dass zu junge Leute schlechte, schwa- 
che, mangelhafte und klein bleibende Kinderzeugen; 
und weiterhin, dass das Selbe von den Erzeugnissen 
der zu alten gilt: za ■j'ap xtuv 7rps3|3uT£p«)v ex^ova, xa- 
Oairep Ta rtuv vscuTsptov, a^cekr^ -yt^veTai, xai toi? au)[iaai, 
xai xai<; otavoiati;,Ta os xcov '^z'(r^pav.o■z<Ji^ ao&svrj (nam, ut 
juniorum, ita et grandiorum natu foetus inchoatis at- 
que imperfectis corporibus mentibusque nascimtur: 
eorum vero, qui senio confecti sunt, suboles inhrma 
et imbecilla est). Was nun dieserhalb Aristoteles als 
Regel für den Einzelnen, das stellt Stobäos als Gesetz 
für die Gemeinschaft auf, am Schlüsse seiner Darle- 
gung der peripatetischen Philosophie (Ecl. eth., L. 
II, c. 7 in fine): Tzpo^ ttjv pcujjLTjV tcdv ocuixaiaiv y.ai ts- 
XsiOTTjTa OSIV }X7]Tc VSCDtSptOV a^ttV, JJ17]T£ 7:p£a|3üT£p(üV 
Tou? ^aaoui; TrotsioBai, axeXTj ^otp Y^vsodat, xai ajxcpoTS- 
pa? xa«; i^Xixiac, xai tsXsko? aaÖsvr, xa ex^ova (oportet, 
corporum roboris et perfectionis causa, nee juniores 
justo, nee seniores matrimoniojungi, quia circa titram- 
que aetatem proles Heret imbecillis et imperfecta), 
724 
Aristoteles schreibt daher vor, dass, wer 54 Jahre alt 
ist, keine Kinder mehr in die Welt setzen soll ; wie- 
wohl er den Beischlaf noch immer, seiner Gesundheit, 
oder sonst einer Ursache halber, ausüben mag. Wie 
Dies zu bewerkstelligen sei, sagt er nicht: seine Mei- 
nung geht aber offenbar dahin, dass die in solchem 
Alter erzeugten Kinder durch Abortus wegzuschaf- 
fen sind; da er diesen, wenige Zeilen vorher, anemp- 
fohlen hat. — Die Natur nun ihrerseits kann die der 
Vorschrift des Aristoteles zum Grunde liegende That- 
sache nicht leugnen, aber auch nicht aulTieben. Denn, 
ihrem Grundsatz natura non facit saltus zufolge, 
konnte sie die Saamenabsonderung des Mannes nicht 
plötzlich einstellen; sondern auch hier, wie bei jedem 
Absterben, musste eine allmälige Deterioration vor- 
hergehen. Die Zeugung während dieser nun aber 
würde schwache, stumpfe, sieche, elende und kurz- 
lebende Menschen in die Welt setzen. Ja, sie thut es 
nur zu oft: die in späterm Alter gezeugten Kinder 
sterben meistens früh weg, erreichen wenigstens nie 
das hohe Alter, sind, mehr oder weniger, hinfällig, 
kränklich, schwach, und die von ihnen Erzeugten sind 
von ähnlicher Beschaffenheit. Was hier von der Zeu- 
gung im deklinirenden Alter gesagt ist, gilt eben so 
von der im unreifen. Nun aber liegt der Natur nichts 
so sehr am Herzen, wie die Erhaltung der Species 
und ihres ächten Typus; wozu wohlbeschatfene, tüch- 
tige, kräftige Individuen das Mittel sind: nur solche 
will sie. Ja, sie betrachtet und bebandelt (wie im Ka- 
pitel 41 gezeigt worden) im Grunde die Individuen 
nur als Mittel ; als Zweck bloss die Species. Demnach 
sehen wir hier die Natur, in Folge ihrer eigenen Ge- 
setze und Zwecke, auf einen misslichen Punkt gera- 
then und wirklich in der Bedrängniss. Auf gewalt- 
same und von fremder Willkür abhängige Auskunfts- 
mittel, wie das von Aristoteles angedeutete, konnte 
sie, ihrem Wesen zufolge, unmöglich rechnen, und 
eben so wenig darauf, dass die Menschen, durch Er- 
fahrung belehrt, die Nachtheile zu früher und zu 
später Zeugung erkennen und demgeinäss ihre Ge- 
lüste zügeln würden, in Folge vernünftiger, kalter 
y25 
Ueberlegung. Auf Beides also konnte, in [einer so 
■wichtigen Sache, die Natur es nicht ankommen las- 
sen. Jetzt bHeb ihr nichts Anderes übrig, als von zwei 
Uebeln das kleinere zu wählen. Zu diesem Zweck 
nun aber musste sie ihr beliebtes Werkzeug, den In- 
stinkt, welcher, wie in vorstehendem Kapitel gezeigt, 
das so wichtige Geschäft der Zeugung überall leitet 
und dabei so seltsame Illusionen schafft, auch hier in 
ihr Interesse ziehen; welches nun aber hier nur da- 
durch geschehen konnte, dass sie ihn irre leitete (lui 
donna le change). Die Natur kennt nämlich nur das 
Physische, nicht das Moralische: sogar ist zwischen 
ihr und der Moral entschiedener Antagonismus. Er- 
haltung des Individui, besonders aber der Species, in 
möglichster Vollkommenheit, ist ihr alleiniger Zweck. 
Zwar ist nun auch physisch die Päderastie den dazu 
verführten Jünglingen nachtheilig; jedoch nicht in 
so hohem Grade, dass es nicht von zweien Uebeln 
das kleinere wäre, welches sie demnach wählt, um 
dem sehr viel grössern, der Depravation der Species, 
schon von Weitem auszuweichen und so das bleibende 
und zunehmende Unglück zu verhüten. 
Dieser Vorsicht der Natur zufolge stellt, ungefähr 
in dem von Aristoteles angegebenen Alter, in der Re- 
gel eine })äderastische Neigung sich leise und allmälig 
ein, wird immer deutlicher und entschiedener, in dem 
Maasse, wie die Fähigkeit, starke und gesunde Kinder 
zu zeugen, abnimmt. So veranstaltet es die Natur. 
VV^ohl zu merken jedoch, dass von diesem eintreten- 
den Hange bis zum Laster selbst noch ein sehr wei- 
ter Weg ist. Zwar wenn, wie im alten Griechenland 
und Rom, oder zu allen Zeiten in Asien, ihm kein 
Damm entgegengesetzt ist, kann er, vom Beispiel er- 
muthigt, leicht zum Laster führen, welches dann, in 
Folge hievon, grosse Verbreitung erhält. In Europa 
hingegen stehen demselben so überaus mächtige Mo- 
tive der Religion, der Moral, der Gesetze und der Ehre 
entgegen, dass fast Jeder schon vor dem blossen Ge- 
danken zurückbebt, und wir demgemäss aimehmen 
dürfen, dass unter etwan drei Hundert, welche jenen 
Hang spüren, höchstens Einer so schwach und hirn- 
726 
los seyn wird, ihm nachzugeben ; um so gewisser, als 
diesei" Hang erst in dem Alter eintritt, wo das Blut 
abgekühlt und der Geschlechtstrieb überhaupt ge- 
sunken ist, und er andererseits an der gereiften Ver- 
nunft, an der durch Erfahrung ei'langten Umsicht 
und der vielfach geübten Festigkeit so starke Gegner 
findet, dass nur eine von Haus aus schlechte Natur 
ihm untei'liegen wird. 
Inzwischen wird der Zweck, den die Natur dabei 
hat, dadurch erreicht, dass jene Neigung Gleichgül- 
tigkeit gegen die Weiber mit sich führt, welche mehr 
und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich 
bis zum Widerwillen anwächst. Hierin erreicht die 
Natur ihren eigentlichen Zweck um so sicherer, als, 
je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt, desto 
entschiedener ihre widernatürliche Richtvmg wird. 
— Diesem entsprechend finden wir die Päderastie 
durchgängig als ein Laster alter Männer. Nur solche 
sind es, welche dann und wann, zum öffentlichen 
Skandal, darauf betrofTen werden. Dem eigentlich 
männlichen Alter ist sie fremd, ja, unbegreiflich. 
Wenn ein Mal eine Ausnahme hievon vorkommt; so 
glaube ich, dass es nur in Folge einer zufälligen und 
vorzeitigen Depravation der Zeugungskraft seyn kann, 
welche nur schlechte Zeugungen liefern könnte, de- 
nen vorzubeugen, die Natur sie ablenkt. Daher auch 
richten die in grossen Städten leider nicht seltenen 
Kinäden ihre Winke und Anträge stets an ältere 
Herren, niemals an die im Alter der Kraft stehenden, 
oder gar an junge Leute. Auch bei den Griechen, 
wo Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine 
Ausnahme von dieser Regel herbeigeführt haben 
mag, finden wir von den Schriftstellern, zumal 
den Philosophen, namentlich Plato und Aristoteles, 
in der Regel, den Liebhaber ausdrücklich als ältlich 
dargestellt. Insbesondere ist in dieser Hinsicht eine 
Stelle des Plutarch bemerkenswerth im Liber ama- 
torius, c. 5 : '0 T:aioiv.oz spco?, o^e y^^ovod?, xai Tiap' <upav 
t(p ßtcp, -^o^oc, xat axotio?, s^sXaovst. tov yv^jaiov spcuta xai 
TTpeoßuTspov. (Puerorum amor, qui, quum tarde in vita 
et intempestive, quasi spurius et occultus, exstitisset, 
727 
gerinanum et natu majorem amorem expellit.) Sogar 
unter den Göttern finden wir nur die ältlichen, den 
Zeus und den Herakles, mit männlichen GeHebten 
versehen, nicht den Mars, Apollo, Bacchus, Merkur. — 
Inzwischen kann im Orient der in F'oljje der Poly- 
gamie entstehende Mangel an Weibern hin und wie- 
der gezwungene Ausnahmen zu dieser Regel veran- 
lassen: eben so in noch neuen und daher weiberlosen 
Kolonien, wie Kalifornien u. s. w. — Dem entspre- 
chend nun ferner, dass das unreife Sperma, eben so 
wohl wie das durch Alter depravirte, nur schwache, 
schlechte und unglückliche Zeugungen liefern kann, 
ist, wie im Alter, so auch in der Jugend eine eroti- 
sche Neigung solcher Art zwischen Jünglingen oft 
vorhanden, führt aber wohl nur höchst selten zum 
wirklichen Laster, indem ihr, ausser den oben ge- 
nannten Motiven, die Unschuld, Reinheit, Gewissen- 
haftigkeit und Verschämtheit des jugendlichen Alters 
entgegensteht. 
Aus dieser Darstellung ergiebt sich, dass, während 
das in Betracht genommene Laster den Zwecken der 
Natur, und zwar im Allerwichtigsten und ihr Ange- 
legensten, gerade entgegenzuarbeiten scheint, es in 
Wahrheit eben diesen Zwecken, wiewohl nur mittel- 
bar, dienen muss, als Abwendungsmittel grösserer 
Uebel. Es ist nämlich ein Phänomen der absterben- 
den und dann wieder der unreifen Zeuguugskraft, 
welche der Species Gefahr drohen: und wiewohl sie 
alle Beide aus moralischen Gründen pausiren sollten; 
so war hierauf doch nicht zu rechnen; da überhauj)t 
die Natur das eigentlich Moralische bei ihrem Trei- 
ben nicht in Anschlag bringt. Demnach griff die, in 
Folge ihrer eigenen Gesetze, in die Enge getriebene 
Natur, mittelst Verkehrung des Instinkts, zu einem 
Nothbehelf, einem Stratagem, ja, man möchte sagen, 
sie bauete sich eine Eselsbrücke, um, wie oben dar- 
gelegt, von zweien Uebeln dem grössern zu entge- 
hen. Sie hat nämlich den wichtigen Zweck im Auge, 
imglücklichen Zeugungen vorzubeugen, welche all- 
mälig die ganze Species depraviren könnten, und da 
ist sie, wie wir gesehen haben, nicht skrupulös in der 
-28 
Wahl der Mittel . Der Geist, in welchem sie hier verfahrt, 
ist der selbe, in welchem sie, wie oben, Kapitel 27, an- 
geführt, die Wespen antreibt, ihre Jungen zu erstechen : 
denn in beiden Fällen greift sie zum Schlimmen, um 
Schlimmerem zu entgehen : sie führt den Geschlechts- 
trieb irre, um seine verderblichsten Folgen zu vereiteln. 
Meine Absicht bei dieser Darstellung ist zunächst 
die Lösung des oben dargelegten auffallenden Pro- 
blems gewesen ; sodann aber auch die Bestätigung mei- 
ner, im vorstehenden Kapitel ausgeführten Lehre, 
dass bei aller Geschlechtsliebe der Instinkt die Zügel 
führt und Illusionen schafft, weil der Natur das Inter- 
esse der Gattung allen andern vorgeht, und dass Dies 
sogar bei der hier in Rede stehenden, widerwärtigen 
Verirrung und Ausartung des Geschlechtstriebes 
gültig bleibt; indem auch hier, als letzter Grund, die 
Zwecke der Gattung sich ergeben, wiewohl sie, in 
diesem Fall, bloss negativer Art sind, indem die Na- 
tur dabei prophylaktisch verfährt. Diese Betrachtung 
wirft daher auf meine gesammte Metaphysik der Ge- 
schlechtsiiebe Licht zurück. Ueberhaupt'aber ist durch 
diese Darstellung eine bisher verborgene Wahrheit 
zu Tage gebracht, welche bei aller ihrer Seltsamkeit, 
doch neues Licht auf das innere Wesen, den Geist 
und das Treiben der Natur wirft. Demgemäss hat es 
sich dabei nicht um moralische Verwarnung gegen 
das Laster, sondern um das Verständniss des Wesens 
der Sache gehandelt. Uebrigens ist der wahre, letzte, 
tief metaphvsische Grimd der Verwerflichkeit der 
Päderastie dieser, dass, während der Wille zum Le- 
ben sich darin bejaht, die Folge solcher Bejahung, 
welche den Weg zur Erlösung offen hält, also die Er- 
neuerung des Lebens, gänzlich abgeschnitten ist. — 
Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser para- 
doxen (jcdanken, den durch das immer weitere 
Bekanntwerden meiner von ihnen so sorgfältig ver- 
hehlten Philosophie jetzt sehr deconcertirten Philo- 
sophieprofessoren eine kleine Wohlthat zufliessen las- 
sen wollen, indem ich ihnen Gelegenheit eröffnete 
zu der Verläumdung, dass ich die Päderastie in Schutz 
genommen und anempfohlen hätte. 
KAPITEL 45*). 
VON DER BEJAHUNG DES WILLENS 
ZUM LEBEN. 
\^/ENN der Wille zum Leben sich bloss darstellte 
T T als Trieb zur Selbsterbaltung; so würde dies 
nur eine Bejahung der individuellen Erscheinung, 
auf die Spanne Zeit ihrer natürlichen Dauer sevn. Die 
Mühen und Sorgen eines solchen Lebens würden nicht 
gross, mithin das Daseyn leicht und heiter ausfallen. 
Weil hingegen der Wille das Leben schlechthin und 
auf alle Zeit will, stellt er sich zugleich dar als Ge- 
schlechtstrieb, der es auf eine endlose Reihe von Ge- 
nerationen abgesehen hat. Dieser Trieb hebt jene 
Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld, die ein bloss 
individuelles Daseyn begleiten würden, auf, indem er 
in das Bewusstseyn Unruhe und Melancholie, in den 
Lebenslauf Unfälle, Sorge und Noth bringt. — Wenn 
er hingegen, wie wir es an seltenen Ausnahmen se- 
hen, freiwillig unterdrückt wird; so ist dies die Wen- 
dung des Willens, als welcher umkehrt. Er geht als- 
dann im Individuo auf, und nicht über dasselbe hin- 
aus. Dies kann jedoch nur diu'ch eine schmerzliche 
Gewalt geschehen, die jenes sich selber anthut. Ist es 
aber geschehen; so wird dem Bewusstsevn jene Sorg- 
losigkeit und Heiterkeit des bloss individuellen Da- 
seyns w^iedergegeben, und zwar auf einer erhöhten 
Potenz. — Hingegen an die Befriedigung jenes hef- 
tigsten aller Triebe und Wünsche knüpft sich der 
Ursprung eines neuen Daseyns, also die Durchfüh- 
rung des Lebens, mit allen seinen Lasten, vSorgen, 
Nöthen und Schmerzen, von Neuem; zwar in einem 
andern Individuo : jedoch wenn Beide, wie sie in der 
Erscheinung verschieden sind, es auch schlechthin 
und an sich wären, wo bliebe dann die ewige Gerech- 
tigkeit? — Das Leben stellt sich dar als eine Aufgabe, 
ein Pensum zum Abarbeiten, und daher, in der Re- 
gel, als ein steter Kampf gegen die Noth. Demnach 
') Dieses Kapitel bezieht sich auf ^. 60 des ersten Bandes. 
[S. 394 tl- A.J 
)0 
sucht Jeder durch und davon zu kommen, so gut 
es gehen will: er thut das Leben ab, wie einen 
Frohndienst, welchen er schuldig war. Wer aber hat 
diese Schuld kontrahirt ? — Sein Erzeuger, im Genuss 
der Wollust. Also dafür, dass der Eine diese genossen 
hat, muss der Andere leben, leiden und sterben. In- 
zwischen wissen wir und sehen hier darauf zurück, 
dass die Verschiedenheit des Gleichartigen durch 
Raum und Zeit bedingt ist, welche ich in diesem 
Sinne das principium individuationis genannt habe. 
Sonst wäre die ewige Gerechtigkeit nicht zu retten. 
Eben darauf, dass der Erzeuger im Erzeugten sich 
selbst wiedererkennt, beruht die Vaterliebe, vermöge 
welcher der Vater bereit ist, für sein Kind mehr zu 
thun, zu leiden und zu wagen, als für sich selbst, und 
zugleich dies als seine Schuldigkeit erkennt. 
Das Leben eines Menschen, mit seiner endlosen 
Mühe, Noth und Leiden, ist anzusehen als die Erklä- 
rung und Paraphrase des Zeugungsaktes, d. i. der 
entschiedenen Bejahung des Willens zum Leben: zu 
derselben gehört auch noch, dass er der Natur einen 
Tod schuldig ist, und er denkt mit Beklemmung an 
diese Schuld. — Zeugt dies nicht davon, dass unser 
Daseyneine Verschuldung enthält? — Allerdings aber 
sind wir, gegen den periodisch zu entrichtenden Zoll, 
Geburt und Tod, immerwährend da, und geniessen 
successiv alle Leiden und Freuden des Lebens; sodass 
uns keine entgehen kann : dies eben ist die Frucht 
der Bejahung des Willens zum Leben. Dabei ist also 
die Furcht vor dem Tode, welche uns, trotz allen 
Plagen des Lebens, darin festhält, eigentlich illuso- 
risch : aber eben so illusorisch ist der Trieb, der uns 
hineingelockt hat. Diese Lockung selbst kann man 
objektiv anschauen in den sich sehnsüchtig begeg- 
nenden Blicken zweier Liebenden : sie sind der reinste 
Ausdruck des Willens zum Leben in seiner Bejahung. 
Wie ist er hier so sanft und zärtlich ! Wohlseyn will 
er, und ruhigen Genuss und sanfte Freude, für sich, 
für Andere, für Alle. Es ist das Thema des Anakreon. 
So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hin- 
ein. Ist er aber darin, dann zieht die Quaal das Ver- 
73. 
brechen, und das Verbrechen die Quaal herbei : 
Gräuel und Verwüstung; füllen den Schauplatz. Es 
ist das Thema des Aeschylos. 
Der Akt nun aber, durch welchen der Wille sich 
bejaht und der Mensch entsteht, ist eine Handlunjj, 
deren Alle sich im Innersten schämen, die sie daher 
sorgfältig verbergen, ja, auf welcher betroffen sie er- 
schrecken, als wiiren sie bei einem Verbrechen ertappt 
worden. Es ist eine Handlung, deren man bei kalter 
üeberlegung meistens mit Widerwillen, in erhöhter 
Stimmung mit Abscheu gedenkt. Näher auf dieselbe 
in diesem Sinne eingehende Betrachtungen liefert 
Montaigne, im 5. Kapitel des dritten Buches unter der 
Randglosse: ce que c'est que l'amour. Eine eigen- 
thümhche Betrübniss und Reue folgt ihr auf dem 
Fusse, ist jedoch am fühlbarsten nach der erstmali- 
gen Vollziehung derselben, überhaupt aber um so 
deutlicher, je edler der Charakter ist. Selbst Plinius, 
der Heide, sagt daher: Homini tantum primi coitus 
poenitentia: augurium scilicet vitae, a poenitenda ori- 
gine (Hist. nat., X, 83). Und andererseits, was treiben 
und singen, in Goethes „Faust", Teufel und Hexen 
auf ihi'em Sabbath? Unzucht und Zoten. Was docirt 
ebendaselbst (in den vortrefflichen Paralipomenis 
zum Faust), vor der versammelten Menge, der leil)- 
haftige Satan? — Unzucht imd Zoten; nichts weiter. 
— Aber einzig und allein mittelst der fortwährenden 
Ausübung einer so beschatlenen Handlung besteht 
das Menschengeschlecht. — Hätte nun der Optimis- 
mus Recht, wäre unser Dasevn das dankbar zu er- 
kennende Geschenk höchster, von Weisheit geleiteter 
Güte, und demnach an sich selbst preiswürdig, rühm- 
lich und erfreulich; da müsste doch wahrlich der Akt, 
welcher es perpetuirt, eine ganz andere Phvsiognomie 
tragen. Ist hingegen dieses Daseyn eine Art Fehltritt, 
oder Irrweg; ist es das Werk eines ursprünglich blin- 
den Willens, dessen glücklichste Entwickelung die 
ist, dass er zu sich selbst komme, um sich selbst auf- 
zuheben: so muss der jenes Dasevn perpetuirende Akt 
gerade so aussehen, wie er aussieht. 
Hinsichtlich auf die erste Grundwahrheit meiner 
732 
Lehre verdient hier die Bemerkung eine Stelle, dass 
die oben berührte Schaam über das Zeugungsgeschält 
sich sogar aufdie demselben dienenden Theile erstreckt, 
obschon diese, gleich allen übrigen, angeboren sind. 
Dies ist abermals ein schlagender Beweis davon, dass 
nicht bloss die Handlungen, sondern schon der Leib 
des Menschen die Erscheinung, Objektivation seines 
Willens und als das Werk desselben zu betrachten ist. 
Denn einer wSache, die ohne seinen Willen dawäre, 
könnte er sich nicht schämen. 
Der Zeugungsakt verhält sich ferner zur Welt, wie 
das Wort zum Räthsel. Nämlich, die Welt ist weit im 
Räume und alt in der Zeit und von unerschöpflicher 
Mannichfaltigkeit der Gestalten. Jedoch ist dies Alles 
nur die Erscheinung des Willens zum Leben; und die 
Koncentration, der Brennpunkt dieses Willens, ist der 
Generationsakt. In diesem Akt also spricht das innere 
Wesen der Welt sich am deutlichsten aus. Es ist, in 
dieser Hinsicht, sogar beachtenswerth, dass er selbst 
auch schlechthin „der Wille" genannt wird, in der 
sehr bezeichnenden Redensart: „er verlangte von ihr, 
sie sollte ihm zu Willen seyn." Als der deutlichste 
Ausdruck des Willens also ist jener Akt der Kern, 
das Kompendium, die Quintessenz der Welt. Daher 
geht uns durch ihn ein Licht auf über ihr Wesen und 
Treiben: er ist das Wort zum Räthsel. Demgemäss 
ist er verstanden unter dem „Baum der Erkenntniss" : 
denn nach der Bekanntschaft mit ihm gehen Jedem 
über das Leben die Augen auf, wie es auch Byron 
sagt: 
The tree of knowledge has been pluck'd, — all's known') 
D. Juan, I, 128. 
Nicht weniger entspricht dieser Eigenschaft, dass er 
das gi'osse appTjTov, das öffentliche Geheimniss ist, 
welches nie und nirgends deutlich erwähnt werden 
darf, aber immer und überall sich, als die Hauptsache, 
von selbst versteht und daher den Gedanken Aller 
stets gegenwärtig ist, weshalb auch die leiseste An- 
*) Vom Baum der Erkenntniss ist gepflückt worden: — Alles 
ist bekannt. 
spielung darauf augenblicklich verstanden wird. Die 
Hauptrolle, die jener Akt und was ihm anhängt in 
der Welt spielt, indem überall Liebesintrjguen einer- 
seits betrieben und andererseits vorausgesetzt werden, 
ist der Wichtigkeit dieses punctum saliens des Welt- 
eies ganz angemessen. Das Belustigende liegt nur in 
der steten Verheimlichung der Hauptsache. 
Aber nun seht, wie der junge, unschuldige, mensch- 
liche Intellekt, wann ihm jenes grosse Geheimniss der 
Welt zuerst bekannt wird, erschrickt über die Enor- 
mität! Der Grund hievon ist, dass auf dem weiten 
Wege, den der ursprünglich erkenntnisslose Wille zu 
durchlaufen hatte, ehe er sich zum Intellekt, zumal 
zum menschlichen, vernünftigen, Intellekt steigerte, 
er sich selber so entfremdet wurde, dass er seinen 
Ursprung, jene poenitenda origo, nicht mehr kennt 
und nun vom Standpunkt des lauteren, daher un- 
schuldigen Erkennens aus, sich darüber entsetzt. 
Da nun also der Brennpunkt des Willens, d. h. die 
Koncentration und der höchste Ausdruck desselben, 
der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung ist; so ist 
es sehr bezeichnend und in der symbolischen Sprache 
der Natur naiv ausgedrückt, dass der individualisirte 
Wille, also der Mensch und das Thier, seinen Eintritt 
in die Welt durch die Pforte der Geschlechtstheile 
macht. — 
Die Bejahung des Willens zum Leben, welche dem- 
nach ihr Centrum im Generationsakt hat, ist beim 
Thiere unausbleiblich. Denn allererst im Menschen 
kommt der Wille, welcher die natura naturans ist, 
zur Besinnung. Zur Besinnung kommen heisst: nicht 
bloss zur augenblicklichen Nothdurft des individuellen 
Willens, zu seinem Dienst in der dringenden Gegen- 
wart, erkennen; — wie dies im Thiere, nach Maass- 
gabe seiner Vollkommenheit und seiner Bedürfnisse, 
welche Hand in Hand gehen, der Fall ist; sondern 
eine grössere Breite der Erkenntniss erlangt haben, 
vermöge einer deutlichen Erinnerung des Vergange- 
nen, ungefähren Anticipation des Zukünftigen und 
eben dadurch allseitigen Uebersicht des individuellen 
Lebens, des eigenen, des fremden, ja des Daseyns 
734 
überhaupt. Wirklich ist das Leben jeder Thierspecies, 
die Jahrtausende ihrer Existenz hindurch, gewisser- 
maassen einem einzigen Augenbhcke gleich: denn es 
ist blosses Bewusstseyn der Gegemvart, ohne das der 
Vergangenheit und der Zukunft, mithin des Todes. 
In diesem Sinne ist es anzusehen als ein beharrender 
Augenblick, ein Nunc stans. — Hier sehen wir, bei- 
läufig, am deutlichsten, dass überhaupt die Form des 
Lebens, oder der Erscheinung des Willens mit Be- 
wusstseyn, zunächst und unmittelbar bloss die Gegen- 
wart ist : Vergangenheit und Zukunft kommen allein 
beim Menschen und zwar bloss im Begriff hinzu, wer- 
den in abstracto erkannt und allenfalls durch Bilder 
der Phantasie erläutert. — Nachdem also der Wille 
zum Leben, d. h. das innere Wesen der Natur, in 
rastlosem Streben nach vollkommener Objektivation 
und vollkommenem Genuss, die ganze Reihe der Thiere 
durchlaufen hat, — welches oft in den mehrfachen 
Absätzen successiver, stets von Neuem anhebender 
Thierreihen auf dem selben Planeten geschieht; — 
kommt er zuletzt in dem mit Vei^nunft ausgestatteten 
Wesen, im Menschen, zur Besinnung. Hier nun fängt 
die Sache an ihm bedenklich zu werden, die Frage 
dringt sich ihm auf, woher und wozu das Alles sei. 
und hauptsächlich, ob die Mühe und Noth seines Le- 
bens und Strebens wohl durch den Gewinn belohnt 
werde? le jeu vaut-il bien la chandelle? — Demnach 
ist hier der Punkt, wo er, beim Lichte deutlicher Er- 
kenntniss, sich zur Bejahung oder Verneinung des 
Willens zum Leben entscheidet ; wiewohl er sich Letz- 
tere, in der Regel, nur in einem mythischen Gewände 
zum Bewusstseyn bringen kann. — Wir haben dem- 
zufolge keinen Grund, anzunehmen, dass es irgendwo 
noch zu höher gesteigerten Objektivationen des Willens 
komme; da er hier schon an seinem Wendepunkte 
angelangt ist. 
735 
KAPITFX 46*). 
VON DER NICHTIGKEIT UND DEM LEIDEN DES 
LEBENS. 
AUS der Nacht der Bewusstlosigkeit zum Leben er- 
wacht findet derWille sich als Individuum, in einer 
end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Indivi- 
duen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch 
einen bangen Traum eilt er zin-ück zur alten Bewusst- 
losigkeit. — Bis dahin jedoch sind seine Wünsche 
gränzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder 
befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf 
der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, 
sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein end- 
liches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund 
seines Herzens auszufüllen. Daneben nun betrachte 
man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder 
Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, 
als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im 
Kampf mit der Noth, taglich errungene, kärgliche 
Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt. 
— Alles im Leben giebt kund, dass das irdische Glück 
bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt 
zu werden. Hiezu liegen tief im W^esen der Dinge die 
Anlagen. Demgemäss fällt das Leben der meisten 
Menschen trübsälig und kurz aus. Die komparativ 
Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber 
sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, 
zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben musste, — 
als Lockvogel. Das Leben stellt sich dar als ein fort- 
gesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Grossen. Hat es 
versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, 
wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so 
täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Ge- 
hoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen. 
*) Dieses Kapitel bezieht sicli auf §§. 56 — Sg des ersten Ban- 
des. [S. 372 — 394 d. A.] Auch ist damit zu vergleichen Ka- 
pitel I I und I 2 des zweiten Bandes der Parerga und Parali- 
pomena. 
736 
Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche 
wie optische Täuschungen verschwinden, wann wir 
uns haben hinäflfen lassen. DasGhick Hegt demgemäss 
stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, 
und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke 
zu verjjleichen, welche der Wind über die besonnte 
Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, 
nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach 
allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiss, die 
Vergangenheit unwiederbringlicb. Das Leben, mit 
seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jähr- 
licben, kleinen, grössern und grossen Widerwärtig- 
keiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen 
alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deut- 
lich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden 
soll, dass es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat 
verkennen können und sich überreden lassen, es sei 
da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, 
um glücklich zu seyn. Stellt doch vielmehr jene fort- 
währende Täuschung und Enttäuschung, wie auch 
die durchgängige Beschaffenheit des Lebens, sich dar, 
als darauf abgeselien und berechnet, die üeberzeugung 
zu erwecken, dass gar nichts unsers Strebens, Treibens 
und Ringens werth sei, dass alle Güter nichtig seien, 
die Welt an allen Enden bankrott, und das Leben 
ein Geschäft, das nicht die Kosten deckt; — auf dass 
unser Wille sich davon abwende. 
Die Art, wie diese Nichtigkeit aller Objekte des 
Willens sich dem im Individuo wurzelnden Intellekt 
kund giebt und fasslich macht, ist yAuiäcbst die Zeit. 
Sie ist die Form, mittelst derer jene Nichtigkeit der 
Dinge als Vergänglichkeit derselben erscheint; indem, 
vermöge dieser, alle unsere (^enüsse und Freuden 
unter unsern Händen zu Nichts werden und wir nach- 
her verwundert fragen, wo sie geblieben seien. Jene 
Nichtigkeit selbst ist daher das alleinige Objektive der 
Zeit, d. h. das ihr im Wesen an sich der Dinge Ent- 
sprechende, also Das, dessen Ausdruck sie ist. Deshalb 
eben ist die Zeit die a priori nothwendige Form aller 
unserer Anschauungen: in ihr muss sich Alles dar- 
stellen, auch wir selbst. Demzufolge gleicht nun zu- 
47 Schopenhauer II 7 7 
nächst unser Leben einer Zahlung, die man in lauter 
Kupferpfennigen zugezählt erhält und dann doch quit- 
tieren muss; es sind die Tage; die Quittung ist der 
Tod. Denn zuletzt verkündigt die Zeit den Ürtheils- 
spruch der Natur über den Werth aller in ihr er- 
scheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet: 
Und das mit Recht : denn Alles was entsteht, 
Ist werth, dass es zu Grunde geht. 
Drum besser wär's, dass nichts entstünde. 
So sind denn Alter und Tod, zu denen jedes Leben 
nothwendig hineilt, das aus den Händen der Natur 
selbst erfolgende Verdammungsurtheil über den Willen 
zum Leben, welches aussagt, dass dieser Wille ein 
Streben ist, dass sich selbst vereiteln muss. „Was du 
gewollt hast", spricht es, ,, endigt so: wolle etwas 
Besseres." — Also die Belehrung, welche Jedem sein 
Leben giebt, besteht im Ganzen darin, dass die Gegen- 
stände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken 
und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, 
bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf 
dem sie sämmtlich stehen, einstürzt, indem sein Leben 
selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung 
erhält, dass all sein Streben und Wollen eine Ver- 
kehrtheit, ein Irrweg war: 
Then old age and experience, hand in hand, 
Lcad him to death, and niake him understand, 
After a search so painfui and so long, 
That all his life he has been in thewrong*). 
Wir wollen aber noch auf das Specielle der Sache 
eingehen; da diese Ansichten es sind, in denen ich den 
meisten Widerspruch erfahren habe. — Zuvörderst 
habe ich die im Texte gegebene Nachweisung der 
Negativität aller Befriedigung, also alles Genusses und 
alles Glückes, im Gegensatz der Positivität des Schmer- 
zes noch durch Folgendes zu bekräftigen. 
*) Bis Alter und Erfahrung, Hand in Hand, 
Zum Tod' ihn führen und er hat erkannt, 
Dass, nach so langem, mühevollen Streben, 
Er Unrecht hatte, durch sein ganzes Leben. 
-738 
Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerz- 
losigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorg- 
losigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit. Wir 
fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen ; 
sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit 
dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da 
er verschluckt wird, für unser Gefühl dazuseyn auf- 
hört. Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, 
sobald sie ausbleiben: aber Schmerzen, selbst wenn 
sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht 
unmittelbar vermisst, sondern höchstens wird absicht- 
lich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht. Denn nur 
Schmerz und Mangel können positiv empfunden wer- 
den und kündigen daher sich selbst an: das Wohlseyn 
hingegen ist bloss negativ. Daher eben werden wir 
der drei grössten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend 
und Freiheit, nicht als solcher inne, so lange wir sie 
besitzen ; sondern erst nachdem wir sie verloren haben : 
denn auch sie sind Negationen. Dass Tage unsers Le- 
bens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie 
unglücklichen Platz gemacht haben. — In dem Maasse, 
als die Genüsse zunehmen, nimmt die Empfänglich- 
keit für sie ab: das Gewohnte wird nicht mehr als 
Genuss empfunden. Eben dadurch aber nimmt die 
Empfänglichkeit für das Leiden zu: denn das Weg- 
fallen des Gewohnten wird schmerzlich gefühlt. Also 
wächst durch den Besitz das Maass des Nothwendigen, 
und dadurch die Fähigkeit Schmerz zu empfinden. — 
Die Stunden gehen desto schneller hin, je angenehmer; 
desto langsamer, je peinlicher sie zugebracht werden: 
weil der Schmerz, nicht der Genuss das Positive ist, 
dessen Gegenwart sich fühlbar macht. Eben so wer- 
den wir bei der Langenweile der Zeit inne, bei der 
Kurzweil nicht. Beides beweist, dass unser Daseyn 
dann am glücklichsten ist, wann wir es am wenigsten 
spüren : woraus folgt, dass es besser wäre, es nicht zu 
haben. Grosse, lebhafte Freude lässt sich schlechter- 
dings nur denken als Folge grosser vorhergegangener 
Noth: denn zu einem Zustande dauernder Zufrieden- 
heit kann nichts hinzukommen, als etwas Kurzweil, 
oder auch Befriedigung der Eitelkeit. Darum sind alle 
47* 7^9 
Dichter genöthigt, ihre Helden in ängstliche und pein- 
liche Lagen zu bringen, um sie daraus wieder befreien 
zu können : Drama und Epos schildern demnach durch- 
gängig nur kämpfende, leidende, gequälte Menschen, 
und jeder Roman ist ein Guckkasten, darin man die 
Spasmen und Konvulsionen des geängstigten mensch- 
lichen Herzens betrachtet. Diese ästhetisclie Nothwen- 
digkeit hat fValter Scott naiv dargelegt in der „Kon- 
klusion" zu seiner Novelle Old mortality. — Ganz in 
Ilebereinstimmung mit der von mir bewiesenen Wahr- 
heit sagt auch der von Natur und Glück so begünstigte 
Voltaire: le bonheur n'est qu'un reve, et la douleur 
est reelle; und setzt hinzu: il y a quatre-vingts ans 
que je Teprouve, Je n'y sais autre chose que me resig- 
ner, et me dire que les mouches sont nees pour etre 
mangees par les araignees, et les hommes pour etre 
devores par les chagrins. 
Ehe man so zuversichtlich ausspricht, dass das Le- 
ben ein wünschenswerthes, oder dankeuswerthes Gut 
sei, vergleiche man ein Mal gelassen die Summe der 
nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch 
in seinem Leben geniessen kann, mit der Summe der 
nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Le- 
ben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht 
schwer zu ziehen seyn. Im Grunde aber ist es ganz 
überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln 
mehr auf der Welt sei: denn schon das blosse Daseyn 
des Uebels entscheidet die Sache ; da dasselbe nie durch 
das daneben oder danach vorhandene Gut getilgt, 
mithin auch nicht ausgeglichen werden kann: 
Mille piacer' non vagliono un tormento *). 
Pelr. 
Denn, dass Tausende in Glück und Wonne gelebt 
hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines 
Einzigen auf: und eben so wenig macht mein gegen- 
wärtiges Wohlseyn meine frühern Leiden ungeschehen. 
W^enn daher des Uebeln auch hundert Mal weniger 
auf der Welt wäre, als der Fall ist; so wäre dennoch 
das blosse Daseyn desselben hinreichend, eine Wahr- 
') Tausend Genüsse sind nicht eine Quaal werth. 
74o 
heitzu begründen, welche sich auf verschiedene Weise, 
wiewohl immer nur etwas indirekt ausdrücken lässt, 
nämlich, dass wir über das Daseyn der Welt uns nicht 
zu freuen, vielmehr zu betrüben haben; — dass ihr 
Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; — dass 
sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte; u. s. f. 
Ueberaus schön ist Byrons Ausdruck der Sache: 
Our life is a false nature, — 'tis not in 
The harmony of things, this hard decree, 
This uneradicable taint of sin, 
This boundless Upas, this all-blasting tree 
Whose root is earth, wliose leaves and branches be 
The skies, which rain their plagues on men üke dew — 
Disease, death, bondage — all the woes \ve see — 
And worse, the woes we see not — which throb through 
The immedicable soul, with hearth-aches ever new*). 
Wenn die Welt und das Leben Selbstzweck seyn 
und demnach theoretisch keiner Rechtfertigung, prak- 
tisch keiner Entschädigung oder Gutmachung be- 
dürfen sollten, sondern dawären, etwan wie Spinoza 
und die heutigen Spinozisten es darstellen, als die 
einzige Manifestation eines Gottes, der animi causa, 
oder auch um sich zu spiegeln, eine solche Evolution 
mit sich selber vornähme, mithin ihr Daseyn weder 
durch Gründe gerechtfertigt, noch durch Folgen aus- 
gelöst zu werden brauchte; — dann müssten nicht 
etwan die Leiden und Plagen des Lebens durch die 
Genüsse und das Wohlseyn in demselben völlig aus- 
geglichen werden ; — da dies, wie gesagt, unmöglich 
ist, weil mein gegenwärtiger Schmerz durch künftige 
Freuden nie aufgehoben wird, indem diese ihre Zeit 
') Unser Leben ist falscher Art: in der Harmonie der Dinge 
kann es nicht liegen, dieses harte Verhängniss, diese unaus- 
rottbare Seuche der Sünde, dieser gränzenlose Upas, dieser 
Alles vergiftende Baum, dessen Wurzel die Erde ist, dessen 
Blätter und Zweige die Wolken sind, welche ihre Plagen auf 
die Menschen herabregnen, wie Thau, — Krankheit, Tod, 
Knechtschaft, — all das Wehe, welches wir sehen, — und, 
was schlimmer, das Wehe, welches wir nicht sehen, — und 
welches die unheilbare Seele durchwallt, mit immer neuem 
Gram. 
74. 
füllen, wie er seine; — sondern es müsste ganz und 
gar keine Leiden geben und auch der Tod niclit seyn, 
oder nichts Sclireckhches für uns haben. Nur so würde 
das Leben für sich selbst bezahlen. 
Weil nun aber unser Zustand vielmehr etwas ist, 
das besser nicht wäre; so trägt Alles, was uns unigiebt, 
die Spur hievon — gleich wie in der Hölle Alles nach 
Schwefel riecht, — indem Jegliches stets unvollkom- 
men und trüglich, jedes Angenehme mit Unangeneh- 
mem versetzt, jeder Genuss immer nur ein halber ist, 
jedes Vergnügen seine eigene »Störung, jede Erleich- 
terung neue Beschwerde herbeiführt, jedes Hülfsmittel 
unserer täglichen und stündlichen Noth uns alle Augen- 
blicke im Stich lässt und seinen Dienst versagt, die 
Stufe, auf welche wir treten, so oft unter uns blicht, 
ja, Unfälle, grosse und kleine, das Element unsers 
Lebens sind, und wir, mit Einem Wort, dem Phineus 
gleichen, dem die Harpyen alle Speisen besudelten 
und ungeniessbar machten. Zwei Mittel werden da- 
gegen versucht: eistlich die suXaßsia, d. i. Klugheit, 
Vorsicht, Schlauheit: sie lernt nicht aus und reicht 
nicht aus und wird zu Schanden. Zweitens, der Stoische 
Gleichmuth, welcher jeden Unfall entwaffnen will, 
durch Gefasstseyn auf alle und Verschmähen von 
Allem: praktisch wird er zur kynischen Entsagung, 
die lieber, ein für alle Mal, alle Hülfsmittel und Er- 
leichterungen von sich wirft : sie macht uns zu Hunden, 
wie den Diogenes in der Tonne. Die Wahrheit ist: 
wir sollen elend seyn, und sind's. Dabei ist die Haupt- 
quelle der ernstlichen Uebel, die den Menschen trellfen, 
der Mensch selbst: homo homini lupus. Wer dies 
Letztere recht ins Auge fasst, erblickt die Welt als 
eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, 
dass Einer der Teufel des Andern seyn muss; wozu 
denn freilich Einer vor dem Andern geeignet ist, vor 
Allen wohl ein Erzteufel, in Gestalt eines Eroberers 
auftretend, der einige Hundert Tausend Menschen 
einander gegenüberstellt und ihnen zuruft: „Leiden 
und Sterben ist euere Bestinunung: jetzt schiesst mit 
Flinten und Kanonen auf einander los!" und sie thun 
es. — Ueberhaupt aber bezeichnen, in der Regel, Un- 
742 
gerechtigkeit, äusserste Unbilligkeit, Härte, ja Grau- 
samkeit, die Handlungsweise der Menschen gegen 
einander: eine entgegengesetzte tritt nur ausnahms- 
weise ein. Hierauf beruht die Nothwendigkeit des 
Staates und der Gesetzgebung und nicht auf euern 
F'lausen. Aber in allen Fällen, die nicht im Bereich 
der Gesetze liegen, zeigt sich sogleich die dem Men- 
schen eigene Rücksichtslosigkeit gegen seines Gleichen, 
welche aus seinem gränzenlosen Egoismus, mitunter 
auch aus Bosheit entspringt. Wie der Mensch mit dem 
Menschen verfährt, zeigt z. B. die Negersklaverei, deren 
Endzweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht 
nicht so weit zu gehen: im Alter von fünf Jahren ein- 
treten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und 
von Dem an erst lo, dann 12, endlich i4 Stunden 
täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit 
verrichten, heisst das Vergnügen, Athem zu holen, 
theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Mil- 
lionen, und viele andere Millionen haben ein analoges. 
Uns Andere inzwischen vermögen geringe Zufälle 
vollkommen unglücklich zu machen; vollkommen 
glücklich, nichts auf der Welt. Was man auch sagen 
mag, der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist 
doch der seines Einschlafens, wie der unglücklichste 
des Unglücklichen der seines Erwachens. — Einen 
indirekten, aber sichern Beweis davon, dass die Men- 
schen sich unglücklich fühlen, folglich es sind, liefert, 
zum Ueberfluss, auch noch der Allen einwohnende, 
grimmige Neid, der, in allen Lebensverhältnissen, auf 
Anlass jedes Vorzugs, welcher Art er auch seyn mag, 
rege wird und sein Gift nicht zu halten vermag. Weil 
sie sich unglücklich fühlen, können die Menschen 
den Anblick eines vermeinten Glücklichen nicht er- 
tragen: wer sich momentan glücklich fühlt, möchte 
sogleich Alles um sich herum beglücken, und sagt: 
Que tout le monde ici soit heureux de ma joie. 
Wenn das Leben an sich selbst ein schätzbares Gut 
und dem Nichtseyn entschieden vorzuziehen wäre; 
so brauchte die Ausgangspforte nicht von so entsetz- 
lichen Wächtern, wie der Tod mit seinen Schrecken 
ist, besetzt zu seyn. Aber wer würde im Leben, wie 
es ist, ausharren, wenn der Tod minder schrecklich 
wäre? — Und wer könnte auch nur den Gedanken 
des Todes ertragen, wenn das Leben eine Freude wäre ! 
So aber hat jener immer noch das Gute, das Knde des 
Lebens zu seyn, und wir trösten uns über die Leiden 
des Lebens mit dem Tode, und über den Tod mit 
den Leiden des Lebens. Die Wahrheit ist, dass Beide 
unzertrennht:h zusammenjjehören, indem sie ein Irrsal 
ausmachen, von welchem zurückzukommen so schwer, 
wie wünschenswerth ist. 
Wenn die Welt nicht etwas wäre, das, praktisch 
ausgedrückt, nicht seyn sollte; so würde sie auch nicht 
theoretisch ein Problem seyn: vielmehr würde ihr Da- 
seyn entweder gar keiner Erklärung bedürfen, indem 
es sich so gänzlich von selbst verstände, dass eine Ver- 
wunderung darüber und Frage danach in keinem 
Kopfe aufsteigen könnte; oder der Zweck desselben 
würde sich unverkennbar darbieten. Statt dessen aber 
ist sie sogar ein unauflösliches Problem ; indem selbst 
die vollkommenste Philosophie stets noch ein unerklär- 
tes Element enthalten v\ ird, gleich einem unauflösli- 
chen Niederschlag, oder dem Rest, w eichen das irratio- 
nale Verhältniss zweier Grössen stets übrig lässt. Daher, 
wenn Einer wagt, die Frage aufzuwerfen, warum nicht 
lieber gar nichts sei, als diese Welt; so lässt die Welt 
sich nicht aus sich selbst rechtfertigen, kein Grund, 
keine Endursache ihres Daseyns in ihr selbst finden, 
nicht nachweisen, dass sie ihrer selbst wegen, d. h. 
zu ihrem eigenen Vortheil dasei. — Dies ist, meiner 
Lehre zufolge, freilich daraus erklärlich, dass das 
Princip ihres Dasevns ausdrücklich ein grundloses ist, 
nämlich blinder Wille ziun Leben, welcher, als Ding 
an sich, dem Satz vom Grunde, der bloss die Form 
der Erscheinungen ist und durch den allein jedes 
Warum berechtigt ist, nicht unterworfen seyn kann. 
Dies stimmt aber auch zur Beschaffenheit der W^elt: 
denn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich 
selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. 
Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueber- 
schlag gemacht haben, dass das Geschäft die Kosten 
744 
nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und 
Ringen, mit Anstrengung aller Kräfte, unter steter 
Sorge, Angst und Noth, und bei unvermeidlicher Zer- 
störung jedes individuellen Lebens, keine Entschädi- 
gung findet in dem so errungenen, ephemeren, unter 
unsern Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst. 
Daher eben verlangt die Erklärung der Welt aus 
einem Anaxagorischen vou«;, d. h. aus einem von Er- 
kenntniss geleiteten Willen, zu ihrer Beschönigung, 
nothwendig den Optimismus, der alsdann, dem laut 
schreienden Zeugniss einer ganzen Welt voll Elend 
zum Trotz, aufgestellt und verfochten wird. Da wird 
denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während 
am Tage liegt, dass Jeder, wenn er zum voraus das 
Geschenk hätte besehen und prüfen dürfen, sich dafih' 
bedankt haben würde; wie denn auch Lessing den 
Verstand seines Sohnes bewunderte, der, weil er durch- 
aus nicht in die W^elt hineingewollt hätte, mit der 
Geburtszange gewaltsam hinein gezogen werden musste, 
kaum aber darin, sich eilig wieder davonmachte. Da- 
gegen wird dann wohl gesagt, das Leben solle, von 
einem Ende zum andern, auch nur eine Lektion seyn, 
worauf aber Jeder antworten könnte: „so wollte ich 
eben deshalb, dass man mich in der Ruhe des allge- 
nugsamen Nichts gelassen hätte, als wo ich weder 
Lektionen, noch sonst etwas nöthig hatte." Würde 
nun aber gar noch hinzugefügt, er solle einst von jeder 
Stunde seines Lebens Rechenschaft ablegen; so wäre 
er vielmehr berechtigt, selbst erst Rechenschaft zu 
fordern darüber, dass man ihn, aus jener Ruhe weg, 
in eine so missliche, dunkele, geängstete und peinliche 
Lage versetzt hat. — Dahin also führen falsche Grund- 
ansichten. Denn das menschliche Daseyn, weit entfernt 
den Charakter eines Geschenks zu tragen, hat ganz und 
gar den einer kontrahirten Schuld. Die Einforderung 
derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Daseyn 
gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden Wünsche 
und endlosen Noth. Auf Abzahlung dieser Schuld 
wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: 
doch sind damit erst die Zinsen getilgt. Die Kapital- 
abzahlung geschieht durch den Tod. — Und wann 
w urde diese Schuld kontrahirt ? — Bei der Zeu(jung, — 
Wenn man demgemäss den Menschen ansieht als 
ein Wesen, dessen Daseyn eine Strafe und Busse ist; — 
so erblickt man ihn in einem schon richtifjeren Lichte. 
Der Mythos vom Sündenfall (obwohl wahrscheinlich, 
wie das ganze Judenthum, dem Zend-Avesta entlehnt: 
Bun-Dehesch, i5) ist das Einzige im A. T., dem ich 
eine metaphysische, wenngleich nur allegorische Wahr- 
heit zugestehen kann; ja, er ist es allein, was mich 
mit dem A. T. aussöhnt. Nichts Anderem nämlich 
sieht unser Daseyn so ähnlich, wie der Folge eines 
Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Das neu- 
testamentliche Christenthum, dessen ethischer Geist 
der des Brahmanismus und Buddhaismus, daher dem 
übrigens optimistischen des Alten Testaments sehr 
fremd ist, hat auch, höchst weise, gleich an jenen 
Mythos angeknüpft: ja, ohne diesen hätte es im Ju- 
denthum gar keinen Anhaltspunkt gefunden. — Will 
man den Grad von Schuld, mit dem unser Daseyn 
selbst behaftet ist, ermessen; so blicke man auf das 
Leiden, welches mit demselben verknüpft ist. Jeder 
grosse Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, 
was wir verdienen: denn er könnte nicht an uns 
kommen, wenn wir ihn nicht verdienten. Dass auch 
das Christenthum unser Daseyn in diesem Lichte er- 
blickt, bezeugt eine Stelle aus Luthers Kommentar 
zu Galat., c. 3, die mir nur lateinisch vorliegt: Sinnus 
autem nos omnes corporibus et rebus subjecti Diabo- 
lo, et hospites sumus in mundo, cujus ipse princeps 
et Deus est. Ideo panis, quem edimus, potus, quem 
bibimus, vestes, quibus utimur, imo acr et totum quo 
vivimus in carne, sub ipsius imperio est. — Man hat 
geschrieen über das Melancholische und Trostlose 
meiner Philosophie: es Hegt jedoch bloss darin, dass 
ich, statt als Aequivalent der Sünden eine künftige 
Hölle zu fabeln, nachwies, dass wo die Schuld liegt, 
in der Welt, auch schon etwas Höllenartiges sei: wer 
aber dieses leugnen wollte, — kann es leicht ein Mal 
erfahren. 
Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter 
und geängstigter Wesen, welche nur dadurch beste- 
746 
hen, dass eines das andere verzehrt, wo daher jedes 
reissende Thier das lebendige Grab tausend anderer und 
seine Seibsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, 
wo sodann mit der Eikenntniss die Fähigkeit Schmerz 
zu empfinden wächst, welche daher im Menschen 
ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höhe- 
ren, je intelligenter er ist, — dieser Welt hat man 
das System des Optimismus anpassen und sie uns als 
die beste unter den möglichen andemonstriren wol- 
len. Die Absurdität ist schreiend. — Inzwischen heisst 
ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen 
in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, 
mit ihren Bergen, Thälern, Strömen, Pflanzen, Thie- 
ren u. s. f. — Aber ist denn die Welt ein Guckkasten ? 
Zu sehen sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu 
seyn ist ganz etwas Anderes. Dann kommt ein Teleo- 
log und preist mir die weise Einrichtung an, vermöge 
welcher dafür gesorgt sei, dass die Planeten nicht 
mit den Köpfen gegeneinander rennen, Land und 
Meer nicht zum Brei gemischt, sondern hübsch aus- 
einandergehalten seien, auch nicht alles in beständi- 
gem Froste starre, noch von Hitze geröstet werde, 
imgleichen, in Folge der Schiefe der Ekliptik, kein 
ewiger Frühling sei, als in welchem nichts zur Reife 
gelangen könnte u. dgl. m. — Aber Dieses und alles 
Aehnliche sind ja blosse conditiones sine quibus non. 
Wenn es nämlich überhaupt eine Welt geben soll, 
wenn ihre Planeten wenigstens so lange, wie der 
Lichtstrahl eines entlegenen Fixsterns braucht, um 
zu ihnen zu gelangen, bestehen und nicht, wie Les- 
sings Sohn, gleich nach der Geburt wieder abfahren 
sollen; — da durfte sie freilich nicht so ungeschickt 
gezimmert seyn, dass schon ihr Grundgerüst den Ein- 
sturz di'ohte. Aber wenn man zu den Resultaten des 
gepriesenen Werkes fortschreitet, die Spieler betrach- 
tet, die auf der so dauerhaft gezimmerten Bühne 
agiren, und nun sieht, wie mit der Sensibilität der 
Schmerz sich einfindet und in dem Maasse, wie jene 
sich zur Intelligenz entwickelt, steigt, wie sodann, 
mit dieser gleichen Schritt haltend, Gier und Leiden 
immer stärker hervortreten und sich steigern, bis zu- 
letzt das Menschenleben keinen andern Stoff darbie- 
tet, als den zu Tra^'ödien und Komödien, — da wird, 
wer nicht heuchelt, schwerlich disponirt seyn, Halle- 
lujahs anzustimmen. Den eigentlichen, aber verheim- 
lichten Ursprung dieser letzteren hat übrigens, scho- 
nungslos, aber mit siegender Wahrheit, David Hume 
aufgedeckt, in seiner Natural history of religion, Sect. 
6, 7, 8 and i3. Derselbe legt auch im zehnten und 
elften Buch seiner Dialogues on natural religion, un- 
verhohlen, mit sehr triftigen und dennoch ganz an- 
derartigen Arjjumenten als die meinigen, die trüb- 
sälige Beschaffenheit dieser Welt und die Unhaltbar- 
keit alles Optimismus dar ; Avobei er diesen zugleich 
in seinem Ursprung angreift. Beide Werke Hume's 
sind so lesensvverth, wie sie in Deutschland heut zu 
Tage unbekannt sind, wo man dagegen, patriotisch, 
am ekelhaften Gefasel einheimischer, sich spreizender 
Alltagsköpfe unglaubliches Genügen findet imd sie 
als grosse Männer ausschreit. Jene Dialogues aber hat 
Hamann übersetzt, Kant hat die Uebersetzung durch- 
gesehen und noch im späten Alter Hamanns Sohn 
zur Herausgabe derselben bewegen wollen, weil die 
von Platner ihm nicht genügte (siehe Kants Biogra- 
phie von F. W. Schubert, S. 8i und i65). — Aus 
jeder Seite von David Hume ist mehr zu lernen, als 
aus Hegels, Herbarts und Schleiermachers sämmtli- 
chen philosophischen Werken zusammengenommen. 
Der Begründer des systematischen Optimismus hin- 
gegen ist Leibnitz, dessen Verdienste um die Philoso- 
phie zu leugnen ich nicht gesonnen bin, wiewohl 
mich in die Monadologie, prästabil irte Harmonie und 
identitas indis(;ernibilium eigentlich hineinzudenken, 
mir nie hat gelingen wollen. Seine Nouveaux essays 
sur Fentendement aber sind bloss ein Excerpt, mit 
ausführlicher, auf Berichtigung abgesehener, jedoch 
schwacher Kritik des mit Recht weltberühmten Wer- 
kes Locke s, welchem er hier mit eben so wenig Glück 
sich entgegenstellt, wie, durch sein gegen das Gravi- 
tationssystem gerichtetes Tentamen de motuum coe- 
lestium causis, dem Neuton. Gegen diese Leibnitz- 
Wolfische Philosophie ist die Kritik der reinen Ver- 
748 
nunft ganz speciell gerichtet und hat zu ihr ein pole- 
misches, ja, vernichtendes Verhältniss; wie zu Locke 
und Hmne das der Fortsetzung und Weiterbildung. 
Dass heut zu Tage die Philosophieprofessoren allsei- 
tig bemüht sind, den Lcibnitz, mit seinen Flausen, 
wieder auf die Beine zu bringen, ja, zu verherrlichen, 
und andererseits Kanten möglichst gering zu schätzen 
und bei Seite zu schieben, hat seinen guten Grund 
im primum vivere: die Kritik der reinen Vernunft 
lässt nämlich nicht zu, dass man Jüdische Mythologie 
für Philosophie ausgebe, noch auch, dass man, ohne 
Umstände, von der „Seele" als einer gegebenen Re- 
alität, einer wohlbekannten und gut ackreditirten 
Person, rede, ohne Rechenschaft zu geben, wie man 
denn zu diesem Begriff gekommen sei und welche 
Berechtigung man habe, ihn wissenschaftlich zu ge- 
brauchen. Aber primum vivere, deinde philosophari ! 
Herunter mit dem Kant, vivat unser Leihnitz ! — Auf 
diesen also zurückzukommen, kann ich der Theodicee, 
dieser methodischen und breiten Entfaltung des Op- 
timismus, in solcher Eigenschaft, kein anderes Ver- 
dienst zugestehen, als dieses, dass sie später Anlass 
gegeben hat zum unsterblichen Candide des grossen 
Foltaire; wodurch freilich Leibuitzens so oft wieder- 
holte, lahme Exküse für die Uebel der Welt, dass 
nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, 
einen ihm unerwarteten Beleg erhalten hat. Schon 
durch den Namen seines Helden deutete Voltaire an, 
dass es nur der Aufrichtigkeit bedarf, um das Gegen- 
theil des Optimismus zu erkennen. Wirklich macht 
auf diesem Schauplaz der Sünde, des Leidens und 
des Todes der Optimismus eine so seltsame Figur, 
dass man ihn für Ironie halten müsste, hätte man 
nicht an der von Hume, wie oben erwähnt, so ergötz- 
lich aufgedeckten geheimen Quelle desselben (näm- 
hch heuchelnde Schmeichelei, mit beleidigendem 
Vertrauen auf ihren Erfolg) eine hinreichende Erklä- 
rung seines Ursprungs. 
Sogar aber lässt sich den handgreiflich sophistischen 
Beweisen Leibnitzens, dass diese Welt die beste unter 
den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis 
749 
entgegenstellen, dass sie die schlechteste unter den 
möglichen sei. Denn Möglich heisst nicht was Einer 
etwan sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich 
existiren und hestehen kann. Nun ist diese Welt so 
eingerichtet, wie sie seyn musste, um mit genauer 
Noth bestehen zu können: wäre sie aber noch ein 
wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr be- 
stehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht be- 
stehen könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter 
den möglichen die schlechteste. Denn nicht bloss 
wenn die Planeten mit den Köpfen gegen einander 
rennten, sondern auch wenn von den wirklich ein- 
tretenden Perturhationen ihres Laufes irgend eine, 
statt sich durch andere allmälig wieder auszugleichen, 
in der Zunahme beharrte, würde die Welt bald ihr 
Ende erreichen: die Astronomen wissen, von wie zu- 
fölligen Umständen, nämlich zumeist vom irrationalen 
Verhältniss der ümlaufszeiten zu einander, Dieses 
abhängt, und haben mühsam herausgerechnet, dass 
es immer noch gut abgehen wird, mithin die Welt 
so eben stehen und gehen kann. Wir wollen, wiewohl 
Neuton entgegengesetzter Meinung war, hoffen, dass 
sie sich nicht verrechnet haben, und mithin das in so 
einem Planetensystem verwirklichte mechanische 
perpetuum mobile nicht auch, wie die übrigen, zuletzt 
in Stillstand gerathen werde. — Unter der festen 
Rinde des Planeten nun wieder hausen die gewaltigen 
Naturkräfte, welche, sobald ein Zufall ihnen Spiel- 
raum gestattet, jene, n)it allem Lebenden darauf, 
zerstören müssen; wie dies auf dem unserigen wenig- 
stens schon drei Mal eingetreten ist und wahrschein- 
lich noch öfter eintreten wird. Ein Erdbeben von 
Lissabon, von Haity, eine Verschüttung vom Pom- 
peji sind nur kleine, schalkhafte Anspielungen auf die 
Möglichkeit. — Eine geringe, chemisch gar nicht ein 
Mal nachweisbare Alteration der Atmosphäre verur- 
sacht Cholera, gelbes Fieber, schwarzen Tod u. s. w., 
welche Millionen Menschen wegraffen: eine etwas 
grössere würde alles Leben auslöschen. Eine sehr 
massige Erhöhung der Wärme würde alle Flüsse und 
Quellen austrocknen. — Die Thiere haben an Or- 
750 
ganen und Kräften genau und knapp so viel erhalten, 
wie zur Herbeischaffung ihres Lebensunterhalts und 
Auffütterung der Brut, unter äusserster Anstrengung, 
ausreicht; daher ein Thier, wenn es ein Glied, oder 
auch nur den vollkommenen Gebrauch desselben, 
verliert, meistens umkommen muss. Selbst vom Men- 
schengeschlecht, so mächtige Werkzeuge es an Ver- 
stand und Vernunft auch hat, leben neun Zehntel in 
beständigem Kampfe mit dem Mangel, stets am Rande 
des Untergangs, sich mit Noth und Anstrengung über 
demselben balancirend. Also durchweg, wie zum Be- 
stände des Ganzen, so auch zu dem jedes Einzelwesens 
sind die Bedingungen knapp und kärglich gegeben, 
aber nichts darüber: daher geht das individuelle Le- 
ben in unaufhörlichem Kampfe um die Existenz selbst 
hin; während bei jedem Schritt ihm Untergang droht. 
Eben weil diese Drohung so oft vollzogen wird, 
musste, durch den unglaublich grossen Ueberschuss 
der Keime, dafür gesorgt seyn, dass der Untergang 
der Individuen nicht den der Geschlechter herbei- 
führe, als an welchen allein der Natur ernstlich ge- 
legen ist. — Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie 
möglicherweise seyn kann, wenn sie überhaupt noch 
seyn soll. W. z. b. w. — Die Versteinerungen der den 
Planeten ehemals bewohnenden, ganz anderartigen 
Thiergeschlechter liefern uns, als Rechnungsprobe, 
die Dokumente von Welten, deren Bestand nicht 
mehr möglich war, die mithin noch etwas schlechter 
waren, als die schlechteste unter den möglichen. 
Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte 
Selbstlob des eigentlichen Urhebers der Welt, des 
Willens zum Leben, der sich wohlgefällig in seinem 
Werke spiegelt: und demgemäss ist er nicht nur eine 
falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre. Denn 
er stellt uns das Leben als einen wünschenswerthen 
Zustand, und als Zweck desselben das Glück des 
Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann Jeder 
den gerechtesten Anspruch auf Glück und Genuss zu 
haben : werden nun diese, wie es zu geschehen pflegt, 
ihm nicht zu Theil; so glaubt er, ihm geschehe Un- 
recht, ja, er verfehle den Zweck seines Daseyns; — 
•75 I 
während es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Noth 
und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck un- 
sers Lebens zu betrachten (wie dies Brahrnanismus 
und ßuddhaismus, und auch das ächte Christenthum 
thun); weil diese es sind, die zur Verneinung des 
Willens zum Leben leiten. Im Neuen Testamente ist 
die Welt dargestellt als ein Jammerthal, das Leben 
als ein Läuterungsprocess, und ein Marterinstrument 
ist das Svmbol des Ghristenthums. Daher beruhte, als 
Leibnitz, Shaftsbiiry, Bolingbroke und Pope mit dem 
Optimismus hervortraten, der Anstoss, den man all- 
gemein daran nahm, hauptsächlich darauf, dass der 
Optimismus mit dem Christenthum unvereinbar sei; 
wie dies Foltaire, in der Vorrede zu seinem vortreff- 
lichen Gedichte Le desastre de Lisbonne, welches 
ebenfalls ausdrücklich gegen den Optimismus gerichtet 
ist, berichtet und erläutert. Was diesen grossen Mann, 
den ich, den Schmähungen feiler Deutscher Tinten- 
klexer gegenüber, so gern lobe, entschieden höher 
als Rousseau stellt, indem es die grössere Tiefe seines 
Denkens bezeugt, sind drei Einsichten, zu denen er 
gelangt war: i) die von der überwiegenden Grösse 
des Uebels und vom Jammer des Daseyns, davon er 
tief durchdrungen ist; 2) die von der strengen Neces- 
sitation der Willensakte; 3) die von der Wahrheit 
des XocAe sehen Satzes, dass möglicherweise das Den- 
kende auch materiell seyn könne; während Rousseau 
alles Dieses durch Deklamationen bestreitet, in seiner 
Profession de foi du vicaire Savovard, einer flachen 
protestantischen Pastorenphilosophie; wie er denn 
auch, in eben diesem Geiste, gegen das soeben er- 
wähnte, schöne Gedicht Voltaires mit einem schiefen, 
seichten und logisch falschen Räsonnement, zu Gunsten 
des Optimismus, polemisirt, in seinem, bloss diesem 
Zweck gewidmeten, langen Briefe an Voltaire, vom 
18. August 1756. Ja, der Grundzug und das irpcuTOV 
<{>suooi; der ganzen Philosophie Rousseau s ist Dieses, 
dass er an die Stelle der christlichen Lehre von der 
Erbsünde und der ursprünglichen Verderbtheit des 
Menschengeschlechts, eine ursprüngliche Güte und 
unbegrenzte Perfektibilität desselben setzt, welche 
762 
bloss durch die Civilisation und deren Folgen auf 
Abwege gerathen wäre, und nun darauf seinen Opti- 
mismus und Humanismus gründet. 
Wie gegen den Optimismus Voltaire, im Candide, 
den Krieg in seiner scherzhaften Manier führt, so hat 
es in seiner ernsten und tragischen Byron gethan, in 
seinem unsterblichen Meisterwerke Kam, weshalb er 
auch durch die Invektiven des Obskuranten Friedrich 
Schlegel verherrlicht worden ist. — Wollte ich nun 
schliesslich, zur Bekräftigung meiner Ansicht, die 
Aussprüche grosser Geister aller Zeiten, in diesem, 
dem Optimismus entgegengesetzten Sinne, hersetzen; 
so würde der Anführungen kein Ende seyn; da fast 
jeder derselben seine Erkenntniss des Jammers dieser 
Welt in stai'ken Worten ausgesprochen hat. Also nicht 
zur Bestätigung, sondern bloss zur Verzierung dieses 
Kapitels mögen am Schlüsse desselben einige Aus- 
sprüche dieser Art Platz finden. 
Zuvörderst sei hier erwähnt, dass die Griechen, so 
weit sie auch von der Christlichen und Hochasiatischen 
Weltansicht entfernt waren und entschieden auf dem 
Standpunkt der Bejahung des Willens standen, den- 
noch von dem Elend des Daseyns tief ergriffen waren. 
Dies bezeugt schon die Erfindung des Trauerspiels, 
welche ihnen angehört. Einen andern Beleg dazu giebt 
uns die, nachmals oft erwähnte, zuerst von Herodot 
(V, 4) erzählte Sitte der Thrakier, den Neugeborenen 
mit Wehklagen zu bewillkommnen, und alle Uebel, 
denen er jetzt entgegengehe, herzuzählen; dagegen 
den Todten mit Freude und Schmerz zu bestatten, 
weil er so vielen und grossen Leiden nunmehr ent- 
gangen sei; welches in einem schönen, von Plutarch 
(De audiend. poet. in fine) uns aufbehaltenen Verse, 
so lautet; 
Tov cpuvia &p7]V£iv, ei? ho ep^^eiat xaxa* 
Tov o' au davovta xai irovcov TcsTrau|j.evov 
Xaipovta? sucpir]|xouvTa? exueixireiv oojxcuv. 
(Lugere gcnitum, tanta qui intrarit mala; 
At morte si quis finiisset miserias, 
Hunc laude amicos atque iaetitia exsequi.) 
48 Schopenhauer II "yj J 
Nicht historischer Verwandtschaft, sondern niora- 
hscher Identität der Sache ist es beizumessen, dass 
die Mexikaner dns Nenfjeborene mit den Worten he- 
vvillkonunneten: ,,Mein Kind, du liist zum Dulden 
{jehoren: also dulde, leide luid schweig." Und dem 
selben Gefühle folgend hat Swift (wie Walter Scott 
in dessen Leben berichtet) schon früh die Gewohn- 
lieit angenommen, seinen Geburtstajj nicht als einen 
Zeitpunkt der Freude, sondern der lielrübniss zu be- 
gehen, und an demselben die Bibelstelle zu lesen, in 
welcher Hiob den Tag bejammert und verflucht, an 
welchem es in seines V^aters Hause hiess: es sei ein 
Sohn geboren. 
Bekannt und zum Abschreiben zu lang ist die Stelle 
in der Apologie des Sokrates, wo Plato diesen wei- 
sesten der Sterblichen sagen lässt, dass der Tod, selbst 
wenn er uns auf immer das Bewusstseyn raubte, ein 
wundervoller Gewinn seyn würde, da ein tiefer, traum- 
loser Schlaf jedem Tage, auch des beglücktesten Le- 
bens, vorzuziehen sei. 
Ein Spruch des Herakleitos lautete: 
T«) ouv ßi{p ovo[xa |xev ßto?, ep^ov os Oavato?. 
(Vitac noincn qiiideni est vita, opus autem inors. 
Etymologicum magnum, voce ßio?; auch Eustath. ad 
Iliad., I, p. 3i.) 
Berühmt ist der schöne Vers des Theognis: 
Ap)(7]V ijLSv [AT] «puvai ETri)(^ovioiaiv apio-ov, 
Mr]o' sioiosiv auyai; o^£o<; tjsXiou' 
Ouvta o' OTTO)? cuxiara 7ru)^a? Aioao TrspTjoai, 
Kai xsio^ai uoXXtjV Yr,v eTratiTjoafievov. 
(Optima sors lioniini natuiii non esse, ncc unqiiain 
Adspcxissc (Hein, flamniiferumque jiihar. 
Altera jain {jcniuini dcinitti protinus Or(;o, 
Et pressiim nuilta inergcre corpus liunio.) 
Sophokles, im Oedipus zu Kolona, hat folgende Ab- 
kürzung desselben: 
Mt] cpuvat Tov otTravia vt- 
xcf Xo^oV TO S' STTSt cpaviQ, 
75/, 
ßrjvat XEi&ev, 6^£V usp tjxsi, 
t:oXi) Ssuxepov, (ü? Ta5(i<Tra. 
(Niituin non esse sortes viiicit alias oirincs: proxiiiia autcin est, 
ubi (jiiis in lucein editus fiierit, codeui rediie, unde venit, 
(juain ocissime.) 
Euripides sagt: 
IIa«; 5' oSuvTjpoi; ßio? avöpcuxoiv, 
K' oux eoTi TTOvcuv avaTraooti;. 
(Oninis hominum vita est plena dolore, 
Nee datur laborum lemissio. 
Hippol. 189.) 
Und hat es doch schon Homer gesagt: 
Ou [JLSV ^ap XI TTOo eoTiv oiOjpo>T£pov avBpo? 
DavTcov, oaaa 6s yaiav stti Ttveei t£ xai spTiei. 
(iSion enim quidquani alicubi est calamitosius homine 
oninium, quotquot super teirani spirantque et moventur. 
II. XVII, 446.) 
Selbst Plinius sagt : Quapropter hoc primum quisque 
in remediis animi sui habeat, ex omnibus bonis, quae 
homini natura tiibuit, nulluni melius esse tempestiva 
niorte. (Hist. nat. 28, 2.) 
Shakespeare legt dem alten König Heinrich IV. die 
Worte in den Mund: 
O heaven! that one might read tlic book of fate. 
And see the revolution of tlie times, 
bovv chances mock. 
And changes fill the cup of alteration 
With divers liquors! O, if tbis were seen, 
The happiest youth, — vievving bis progress through, 
Wbat perils past, what Grosses to ensue, — 
Would sbut the book, and sid bim down and die'). 
*) O, könnte man im Scbicksalsbucbe lesen. 
Der Zeiten Umwälzung, des Zufalls Hohn 
Darin ersehn, und wie Veränderung 
Bald diesen Trank, bald jenen ims kredenzet, — 
(), wer es sab ! und wär's der frohste Jüngling, 
Der, seines Lebens Lauf durcbmusterend, 
Das Ueberstandene, das Drohende erblickte, — 
Er schlug' es zu, und setzt' sich hin, und stürbe. 
48- 7^5 
Endlich Byron: 
Count o'er the joys thine hours have seen, 
Count o'er thy days from aiifjuish free, 
And know, whatever thou hast been, 
'Tis something better not to be*). 
Keiner jedoch hat diesen Gegenstand so gründhch 
und erschöpfend hehandelt, wie, in unsern Tagen, 
Leopardi. Er ist von demselhenganz erfüllt und durch- 
drungen: überall ist der Spott und Janimej- dieser 
Existenz sein Thema, auf jeder Seite seiner \V^erke 
stellt er ihn dar, jedoch in einer solchen Mannig- 
faltigkeit von Formen und Wendungen, mit solchem 
Reichthum an Bildern, dass er nie Ueberdruss er- 
weckt, vielmehr durchweg unterhaltend und erregend 
wirkt. 
KAPITEL 47"). 
ZUR ETHIK. 
HIER ist nun die grosse Lücke, welche in diesen 
Ergänzungen dadurch entsteht, dass ich die Mo- 
ral im engern Sinne bereits abgehandelt habe in den 
unter dem Titel: „Die Grundprobleme der Ethik" 
herausgegebenen zwei Preisschriften, die Bekannt- 
schaft mit welchen ich, wie gesagt, voraussetze, um 
unnütze Wiederholungen zu vermeiden. Daher bleibt 
mir hier nur eine kleine Nachlese vereinzelter Be- 
trachtungen, die dort, wo der Inhalt, der Hauptsache 
nach, von den Akademien vorgeschrieben war, nicht 
zur Sprache kommen konnten, und zwar am wenig- 
*) Ueberzähle die Freuden, welche deine Stunden gesehen 
haben; überzähle die Tage, die von Angst frei gewesen; und 
wisse, dass, was immer du gewesen seyn magst, es etwas Bes- 
seres ist, nicht zu seyn. 
'*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §§.5.'), (5i, 67 des ersten Ran- 
des, [s. 344» 4"3, 4^2 d. A.J 
756 
sten die, welche einen höhern Standpunkt erfordern, 
als den allen gemeinsamen, auf welchem ich dort 
stehen zu bleiben genöthigt war. Demzufolge wird es 
den Leser nicht befremden, dieselben hier in einer 
sehr fragmentarischen Zusammenstellung zu finden. 
Diese nun wieder hat ihre Fortsetzung erhalten am 
achten und neunten Kapitel des zweiten Bandes der 
Parerga. — 
Dass moralische Untersuchungen ungleich wich- 
tiger sind, als physikalische, und überhaupt als alle 
andern, folgt daraus, dass sie fast unmittelbar das 
Ding an sich betreffen, nämlich diejenige Erscheinung 
desselben, an der es, vom Lichte der Erkenntniss un- 
mittelbar getroffen, sein Wesen offenbart als Wille. 
Physikalische Wahrheiten hingegen bleiben ganz auf 
dem Gebiete der Vorstellung, d. i. der Erscheinung, 
und zeigen bloss, wie die niedrigsten Erscheinungen 
des Willens sich in der Vorstellung gesetzmässig dar- 
stellen. — - Ferner bleibt die Betrachtung der Welt 
von der physisclien Seite, so weit und so glücklich 
man sie auch verfolgen mag, in ihren Besultaten für 
uns trostlos: auf der moralischen Seite allein ist Trost 
zu finden; indem hier die Tiefen unsers eigenen Innern 
sich der Betrachtung aufthun. 
Meine Philosophie ist aber die einzige, welche der 
Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen lässt: 
denn nur wenn das Wesen des Menschen sein eigener 
Wille., mithin er, im strengsten Sinne, sein eigenes 
Werk ist, sind seine Thaten wirklich ganz sein und 
ihm zuzurechnen. Sobald er hingegen einen andern 
Ursprung hat, oder das Werk eines von ihm ver- 
schiedenen Wesens ist, fallt alle seine Schuld zurück 
auf diesen Ursprung, oder Urheber, Denn operari 
sequitur esse. 
Die Kraft, welche das Phänomen der Welt her- 
vorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben be- 
stimmt, in Verbindung zu setzen mit der Moralität 
der Gesinnung, und dadurch eine moralische Welt- 
ordnung als Grundlage der physischen nachzuweisen, 
— dies ist seit Sokrates das Problem der Philosophie 
gewesen. Der Theismus leistete es auf eine kindliche 
757 
Weise, welche der herangereiften Menschheit niclit 
genügen konnte. Daher stellte sich ihm der Pan- 
theismus, sobald er irgend es wagen durfte, entgegen, 
und wies nach, dass die Natur die Kraft, vermöge 
welcher sie hervortritt, in sich seihst trä{;t. Dabei 
musste nun aber die Ethik verloren {jehen. Spinoza 
versucht zwar, stellenweise, sie durch Sophismen zu 
retten, meistens aber giebt er sie geradezu auf und 
erklärt, mit einer Dreisti{jkeit, die Erstaunen und 
Unwillen hervorruft, den Unterschied zwischen Recht 
und Unrecht, und überhaupt zwischen Gutem und 
Bösem, für bloss konventionell, also an sich selbst 
nichtig (z. B, Eth., IV, prop. 37, schob 2). Ueberhaupt 
ist Spinoza, nachdem ihn, über hundert Jahre hin- 
durch, unverdiente Geringschätzung getroffen hatte, 
durch die Reaktion im Pendelschwung der Meinung, 
in diesem Jahrhundert wieder idjerschätzt worden. 
— Aller Pantheismus nämlich muss an den unab- 
weisbaren Forderungen der Ethik, und nächst dem 
am Uebel und dem Leiden der Welt, zuletzt scheitern. 
Ist die Welt eine Theophanie; so ist Alles, was der 
Mensch, ja, auch das Thier thut, gleich göttlich imd 
vortrefflich: nichts kann zu tadeln und nichts vor 
dem Andern zu loben seyn: also keine Ethik. Daher 
eben ist man in Folge des erneuerten Spinozismus 
imserer Tage, also des Pantheismus, in der Ethik so 
tief herabgesvmken und so platt geworden, dass man 
aus ihr eine blosse Anleitung zu einem gehörigen 
Staats- und Familienleben machte, als in welchem, 
also im methodischen, vollendeten, geniessenden und 
behaglichen Philisterthum, der letzte Zweck des 
menschlichen Daseyns bestehen sollte. Zu dergleichen 
Plattheiten hat der Pantheismus freilich erst dadurch 
geführt, dass man (das e quovis ligno lit Mercurius 
arg missbrauchend) einen gemeinen Kopf, Hegel, 
durch die allbekannten Mittel, zu einem grossen 
Philosophen falschmünzte und eine Schaar Anfangs 
subornirter, dann bloss bornirter Jünger desselben 
das grosso Wort erhielt. Dergleichen Attentate gegen 
den menschlichen Geist bleiben nicht vmgestraft: die 
Saat ist aufgegangen. Im gleichen Sinne wurde dann 
758 
behauptet, die Ethik solle nicht das Thun der Ein- 
zelnen, sondern das der Volksniassen zum Stoffe ha- 
ben, nur dieses sei ein Thema ihrer würdig. Nichts 
kann verkehrter seyn, als diese, auf dem plattesten 
Realismus beruhende Ansicht. Denn in jedem Ein- 
zelnen erscheint der ganze ungetheile Wille zum Le- 
ben, das Wesen an sich, und der Mikrokosmos ist 
dem Makrokosmos gleich. Die Massen haben nicht 
mehr Inhalt als jeder Einzelne. Nicht vom Thun und 
Erfolg, sondern vom Wollen handelt es sich in der 
Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im In- 
dividuo vor. Nicht das Schicksal der Völker, welches 
nur in der Erscheinung da ist, sondern das des Ein- 
zelnen entscheidet sich moralisch. Die Völker sind 
eigentlich blosse Abstraktionen: die Individuen allein 
existiren wirklich. — So also verhält sich der Pan- 
theismus zur Ethik. — Die Uebel aber und die Quaal 
der Welt stimmen schon nicht zum Theismus: daher 
dieser durch allerlei Ausreden, Theodiceen, sich zu 
helfen suchte, welche jedoch den Argumenten Hiime's 
und Voltaire' s unrettbar unterlagen. Der Pantheismus 
nun aber ist jenen schlimmen Seiten der Welt gegen- 
über vollends unhaltbar. Nur dann nämlich, wann 
man die Welt ganz von Aussen und allein von der 
physikalischen Seite betrachtet und nichts Anderes, 
als die sich immer wiederherstellende Ordnung und 
dadurch komparative Unvergänglichkeit des Ganzen 
im Auge behält, geht es allenfalls, doch immer nur 
sinnbildlich an, sie für einen Gott zu erklären. Tritt 
man aber ins Innere, nimmt also die subjektive und 
die moralische Seite hinzu, mit ihrem Uebergewicht 
von Noth, liciden und Quaal, von Zwiespalt, Bosheit, 
Verruchtheit und Verkehrtheit; da wird man bald 
mit Schrecken inne, dass man nichts weniger, als eine 
Theophanie vor sich hat. — Ich nun aber habe ge- 
zeigt und habe es zumal in der Schrift ,,Vom Willen 
in der Natur" bewiesen, dass die in der Natur trei- 
bende und wirkende Kraft identisch ist mit dem 
Willen in uns. Dadurch tritt nun wirklich die mora- 
lische \Ye\ioidmin^ in unmittelbaren Zusammenhang 
mit der das Phänomen der Welt hervorbringenden 
7^9 
Kraft. Denn der Beschaffenheit des Willens muss seine 
Erscheinung {jenau entsprechen: hierauf beruht die, 
§§. 6? (^^ des ersten Bandes, gegebene Darstellung 
der ewigen Gerechtüjkeit, und die Welt, obgleich aus 
eigener Kraft bestehend, erhält durchweg eine ino- 
i'alisclie Tendenz. Sonach ist jetzt allererst das seit 
Sokrates angerejjtc Problem wirklich gelöst und die 
Forderun(j der denkenden, auf das Moralische {;e- 
richlcten Vernunft befriedigt. — Nie jedoch habe ich 
mich vermessen, eine Philosophie aufzustellen, die 
keine Fragen mehr übrig liesse. In diesem Sinne ist 
Philosophie wirklich unmöglich: sie wäre Allwissen- 
heitslehre. Aber est quadam prodire tenus, si non da- 
tur ultra: es giebt eine Gränze, bis zu welcher das 
Nachdenken vordringen und so weit die Nacht un- 
sers Daseyns erhellen kann, wenngleich der Horizont 
stets dunkel bleibt. Diese Gränze erreicht meine Lehre 
im Willen zum Leben, der, auf seine eigene Erschei- 
nung, sich bejaht oder verneint. Darüber aber noch 
hinausgehen wollen ist, in meinen Augen, wie über 
die Atmosphäre hinausfliegen wollen. Wir müssen 
dabei stehen bleiben; wenn gleich aus gelösten Pro- 
blemen neue hervorgehen. Zudem ist aber darauf zu 
verweisen, dass die Gültigkeit des Satzes vom Grunde 
sich auf die Erscheinung beschränkt: dies war das 
"^rhema meiner ersten, schon i8i3 herausgegebenen 
Abhandlung über jenen Satz. — 
Jetzt gehe ich an die Ergänzimgen einzelner Be- 
trachtungen, und will damit anfanj^en, meine §. 67 
des ersten Bandes gegebene Erklärung des IFeinens, 
dass es nändich aus dem Mitleid, dessen Gegenstand 
man selbst ist, entspringt, durch ein Paar klassischer 
Dichterstellen zu belegen. — Am Schlüsse des aihten 
Gesanges der Odyssee bricht Odysseus, der bei seinen 
vielen Leiden nie weinend dargestellt wird, in Thrä- 
nen aus, als er, noch ungekannt, beim Phäaken-König 
vom Sänger Demodokos sein früheres Helden leben 
und Thaten besingen hört, indem dieses Andenken 
an seine {jlänzende Lebenszeit in Kontrast tritt mit 
seinem gegenwiütigen Elend. Also nicht dieses selbst 
unmittelbar, sondern die objektive Betrachtung des- 
760 
selben, das Bild seiner Gp(jenwart, hervorgehoben 
durch die Vergangenheit, ruft seine Thränen hervor: 
er fühlt Mitleid mit sich selbst. — Die selbe Empfin- 
dung lässt Eufipides den unschuldig verdammten 
und sein eigenes Schicksal beweinenden Hippolytos 
aussprechen : 
Oeu* £1^' 7]v epiauTOV TrpoaßXsTrsiv evavTiov 
oTav^, (ü? eoaxpu!;', ola 'iraoj(0[jLev xaxa. (1084.) 
(Heu, si liceret mihi, nie ipsum extrinsecus speciale, quanto- 
pere deflercin mala, qiiae patior.) 
Endlich mag, als Beleg zu meiner Erklärung, hier 
noch eine Anekdote Platz finden, die ich der Eng- 
lischen Zeitung „Herald" vom 16. Juli 1 836 entnehme. 
Ein Klient, als er vor Gericht die Darlegung seines 
Falls durch seinen Advokaten angehört hatte, brach 
in einen Strom A'on Thranen aus und rief: „Nicht 
halb so viel glaubte ich gelitten zu haben, bis ich es 
heute hier angehört habe!" - — 
Wie, bei der Unveränderlichkeit des Charakters, 
d. h. des eigentlichen GrundwoUens des Menschen, 
eine wirklich moralische Reue dennoch möglich sei, 
habe ich zwar §. 55 des ersten Bandes dargelegt, will 
jedoch noch die folgende Erläuterung hinzufügen, der 
ich ein Paar Definitionen voranschicken muss. ■ — 
Neigung ist jede stärkere Empfänglichkeit des Willens 
für Motive einer gewissen Art. Leidenschaft ist eine 
so starke Neigung, dass die sie anregenden Motive 
eine Gewalt über den Willen ausüben, welche stär- 
ker ist, als die jedes möglichen, ihnen entgegenwir- 
kenden Motivs, wodurch ihre Herrschaft über den 
Willen eine absolute wird, dieser folglich gegen sie 
sich passiv, leidend verhält. Hiebei ist jedoch zu be- 
merken, dass Leidenschaften den Grad, wo sie der Defi- 
nition vollkommen entsprechen, selten erreichen, viel- 
mehr als blosse Approximationen zu demselben ihren 
Namen führen; daher es alsdann doch noch Gegen- 
motive giebt, die ihre Wirkung allenfalls zu hemmen 
vermögen, wenn sie nur deutlich ins Bewusstseyn tre- 
ten. Tiev Affekt ist eine eben so unwiderstehliche, je- 
doch nur vorübergehende Erregung des Willens, 
761 
durch ein Motiv, welche seine Gewalt nicht durch 
eine tief wurzelnde Nei{jung, sondern bloss dadurch 
erhält, dass es, plötzlich eintretend, die Gejjenwirkunjj 
aller andern Motive, für den Augenblick, ausschliesst, 
indem es in einer Vorstellung besteht, die, durch ihre 
übermässige Lebhaftigkeit, die andern völlig verdun- 
kelt, oder gleichsam durch ihre zu grosse Nähe sie 
ganz verdeckt, so dass sie nicht ins Bewnisstsevn tre- 
ten und auf den Willen wirken können, wodurch 
daher die Fähigkeit der Ueberlegung imd damit die 
intellektuelle Freiheit*) in gewissem Grade aufgehoben 
wird. Demnach verhält sich der Affekt zur Leiden- 
schaft wie die Fieberphantasie zum Wahnsinn. 
Eine moralische Reue ist nun dadurch bedingt, dass, 
vor der That, die Neigung zu dieser dem Intellekt 
nicht freien Spielraum liess, indem sie ibm nicht ge- 
stattete, die ihr entgegenstehenden Motive deutlich 
und vollständig ins Auge zu fassen, vielmehr ihn im- 
mer wieder auf die zu ihr auffordernden hinlenkte. 
Diese nun aber sind, nach vollbrachter That, durch 
diese selbst neutralisirt, mithin unwirksam geworden. 
Jetzt bringt die Wirklichkeit die entgegenstehenden 
Motive, als bereits eingetretene Folgen der That, vor 
den Intellekt, der nunmehr erkennt, dass sie die stär- 
kern gewesen wären, wenn er sie nur gehörig ins 
Auge gefasst und erwogen hätte. Der Mensch wird 
also inne, dass er gethan hat, was seinem Willen eigent- 
lich nicht gemäss war: diese Erkenntniss ist die Reue. 
Denn er hat nicht mit völliger intellektueller Frei- 
heit gehandelt, indem nicht alle Motive zur Wirksam- 
keit gelangten. Was die der That entgegenstehenden 
ausschloss, war, bei der übereilten, der Affekt, bei der 
überlegten, die Leidenschaft. Oft hat es auch daran 
gelegen, dass seine Vernunft ihm die (iegenmotive 
zwar in abstracto vorhielt, aber nicht von einer hin- 
länglich starken Phantasie unterstützt w urde, die ihm 
den vollen Gebalt und die wahre Bedeutung dersel- 
ben in Bildern vorgehalten hätte. Beispiele zu dem 
Gesagten sind die Fälle, wo Rachsucht, Eifersucht, 
*) Diese ist erörtert im An]ian{; zu meiner PreisseliriFt über 
die Freiheit des Willens. 
762 
Habsucht zum Morde riethen: nachdem er vollbracht 
ist, sind diese erloschen, und jetzt erheben Gerechtig- 
keit, Mitleid, Erinnerung früherer Freundschaft, ihre 
Stimme, und sagen Alles, was sie vorhin gesagt ha- 
ben würden, wenn man sie hätte zum Worte kom- 
men lassen. Da tritt die bittere Reue ein, welche 
spricht: „War' es nicht geschehen, es geschähe nim- 
mermehr." Eine unvergleichliche Darstellung dersel- 
ben liefert die berühmte, alte Schottische, auch von 
He?-der übersetzte Ballade: „Edward, Edward!" — 
Auf analoge Art kann die Vernachlässigung des eige- 
nen Wohls eine egoistische Reue herbeiführen: z. B. 
wann eine übrigens unrathsame Ehe geschlossen ist, 
in Folge verliebter Leidenschaft, welche jetzt eben 
dadurch erlischt, wonach nun erst die Gegenmotive 
des persönlichen Interesses, der verlorenen Unab- 
hängigkeit u. s. w. ins Bewusstseyn treten und so re- 
den, wie sie vorher geredet haben würden, wenn man 
sie hätte zum Worte kommen lassen. — Alle der- 
gleichen Handlungen entspringen demnach im Grun- 
de aus einer relativen Schwäche des Intellekts, sofern 
nämlich dieser sich vom Willen da übermeistern lässt, 
wo er, ohne sich von ihm stören zu lassen, seine Funk- 
tion des Vorhaltens der Motive hätte unerbittlich voll- 
ziehen sollen. Die Vehemenz des Willens ist dabei 
nur mittelbar die Ursache, sofern sie nämlich den In- 
tellekt hemmt und dadurch sich Reue bereitet. — Die 
der Leidenschaftlichkeit entgegengesetzte Vernünftig- 
keit Ae?, Charakters, aoucppooovir], besteht eigentlich dar- 
in, dass der Wille nie den Intellekt dei'maassen über- 
wältigt, dass er ihn verhindere, seine Fvmktion der 
deutlichen, vollständigen und klaren Darlegung der 
Motive, in abstracto für die Vernunft, in concreto für 
die Phantasie, richtig auszuüben. Dies kann nun so- 
wohl auf der Massigkeit und Gelindigkeit des Wil- 
lens, als auf der Stärke des Intellekts beruhen. Es ist 
nur erfordert, dass der letztere relativ^ für den vor- 
handenen Willen, stark genug sei, also Beide im an- 
gemessenen Verhältniss zu einander stehen. — 
Den, §. 62 des ersten Bandes, wie auch in der Preis- 
schrift über die Grundlage der Moral, §. 17, darge- 
763 
legten Grundzüfjen der Rechtslehre sind noch folgende 
Erläuterungen beizufügen. 
Die, welche, mit Spinoza, leugnen, dass es ausser 
dein Staat ein Recht {;ehe, verwechseln die Mittel, das 
Recht geltend zu machen, mit dem Rechte. Des 
Schutzes ist das Recht freilich nur im Staat versichert, 
aber es selbst ist von diesem unabhängig vorhanden. 
Denn durch Gewalt kann es bloss unterdrückt, nie 
aufgehoben werden. Demgemäss ist der Staat nichts 
weiter als eine Schutzanstalt, nothwendig geworden 
diuch die mannigfachen Angriffe, welchen der Mensch 
ausgesetzt ist und die er nicht einzeln, sondern nur 
im Verein mit Andern abzuwehren vermag. Sonach 
bezweckt der Staat: 
i) Zuvörderst Schutz nach Aussen, welcher nöthig 
werden kann sowohl gegen leblose Naturkräfte, oder 
auch wilde Thiere, als gegen Menschen, mithin gegen 
andere Völkerschaften; wiewohl dieser Fall der häu- 
figste und wichtigste ist: denn der schlimmste Feind 
des Menschen ist der Mensch: homo homini lupus. 
Indem, in Folge dieses Zwecks, die Völker den Grund- 
satz, stets nur defensiv, nie aggressiv gegen einander 
sich verhalten zu wollen, mit Worten, wenn auch 
nicht mit der Tliat, aufstellen, erkennen sie das Pöl- 
kerrecht. Dieses ist im Grunde nichts Anderes, als das 
Naturrecht, auf dem ihm allein gebliebenen Gebiet 
seiner praktischen W^irksamkeit, nämlich zwischen 
Volk und Volk, als wo es allein walten muss, weil 
sein stärkerer Sohn, das positive Recht, da es eines 
Richters und Vollstreckers bedarf, nicht sich geltend 
machen kann. Demfjemäss besteht dasselbe in einem 
{jewissen Grad von Moralität im Verkehr der Völker 
mit einander, dessen Aufrechthaltung Ehrensache der 
Menschheit ist. Der Richterstuhl der Processe auf 
Grund desselben ist die öffentliche Meinung. 
2) Schutz nach Innen, also Schutz der Mitglieder 
eines Staates gegen einander, mithin Sicherung des 
Pjivatiechts, mittelst Aufrechthaltung eines rechtli- 
chen Zustandes, Avelcher darin besteht, dass die kon- 
centrirten Kräfte Aller jeden Einzelnen schützen, wor- 
aus ein Phänomen hervorgeht, als ob Alle rechtlich, 
764 
d. h. gerecht wären, also Keiner den Andern ver- 
letzen wollte. 
Aber, wie durchgängig in menschlichen Dingen 
die Beseitigung eines Uebels einem neuen den Weg zu 
eröffnen pflegt; so führt die Gewährung jenes zwie- 
fachen Schutzes das Bedürfniss eines dritten herbei, 
nämlich : 
3) Schutz gegen den Beschützer, d. h. gegen den, 
oder Die, welchen die Gesellschaft die Handhabung 
des Schutzes übertragen hat, also Sicherstellung des 
öffentlichen Rechtes. Diese scheint am vollkommen- 
sten dadurch erreichbar, dass man die Dreieinigkeit 
der schützenden Macht, also die Legislative, die Ju- 
dikative imd die Exekutive von einander sondert und 
trennt, so dass jede von Andern und vmabhängig von 
den übrigen verwaltet wird. — Der grosse Werth, ja 
die Grundidee des Königthums scheint mir darin zu 
liegen, dass, weil Menschen Menschen bleiben. Einer 
so hoch gestellt, ihm so viel Macht, Reichthum, Si- 
cherheit und absolute Unverletzlichkeit gegeben wer- 
den muss, dass ihm für sich nichts zu wünschen, zu 
hoffen und zu fürchten bleibt; wodurch der ihm, wie 
Jedem, einwohnende Egoismus, gleichsam durch Neu- 
tralisation, vernichtet wird, und er nun, gleich als 
wäre er kein Mensch, befähigt ist, Gerechtigkeit zu 
üben und nicht mehr sein, sondern allein das öffent- 
liche Wohl im Auge zu haben. Dies ist der Ursprung 
des gleichsam übermenschlichen Wesens, welches 
überall die Königswürde begleitet und sie so him- 
melweit von der blossen Präsidentur unterscheidet. 
Daher muss sie auch erblich, nicht wählbar seyn: 
theils damit Keiner im König seines Gleichen sehen 
könne; theils damit dieser für seine Nachkommen 
nur dadurch sorgen kann, dass er für das Wohl des 
Staates sorgt, als welches mit dem seiner Familie ganz 
Eines ist. 
Wenn man dem Staat, ausser dem hier dargelegten 
Zweck des Schutzes, noch andere andichtet; so kann 
dies leicht den wahren in Gefahr setzen. 
Das Eigenthumsrecht entsteht, nach meiner Dar- 
stellung, allein durch die Bearbeitung der Dinge. 
765 
Diese schon oft ausgesprochene Wahrheit findet eine 
heachtenswerthe Bestäiigung darin, dass sie sogar in 
praktischer Hinsicht gehend gemacht wird, in einei' 
Aeusserung des Nordanierikanischen Kx-Priisidenten 
Quincy Adams^ wek^he zu finden ist in der Quarterly 
Review, v. 1840, Nr. i3o, wie auch, Französisch, 
in der IJibhothcVpie universelle de Geneve 1840, Ju- 
illet, No. 55. hh will sie hier Deutsch wiedergeben: 
„Einige Moralisten haben das Recht der Europäer, 
in den Landstrichen der Amerikanischen Urvölker 
sich niederzulassen, in Zweifel gezogen. Aber haben 
sie die Furage reiflich erwogen? In Bezug auf den 
grössten Theil des Landes, beruht das Eigenthums- 
recht der Indianer selbst auf einer zweifelhaften 
Grundlage. Allerdings würde das Naturrecht ihnen 
ihre angebauten Felder, ihre Wohngebäude, hinrei- 
chendes Land für ihren Unterhalt und Alles, was 
persönliche Arbeit einem Jeden noch ausserdem ver- 
schafft hätte, zusichern. Aber welches Recht hat der 
Jäger auf den weiten Wald, den er, seine Beute ver- 
folgend, zufällig durchlaufen hat?" u. s. f. — Eben 
so haben Die, welche in unsern Tagen sich veran- 
lasst sahen, den Kommunismus mit Gründen zu be- 
kämpfen (z. B. der Erzbiscbof von Paris, in einem 
Hirtenbriefe, im Juni i85i), stets das Argument vor- 
angestellt, dass das Eigenthum der Ertrag der Arbeit, 
gleichsam nur die verkörperte Arbeit sei. — Dies be- 
weist abermals, dass das Eigenthumsrecht allein 
durch die auf die Dinge verwendete Arbeit zu be- 
gründen ist, indem es nur in dieser Eigenschaft freie 
Anerkennung findet und sich moralisch geltend 
macht. 
Einen ganz anderartigen Beleg der selben Wahr- 
heit liefert die moralische Thatsache, dass, während 
das Gesetz die Wilddieberei eben so schwer, in man- 
chen Ländern sogar noch schwerer, als den Gelddieb- 
stahl bestraft, dennoch die bürgerliche Ehre, welche 
durch diesen unwiderbringlich verloren geht, durch 
jene eigentlich nicht verwirkt wird, sondern der ,, Wil- 
derer", sofern er nichts Anderes sich hat zu Schul- 
den kommen lassen, zwar mit einem Makel behaftet 
766 
ist, aber doch nicht, wie der Dieb, als unehrhch be- 
trachtet und von Allen gemieden wird. Denn die 
(jrundsätze der bürgerlichen Ehre beruhen auf dem 
moralischen und nicht auf dem bloss positiven Recht: 
das Wild aber ist kein Gegenstand der Bearbeitung, 
also auch nicht des moralisch gültigen Besitzes: das 
Recht darauf ist daher gänzlich ein positives und 
wird moralisch nicht anerkannt. 
Dem Strafrecht sollte, nach meiner Ansicht, das 
Princip zum Grunde liegen, dass eigentlich nicht der 
Mensch, sondern nur die That gestraft wird, damit sie 
nicht wiederkehre: der Verbrecher ist bloss der Stoff, 
an dem die That gestraft wird; damit dem Gesetze, 
welchem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzu- 
schrecken bleibe. Dies bedeutet der Ausdruck; „Er 
ist dem Gesetze verfallen." Nach Kants Darstellung, 
die auf ein jus talionis hinausläuft, ist es nicht die 
That, sondern der Mensch, welcher gestraft wird. 
— Auch das Pönitentiarsystem will nicht sowohl 
die That, als den Menschen strafen, damit er näm- 
lich sich bessere : dadurch setzt es den eigentlichen 
Zweck der Strafe, Abschreckung von der That, zu- 
rück, um den sehr problematischen der Besserung zu 
erreichen. Ueberall aber ist es eine missliche Sache, 
durch ein Mittel zwei verschiedene Zwecke erreichen 
zu wollen; wie viel mehr, wenn beide, in irgend ei- 
nem Sinne, entgegengesetzte sind. Erziehung ist eine 
Wohlthat, Strafe soll ein üebel seyn: das Pöniten- 
tiargefängniss soll Beides zugleich leisten. — So gross 
ferner auch der Antheil seyn mag, den Rohheit und 
Unwissenheit, im Verein mit der äussern Bedräng- 
niss an vielen Verbrechen haben; so darf man jene 
doch nicht als die Hauptursache derselben betrach- 
ten; indem Unzählige in derselben Rohheit und unter 
ganz ähnlichen Umständen lebend, keine Verbrechen 
begehen. Die Hauptsache fiillt also doch auf den per- 
sönlichen, moralischen Charakter zurück : dieser aber 
ist, wie ich in der Preisschrift über die Freiheit des 
Willens dargethan habe, schlechterdings unveränder- 
lich. Daher ist eigentliche moralische Besserung gar 
nicht möglich; sondern nur Abschreckung von der 
767 
Tliat. Daneben lässt sich Berichtigung der Erkennt- 
niss und Erweckung der Arheitshist allerdings errei- 
chen: es wird sich zeigen, wie weit dies wirken kann. 
Lleberdies erhellt aus dem von mir im Text aufge- 
stellten Zweck der Strafe, dass, wo möglich, das 
scheinbare Leiden derselben das wirkliche überstei- 
gen solle: die einsame Einsperrung leistet aber das 
Umgekehrte. Die grosse Pein derselben hat keine 
Zeugen und wird von Dem, der sie noch nicht erfah- 
ren hat, keineswegs anticipirt, schreckt also nicht ab. 
Sie bedroht den durch Mangel und Noth zum Ver- 
brechen Versuchten mit dem entgegengesetzten Pol 
des menschlichen Elends, mit der Langenweile: aber, 
wie Goethe richtig bemerkt: 
Wird uns eine rechte Quaal zu Theil, 
Dann wünschen wir uns Langeweil. 
Die Aussicht darauf wird ihn daher so wenig ab- 
schrecken, wie der Anblick der palastartigen Gefäng- 
nisse, welche von den ehrlichen Leuten für die Spitz- 
buben erbaut werden. Will man aber diese Pöniten- 
tiargefängnisse als Erziehungsanstalten betrachten; 
so ist zu bedauern, dass der Eintritt dazu nur durch 
Verbrechen erlangt wird; statt dass sie hätten diesen 
zuvorkommen sollen. — 
Dass, wie Beccaria gelehrt hat, die Strafe ein rich- 
tiges Verhältniss zum Verbrechen haben soll, beruht 
nicht darauf, dass sie eine Busse für dasselbe wäre ; 
sondern darauf, dass das Pfand dem Werthe Dessen, 
wofür es haftet, angemessen seyn muss. Daher ist Je- 
der berechtigt, als Garantie der Sicherheit seines Le- 
bens fremdes Leben zum Pfände zu fordern; nicht 
aber eben so für die Sicherheit seines Eigenthums, 
als für welches fremde Freiheit u. s. w. Pfand genug 
ist. Zur Sicherstellung des Lebens der Bürger ist da- 
her die Todesstrafe schlechterdings nothwendig. De- 
nen, welche sie aufheben möchten, ist zu antworten: 
„schafft erst den Mord aus der Welt: dann soll die 
Todesstrafe nachfolgen". Auch sollte sie den ent- 
schiedenen Mordversuch eben so wie den Mord selbst 
treffen: denn das (»esetz will die That strafen, nicht 
768 
den Erfolg rächen. Ueberhaupt giebt der zu verhü- 
tende Schaden den richtigen Maassstab für die anzu- 
drohende Strafe, nicht aber giebt ihn der inorahsche 
Unwerth der verbotenen Handhing. Daher kann das 
Gesetz, mit Recht, auf das F'allenlassen eines Bhimen- 
topfes vom Fenster Zuchthausstrafe, auf das Tabak- 
rauchen im Walde, während des Sommers, Karren- 
strafe setzen, dasselbe jedoch im Winter erlaubt 
seyn lassen. Aber, wie in Polen, auf das Schiessen 
eines Auerochsen den Tod zu setzen, ist zu viel, da 
die Erhaltung des Geschlechts der Auerochsen nicht 
mit Menschenleben erkauft werden darf. Neben der 
Grösse des zu verhütenden Schadens kommt, bei Be- 
stimmung des Maasses der Strafe, die Stärke der zur 
verbotenen Handlung antreibenden Motive in Be- 
tracht. Ein ganz anderer Maassstab würde für die 
Strafe gelten, wenn Busse, Vergeltung, jus talionis, 
der wahre Grund derselben wäre. Aber der Kriminal- 
kodex soll nichts Anderes seyn, als ein Verzeichniss 
von Gegen niotiven zu möglichen verbrecherischen 
Handlungen: daher muss jedes derselben die Motive 
zu diesen letzteren entschieden überwiegen, und zwar 
um so mehr, je grösser der Nachtheil ist, welcher 
aus der zu verhütenden Handlung entspringen wür- 
de, je stärker die Versuchung dazu und je schwieri- 
ger die Ueberführung desThäters; — stets unter der 
richtigen Voraussetzung, dass der Wille nicht frei, 
sondern durch Motive bestimmbar ist; — ausserdem 
ihm gar nicht beizukommen wäre. Soviel zur Rechts- 
lehre. — 
In meiner Preisschrift über die Freiheit des Wil- 
lens habe ich (S. 5o ff.) die Ursprünglichkeit und 
Un Veränderlichkeit des angeborenen Charakters, aus 
welchem der moralische Gehalt des Lebenswandels 
hervorgeht, nachgewiesen. Sie steht als Thatsache 
fest. Aber um die Probleme in ihrer Grösse zu 
erfassen, ist es nöthig, die Gegensätze bisweilen 
hart an einander zu stellen. An diesen also ver- 
gegenwärtige man sich, wie unglaublich gross der 
angeborene Unterschied zwischen Mensch und Mensch 
ausfällt, im Moralischen und im Intellektuellen. Hier 
49 Schopenhauer II 7 9 
Edelmuth und Weisheit; dort Bosheit und Dumm- 
heit. Dem Einen leuchtet die Güte des Herzens aus 
den Augen, oder auch der Stämpel des Genies thront 
auf seinem AntHtz. Der niedertrachtigen Physiogno- 
mie eines Andern ist das Gepräge morahscher Nichts- 
^vürdigkeit und intellektueller Stumpfheit, von den 
Händen der Natur selbst, unverkennbar und unaus- 
löschlich aufgedrückt: er sieht darein, als müsste er 
sich seines Daseyns schämen. Diesem Aeussern aber 
entspricht wirklich das Innere. Unmöglich können 
wir annehmen, dass solche Unterschiede, die das 
ganze Wesen des Menschen umgestalten und durch 
nichts aufzuheben sind, welche ferner, im Konflikt 
mit den Umständen, seinen Lebenslauf bestimmen, 
ohne Schuld oder Verdienst der damit Behafteten 
vorhanden seyn könnten und das blosse Werk des 
Zufalls wären. Schon hieraus ist evident, dass der 
Mensch, in gewissem Sinne, sein eigenes Werk seyn 
muss. INun aber können wir andererseits den Ur- 
sprung jener Unterschiede empirisch nachweisen in 
der Beschaffenheit der Eltern ; und noch dazu ist das 
Zusammentreffen und die Verbindung dieser Eltern 
offenbar das Werk höchst zufälliger Umstände ge- 
wesen. — Durch solche Betrachtungen nun werden 
wir mächtig hingewiesen auf den Unterschied zwi- 
schen der Erscheinung und dem Wesen an sich der 
Dinge, als welcher allein die Lösung jenes Problems 
enthalten kann. Nur mittelst der Formen der Er- 
scheinung offenbart sich das Ding an sich: was daher 
aus diesem selbst hervorgeht, muss dennoch in jenen 
Formen, also auch am Bande der Ursächlichkeit auf- 
treten: demzufolge wird es hier sich uns darstellen 
als das Werk einer geheimen, uns unbegreiflichen 
Leitung der Dinge, deren blosses Werkzeug der äus- 
sere, erfahrungsmässige Zusammenhang wäre, in 
welchem inzwischen Alles was geschieht durch Ur- 
sachen herbeigeführt, also nothwendig und von aus- 
sen bestimmt eintritt, während der wahre Grund da- 
von im Innern des also erscheinenden Wesens liegt. 
Freilich können wir hier die Lösung des Problems 
nur ganz von Weitem absehen, und gerathen, indem 
770 
wir ihm nachdenken, in einen Abgrund von Gedan- 
ken, recht eigendich, wie Hamlet sagt, thougths bey- 
ond the reaches of our souls. Ueber diese geheime, 
ja selbst nur gleichnissweise zu denkende Leitung der 
Dinge habe ich meine Gedanken dargelegt in dem 
Aufsatz „über die anscheinende Absichtlichkeit im 
Schicksale des Einzelnen", im ersten Bande der Pa- 
rerga. — 
Im §. 1 4 meiner Preisschrift über die Grundlage der 
Moral findet man eine Darstellung des Egoismus, sei- 
nem Wesen nach, als deren Ergänzung folgender 
Versuch, seine Wurzel aufzudecken, zu betrachten ist. 
— Die Natur selbst widerspricht sich geradezu, je 
nachdem sie vom Einzelnen oder vom Allgemeinen 
aus, von Innen oder von Aussen, vom Centro oder 
von der Pei'ipherie aus redet. Ihr Gentrum nämlich 
hat sie in jedem Individuo: denn jedes ist der ganze 
Wille zum Leben. Daher, sei dasselbe auch nur ein 
Insekt, oder ein Wurm, die Natur selbst aus ihm also 
redet: „Ich allein bin Alles in Allem: an meiner Er- 
haltung ist Alles gelegen, das Uebrige mag zu Grun- 
de gehen, es ist eigentlich nichts." So redet die Natur 
vom besondern Standpunkte, also von dem des Selbst- 
bewusstseyns aus, und hierauf beruht der Egoismus 
jedes Lebenden. Hingegen vom allgemeinen Stand- 
punkt aus, — welches der des Bewusstsejns von an- 
dern Dingen, also der des objektiven Erkennens ist, 
das für den Augenblick absieht von dem Individuo, 
an dem die Erkenntniss haftet, — also von Aussen, 
von der Peripherie aus, redet die Natur so: „Das In- 
dividuum ist nichts und weniger als nichts. Millionen 
Individuen zerstöre ich tagtäglich, zum Spiel und 
Zeitvertreib: ich gebe ihr Geschick dem launigsten 
und muthwilligsten meiner Kinder preis, dem Zufall, 
der nach Belieben auf sie Jagd macht. Millionen 
neuer Individuen schaffe ich jeden Tag, ohne alle 
Verminderung meiner hervorbringenden Kraft; so 
wenig, wie die Kraft eines Spiegels erschöpft wird, 
durch die Zahl der Sonnenbilder, die er nach einan- 
der auf die Wand wirft. Das Individuum ist nichts." 
— Nur wer diesen offenbaren Widerspruch der Na- 
49* 11' 
tur wirklich zu vereinen und auszu{j;leichen weiss, 
hat eine wahre Antwort auf die Frage nach der Ver- 
gänglichkeit oder Unverganghchkeit seines eigenen 
Seihst. Ich glauhe in den ersten vier Kapitehi dieses 
vierten Buches der Ergänzungen eine fiirderHche An- 
leitung zu solcher Erkenntniss gegehen zu hahen. Das 
Ohige lässt übrigens sich auch Folgenderinaassen erläu- 
tern. Jedes Individuum, indem es nach Innen blickt, er- 
kennt in seinem Wesen, welches sein Wille ist, das Ding 
an sich, daher das überall allein Reale. Demnach erfasst 
es sich als den Kern und Mittelpunkt der Welt, und hn- 
det sich unendlich wichtig. Blickt es hingegen nach 
Aussen; so ist es auf dem Gebiete der Vorstellung, der 
blossen Erscheinung, wo es sich sieht als ein Indivi- 
duum unter unendlich vielen Individuen, sonach als 
ein höchst Unbedeutendes, ja gänzlich Verschwinden- 
des. Folglich ist jedes, auch das unbedeutendeste In- 
dividuum, jedes Ich, von Innen gesehen, Alles in Al- 
lem; von Aussen gesehen hingegen, ist es nichts, oder 
doch so viel wie nichts. Hieraufalsoberuht der grosse 
Unterschied zwischen Dem, was nothwendig Jeder 
in seinen eigenen Augen, und Dem, was er in den 
Augen aller Andern ist, mithin der Egoismus, den Je- 
der Jedem vorwirft. — 
In Folge dieses Egoismus ist unser Aller Grund- 
irrthum dieser, dass wir einander gegenseitig INicht- 
Ich sind. Hingegen ist gerecht, edel, menschenlVeund- 
lich seyn, nichts Anderes, als meine Metaphysik in 
Handlungen übersetzen. — Sagen, dass Zeit und 
Kaum blosse Formen unserer Erkenntniss, nicht Be- 
stimnumgen der Dinge an sich sind, ist das Selbe, 
wie sagen, dass die Metempsychosenlehre, „Du wirst 
einst als Der, den du jetzt verletzest, wiedergeboren 
werden und die gleiche Verletzung erleiden", iden- 
tisch ist mit der oft erwähnten Brahmanenformel Tat 
twam asi, „Dies bist Du". — Aus der unmittelbaren 
und intuitiven Erkenntniss der metaphysischen Iden- 
tität aller Wesen geht, wie ich öfter, besonders §.22 
der Preisschrift über die Grundl. der Moral, gezeigt 
habe, alle ächte Tugend hervor. Sie ist aber deswegen 
nicht die Folge einer besondern Ueberlegenheit des 
772 
Intellekts; vielmehr ist selbst der schwächste hinrei- 
chend, das principinmindividnationiszudun'hschaiien, 
als worauf es dabei ankommt. Demfjemäss kann man 
den vortrefflichsten Charakter sogar bei einem schwa- 
chen Verstände finden, und ist ferner die Erregung 
unsers Mitleids von keiner Anstrengung unsers In- 
tellekts begleitet. Es scheint vielmehr, dass die erfor- 
derte Durchschauung des principii individuationis in 
Jedem vorhanden seyn würde, wenn nicht sein Wille 
sich ihr widersetzte, als welcher, vermöge seines un- 
mittelbaren, geheimen und despotischen Einflusses 
auf den Intellekt, sie meistens nicht aufkommen lässt; 
so dass alle Schuld zuletzt doch auf den fVülen zurück- 
fällt; wie es auch der Sache angemessen ist. 
Die oben berührte Lehre von der Mete m psych ose 
entfernt sich bloss dadurch von der Wahrheit, dass 
sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist. Sie lässt 
nämlich mein inneres Wesen an sich selbst erst nach 
meinem Tode in Andern daseyn, während, der Wahr- 
heit nach, es schon jetzt auch in ihnen lebt, und der 
Tod bloss die Täuschung, vermöge deren ich dessen 
nicht inne werde, aufhebt; gleichwie das zahllose 
Heer der Sterne allezeit über unserm Flaupte leuchtet, 
aber uns erst sichtbar wird, wann die eine nahe Erden- 
sonne untergegangen ist. Von diesem Standpunkt aus 
erscheint meine individuelle Existenz, so sehr sie auch, 
jener Sonne gleich, mir Alles überstrahlt, im Grunde 
doch nur als ein Hinderniss, welches zwischen mir 
und der Erkenntniss des wahren ümfangs meines 
Wesens steht. Und weil jedes Individuum, in seiner 
Erkenntniss, diesem Hindernisse unterliegt; so ist es 
eben die Individuation, Avelche den Willen zum licben 
über sein eigenes Wesen im Irrthum erhält: sie ist 
die Maja des Brahmanismus. Der Tod ist eine Wider- 
legung dieses Irrthnms und hebt ihn auf. Ich glaube, 
wir werden im Augenblicke des Sterbens inne, dass 
eine blosse Täuschung unser Daseyn auf unsere Person 
beschränkt hatte. Sogar empirische Spuren hievon 
lassen sich nachweisen in manchen dem Tode, durch 
Aufhebung der Koncentration des Bewusstseyn im 
Gehirn, verwandten Zuständen, unter denen der mag- 
773 
netische Schlaf der hervorstechendeste ist, als in wel- 
chem, wenn er die höheren Grade erreicht, unser 
Daseyn, über unsere Person hinaus und in andern 
Wesen, sich durch mancherlei vSymptome kund {jiebt, 
am auffallendesten durch unmittelbare Theilnahme 
an den Gedanken eines andern Individuums, zuletzt 
sogar durch die Fähigkeit, das Abwesende, Entfernte, 
ja, das Zukünftige zu erkennen, also durch eine Art 
von Allgegenwart. 
Auf dieser metaphysischen Identität des Willens, 
als des Dinges an sich, bei der zahllosen Vielheit seiner 
Erscheinungen, beruhen überhaupt drei Phänomene, 
welche man unter den gemeinsamen Begriff der »9)'m- 
pathie bringen kann: i) das Mitleid., welches, wie ich 
dargethan habe, die Basis der Gerechtigkeit und Men- 
schenliebe, Caritas, ist: 2) die Geschlechtsliebe mit eigen- 
sinniger Auswahl, amor, welche das Leben der Gat- 
tung ist, das seinen Vorrang vor dem der Individuen 
geltend macht; 3) dieMflt<7/e, zu welcher auch der ani- 
malische Magnetismus und die sympathetischen Kuren 
gehören. Demnach ist Sympathie zu definiren: das 
empirische Hervortreten der metaphysischen Identität 
des Willens, durch die physische Vielheit seiner Er- 
scheinungen hindurch, wodurch sich ein Zusammen- 
hang kund giebt, der gänzlich verschieden ist von 
dem durch die Formen der Erscheinung vermittelten, 
den wir unter dem Satze vom Grunde begreifen. 
KAPITEL 48*) 
zun LEHRE VOIS DER VERNEINUNG DES 
WILLENS ZUM LEBEN. 
DER Mensch hat sein Daseyn und Wesen entweder 
»//■/seinem Willen, d. h. seiner Einwilli{jung, oder 
ohne diese: im letztern I'alle wäre eine solche, durch 
*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 68 des ersten Kandes. 
[S. ^üü (I. A.] Auch ist damit zu vergleichen Kap. 14 des 
zweiten Bandes der Parerga. 
774 
vielfache und unausbleibliche Leiden verbitterte Exi- 
stenz eine schreiende Ungerechtigkeit. — Die Alten, 
namentlich die Stoiker, auch die Peripatetiker und 
Akademiker, bemühten sich vergeblich, zu beweisen, 
dass die Tugend hinreiche, das Leben glücklich zu 
machen: die Erfahrung schrie laut dagegen. Was dem 
Bemühen jener Philosophen, wenn gleich ihnen nicht 
deutlich bewusst, eigentlich zum Grunde lag, war die 
vorausgesetzte Gerechtigkeit der Sache: wer schuldlos 
war, sollte auch frei von Leiden, also glücklich seyn. 
Allein die ernstliche und tiefe Lösung des Problems 
liegt in der christlichen Lehre, dass die Werke nicht 
rechtfertigen; demnach ein Mensch, wenn er auch 
alle Gerechtigkeit und Menschenliebe, mithin das 
ayadov, honestum, ausgeübt hat, dennoch nicht, wie 
Cicero meint, culpa omni carens (Tusc. V, i) ist: son- 
dern el delito mayor del hombre es haber nacido (des 
Menschen grösste Schuld ist, dass er geboren ward), 
wie es, aus viel tieferer Erkenntniss, als jene Weisen, 
der durch das Christenthum erleuchtete Dichter Cal- 
deron ausgedrückt hat, Dass demnach der Mensch 
schon verschuldet auf die Welt kommt, kann nur 
Dem widersinnig erscheinen, der ihn für erst soeben 
aus Nichts geworden und für das Werk eines Andern 
hält. In Folge dieser Schuld also, die daher von seinem 
Willen ausgegangen seyn muss, bleibt der Mensch, 
mit Recht, auch wenn er alle jene Tugenden geübt 
hat, den physischen und geistigen Leiden preisgegeben, 
ist also nicht glücklich. Dies folgt aus der eivigen Ge- 
rechtigkeit^ von der ich §. 63 des ersten Bandes geredet 
habe. Dass aber, wie St. Paulus (Rom. 3, 21 ff.), Jlu- 
gustimis und Luther lehren, die Werke nicht recht- 
fertigen können, indem wir Alle wesentlich Sünder 
sind und bleiben, — beruht zuletzt darauf, dass, weil 
operari sequitur esse, wenn wir handelten, wie wir 
sollten, wir auch seyn müssten, was wir sollten. Dann 
aber bedürften wir keiner Erlösung aus unserm jetzigen 
Zustande, wie solche nicht nur das Christenthum, 
sondern auch Brahmanismus und Buddhaismus (unter 
dem auf Englisch durch tinal emancipation ausge- 
drückten Namen) als das höchste Ziel darstellen: d. h. 
775 
wir brauchten nicht etwas ganz Anderes, ja, Dem was 
wir sind Entge^^enjjesetzes, zu werden. Weil wir aber 
sind, was wir nicht seyn sollten, thun wir auch noth- 
wendig was wir nicht thun sollten. Darum also be- 
dürfen wir einer völlij^en llmgestaltun{> unsers Sinnes 
und Wesens, d. i. der Wiedergeburt, als deren Folge 
die Erlösung eintritt. Wenn auch die Schuld im Han- 
deln, im operari, liegt; so liegt do(h die Wurzel der 
Schuld in unserer essentia et existentia, da aus dieser 
das operari nothwendig hervorgeht, wie ich in der 
Preisschrift über die Freiheit des Willens dargethan 
habe. Demnach ist eigentlich unsere einzige wahre 
Sünde die Erbsünde. Diese nun lässt der Christliche 
Mythos zwar erst, nachdem der Mensch schon dawar, 
entstehen, imd dichtet ihm dazu, perimpossibile, einen 
freien Willen an: dies thut er aber eben als Mythos. 
Der innerste Kern und Geist des Christenthums ist 
mit dem des Brahmanismus und Buddhaismus der 
selbe: sämmtlich lehren sie eine schwere Verschuldung 
des Menschengeschlechts durch sein Daseyn selbst; 
nur dass das Christenthum hiebei nicht, wie jene äl- 
teren Glaubenslehren, direkt und unumwunden ver- 
fahrt, also nicht die Schuld geradezu durch das Daseyn 
selbst gesetzt seyn, sondern sie durch eine That des 
ersten Menschenpaares entstehen lässt. Dies war nur 
unter der Fiktion eines liberi arbitrii indifferentiae 
möglich, und nur wegen des Jüdischen Grunddogmas, 
dem jene Lehre hier eingepflanzt werden sollte, nöthig. 
Weil, der Wahrheit nach, eben das Entstehen des 
Menschen selbst die That seines freien Willens imd 
demnach mit dem Sündenfall Eins ist, vmd daher mit 
der essentia und existentia des Menschen die Erbsünde, 
von der alle andern Sünden die Folge sind, schon ein- 
trat, das Jüdische Grunddogma aber eine solche Dar- 
stelhuig nicht zuliess; so lehrte yiuguatinus, in seinen 
Büchern de libero arbitrio, dass der Mensch nur als 
Adam vor dem Sündenfalle schuldlos gewesen und 
einen freien Willen gehabt habe, von dem an aber 
in der Nothwendigkeit der Sünde verstrikt sei. — 
Das Gesetz, 6 vüixo?, im biblisc hen Sinn, fordert immer- 
fort, dass wir unser Thun ändern sollen, während 
776 
unser Wesen unverändert bliebe. Weil aber dies un- 
möjjlich ist; so sagt Pavfus, dass keiner vor dem Ge- 
setz gerechtfertigt sei : dieWiedergeburt in Jesu Christo 
allein, in Folge der Gnadenwirkung, vermöge welcher 
ein neuer Mensch entsteht und der alte aufgehoben 
wird (d. h. eine fundamentale Sinnesänderung), könne 
uns aus dem Zustande der Sündhaftigkeit in den der 
Freiheit und Erlösung versetzen. Dies ist der Christ- 
liche Mythos, in Hinsicht auf die Ethik. Aber freilich 
hat der Jüdische Theismus, auf den er gepfropft wurde, 
gar wundersame Zusätze erhalten müssen, um sich 
jenem Mythos anzufügen : dabei bot die Fabel vom 
Sündenfall die einzige Stelle dar für das Pfropfreis 
Alt-Indischen Stammes. Jener gewaltsam überwun- 
denen Schwierigkeit eben ist es zuzuschreiben, dass 
die Christlichen Mysterien ein so seltsames, dem ge- 
meinen Verstände widerstrebendes Ansehen erhalten 
haben, welches den Proselytismus erschwert, und 
wegen dessen, aus Unfähigkeit den tiefen Sinn der- 
selben zu fassen, der Pelagianismus, oder heutige Ra- 
tionalismus, sich gegen sie auflehnt und sie wegzu- 
exegesiren sucht, dadurch aber das Christenthum zum 
Judenthum zurückführt. 
Aber ohne Mythos zu reden: so lange unser Wille 
der selbe ist, kann unsere Welt keine andere seyn. 
Zwar wünschen Alle erlöst zu werden aus dem Zu- 
stande des Leidens und des Todes: sie möchten, wie 
man sagt, zur ewigen Säligkeit gelangen, ins Himmel- 
reich kommen; aber nur nicht auf eigenen Füssen; 
sondern hingetragen möchten sie werden, durch den 
Lauf der Natur. Allein das ist unmöglich. Daher wird 
sie zwar uns nie fallen und zu nichts werden lassen: 
aber sie kann uns nirgends hinbringen, als immer nur 
wieder in die Natur. Wie misslich es jedoch sei, als 
ein Theil der Natur zu existiren, erfährt Jeder an seinem 
eigenen Leben und Sterben. — Demnach ist aller- 
dings das Daseyn anzusehen als eine Verirrung, von 
welcher zurückzukommen Erlösung ist: auch trägt 
es durchweg diesen Charakter. In diesem Sinne wird 
es daher von den alten Samanäischen Religionen auf- 
gefasst, und auch, wiewohl mit einem Umschweif, 
777 
vom eigentlichen und ursprünglichen Christenthuin: 
sogar das .Tudenthum selbst enthält wenigstens im 
Sündenfall (dieser seiner redeeming feature) den Keim 
zu solcher Ansicht. Bloss das Griechische Heidenthum 
und der Islam sind ganz optimistisch; daher im Er- 
steren die entgegengesetzte Tendenz sich wenigstens 
im Trauerspiel Luft machen musste: im Jslam aber, 
der, wie die neueste, so auch die schlechteste aller 
Religionen ist, trat sie als Sußsmua auf, diese sehr 
schöne Erscheinung,welche durchaus Indischen Geistes 
und Ursprungs ist und jetzt schon über tausend Jahre 
fortbesteht. Als Zweck unsers Daseyns ist in derThat 
nichts Anderes anzugeben, als die Erkenntniss, dass 
wir besser nicht dawären. Dies aber ist die wichtigste 
aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden 
muss; so sehr sie auch mit der heutigen Europäischen 
Denkweise im Kontrast steht: ist sie doch dagegen im 
ganzen nicht-islamisirten Asien die anerkannteste 
Grundwahrheit, heute so gut, wie vor dreitausend 
Jahren. 
Wenn wir nun den Willen zum Leben im Ganzen 
und objektiv betrachten ; so haben wir, dem Gesagten 
gemäss, ihn uns zu denken als in einem ^''a/in begrif- 
fen, von welchem zurückzukommen, also sein ganzes 
vorhandenes Streben zu verneinen, Das ist, was die 
Religionen als die Selbstverleugnung, abnegatio sui 
ipsius, bezeichnen: denn das eigentliche Selbst ist der 
Wille zum Leben. Die moralischen Tugenden, also 
Gerechtigkeit und Menschenliebe, da sie, wie ich ge- 
zeigt habe, wenn lauter, daraus entspringen, dass der 
Wille zum Leben, das principium individuationis 
durchschauend, sich selbst in allen seinen Erscheinun- 
gen wiedererkennt, sind demzufolge zuvörderst ein 
Anzeichen, ein Symptom, dass der erscheinende Wille 
in jenem Wahn nicht mehr ganz fest befangen ist, 
sondern die Enttäuschung schon eintritt; so, dass man 
gleichnissweise sagen könnte, er schlage bereits mit 
den Flügeln, um davon zu Hiegen. Umgekehrt, sind 
Ungerechtigkeit, Bosheit, Grausamkeit, Anzeichen des 
Gegentheils, also der tiefsten Befangenheit in jenem 
Wahn. Nächstdem aber sind jene moralischen Tu- 
778 
genden ein Beförderungsmittel der Selbstverleugnung 
und demnach der Verneinung des Willens zum Leben. 
Denn die wahre Rechtschaffenheit, die unverbrüch- 
liche Gerechtigkeit, diese erste und wichtigste Kardi- 
naltugend, ist eine so schwere Aufgabe, dass, wer sich 
unbedingt und aus Herzensgrunde zu ihr bekennt, 
Opfer zu bringen hat, die dem Leben bald die Süsse, 
welche das Genügen an ihm erfordert, benehmen und 
dadurch den Willen von demselben abwenden, also 
zur Resignation leiten. Sind doch eben was die Recht- 
schaffenheit ehrwürdig macht die Opfer, welche sie 
kostet: in Kleinigkeiten wird sie nicht bewundert. 
Ihr Wesen besteht eigentlich darin, dass der Gerech- 
te die Lasten und Leiden, welche das Leben mit sich 
bringt, nicht, durch List oder Gewalt, auf Andere 
wälzt, wie es der Ungerechte thut, sondern selbst 
trägt, was ihm beschieden ist ; wodurch er die volle 
Last des dem Menschenleben aufgelegten Uebels im- 
vermindert zu tragen kekommt. Dadurch wird die 
Gerechtigkeit ein Beförderungsmittel der Verneinung 
des W^illens zum Leben, indem Noth und Leiden, 
diese eigentliche Bestimmung des Menschenlebens, 
ihre Folge sind, diese aber zur Resignation hinleiten. 
Noch schneller führt allerdings die weiter gehende 
Tugend der Menschenliebe, Caritas, eben dahin: denn 
vermöge ihrer übernimmt man sogar die ursprüng- 
lich den Andern zugefallenen Leiden, eignet sich da- 
her von diesen einen grössern Theil an, als, nach dem 
Gange der Dinge, das eigene Individuum treffen 
würde. Wer von dieser Tugend beseelt ist, hat sein 
eigenes Wesen in jedem Andern wiedererkannt. Da- 
durch nun identificirt er sein eigenes Loos mit dem der 
Menschheit überhaupt: dieses nun aber ist ein har- 
tes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens. Wer 
also, indem er jedem zufälligen Vortheil entsagt, für 
sich kein anderes, als das Loos der Menschheit über- 
haupt will, kann auch dieses nicht lange mehr wol- 
len: die Anhänglichkeit an das Leben und seine Ge- 
nüsse muss jetzt bald weichen und einer allgemeinen 
Entsagung Platz machen : mithin wird die Vernei- 
nung des Willens eintreten. Weil nun diesem gemäss 
779 
Aniintb, Entbehrungen und eigenes Leiden vielfacher 
Art schon durch die vollkominenste Ausübung der 
morahschen Tugenden herbeigeführt werden, wird 
von Vielen, und vielleicht mit Recht, die Askese im 
allerengsten Sinne, also das Aufgeben jedes Eigen- 
thums, das absichtliche Aufsuchen des Unangeneh- 
men und Widerwärtigen, die Selbstpeinigung, das 
Fasten, das härene Hemd und die Kasteiung, als über- 
flüssig verworfen. Die Gerechtigkeit selbst ist das 
härene Hemd, welches dem Eigener stete Beschwerde 
bereitet, und die Menschenliebe, die das Nöthige weg- 
giebt, das immerwährende Fasten*). Eben deshalb 
ist der Biiddhaismus frei von jeder strengen und über- 
triebenen Askese, welche im Brahmanismus eine so 
grosse Rolle spielt, also von der absichtlichen Selbst- 
peinigung. Er lässt es bei dem Cölibat, der freiwilli- 
gen Armuth, Demuth und Gehorsam der Mönche 
und Enthaltung von thierischer Nahrung, wie auch 
von aller Weltlichkeit, bewenden. Weil ferner das 
Ziel, zu welchem die moralischen Tugenden führen, 
das hier nachgewiesene ist; so sagt die Vedantaphilo- 
sophie**) mit Recht, dass, nachdem die wahre Er- 
kenntniss und in ihrem Gefolge die gänzliche Resig- 
nation, also die Wiedergeburt, eingetreten ist, als- 
dann die Moralität oder Immoralität des früheren 
Wandels gleichgültig wird, und gebraucht auch hier 
wieder den von den Brahmanen so oft angeführten 
Spruch: Finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes 
*) Sofern man hingegen die Askese gelten iässt, wäre die in 
meiner Preisschrift über das Fundament der Moral gegebene 
Aufstellung der letzten Triebfedern des menschlichen Han- 
delns, nämlich i) eigenes Wohl, a) fremdes Wehe und 3) 
fremdes Wohl, noch <lnrch eine vierte zu ergänzen : eigenes 
Wehe: welches ich hier bloss im Interesse der systematischen 
Konsequenz beiläufig bemerke. Dort nändich musste, da die 
Preisfrage iiri Sinn der im protestantischen Europa gellenden 
philosophischen Kthik gestellt war, diese vierte Triebfeder 
stillsebweigend übergangen werden. 
*') Siehe F. H.H. Windischmann's Sancara, sive de theologu- 
menis Vedanticorum, p. ii6, i i 7 et i 3 i — 23: wie auch 
Oupnekhat, Vol. 1, p. 34o, 356, 36o. 
780 
dubitationes, ejusque opera evanescunt, viso supremo 
illo (Sancara, sJoca Sa). So anstössig nun diese An- 
sicht Manchen seyn mag, denen eine Belohnung im 
Himmel, oder Bestrafung in der Hölle, eine viel be- 
triedigendere Erklärung der ethischen Bedeutsamkeit 
des menschlichen Handelns ist, wie denn auch der 
gute fVindischmann jene Lehre, indem er sie darlegt, 
perhorrescirt, so wird doch, wer auf den Grund der 
Sachen zu gehen vermag, finden, dass dieselbe am 
Ende übereinstimmt init jener Christlichen, zumal 
von Luther urgirten, dass nicht die Werke, sondern 
nur der durch Gnadenwirkung eintretende Glaube 
sälig mache, und dass wir daher durch unser Thun 
nie gerechtfertigt werden können, sondern nur ver- 
möge der Verdienste des Mittlers Vergebung der Sün- 
den erlangen. Es ist sogar leicht abzusehen, dass, 
ohne solche Annahmen, das Christenthum endlose 
Strafen für Alle, und der Brahmanismus endlose Wie- 
dergeburten für Alle aufstellen müsste, es also in Bei- 
den zu keiner Erlösung käme. Die sündlichen Werke 
und ihre Folgen müssen, sei es nun durch fremde 
Begnadigung, oder durch Eintritt eigener besserer 
Erkenntniss, ein Mal getilgt und vernichtet werden; 
sonst hat die Welt kein Heil zu hoflen; nachher aber 
werden sie gleichgültig. Dies ist auch die fisiavoia xai 
acpeoi«; cx[xapTiu)v, deren Verkündigung der bereits auf- 
erstandene Christus seinen Aposteln, als die Summe 
ihrer Mission, schliesslich auflegt (Luc. 24, 47). Die 
moralischen Tugenden sind eben nicht der letzte 
Zweck, sondern nur eine Stufe zu demselben. Diese 
Stufe ist im Christlichen Mythos bezeichnet durch 
das Essen vom Baum der Erkenntniss des Guten vmd 
Bösen, mit welchem die moralische Verantwortlich- 
keit zugleich mit der Erbsünde eintritt. Diese selbst 
ist in Wahrheit die Bejahung des Willens zum Le- 
ben; die Verneinung desselben hingegen, in Folge 
aufgegangener besserer Erkenntniss, ist die Erlösung. 
Zwischen diesen Beiden also liegt das Moralische: es 
begleitet den Menschen als eine Leuchte auf seinem 
Wege von der Bejahung zur Verneinung des Willens, 
oder, mythisch, vom Eintritt der Erbsünde bis zur 
781 
Erlösung durch den Glauben an die Mittlersehaft des 
inkarnirten Gottes (Avatars); oder, nach der Veda- 
Lehre, durch alle Wiedergeburten, welche die Folge 
der jedesmaligen Werke sind, bis die rechte Erkennt- 
niss und mit ihr die Erlösung (Hual emancipation), 
Mokscha^ d. i. Wiedervereinigung mit dem ßra/un, 
eintritt. Die Buddhaisten aber bezeichnen, mit voller 
Redlichkeit, die Sache bloss negativ, durch Nirwana^ 
welches die Negation dieser Welt, oder des Sansata 
ist. Wenn Nirwana als das Nichts definirt wird; so 
will dies nur sagen, dass der Sansara kein einziges 
Element enthält, welches zur Definition, oder Kon- 
struktion des Nirwana dienen könnte. Eben dieser- 
halb nennen (WeJainas, welche nur dem Namen nach 
von den Buddhaisten verschieden sind, die vedagläu- 
bigen Brahmanen Sabdapramans, welcher Spottname 
bezeichnen soll, dass sie auf Hörensagen glauben, was 
sich nicht wissen, noch beweisen lässt (Asiat, resear- 
ches, Vol. 6, p. 474)- 
Wenn manche alte Philosophen, wie Orpheus, die 
Pythagoreer, Plato (z. B. in Phaedone, p. i5i, l83 
sq. Bip., und siehe Clem. Alex, ström., III, p. 4oo sq.), 
ganz so wie der Apostel Paulus, die Gemeinschaft der 
Seele mit dem Leibe bejammern und von derselben 
befreit zu werden wünschen; so verstehen wir den 
eigentlichen und wahren Sinn dieser Klage, sofern 
wir, im zweiten Buch, erkannt haben, dass der Leib 
der Wille selbst ist, objektiv angeschaut, als räum- 
liche Erscheinung. 
In der Stunde des Todes entscheidet sich, ob der 
Mensch in den Schooss der Natur zurückfällt, oder 
aber dieser nicht mehr angehört, sondern : 
für diesen Gegensatz fehlt uns Bild, Begriff und Wort, 
eben weil diese sämmtlich aus der Objektivation des 
Willens genommen sind, daher dieser angehören, 
folglich das absolute Gegentheil desselben auf keine 
Weise ausdrücken können, welches demnach für uns 
als eine blosse Negation stehen bleibt. Inzwischen ist 
der Tod des Individiuums die jedesmalige und uner- 
müdlich wiederholte Anfrage der Natur an den Wil- 
len zum Leben. „Hast du genug? Willst du aus mir 
782 
hinaus?" Damit sie oft genug geschehe, ist das indi- 
viduelle Leben so kurz. In diesem Sinne gedacht sind 
die Ceremonien, Gebete und Ermahnungen der Brah- 
manen zur Zeit des Todes, wie man sie im Upanischad 
an mehreren Stellen aufbewahrt findet, und ebenso 
die Christliche Fürsorge für gehörige Benutzung der 
Sterbestunde, mittelst Ermahnung, Beichte, Kommu- 
nion und letzte Oelung : daher auch die Chrislichen 
Gebete um Bewahrung vor einem plötzlichen Ende. 
Dass heut zu Tage Viele gerade dieses sich wünschen, 
beweist eben nur, dass sie nicht mehr auf dem Christ- 
lichen Standpunkt stehen, welcher der der Vernei- 
nung des Willens zum Leben ist, sondern auf dem 
der Bejahung, welcher der heidnische ist. 
Der aber wird am wenigsten fürchten im Tode zu 
nichts zu werden, der erkannt hat, dass er schon jetzt 
nichts ist, und der mithin keinen Antheil mehr an 
seiner individuellen Erscheinung nimmt, indem in 
ihm die Erkenntniss den Willen gleichsam verbrannt 
und verzehrt hat, so dass kein W^ille, also keine Sucht 
nach individuellem Daseyn in ihm mehr übrig ist. 
Die Individualität inhärirt zwar zunächst dem In- 
tellekt, der, die Erscheinung abspiegelnd, der Er- 
scheinung angehört, welche das principium indivi- 
duationis zur Form hat. Aber sie inhärirt auch dem 
W^illen, sofern der Charakter individuell ist: dieser 
selbst jedoch wird in der Verneinung des Willens auf- 
gehoben. Die Individualität inhärirt also dem Willen 
nur in seiner Bejahung, nicht aber in seiner Vernei- 
nung. Schon die Heiligkeit, welche jeder rein mora- 
lischen Handlung anhängt, beruht darauf, dass eine 
solche, im letzten Grunde, aus der unmittelbaren Er- 
kenntniss der numerischen Identität des innern W^e- 
sens alles Lebenden entspringt*). Diese Identität ist 
aber eigentlich nur im Zustande der Verneinung des 
Willens (Nirwana) vorhanden, da seine Bejahung 
(Sansara) die Erscheinung desselben in der Vielheit 
zur Form hat. Bejahung des Willens zum Leben, 
Erscheinungswelt, Diversität aller Wesen, Individu- 
') Vergl. die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 274. 
783 
alität, Egoismus, Hass, Bosheit entsprin^jen aus einer 
Wurzel ; und eben so andererseits Welt des Dinges 
an sich, Identität aller Westen, Gerechtigkeit, Men- 
schenliebe, Verneinung des Willens zum Leben. Wenn 
nun, wie ich genugsam gezeigt habe, schon die mora- 
lischen Tugenden ans dem Innewerden jener Identi- 
tät aller Wesen entstehen, diese aber nicht in der Er- 
scheinung, sondern nur im Dinge an sich, in der 
Wurzel aller Wesen liegt; so ist die tugendhafte 
Handlung ein momentaner Durchgang durch den 
Punkt, zu welchem die bleibende Rückkehr die Ver- 
neinung des Willens zum Leben ist. 
Ein Folgesatz des Gesagten ist, dass wir keinen 
Grund haben anzunehmen, dass es noch vollkomme- 
nere Intelligenzen, als die menschliche gebe. Denn 
wir sehen, dass schon diese hinreicht, dem Willen 
diejenige Kenntniss zu verleihen, in Folge welcher 
er sich selbst verneint und aufhebt, womit die Indi- 
vidualität und folglich die Intelligenz, als welche 
bloss ein Werkzeug individueller, mithin animalischer 
Natur ist, wegfällt. Dies wird uns weniger anstössig 
erscheinen, wenn wir erwägen, dass wir sogar die 
möglichst vollkommenen Intelligenzen, welche wir 
hiezu versuchsweise annehmen mögen, uns doch 
nicht wohl eine endlose Zeit hindurch bestehend den- 
ken können, als welche nämlich viel zu arm ausfal- 
len würde, um jenen stets neue und ihrer würdige 
Objekte zu liefern. Weil nämlich das Wesen aller 
Dinge im Grunde Eines ist, so ist alle Erkennt- 
niss desselben nothwendig tautologisch : ist es nun ein 
Mal gefasst, wie es von jenen vollkommensten Intel- 
ligenzen bald gefasst seyn würde; was bliebe ihnen 
übrig, als blosse Wiederholung und deren Langeweile, 
eine endlose Zeit hindurch? Auch von dieser Seite also 
werden wir dahin gewiesen, dass der Zweck aller 
Intelligenz luu* Reaktion auf einen Willen seyn kann: 
weil aber alles W^ollen Irrsal ist; so bleibt aas letzte 
Werk der Intelligenz die Aufhebung des Wollens, 
dem sie bis dahin zu seinen Zwecken gedient hatte. 
Demnach kann selbst die vollkonunenste ujögliche 
Intelligenz nur eine Uebergangsstufe seyn zu Dem, 
7«4 
wohin gar keine Erkenntniss je reichen kann : ja, eine 
solche kann im Wesen der Dinge nur die Stelle des 
Augenblicks erlangter, vollkommener Einsicht ein- 
nehmen. 
In Uehereinstimmung mit allen diesen Betrachtun- 
gen und mit dem, im zweiten Buche nachgewiesenen, 
Ursprung der Erkenntniss aus dem Willen, den sie, 
indem sie ihm zu seinen Zwecken dienstbar ist, eben 
dadurch in seiner Bejahung abspiegelt, während das 
wahre Heil in seiner Verneinung liegt, sehen wir alle 
Religionen, auf ihrem Gipfelpunkte, in Mystik und 
Mysterien, d. h. in Dunkel und Verhüllung auslau- 
fen, welche eigentlich bloss einen für die Erkenntniss 
leeren Eleck, nämlich den Punkt andeuten, wo alle 
Erkenntniss nothwendig aufhört; daher derselbe für 
das Denken nur durch Negationen ausgedrückt wer- 
den kann, für die sinnliche Anschauung aber durch 
symbolische Zeichen, in den Tempeln durch Dunkel- 
heit und Schweigen bezeichnet wird, im Brahmanis- 
mus sogar durch die geforderte Einstellung alles Den- 
kens und Anschauens, zum Behuf der tiefsten Einkehr 
in den Grund des eigenen Selbst, unter mentaler 
Aussprechung des mysteriösen Oum. — Mystik, im 
weitesten Sinne, ist jede Anleitung zum unmittelba- 
ren Innewerden Dessen, wohin weder Anschauung 
noch Begriff", also überhaupt keine Erkenntniss reicht. 
Der Mystiker steht zum Philosophen dadurch im Ge- 
gensatz, dass er von Innen anhebt, dieser aber von 
Aussen. Der Mystiker nämlich geht aus von seiner 
innern, positiven, individuellen Erfahrung, in wel- 
cher er sich findet als das ewige, alleinige Wesen u. s. f. 
Aber mittheilbar ist hievon nichts, als eben Behaup- 
tungen, die man auf sein Wort zu glauben hat: folg- 
lich kann er nicht überzeugen. Der Philosoph hinge- 
gen geht aus von dem Allen Gemeinsamen, von der 
objektiven, Allen vorliegenden Erscheinung, und von 
den Thatsachen des Selbstbewusstseyns, wie sie sich 
in Jedem vorfinden. Seine Methode ist daher die Re- 
flexion über alles Dieses und die Kombination der 
darin gegebenen Data : deswegen kann er überzeugen. 
Er soll sich daher hüten, in die Weise der Mystiker 
5o Schopenhauer II 7 
85 
zu gerathen und etwan, mittelst Behauptung intel- 
lektualer Anschauungen, oder vorgeblicher unmittel- 
barer Vernunftvernehmungen, j)Ositive Erkenntniss 
von Dem vorspiegeln /u wollen, was, aller Erkennt- 
niss ewig unzugänglich, höchstens durch eine Nega- 
tion bezeichnet werden kann. Die Philosophie hat 
ihren Werth und ihre Würde darin, dass sie alle nicht 
zu begründenden Annahmen verschmäht und in ihre 
Data nur Das aufnimmt, was sich in der anschaulich 
gegebenen Aussenvvelt, in den unsern Intellekt kon- 
stituirenden Formen zur Auffassung derselben und 
in dem Allen gemeinsamen Bewusstseyn des eigenen 
Selbst sicher nachweisen lässt. Dieserhalb muss sie 
Kosmologie bleiben und kann nicht Theologie wer- 
den. Ihr Thema muss sich auf die Welt beschränken: 
was diese sei, im tiefsten Innern sei, allseitig auszu- 
sprechen, ist Alles, was sie redlicherweise leisten kann. 
— Diesem nun entspricht es, dass meine Lehre, wann 
auf ihrem Gipfelj)unkte angelangt, einen negativen 
Charakter aimimmt, also mit einer Negation endigt. 
Sie kann hier nämlich nur von Dem reden, was ver- 
neint, aufgegeben wird: was dafür aber gewonnen, er- 
griffen wird, ist sie genöthigt (am Schlüsse des vierten 
Buches) als Nichts zu bezeichnen, und kann bloss den 
Trost hinzufügen, dass es nur ein relatives, kein ab- 
solutes Nichts sei. Denn, wenn etwas nichts ist von 
allen Dem, was wir kennen; so ist es allerdings für 
uns überhaupt nichts. Dennoch folgt hieraus noch 
nicht, dass es absolut nichts sei, dass es nämlich auch 
von jedem möglichen Standpunkt aus und in jedem 
möglichen Sinne nichts seyn müsse; sondern nur, dass 
wir auf eine völlig negative Erkenntniss desselben be- 
schränkt sind; welches sehr wohl an der Beschrän- 
kung unsers Standpunkts liegen kann. — Hier nun 
gerade ist es, wo der Mystiker positiv verfährt, und 
von wo an daher nichts, als Mystik übrig bleibt. Wer 
inzwischen zu der negativen Erkenntniss, bis zu wel- 
cher allein die Philosophie ihn leiten kann, diese Art 
von Ergänzung wünscht, der Hndet sie am schönsten 
und reichlichsten im Oiipiiehhat, sodann in den En- 
neaden des Plotinos, im Scotus Eriyena, stellenweise 
786 
im Jakob Böhm, besonders aber in dem wundervollen 
Werk der Guion, Les torrens, und im Angelus SUesius, 
endlich noch in den Gedichten der Suji, von denen 
Tholnk uns eine Sammlunjj in Lateinischer und eine 
andere in Deutscher Ueberseizunfj geliefert hat, auch 
noch in manchen andern Werken. Die Sufi sind die 
Gnostiker des Islams; daher auch Sadi sie mit einem 
Worte bezeichnet, welches durch „Einsichtsvolle" 
übersetzt wird. Der Theismus, auf die Kapacität der 
Menge berechnet, setzt den Urquell des Daseyns aus- 
ser uns, als ein Objekt: alle Mystik, und so auch der 
Sufismus, zieht ihn, auf den verschiedenen Stufen 
ihrer Weihe, allmälig wieder ein, in uns, als das Sub- 
jekt, und der Adept erkennt zuletzt, mit Verwunde- 
rung und Freude, dass er es selbst ist. Diesen, aller 
Mystik gemeinsamen Hergang Hnden wir von Meister 
Eckhard, dem Vater der Deutschen Mystik, nicht nur 
in Form einer Vorschrift, für den vollendeten Aske- 
ten ausgesprochen, „dass er Gott ausser sich selbst 
nicht suche" (Eckhards Werke, herausgegeben von 
Pfeiffer, Bd. i,S. 626); sondern auch höchst naiv da- 
durch dargestellt, dass Eckhards geistige Tochter, 
nachdem sie jene ümwandelung an sich erfahren, ihn 
aufsucht, um ihm jubelnd entgegenzurufen: „Herr, 
freuet Euch mit mir, ich bin Gott geworden !" (Eben- 
das. S. 465). Eben diesem Geiste gemäss äussert sich 
durchgängig auch die Mystik der Suß hauptsächlich 
als ein Schwelgen in dem Bewusstseyn, dass man 
selbst der Kern der Welt und die Quelle alles Daseyns 
ist, zu der Alles zurückkehrt. Zwar kommt dabei die 
Aufforderung zum Aufgeben alles Wolfens, als wo- 
durch allein die Befreiung von der individuellen Exi- 
stenz und ihren Leiden möglich ist, auch oft vor, je- 
doch untergeordnet und als etwas Leichtes gefordert. 
In der Mystik der Hindu hingegen tritt die letztere 
Seite viel stärker hervor, und in der Christlichen My- 
stik ist diese ganz vorherrschend, so dass jenes pan- 
theistische Bewusstseyn, welches aller Mystik wesent- 
lich ist, hier erst sekundär, in Folge des Aufgebens alles 
Wolfens, als Vereinigung mit Gott eintritt. Dieser 
Verschiedenheit der Auffassung entsprechend hat die 
5o' 7^7 
Mohammedanische Mystik einen selir heitern Cha- 
rakter, die Ghristhche einen düstern und schmerz- 
Hclien, die der Hindu, üher Beiden stehend, hält auch 
in dieser Hinsicht die Mitte. 
Qaietismus d. i. AutVeben alles Wollens, Askesis, 
d. i. absichtliche Ertödtung des Eigenwillens, und 
Mysticismus, d. i. Bewusstseyn der Identität seines 
eigenen Wesens mit dem alier Dinge, oder dem Kern 
der Welt, stehen in genauester Verbindung; so dass 
wer sich zu einem derselben bekennt allmälig auch 
zur Annahme der andern, selbst gegen seinen Vor- 
satz, geleitet wird. — Nichts kann überi-aschender 
seyn, als die Uebereinstimmung der jene Lehren vor- 
tragenden Schriftsteller unter einander, bei der aller- 
grössten Verschiedenheit ihrer Zeitalter, Länder und 
Religionen, begleitet von der felsenfesten Sicherheit 
und innigen Zuversicht, mit der sie den Bestand ihrer 
innern Erfahrung vortragen. Sie bilden nicht etwan 
eine Sekte, die ein theoretisch beliebtes und ein Mal 
ergriffenes Dogma festhält, vertheidigt und fortpflanzt; 
vielmehr wissen sie meistentheils nicht von einander; 
ja, die Indischen, Christlichen, Mohammedanischen 
Mystiker, Quietisten und Asketen sind sich in Allem 
heterogen, nur nicht im innern Sinn und Geiste ihrer 
Lehren. Ein höchst auffallendes Beispiel hievon lie- 
fert die Vergleichuug der Torrens der Guion mit der 
Lehre der Veden, namentlich mit der Stelle im Oup- 
nekhat, Bd. i, S. 63, welche den Inhalt jener Fran- 
zösischen Sclirift in grösster Kürze, aber genau und 
sogar mit den selben Bildei'n enthält, und dennoch 
der Frau von Guion, um 1680, unmöglich bekannt 
seyn konnte. In der „Deutschen Theologie" (alleinige 
unverstümmelte Ausgabe, Stuttgart i85i) wird Kapi- 
tel 2 und 3 gesagt, dass sowohl der Fall des Teufels, 
als der Adams, darin bestanden hätte, dass der Eine, 
wie der Andere, sich das Ich und Mich, das Mein und 
Mir beigelegt hätte; und S. 89 heisst es: „In der wah- 
ren Liebe bleibt weder Ich, noch Mich, Mein, Mir, 
Du, Dein, und desgleichen." Diesem nun entsprechend 
heisst es im ,,Kural", aus dem Tamulischen von Graul, 
S. 8: „Die nach Aussen gehende Leidenschaft des 
788 
Mein und die nach Innen gehende des Ich hören auP' 
(vgl. Vers 346). Und im Manual of Buddhisni by Spence 
Hardy, S. 208, spricht Buddha: „Meine Schüler ver- 
werfen den Gedanken, dies bin Ich, oder dies ist Mein." 
Ueberhaupt, wenn man von den Formen, welche die 
äusseren Umstände herbeiführen, absieht und den Sa- 
chen auf den Grund geht, wird man finden, dass 
Schakia Muni und Meister Eckhard das Selbe lehren; 
nur dass Jener seine Gedanken geradezu aussprechen 
durfte. Dieser hingegen genöthigt ist, sie in das Ge- 
wand des Christlichen Mythos zu kleiden und diesem 
seine Ausdrücke anzupassen. Er geht aber hiemit so 
weit, dass bei ihm der Christliche Mythos fast nur 
noch eine Bildersprache ist, beinahe wie den Neupia- 
tonikern der Hellenische: er nimmt ihn durchweg 
allegorisch. In derselben Hinsicht ist es beachtens- 
werth, dass der Uebertritt des heiligen Franciscus aus 
dem Wohlstande zum Bettlerleben ganz ähnlich ist 
dem noch grössern Schritte des Buddha Schakia Muni 
vom Prinzen zum Bettler, und dass dem entsprechend 
das Leben, wie auch die Stiftung des Franciscus eben 
nur eine Art Saniassithum war. Ja, es verdient er- 
wähnt zu werden, dass seine Verwandtschaft mit dem 
Indischen Geiste auch hervortritt in seiner grossen 
Liebe zu denThieren und häufigen Umgang mit ihnen, 
wo})ei er sie durchgängig seine Schwestern und Brü- 
der nennt; wie denn auch sein schöner CanticOj durch 
das Lob der Sonne, des Mondes, der Gestirne, des 
Windes, des Wassers, des Feuers, der Erde, seinen an- 
geborenen Indischen Geist bekundet*). 
Sogar werden die Christlichen Quietisten oft we- 
nig, oder keine Kunde von einander gehabt haben, 
z. 13. Molinos und die Guion von Taulern und der 
„Deutschen Theologie", oder Gichtel von jenen Er- 
steren. Ebenfalls hat der grosse Unterschied ihrer Bil- 
dung, indem Einige, wie Molinos, gelehrt, Andere, 
wie Gichtel und Viele mehr, ungelehrt waren, keinen 
wesentlichen Einfluss auf ihre Lehren. Um so mehr 
*) S. Bonavcnturae vita S. Francisci, c. 8. — K. Hase, Franz 
von Assisi, K&p. 10. — l cantici di S. Francesco, editi da 
Schlosser e Steinle. Francoforto s. M. 1842. 
789 
beweist ihre (grosse, innere Uebereinstinimvnig, l)ei 
der Festigkeit und Si<herheit ihrer Aussagen, dass sie 
aus Avirkhcher, innerer Erfahrung reden, einer Erfah- 
rung, die zwar nicht Jedem zugänglich ist, sondern 
nur wenigen Begünstigten zu Theil wird, daher sie 
den Namen Gnadenwirkung erhalten hat, an deren 
Wirklichkeit jedoch aus obigen Gründen nicht zu 
zweifeln ist. Um dies Alles zu verstehen, muss man 
sie aber selbst lesen und nicht mit Berichten aus zwei- 
ter Hand sich begnügen: denn Jeder muss seihst ver- 
nommen werden, ehe man über ihn urtheilt. Zur Be- 
kanntschaft mit dem Quietismus also empfehle ich 
besonders den Meister Eckhard, die Deutsche Theo- 
logie, den Tauler, die Guion, die Antoinette Bourig- 
non, den Engländer Bunyan, den Molinos*), den Gich- 
tel: imgleichen sind, als praktische Belege und Bei- 
spiele des tiefen Ernstes der Askese, das von üeuchlin 
herausgegebene Leben Pascals, nebst dessen Geschich- 
te von Port-royal, wie auch die Historie de Sainte Eli- 
sabeth par le comte de Montalembcrt und La vie de 
Rance par Chateaubriand sehr lesenswerth, womit je- 
doch alles Bedeutende in dieser Gattung keineswegs 
erschöpft seyn soll. Wer solche Schriften gelesen und 
ihren Geist mit dem der Askese und des Quietismus, 
wie er alle Werke des Brahmanismus und Buddhais- 
mus durch webt und aus jeder Seite spricht, verglichen 
hat, wird zugeben, dass jede Philosophie, welche kon- 
sequenterweise jene ganze Denkungsart verwerfen 
muss, was nur geschehen kann, indem sie die Reprä- 
sentanten derselben für Betrüger oder Verrückte er- 
klärt, schon dieserhalb nothwendig falsch seyn muss. 
In diesem Falle nun aber befinden sich alle Europäi- 
schen Systeme, mit Ausnahme des meinigen. Wahr- 
lich eine seltsame Verrücktheit müsste es seyn, die 
sich, unter den möglichst weit verschiedenen Um- 
ständen und Personen, mit solcher Uebereinstimmung 
ausspräche und dabei von den ältesten und zahlreich- 
') Michaelis de Molinos manmluctiospiiitualis: hispanice löj.*), 
italice 1680, latine lOSj, yallice in lii)io non adeo rare, cni 
tituhis: Recneil de diverses pieces conccrnant le qnietisme, 011 
Molinos et ses disciples. Amstd. 1688. 
sten Völkern der Erde, nämlich von etwan drei Vier- 
tel aller Bewohner Asiens, zu einer Hauptlehre ihrer 
Religion erhoben wäre. Das Thema des Quietismus 
und Asketismus aber dahingestellt seyn lassen darf 
keine Philosophie, wenn man ihr die Frage vorlegt; 
weil dasselbe mit dem aller Metaphysik und Ethik, 
dem Stoffe nach, identisch ist. Hier ist also ein Punkt, 
wo ich jede Philosophie, mit ihrem Optimismus, er- 
warte und verlange, dass sie sich darüber ausspreche. 
Und wenn, im Urtheil der Zeitgenossen, die paradoxe 
und beispiellose Uebereinstimmung meiner Philosophie 
mit dem Quietismus und Asketismus als ein offenba- 
rer Stein des Anstosses erscheint; so sehe ich hinge- 
gen gerade darin einen Beweis ihrer alleinigen Rich- 
tigkeit und Wahrheit, wie auch einen Erklärungs- 
grund des klugen fgnorirens und Sekretirens derselben 
auf den protestantischen Universitäten. 
Denn nicht allein die Religionen des Orients, sondern 
auch das wahre Christenthum hat durchaus jenen 
asketischen Grundcharakter, den meine Philosophie 
als Verneinung des Willens zum Leben verdeutlicht; 
wenn gleich der Protestantismus, zumal in seiner heu- 
tigen Gestalt, dies zu vertuschen sucht. Haben doch 
sogar die in neuester Zeit aufgetretenen offenen Fein- 
de des Ghristenthums ihm die Ijchren der Entsagung, 
Selbstverleugnung, vollkommenen Keuschheit und 
überhaupt Mortihkation des Willens, welche sie ganz 
richtig mit dem Namen der „antikosmischen Tendenz''^ 
bezeichnen, nachgewiesen und dass solche dem ur- 
sprünglichen und ächten Christenthum wesentlich 
eigen sind gründlich dargethan. Hierin haben sie un- 
leugbar Recht. Dass sie aber eben Dieses als einen 
offenbaren und am Tage liegenden Vorwurf gegen 
das Christenthum geltend machen, während gerade 
hierin seine tiefste Wahrheit, sein hoher Werth und 
sein erhabener Charakter liegt, dies zeugt von einer 
Verfinsterung des Geistes, die nur daraus erklärlich 
ist, dass jene Köpfe, wie leider heut zu Tage tausend 
andere in Deutschland, völlig verdorben und auf im- 
mer verschroben sind durch die miserable Hegelei, 
diese Schule der Plattheit, diesen Heerd des Unver- 
79» 
Standes und der TJnwissenlieit, diese kopfverderbende 
Afterweisheit, welche man jetzt endlich als solche zu 
erkennen anfän^jt und die Verehrun{] derselben bald 
der Dänischen Akademie allein überlassen wird, in de- 
ren Augen ja jener plumpe Scharlatan ein sunimus 
philosophus ist, für den sie ins Feld tritt: 
Car ils suivront la creance et cstiide 
De l'if^norante et sötte muititude, 
Doiit le ])his lourd scra rccu pour juge. 
Rabelais. 
Allerdings ist im ächten und ursprünglichen Chri- 
stenthum, wie es sich, vom Kern des Neuen Testa- 
ments aus, in den Schriften der Kirchenväter entwik- 
kelte, die asketische Tendenz unverkennbar: sie ist 
der Gipfel, zu welchem Alles emporstrebt. Als die 
Hauptlehre derselben finden wir die Empfehlung des 
ächten und reinen Cölibats (diesen ersten und wich- 
tigsten Schritt in der Verneinung des Willens) schon 
im Neuen Testament ausgesprochen*). Auch Stransx, 
in seinem „Leben Jesu" (Bd. I,S. 6i8 der ersten Auf- 
lage), sagt hinsichtlich der, Matth. 19, ii fg. gege- 
benen, Empfehlung der Ehelosigkeit: „Man hat, tun 
Jesum nichts den jetzigen Vorstellungen Zuwiderlau- 
fendes sagen zu lassen, sich beeilt, den Gedanken ein- 
znsclui'ärzen., dass Jesus nur mit Rücksicht auf die 
Zeitumstände und lun die apostolische Thätigkeit un- 
gehindert zu lassen, die Ehelosigkeit anrühme: allein 
im Zusammenhange liegt davon noch weniger eine 
Andeutung, als in der verwandten Stelle i. Cor. 7, 
26 fg.; sondern es ist auch hier wieder einer der Orte, 
wo asketische Grundsätze., wie sie unter den Essenern 
und wahrscheinlich auch weiter unter den Juden ver- 
breitet waren, auch bei Jesu durchscheinen." - — Diese 
asketische Richtung tritt später entschiedener auf, als 
Anfangs, wo das Christenthum, noch Anhänger su- 
chend, seine Forderungen nicht zu hoch spannen 
durfte: und mit dem Eintritt des dritten Jahrhunderts 
*) Matth. 19, I 1 ffj. — I.nc. 30, 35 — 37. — i .Cor. 7, i — 11 
und 25 — 4"- — ('• rl«^'*'^- 4' 3- ■ — '• •^"''' ^1 ^- — ) Apokal. 
.4,4. 
wird sie nachdrücklich urgirt. Die Ehe gih, im eigent- 
hchen Christentluim, bloss als ein Kompromiss mit 
der sündlichen Natur des Menschen, als ein Zuge- 
ständniss, ein Erlaubtes für Die, welchen die Kraft das 
Höchste anzustreben mangelt, und als ein Ausweg, 
grösserem Verderben vorzubeugen: in diesem Sinne 
erhält sie die Sanktion der Kirche, damit das Band 
unauflösbar sei. Aber als die höhere Weihe des Chri- 
stenthums, durch welche mau in die Reihe der Aus- 
erwählten tritt, wird das Cölibat und die Virginität 
aufgestellt: durch diese allein erlangt man die Sieger- 
krone, welche sogar noch heut zu Tage durch den 
Kranz auf dem Sarge der Unverehelichten angedeutet 
wird, wie eben auch durch den, welchen die Braut 
am Tage der Verehelichung ablegt. 
Ein jedenfalls aus der Urzeit des Christenthums 
stammendes Zeugniss über diesen Punkt ist die von 
Clemens Alexandrinus (Strom., III, 6 et 9) aus dem 
Evangelio der Aegypter angeführte prägnante Ant- 
wort des Herrn: Ttq 2aXa)fxT(] 6 xupiocTruv&avofjLSvifj, [i-sXP^ 
Tcoxe Oavato; loj^oaei; |J.£XP^'? '^^f sirev, 6|xei?, at "yuvatxs?, 
TixT£T£(Salomae interroganti „quousquevigebitmors?" 
Dominus „quoadusque", inquit, „vos, mulieres, pari- 
tis".) TouT eoTt, ixexp^? ^^ ^^ £7ri0o[j,tat evs^youai (hoc est, 
quamdiu operabuntur cupiditates), setzt Clemens c. 9 
hinzu, woran er sogleich die berühmte Stelle Rom. 
5, 12 knüpft. Weiterhin c. i3, führt er die Worte des 
Kassianus an: nuvOavo|xev7ji; trj«; 2aX(up.Tji;, ttote 'c^dio- 
ÖTjosTat za Trepi tov Tjpexo, scpT] ö xupio?, 'Oxav ttjc ata- 
XuvTf]? £vou(xa 7raT7j07]T£, xat oxav YevvjTat, xa 5uo sv, xat 
To appsv [xeta tt]? ör]Xeta<; outs appev, ouxs ÖtjXu (Cum 
interrogaret Salome, quando cognoscentur ea, de qui- 
bus interrogabat, ait Dominus: „quando pudoris in- 
dumentum conculcaveritis,et quando duo facta fuerint 
unum, et masculum cum foemina nee masculum nee 
foemineum"), d. h. wann ihr den Schleier der Schaam- 
haftigkeit nicht mehr braucht, indem aller Geschlechts- 
unterschied weggefallen seyn wird. 
Am weitesten sind in diesem Punkte allerdings die 
Ketzer gegangen; schon im zweiten Jahrhundert die 
Tatianiten oder Enkratiten, die Gnostiker, die Mar- 
cioniten, die Montanisten, Valentinianer und Kassianer; 
jedoch nur indem sie, mit rücksichtsloser Konsequenz, 
der Wahrheit die Ehre {jaben, und demnach, dem 
Geiste des Christentums gemäss, völhj^e Enthaltsam- 
keit, e-j-xpaTEta, lehrten; wahrend die Kirche Alles, was 
ihrer weitsehenden Politik zuwiderlief, klüglich für 
Ketzerei erklärte. Von den Tatianiten berichtet Au- 
giistinm: Nuptiasdamnant,atqueomninopares eas for- 
nicationibus aliisque corruptionibus faciunt: nee re- 
cipiunt in suum numerum conjugio utentem, sive 
marem, sive foeminam. Non vescuntur carnibus, eas- 
que abominantur. (De haeresi ad quod vult Deum. 
haer. aS.) Allein auch die orthodoxen Väter betrach- 
ten die Ehe in dem oben bezei( hneten Lichte und 
predigen eifrig die gänzliche Enthaltsamkeit, die 
«Yveia. Athanasius giebt als Ursache der Ehe an: öti 
UTTOTriTrrovTe«; £0|X£V xio xou Trpouaiopo«; xaraoixTO " 
STreiST) 6 TrpoY]You[x£VO(; oxotto? tou ^eou TjV, ~o [xt] 8ia *{<i\ifJM 
Y£V£o{)ai ^fjaa? xai cp^opcx?" tj 0£ Trapaßaot? ttj? evtoXtj? tov 
Yaaov £i07]YaY£V oia xo avo[i7]oai tov Aoa[x. (Quia subja- 
cemus condemnationi propatoris nostri ; nam 
finis, a Deo praelatus, erat, nos non per nuptias et cor- 
ruptionem fieri : sed transgressio mandati nuptias intro- 
duxit, propter legis violationem Adae. — Exposit. in 
psalm. 5o.) Tertullian nennt die Ehe genus mali in- 
ferioris, ex indulgentia ortum (de pudicitia, c. 16) und 
sagt; Matrimonium et stuprum est commixtio carnis; 
scilicet cujus concupiscentiam dominus stupro adae- 
quavit. Ergo, inquis, jam et primas, id est unas nup- 
tias destruis? Nee immerito: quoniam et ipsae ex eo 
constant, quod est stuprum (de exhort. castit. c. 9). 
Ja, Augustinus selbst bekennt sich ganz und gar zu 
dieser Lehre und allen ihren Folgen, indem er sagt: 
Novi quosdam, qui murmurent: quid, si, inquiunt, 
omnes vilent ab omni concubitu abstinere, unde sub- 
sistet genus humanum? — Utinam omnes hoc vellent! 
dumtaxat in caritate, de corde puro, et conscientia 
bona, et fide non ficta: nuilto citius Dei civitas com- 
pleretur, ut acceleraretur terminus mundi (de bono 
conjugali c. 10). — Und abermals: Non vos ab hoc 
studio, quo mukös ad imitandum vos excitatis, frangat 
794 
querela vanorum, qui dicunt: quomodo subsistet 
genus humanuni, si omnes fuerint kontinentes? Qua- 
si propter aliud retardetur hoc secukim, nisi ut im- 
pleatur praedestinatus numerus ille sanctorum, quo 
citius impleto, profecto nee terminus secuh differetur 
(de bono viduitatis, c. 23.) Man sieht zugleich, dass 
er das Heil mit dem Ende der Welt identificirt. — 
Die übrigen diesen Punkt betreffenden Stellen aus den 
Werken Augustins findet man zusammengestellt in 
der Confessio Augustiniana e D. Au{;ustini operibus 
compilata a Hieronymo Torrense, 1610, unter den 
Rubriken de matrimonio, de coelibatu u. s. w., und 
kann sich dadurch überzeugen, dass im alten, ächten 
Christen thum die Ehe eine blosse Koncession war, 
welche überdies auch nur die Kinderzeugung zum 
Zweck haben sollte, dass hingegen die gänzliche Ent- 
haltsamkeit die jener weit vorzuziehende eigentliche 
Tugend war. Denen aber, welche nicht selbst auf die 
Quellen zurückgehen wollen, empfehle ich, zur Be- 
seitigung aller etwanigen Zweifel über die in Rede 
stehende Tendenz des Christenthums, zwei Schriften, 
Garove, Ueber das Cölibatgesetz, i832, und Lind, De 
coelibatu Christianorum per tria priora secula, Hav- 
niae 1889. Es sind jedoch keineswegs die eigenen An- 
sichten dieser Schriftsteller, auf die ich verweise, da 
solche der meinigen entgegengesetzt sind, sondern 
ganz allein die von ihnen sorgfältig gesammelten Be- 
richte und Anführungen, welche gerade darum, als 
ganz unverfänglich, volles Zutrauen verdienen, dass 
beide Schriftsteller Gegner des Gölibats sind, der 
Erstere ein rationalistischer Katholik, der Andere ein 
protestantischer Kandidat, welcher ganz und gar als 
ein solcher redet. In der zuerst genannten Schrift 
finden wir, Bd. F, S. 166, in jener Rücksicht fogendes 
Resultat ausgesprochen: „Der kirchlichen Ansicht 
„zufolge, — - wie bei den kanonischen Kirchenvätern, 
„in den Synodal- und den päpstlichen Belehrungen 
„und in unzähligen Schriften rechtgläubiger Katho- 
„liken zu lesen, — wird die immerwährende Keusch- 
„heit eine göttliche, himmlische, englische Tugend 
„genannt und die Erwerbung der göttlichen Gnaden- 
,,luilfe dazu vom ernsten Bitten um dieselbe abhanjjijj 
„{;emacht. — Dass diese Aufjustinische Lehre sich bei 
„Canisius und im Tridentinum als immer gleicher 
„Kirchenjjlaube ausgesprochen findet, haben wir be- 
„reits nachgewiesen. Dass sie aber bis auf den heutigen 
„Tag als Glaubenslehre festgehalten worden, dafür 
„mag das Juniheft, i83i, der Zeitschrift ,Der Katho- 
„lik' hinreichendes Zeugniss ablegen : daselbst, 8. a63, 
„heisst es: ,,„IniKatliolicismus erscheint die Beobach- 
„„tung einer ewigen Keuschheit, um Gotteswillen, an 
„„sich als das höchste Verdienst des Menschen. Die 
„„Ansicht, dass die Beobachtung der beständigen 
„ „Keuschheit ah Selbstzweck den Menschen heilige und 
„„erhöhe, ist, wie hievon jeder unterrichtete Katholik 
„„dieUeberzeugunghat,indem Christenthum, seinem 
„„Geist und seiner ausdrücklichen Vorschrift nach, 
„„tief gegründet. Das Tridentinum hat allen mög- 
„„lichen Zweifel hierüber abgeschnitten." " 
„Es muss allerdings von jedem Unbefangenen zuge- 
„standen werden, nicht nur, dass die vom , Katholiken' 
„ausgesprochene Lehre wirklich katholisch ist, son- 
„dern auch, dass die vorgebrachten Erweisgründe für 
„eine katholische Vernunft durchaus imwiderleglich 
„seyn mögen, da sie so recht aus der kirchlichen 
„Grundansicht der Kirche vom Leben und seiner Be- 
„stimmung geschöpft sind." — Ferner heisst es da- 
selbst S. 270: „Wenn gleich sowohl Paulus das Ehe- 
„verbot als Irrlehre bezeichnet und der noch jüdischere 
„Verfasser des Hebräerbriefes gebietet, ,, „die Ehe solle 
„„in Ehren (jehalten werden bei Allen und das Ehe- 
„,,bett unbefleckt"" (Hebr. i3, 4); so ist darum doch 
„die Hauptrichtung dieser beiden Hagiographen nicht 
„zu verkennen. Die Jungfräulichkeit war Beiden das 
„Vollkommene, die Ehe nur ein Notlibedarf für die 
„Schwächeren, und nur alssolcher unverletzt zu halten. 
„Das höchste Streben dagegen war auf völlige, ma- 
„terielle Entselbstung gerichtet. Das Selbst soll sich 
„von Allem abwenden und enthalten, was nur ihm 
„und was ihm nw zeitlich zur Freude gereicht." — 
Endlich noch S. 288: ,,Wir stimmen dem Abte Zac- 
„caria bei, welcher den Cölibat (nicht das Cölibats- 
„gesetz) vor Allem aus der Lehre Christi und des 
„Apostels Paulus abjjeleitet wissen will." 
Was dieser eigentlich Christlichen Grundansicht ent- 
gegengestellt wird, ist überall und immer nur das Alte 
Testament mit seinem Ttavta xaXa Xiav. Dies erhellt 
besonders deutlich aus jenem wichtigen dritten Buch 
der Stromata des Kletnens, woselbst er, gegen die oben 
genannten enkratistischen Ketzer polemisirend, ihnen 
stets nur das Judenthum, mit seiner optimistischen 
Schöpfungsgeschichte, entgegenhält, mit welcher die 
neutestamentliche, weltverneinende Richtung aller- 
dings in Widerspruch steht. Allein die Verbindung 
des Neuen Testaments mit dem Alten ist im Grimde 
nur eine äusserliche, eine zufällige, ja erzwung^ene, 
und den einzigen Anknüpfungspunkt für die Christ- 
liche Lehre bot dieses, wie gesagt, nur in der Ge- 
schichte vom Sündenfall dar, welcher übrigens im 
Alten Testament isolirt dasteht und nicht weiter be- 
nutzt wird. Sind es doch, der evangelischen Darstel- 
lung zufolge, gerade die orthodoxen Anhänger des 
Alten Testaments, welche den Kreuzestod des Stifters 
herbeiführen, weil sie seine Lehren im Widerstreit 
mit den ihrigen finden. Im besagten dritten Buche 
der Stromata des Klemens tritt der Antagonismus zwi- 
schen Optimismus, nebst Theismus, einerseits, und 
Pessimismus, nebst asketischer Moral, andererseits, 
mit überraschender Deutlichkeit hervor. Dasselbe ist 
gegen die Gnostiker gerichtet, welche eben Pessimis- 
mus und Askese, namentlich SYxpaTSia (Enthaltsam- 
keit jeder Art, besonders aber von aller Geschlechts- 
befriedigung) lehrten; weshalb Klemens sie lebhaft 
tadelt. Dabei schiuunert aber zugleich durch, dass 
schon der Geist des Alten Testainents mit dem des 
Neuen Testaments in diesem Antagonismus steht. 
Denn, abgesehen vom Sündenfall, der im Alten Testa- 
ment wie ein hors d'oeuvre dasteht, ist der Geist des 
Alten Testaments dem des Neuen Testaments diame- 
tral entgegengesetzt : jener optimistisch, dieser pessi- 
mistisch. Diesen Widerspruch hebt Klemens selbst 
hervor, am Schlüsse des elften Kapitels (TrpooaTroTstvo- 
[xevov Tov IlauXov xtj) Ktiottu x. t. X.), obwohl er ihn nicht 
797 
gelten lassen will, sondern für scheinbar erklärt, — 
als ein guter Jude, der er ist. Ueberhaupt ist es inter- 
essant zu sehen, wie dem Klemens überall das Neue 
und das Alte Testament durcheinanderlaufen und er 
sie zu vereinbaren bemüht ist, jedoch meistens mit 
dem Alten Testament das Neue austreibt. Gleich am 
Eingang des dritten Kapitels wirft erden Markioniten 
vor, dass sie, nach dem Vorgang des Plato und Pytha- 
{joras, die Schöpfung schlecht befunden hätten, indem 
Markion lehre, es sei eine schlechte Natur, aus schlech- 
tem Stoff (cpuai? xaxTf), ex tö uXyj? xaxTj?); daher man 
diese Welt nicht bevölkern, sondern der Ehe sich ent- 
halten solle ([jLTj ßouXoijLSVoi xov xoo[x&v oojjlttXtjpouv, aiTE- 
yBobai ^ajACiu). Dies nimmt nun Klemens, dem über- 
haupt das Alte Testament viel mehr als das Neue zu- 
sagt und einleuchtet, ihnen höchst übel. Er sieht darin 
ihren schreienden Undank, Feindschaft und Empörung 
gegen Den, der die Welt gemacht hat, den gerechten 
Demiurgos, dessen Werk sie selbst seien und dennoch 
von seinen Schöpfungen Gebrauch zu machen ver- 
schmäheten, in gottloser Rebellion „die naturgemässe 
Gesinnung verlassend" (avTi':aaoo[j.evoi xo) tcoitjtto xoj 
ocpa>v, z-^vipaTeic, t^ Trpo? xov TreTionrjxoxa £X^P^' 
[iT] ßooXofievot J(p7]a^ai xoi? ür^ auxou xxioOsiotv, 
aoeßei deojxaj^tcf xu)V xaxa cpuoiv exoxavxe? XoYto(i,o>v). — 
Dabei will er, in seinem heiligen Eifer, den Markio- 
niten nicht einmal die Ehre der Originalität lassen, 
sondern gewaffnet mit seiner bekannten Gelehrsam- 
keit, hält er ihnen vor und belegt es mit den schönsten 
Anführungen, dass schon die alten Philosophen, dass 
Herakleitos und Empedokles, Pythagoras und Plato, 
Orpheus und Pindaros, Herodot und Euripides, und 
noch die Sibylle dazu, die jammervolle Beschaffenheit 
der Welt tief beklagt, also den Pessimismus gelehrt 
haben. In diesem gelehrten Enthusiasmus merkt er 
nun nicht, dass er gerade dadurch den Markioniten 
Wasser auf ihre Mühle fördert, indem er ja zeigt, dass 
„Alle die Weisesten aller der Zeiten" 
das Selbe, wie sie, gelehrt und gesungen haben; son- 
dern getrost und beherzt führt er die entschiedensten 
798 
und energischesten Aussprüche der Alten in jenem 
Sinne an. Ihn freihch machen sie nicht irre: mögen 
Weise das Daseyn als traurig bejammern, mögen Dich- 
ter sich in den erschütterndesten Klagen darüber er- 
giessen, mag Natur und Erfahrung noch so laut gegen 
den Opitimismus schreien, — dies Alles ficht unsern 
Kirchenvater nicht an : hält er doch seine Jüdische Of- 
fenbarung in der Hand, und bleibtgetrost.DerDemiur- 
gos hat die Welt gemacht : hieraus ist a priori gewiss, 
dass sie vortrefflich sei : und da mag sie aussehen wie 
sie will. — Eben so geht es sodann mit dem zweiten 
Punkt, der e^xpaisia, durcfi welclie, nach seiner An- 
sicht, die Marluoniten ihren Undank gegen den De- 
miurgos (a)(apioT£iv rcp OYjfxioopY«)) und die Wider- 
spanstigkeit, mit der sie seine Gaben von sich weisen, 
an den Tag legen {hC avTixa^iv tz^oc, tov OTrjjxioupYov, xrjv 
5(prjOtv Tcov xoojj-ixcuv 7tapaixou[j.evoi). Da haben nun auch 
schon die Tragiker den Enkratiten (zum Nachtheil 
ihrer Originalität) vorgearbeitet und das Selbe gesagt: 
nämlich indem auch sie den endlosen Jammer des 
Daseyns beklagten, haben sie hinzugefügt, es sei hesser, 
keine Kinder in eine solche Welt zu setzen; — wel- 
ches er nun wieder mit den schönsten Stellen belegt 
und zugleich die Pythagoreer beschuldigt, aus diesem 
Grunde dem Gesclilechtsgenuss entsagt zu haben. 
Dies Alles aber schadet ihm nichts: er bleibt bei sei- 
nem Satz, dass alle Jene sich durch ihre Enthaltsam- 
keit versündigen an dem Demiurgos, indem sie ja 
lehren, dass man nicht heirathen, nicht Kinder zeugen, 
nicht neue Unglückliche in die Welt setzen, nicht 
dem Tode neues Futter vorwerfen soll (ot e^xpatetai; 
aoeßouai ei<; ~e ttjv xtioiv xai tov aYiov 07][j.toupYov, xov irav- 
Toxpaxopa fxovov t^eov, xai oioaoxooai, [xtj oeiv uapaoej^eo- 
Oat Ya[j.ov xai Traioouoüav, [xtjos avTetaa^eiv Ta> xoo(jlu> 
ouatuyTjoovTa? stspou?, [xirjoe eTrij^oprjyeiv {^avatoj xpocpTjv. 
c. 6). — Dem gelehrten Kirchenvater, indem er so 
die eyxpaxeia anklagt, scheint dabei nicht geahndet 
zu haben, dass gleich nach seiner Zeit die Ehelosig- 
keit des Christlichen Priesterstandes mehr und mehr 
eingeführt und endlich im 1 1 . Jahrhundert zum Ge- 
setz erhoben werden sollte, weil sie dem Geiste des 
799 
Neuen Testaments entspricht. Gerade diesen haben 
die Gnostiker lieFer aut"{;efasst und hesser verstanden, 
als unser Kirchenvater, der mehr Jude, als Christ ist. 
Die Auffassunjj der Gnostiker tritt sehr deutlich her- 
vor am Anfanj; des neunten Kapitels, wo aus dem 
Evangelio der Aegypter angeführt wird: auTo? eiTiev 
6 ScDxr^p, „TjXOov xaxaXuoai la epya ttj? ihrjXeia?'" ibjXeiac 
jjLEv, TTj.; £7ci{)uixia?" £f*ya os, yevsaiv y.ai cp&opav (ajunt enim 
dixisse Servatorem: „veni ad dissolvendum opera fe- 
minae" : femiuae quidem, cupiditatis ; opera autem, ge- 
nerationem et interituui) ; — ganz hesonders aber am 
Schlüsse des dreizehnten und Anfang des vierzehnten 
Kapitels. Die Kirche freilich musste darauf bedacht seyn, 
eine Religion auf die Beine zu bringen, die doch auch 
gehen und stehen könne, in der Welt, wie sie ist, und 
unter den Menschen; daher sie diese Leute für Ketzer 
erklärte. — Am Schlüsse des siebenten Kapitels stellt 
unser Kirchenvater den Indischen Asketismus, als 
schlecht, dem Christlich-Jüdischen entgegen; — wo- 
bei der fundamentale Unterschied des Geistes beider 
Religionen deutlich hervortritt. Nämlich im Juden- 
thum und Christenthum läuft Alles zurück auf Ge- 
horsam, oder Ungehorsam, gegen Gottes Befehl, — 
UTiaxoT] xat ^rapaxoT]; wie es uns Geschöpfen angemessen 
ist, Tjjxiv, toi? TTS'JTXaojj.svoti; otzo tt]? tou nav-oxpatopo? ßou- 
XirjoEü)? (nobis, qui ab Oumipotentis voluntate eflfiicti su- 
mus) c. 14. — Dazu kommt, als zweite Pflicht, Xarpeusiv 
Oeto C«>vTi, dem Herrn dienen, seine Werke preisen 
und von Dank überströmen. — Da sieht es denn frei- 
lich im Brahmanismus und Buddhaismus ganz anders 
aus, indem in Letzterem alle Besserung, Bekehrung 
und zu hoHende Erlösung aus dieser Welt des Leidens, 
diesem Sansara, ausgeht, von der Erkenntniss der vier 
Grundwahrheiten : i) dolor, 2) doloris ortus, 3) doloris 
interitus, 4) octopartita via ad doloris sedationem. — 
Dhammapadam, ed. Fausböll, p. 35 et 347- Die Er- 
läuterung dieser vier Wahrheiten findet man in Bur- 
nouf, Introduct. ä Thist. du Buddhisme, p. 629, und 
in allen Darstellungen des Buddhaismus. 
In Wahrheit ist nicht das Judenthum, mit seinem 
Travxa xaXa Xiav, sondern Brahmanismus und Bud- 
800 
dhaismus sind, dem Geiste und der ethischen Ten- 
denz nach, dem Christenthum verwandt. Der Geist 
und die ethische Tendenz sind aber das Wesenthche 
einer Rehgion, nicht die Mythen, in welche sie solche 
kleidet. Ich gebe daher den Glauben nicht auf, dass 
die Lehren des Christenthums irgendwie aus jenen 
Urreligionen abzuleiten sind. Auf einige Spuren hie- 
von habe ich schon im zweiten Bande der Parerga, 
§. 179, hingewiesen. Ihnen ist hinzuzufügen, dass 
Epiphanias (Haeretic. XVIII) berichtet, die ersten Je- 
rusalemitischen Juden-Christen, welche sich Nazaräer 
nannten, hatten sich aller thierischen Nahrung ent- 
halten. Vermöge dieses Ursprungs (oder wenigstens 
dieser üebereinstimmung) gehört das Christenthum 
dem alten, wahren und erhabenen Glauben der Mensch- 
heit an, welcher im Gegensatz steht zu dem falschen, 
platten und verderblichen Optimismus, der sich im 
Griechischen Heidenthum, im Judenthum und im 
Islam darstellt. Die Zendreligion hält gewissermassen 
das Mittel, indem sie, dem Ormuzd gegenüber, am 
Ahriman ein pessimistisches Gegengewicht hat. Aus 
dieser Zendreligion ist, wie J. G. Rhode, in seinem 
Buche „Die heilige Sage des Zendvolks", gründlich 
nachgewiesen hat, die Jadenreligion hervorgegangen: 
aus Ormuzd ist Jehova und aus Ahriman Satan ge- 
worden, der jedoch im Judenthum nur noch eine sehr 
untergeordnete Rolle spielt, ja, fast ganz verschwindet, 
wodurch denn der Optimismus die Oberhand gewinnt 
und nur noch der Mythos vom Sündenfall, der eben- 
falls (als Fabel von Meschian und Meschiane) aus dem 
Zend-Avesta stammt, als pessimistisches Element 
übrig bleibt, jedoch in Vergessenheit geräth, bis er, 
wie auch der Satan, vom Christenthum wieder auf- 
genommen wird. Inzwischen stammt Ormuzd selbst 
aus dem Brahmanismus, wiewohl aus einer niedrigen 
Religion desselben : er ist nämlich kein Anderer, als 
Indra, jener untergeordnete, oft mit Menschen riva- 
lisirende Gott des Firmaments und der Atmosphäre; 
wie dies sehr richtig nachgewiesen hat der vortreff- 
liche /. /. Schmidt, in seiner Schrift „Ueber die Ver- 
wandtschaft der gnostisch-theosophischen Lehren mit 
5i Schopenhauer II 00 I 
den Religionen des Orients". Dieser Indra-Ormuzd- 
Jehova mnsste nachnials in das Christenthum, da es 
in Judäa entstand, überjjehen, dessen kosmopolitischem 
Charakter zufol{je er jedoch seine Eifj^ennamen ablef[te, 
um in der Landessprache jeder l)ekehrten Nation 
durch das Appellativum der durch ihn verdrängten 
übermenscliHchen Individuen bezeichnet zu werden, 
als deos, Dens, welches vom Sanskrit Deva kommt 
(wovon auch devil, Teufel), oder bei den Gothisch- 
(jcrmanischen Völkern durch das von Odin oder Wo- 
dan, Guodau, Godan stammende Wort God, Gott. 
Eben so nahm er, in dem gleichfalls aus dem Juden- 
thum stammenden Islam, den in Arabien auch schon 
früher vorhandenen Namen Allah an. Diesem analog 
haben auch die Götter des Griechischen Olymps, als 
.sie, in vorhistorischer Zeit, nach Italien verpflanzt 
wurden, die Namen der vorher herrschenden Götter 
angenommen; daher Zeus bei den Römern Jupiter, 
Hera Juno, Hermes Merkur heisst u. s. f. In China er- 
wächst den Missionarien ihre erste Verlegenheit dar- 
aus, dass die Chinesische Sprache gar kein Appellativ 
der Art, wie auch kein Wort für Schaffen hat*); da 
die drei Religionen Chinas keine Götter kennen, we- 
der im Plural, noch im Singular. 
Wie dem übrigens auch seyn möge, dem eigent- 
lichen Christenthum ist jenes Travia xaXa Xiav des Al- 
ten Testaments wirklich fremd : ilenn von der Welt 
wird im Neuen Testament durchgängig geredet als 
von etwas, dem man nicht angehört, das man nicht 
liebt, ja dessen Beherrscher der Teufel ist**). Dies 
*) Vgl. ,,lJel)er den ^Villen in der Natur", zweite Auflage, 
S. 124. 
'*) Z. B. .loli. 12, 25 und 3i. — 14, 3o. — i5, 18. 19. — 
16, 33. — Coloss. 2, 20. — Eph. 2, I — 3. — i. Job. 2. 
i5 — 17, und 4-, 4- ^- ^*^^ dieser Gelegenheit kann man sehen, 
wie gewisse protestantische Theologen in ihren Bemühungen, 
den Text des Neuen Testaments ihrer rationalistischen, optimi- 
stischen und unsäglich platten Weltansicht gemäss zu miss- 
deuten, so weit gehen, dass sie diesen Text in ihren Ueber- 
setzungen geradezu verfälschen. So hat denn H. A. Schott, in 
seiner dem Griesbachischen Texte 1 8o5 beigegebenen neuen 
802 
stimmt zu dem asketischen Geiste der Verläugnung 
des eigenen Selbst und der Ueberwindung der Welt, 
welcher, eben wie die gränzenlose Liebe des Nächsten, 
selbst des Feindes, der Grundzug ist, welchen das 
Ghristenthuni mit dem Brahmanismus und Buddhais- 
mus gemein bat, und der ihre Verwandtschaft beur- 
kundet. Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern 
von der Schaale zu unterscheiden, wie beim Christen- 
thum. Eben weil ich diesen Kern hoch schätze, mache 
ich mit der Schaale bisweilen wenig Umstände: sie 
ist jedoch dicker, als man meistens denkt. 
Der Protestantismus hat, indem er die Askese und 
deren Centralpunkt, die Verdienstlichkeit des Cölibats, 
eliminirte, eigentlich schon den innersten Kern des 
Ghristenthums aufgegeben und ist insofern als ein 
Abfall von demselben anzusehen. Dies hat sich in un- 
sejn Tagen herausgestellt in dem allmäligen Ueber- 
gang desselben in den platten Rationalismus, diesen 
modernen Pelagianisnuis, der am Ende hinausläuft 
auf eine Lehre von einem liebenden Vater, der die 
Welt gemacht hat, damit es hübsch vergnügt darauf 
zugehe (was ihm dann freilich missrathen seyn müss- 
te), und der, wenn man nur in gewissen Stücken sich 
seinem Willen anbequemt, auch nachher für eine 
noch viel hübschere Welt sorgen wird (bei der nur 
zu beklagen ist, dass sie eine so fatale Entree hat). 
Das mag eine gute Religion für komfortable, vei- 
heirathete und aufgeklärte protestantische Pastoren 
seyn; aber das ist kein Ghristenthum. Das Christen- 
thum ist die Lehre von der tiefen Verschuldung des 
Menschengeschlechts durch sein Daseyn selbst und 
dem Drange des Herzens nach Erlösung daraus, wel- 
che jedoch nur durch die schwersten Opfer und durch 
die Verläugnung des eigenen Selbst, also durch eine 
gänzliche Umkehrung der menschlichen Natur er- 
langt werden kann. — Luther mochte, vom prakti- 
schen Standpunkte aus, d. h. in Beziehung auf die 
Version das Wort xoa[XO?, Joh. i5, i8. 19, mit Judaei über- 
setzt, I. Joh. 4) 4? '"'^ profani homines, und Coloss, 2, 20, 
axoiyfß.xa xou xoafiou mit elementa Judaica; während Luther 
überall das Wort ehrlich und richtig durch „Weh" wiedergiebt. 
5.* 8o3 
Kirchen{]räuel seiner Zeit, die er abstellen wollte, 
ganz Recht haben; nicht aber ebenso vom theoreti- 
sclien Stand[)unkte aus. Je erhabener eine Lehre ist, 
desto mehr steht sie, der im Ganzen niedrig und 
schlecht gesinnten Menschen natiu* gegenüber, dem 
Missbrauch offen: darum sind im Katholicismus der 
Missbränche so sehr viel mehr und grössere, als im 
Protestantismus. So z, B. ist das Mönchsthum, diese 
methodische und, zu gegenseitiger Ermnthigung, ge- 
meinsam betriebene Verneinung des Willens, eine An- 
stalt erhabener Art, die aber eben darum meistens 
ihrem Geiste untreu wird. Die empörenden Missbräu- 
che der Kirche riefen im redlichen Geiste Luthers 
eine hohe Indignation hervor. Aber in Folge dersel- 
ben kam er dahin, vom Christenthum selbst möglichst 
viel abdingen zu wollen, zu welchem Zweck er zu- 
nächst es auf die Worte der Bibel beschränkte, dann 
aber auch im wohlgemeinten Eifer zu weit ging, in- 
dem er, im asketischen Princip, das Herz desselben 
angriff. Denn nach dem Austreten des asketischen 
Princips trat nothwendig bald das optimistische an 
seine Stelle. Aber Optimismus ist, in den Religionen, 
wie in der Philosophie, ein Grundirrthum, der aller 
Wahrheit den Weg vertritt. Nach dem Allen scheint 
mir der Katholicismus ein schmählich missbrauchtes, 
der Protestantismus aber ein ausgeartetes Christen- 
thum zu seyn, das Christenthum überhaupt also das 
Schicksal gehabt zu haben, dem alles Edele, Erha- 
bene und Grosse anheimfallt, sobald es unter Men- 
schen bestehen soll. 
Dennoch aber hat, selbst im Schooss des Protestan- 
tismus, der wesentlich asketische und enkratistische 
Geist des Christenthums sich wieder Luft gemacht und 
ist daraus zu einem in solcher Grösse und Bestimmtheit 
vielleicht nie zuvor dagewesenen Phänomen hervorge- 
gangen, in der höchst merkwürdigen Sekte derShakers, 
in Nord-Amerika, gestiftet durch eine Engländerin 
Anna Lee, 1774- Diese Sektirer sind bereits auf 6000 an- 
gewachsen, welche, in 1 5 Gemeinden getheilt, mehrere 
Dörfer in den Staaten Neu-York und Kentucki inne 
haben, vorzüglich im Distrikt Neu-Libanon, bei Nas- 
«o4 
sau-village. Der Grundzug ihrer religiösen Lebens- 
regel ist Ehelosigkeit und gänzliche Enthaltsamkeit 
von aller Geschlechtsbefriedigung. Diese Regel wird, 
wie selbst die sonst auf alle Weise sie verhöhnenden 
und verspottenden Englischen und Nordamerikani- 
schen Besucher einmüthig zugeben, streng und mit 
vollkommener Redlichkeit befolgt; obgleich Brüder 
und Schwestern bisweilen sogar das selbe Haus be- 
wohnen, am selben Tische essen, ja, in der Kirche 
beim Gottesdienste gemeinschaftlich tanzen. Denn wer 
jenes schwerste aller Opfer gebracht hat, darf tanzen 
vor dem Herrn: er ist der Sieger, er hat überwunden. 
Ihre Gesänge in der Kirche sind überhaupt heiter, ja, 
zum Theil lustige Lieder. So wird denn auch jener, 
auf die Predigt folgende Kirchen-Tanz vom Gesänge 
der Uebrigen begleitet; taktmässig und lebhaft aus- 
geführt schliesst er mit einer Gallopade, die bis zu 
Erschöpfimg fortgesetzt wird. Zwischen jedem Tanz 
ruft einer ihrer Lehrer laut aus: „Gedenket, dass ihr 
euch freuet vor dem Herrrn, euer Fleisch ertödtet zu 
haben; denn Dieses hier ist der alleinige Gebrauch, 
den wir von unsernwiderspänstigen Gliedern machen." 
An die Ehelosigkeit knüpfen sich von selbst die mei- 
sten übrigen Bestimmungen. Es giebt keine Familie, 
daher auch kein Privateigenthum, sondern Güterge- 
meinschaft. Alle sind gleich gekleidet, quäkerujässig 
und mit grosser Reinlichkeit. Sie sind industriell und 
fleissig: Müssiggang wird nicht geduldet. Auch haben 
sie die beneidenswerthe Vorschrift, alles unnöthige 
Geräusch zu vermeiden, wie Schreien, Thürenwerfen, 
Peitschenknallen, starkes Klopfen u.s. w. Ihre Lebens- 
regel sprach Einer von ihnen so aus: „Führet ein Le- 
ben der Unschuld und Reinheit, liebt euren Nächsten, 
wie euch selbst, lebt mit allen Menschen in Frieden 
und enthaltet euch des Krieges, Blutvergiessens und 
aller Gewaltthätigkeit gegen hindere, wie auch alles 
Trachtens nach weltlicher F^hre und Auszeichnung. 
Gebt Jedem das Seine, und beobachtet Heiligkeit: denn 
ohne diese kann Keiner den Herrn schauen. Thut Al- 
len Gutes, so weit Gelegenheit ist und eure Kräfte 
reichen." Sie überreden Niemanden zum Beitritt, son- 
8o5 
dem prüfen die sich Meldenden durch ein mehrjähri- 
ges Noviziat. Auch steht Jedem der Austritt frei: 
höchst selten wird Einer, wegen Vergehungen, aus- 
gestossen. Zugehrachte Kinder werden sorgfältig er- 
zogen, und erst wann sie erwachsen sind, thun sie 
freiwillig Profess. Es wird angeführt, dass hei den Kon- 
troversen ihrer Vorsteher mit anglikanischen Geist- 
lichen diese meistens den Kürzeren ziehen, da die Ar- 
gumente aus neutestamentlichen Bihelstellen bestehen. 
— Ausführlic:here Berichte über sie findet man vor- 
züglich in MaxwelTs Run through the United slates, 
1 84 1 ; ferner auch in Benedicts History of all religions, 
i83o; desgleichen in den Times, Novr. 4. 1887; und 
in der deutschen Zeitschrift Columbus, Mai-Heft, i83i. 
— Eine ihnen sehr ähnliche Deutsche Sekte in Ame- 
rika, welche ebenfalls in strenger Ehelosigkeit und 
Enthaltsamkeit lebt, sind die Rappisten, über welche 
berichtet wird in F. Löher's „Geschichte und Zustände 
der Deutschen in Amerika", i853. — Auch in Russ- 
land sollen die Raskolnik eine ähnliche Sekte seyn. 
Die Gichtelianer leben ebenfalls in strenger Keusch- 
heit. — Aber schon bei den alten Juden finden wir 
ein Vorbild aller dieser Sekten, die Essener, über wel- 
che selbst Plinius berichtet (Hist. nat., V, i5), und 
die den Shakers sehr ähnlich waren, nicht allein im 
Cölibat, sondern auch in andern Stücken, sogar im 
Tanze beim Gottesdienst*), welches auf die Vermu- 
thung führt, dass die Stifterin dieser jene zum Vor- 
bild genommen habe. — Wie nimmt sich, solchen 
Thatsachen gegenüber, Luthers Behauptung aus: Llbi 
natura, queniadniodum a Deo nobis insita est, fertur 
ac rapitur, ßeri nuUo modo potest, ut extra matriino- 
nium caste vivatur. (Gatech. maj.) — ? 
Wenn gleich das Christenthum, im Wesentlichen, 
nur Das gelehrt hat, was ganz Asien damals schon 
lange und sogar besser wusste; so war dasselbe den- 
noch für Europa eine neue und grosse Offenbarung, 
in Folge welcher daher die Geistesrichtung der Euro- 
päischen Völker gänzlich umgestaltet w urde. Denn 
*) fiellermaim, Gcschicluliclie Nachrichten über Essäer und 
Therapeuten. i82i,S. 106. 
806 
es schloss ihnen die metaphysische Bedeutung des 
Daseyns auf und lehrte sie demnach hinwegsehen über 
das enge, armsähge und ephemere Erdenleben, und 
es nicht mehr als Selbstzweck, sondern als einen Zu- 
stand des Leidens, der Schuld, der Prüfung, des 
Kampfes und der Läuterung betrachten, aus welchem 
man, mittelst moralischer Verdienste, schwerer Ent- 
sagung und Verläugnung des eigenen Selbst, sich 
emporschwingen könne zu einem bessern, uns unbe- 
greiflichen Daseyn. Es lehrte nämlich die grosse 
Wahrheit der Bejahung und Verneinung des Willens 
zum Leben, im Gewände der Allegorie, indem es 
sagte, dass durch Adams Sündenfall der Fluch Alle 
getroffen habe, die Sünde in die Welt gekommen, die 
Schuld auf Alle vererbt sei ; dass aber dagegen durch 
Jesu Opfertod Alle entsühnt seien, die Welt erlöst, 
die Schuld getilgt und die Gerechtigkeit versöhnt. 
Um aber die in diesem Mythos enthaltene Wahrheit 
selbst zu verstehen, muss man die Menschen nicht 
bloss in der Zeit, als von einander unabhängige Wesen 
betrachten, sondern die (Platonische) Idee des Men- 
schen auffassen, welche sich zur Menschenreihe ver- 
hält, wie die Ewigkeit an sich zu der zur Zeit aus- 
einandergezogenen Ewigkeit; daher eben die, in der 
Zeit, zur Menschenreihe ausgedehnte ewige Idee 
Mensch durch das sie verbindende Band der Zeugung 
auch wieder in der Zeit als ein Ganzes erscheint. Be- 
hält man nun die Idee des Menschen im Auge; so 
sieht man, dass Adams Sündenfall die endliche, thie- 
rische, sündige Natur des Menschen darstellt, welcher 
gemäss er eben ein der Endlichkeit, der Sünde, dem 
Leiden und dem Tode anheim gefallenes Wesen ist. 
Dagegen stellt Jesu Christi Wandel, Lehre und Tod 
die ewige, übernatürliche Seite, die Freiheit, die Er- 
lösung des Menschen dar. Jeder Mensch nun ist, als 
solcher und potentiä, sowohl Adam als Jesus, je nach- 
dem er sich auffasst und sein Wille ihn danach be- 
stimmt; in Folge wovon er sodann verdammt und 
dem Tode anheimgefallen, oder aber erlöst ist und 
das ewige Leben erlangt. — Diese Wahrheiten nun 
waren, im allegorischen, wie im eigentlichen Sinn, 
807 
völli{; neu, in Be7.n{j auf Griechen und Römer, als 
welche noch {gänzlich im Lehen auf{jieng;en und über 
dasselbe nicht ernstlich hinausblickten. Wer dies 
Letztere bezweifelt, sehe wie noch Cicero (pro Cluen- 
tio, c. 6i) und Sallust (Catil., c. 4?) vom Zustande 
nach dem Tode reden. Die Alten, obwohl in fast allem 
Andern weit vor^jerückt, waren in der Hauptsache 
Kinder gcbliei)en, und wurden darin sogar von den 
Druiden übertroften, die doch Metempsychose lehr- 
ten. Dass ein Paar Philosophen, wie Pythagoras und 
Plato, anders dachten, ändert hinsichtlich auf das 
Ganze nichts. 
Jene grosse, im Christenthum, wie im Brahmanis- 
mus und Buddhaismus enthaltene Grundwahrheit 
also, nämlich das Bedürfniss der Erlösung aus einem 
Daseyn, welches dem Leiden und dem Tode anheim- 
gefallen ist, und die Erreichbarkeit derselben durch 
Verneinung des Willens, also durch ein entschiedenes 
der Natur Entgegentreten, ist ohne allen Vergleich 
die wichtigste, die es geben kann, zugleich aber der 
natürlichen Richtung des Menschengeschlechts ganz 
entgegen und nach ihren wahren Gründen schwer zu 
fassen; wie denn alles bloss allgemein und abstrakt 
zu Denkende der grossen Mehrzahl der Menschen 
ganz unzugänglich ist. Daher bedurfte es für diese, 
lun jene grosse Wahrheit in den Bereich ihrer prak- 
tischen Anwendbarkeit zu bringen, überall eines 
mythischen Vehikels derselben, gleichsam eines Ge- 
fässes, ohne welches jene sich verheren und verflüch- 
tigen würde. Die Wahrheit musste daher überall das 
Gewand der Fabel borgen und zudem stets sich an 
das jedes Mal historisch Gegebene, bereits Bekannte 
und bereits Verehrte anzuschliessen bestrebt sevn. 
W^as, bei der niedrigen Gesiniumg, der intellektuellen 
Stumpfheit und überhaupt Brutalität des grossen 
Haufens aller Zeiten und Länder, ihm sensu proprio 
unzugänglich l)liebe, muss ihm, zum praktischen 
Behuf, sensu allegorico beigebracht werden, um sein 
Leitstern zu seyn. So sind denn die oben genannten 
Glaubenslehren anzusehen als die heiligen Gefässe, in 
welchen die seit mehreren Jahrtausenden, ja, vielleicht 
808 
seit dem Beginn des Menschengeschlechts erkannte 
und ausgesprochene grosse Wahrheit, die jedoch an 
sich selbst, in Bezug auf die Masse der Menschheit, 
stets eine Geheiuilehre bleibt, dieser nach Maassgabe 
ihrer Kräfte zugänglich gemacht, aufbewahrt und 
durch die Jahrhunderte weitergegeben wird. Weil 
jedoch Alles, was nicht durch und durch aus dem 
unzerstörbaren Stoff der lauteren Wahrheit besteht, 
dem Untergange ausgesetzt ist; so muss, so oft diesem 
ein solches Gefäss, durch die Berührung mit einer 
ihm heterogenen Zeit, entgegengeht, der heilige In- 
halt irgendwie, durch ein anderes, gerettet und der 
Menschheit erhalten werden. Die Philosophie aber 
hat die Aufgabe, jenen Inhalt, da er mit der lauteren 
W^ahrheit Eins ist, für die allezeit äusserst geringe 
Anzahl der zu denken Fähigen, rein, unvermischt, 
also bloss in abstrakten Begriffen, mithin ohne jedes 
Vehikel darzustellen. Dabei verhält sie sich zu den 
Religionen, wie eine gerade Linie zu mehreren neben 
ihr laufenden Kurven: denn sie spricht sensu proprio 
aus, erreicht mithin geradezu, was jene unter Ver- 
hüllungen zeigen vmd auf Umwegen erreichen. 
Wollte ich nun noch, mn das zuletzt Gesagte durch 
ein Beispiel zu erläutern und zugleich eine philoso- 
phische Mode meiner Zeit mitzumachen, etwan ver- 
suchen, das tiefste Mysterium des Christentums, also 
das der Trinität, in die Grundbegriffe meiner Philo- 
sophie aufzulösen; so könnte Dieses, unter den bei 
solchen Deutungen zugestandenen Licenzen, auf fol- 
gende Weise geschehen. Der heilige Geist ist die ent- 
schiedene Verneinung des W^illens zum Leben : der 
Mensch, in welchem solche sich in concreto darstellt, 
ist der Sohn. Er ist identisch mit dem das Leben 
bejahenden und dadurch das Phänomen dieser an- 
schaulichen Welt hervorbringenden Willen, d. i. dem 
Vater, sofern nämlich die Bejahung imd Verneinung 
entgegengesetzte Akte des selben Willens sind, dessen 
Fähigkeit zu Beidem die alleinige wahre Freiheit ist. 
— Inzwischen ist dies als ein blosser lusus ingenii 
anzusehen. 
Ehe ich dies Kapitel schliesse, will ich einige Be- 
809 
lejje zu Dem beibrinjjen, was ich §. 68 des ersten 
Bandes durch den Ausdruck AeuTspo? irXou? bezeich- 
net habe, nämhch die Herbeiführung der Verneinung 
des Willens durch das eigene, schwer gefühlte Leiden, 
also nicht bloss durch das Aneignen des fremden und 
die durch dieses vermittelte Erkenntniss der Nichtig- 
keit und Trübsäligkeit unsers Daseyns. Was bei einer 
Erhebung solcher Art und dem durch sie eingeleiteten 
Läuterungsprocess im Innern des Menschen vorgeht, 
kann man sich fasslich machen an Dem, was jeder 
erregbare Mensch beim Zuschauen eines Trauerspiels 
erfahrt, als womit es verwandter Natur ist. Nämlich 
etwan im dritten und vierten Akt wird ein Solcher 
durch den Anblick des mehr und mehr getrübten 
und bedrohten Glückes des Helden schmerzlich affi- 
zirt und beängstigt: wann hingegen dieses im fünften 
Akte gänzlich scheitert und zerschellt, da spürt er 
eine gewisse Erhebung seines Gemüthes, welche ihm 
ein Genügen unendlich höherer Art gewährt, als der 
Anblick des noch so sehr beglückten Helden je ver- 
mocht hätte. Dieses nun ist, in den schwachen Wasser- 
farben der Mitempfindung, wie sie eine wohlbewusste 
Täuschung erregen kann, das Selbe, was mit der 
Energie der Wirklichkeit in der Empfindung des 
eigenen Schicksals vorgeht, wann das schwere Un- 
glück es ist, was den Menschen endlich in den Hafen 
gänzlicher Resignation treibt. Auf diesem Vorgange 
beruhen alle den Menschen ganz umwandelnden Be- 
kehrungen, wie ich sie im Texte geschildert habe. 
Als eine der daselbst erzählten Bekehrungsgeschichte 
des Raimund Liillius auffallend ähnliche und über- 
dies durch ihren Erfolg denkwürdige mag die des 
Abbe Rance hier in wenigen Worten ihre Stelle finden. 
Seine Jugend war dem Vergnügen und der Lust ge- 
widmet: er lebte endlich in einem leidenschaftlichen 
Verhältniss mit einer Frau von Montbazon. Eines 
Abends, als er diese besuchte, fand er ihre Zimmer 
leer, in Unordnung und dunkel. Mit dem Fusse stiess 
er an etwas: es war ihr Kopf, den man vom Rumpfe 
getrennt hatte, weil der Leichnam der plötzlich Ge- 
storbenen sonst nicht in den bleiernen Sarg, der da- 
8io 
neben stand, hätte gehen können. Nach Ueberstehung 
eines gränzenlosen Schmerzes wurde nunmehr, i663, 
Bance der Reformator des damals von der Strenge 
seiner Regeln gänzlich abgewichenen Ordens der 
Trappisten, in welchen er sofort trat, und der durch 
ihn zu jener furchtbaren Grösse der Entsagung zurück- 
geführt wurde, in welcher er noch gegenwärtig zu 
Latrappe besteht und, als die methodisch durch- 
geführte, durch die schwersten Entsagungen und eine 
unglaublich harte und peinliche Lebensweise beför- 
derte Verneinung des Willens, den Besucher mit hei- 
ligem Schauer erfüllt, nachdem ihn schon bei seinem 
Empfange die Demuth dieser ächten Mönche gerührt 
hat, die durch Fasten, Frieren, Nachtwachen, Beten 
imd Arbeiten abgezehrt, vor ihm, dem Weltkinde 
und Sünder, niederknieen, um seinen Segen zu er- 
bitten. In Frankreich hat von allen Mönchsorden 
dieser allein sich, nach allen Umwälzungen, vollkom- 
men erhalten ; welches dem tiefen Ernst, der bei ihm 
unverkennbar ist und alle Nebenabsichten ausschliesst, 
zuzuschreiben ist. Sogar vom Verfall der Religion ist 
er unberührt geblieben; well seine W^urzel eine tiefer 
in der menschlichen Natur liegende ist, als irgend 
eine positive Glaubenslehre. 
Dass die hier in Betrachtung genommene, von den 
Philosophen bisher gänzlich vernachlässigte, grosse 
und schnelle Umwälzung des innersten Wesens im 
Menschen am häufigsten da eintritt, wo er, bei vollem 
Bewusstseyn, einem gewaltsamen und gewissen Tode 
entgegengeht, also bei Hinrichtungen, habe ich im 
Texte erwähnt. Um aber diesen Vorgang viel deut- 
licher vor Augen zu bringen, halte ich es keineswegs 
der Würde der Philosophie unangemessen, die Aeusse- 
rungen einiger Verbrecher vor der Hinrichtung her- 
zusetzen; wenn ich mir auch den Spott, dass ich auf 
Galgenpredigten provocire, dadurch zuziehen sollte. 
Vielmehr glaube ich allerdings, dass der Galgen ein 
Ort ganz besonderer Offenbarungen und eine Warte 
ist, von welcher aus dem Menschen, der daselbst seine 
Besinnung behält, die Aussichten in die Ewigkeit sich 
oft weiter aufthun und deutlicher darstellen, als den 
8ii 
meisten Philosophen über den Paragraphen ihrer 
rationalen Psychol<j{;ie und Theologie. — Folgende 
Galgenpredigt also hielt, am i5. April 1887, zu 
Glocester, ein gewisser Bartlett, der seine Schvvieger- 
nuUter gemordet hatte: „Engländer und Landsleute! 
Nur sehr wenige Worte habe ich zu sagen: aber ich 
bitte euch, Alle und Jeden, dass ihr diese wenigen 
Worte tief in eure Herzen dringen lasst, dass ihr sie 
im Andenken behaltet, nicht nur während ihr dem 
gegenwärtigen, traurigen Schauspiele zusehet, sondern 
sie nach Hause nehmt und sie euren Kindern und 
Freunden wiederholet. Hierum also flehe ich euch 
an, als ein Sterbender, als Einer, für den das Todes- 
werkzeug jetzt bereit steht. Und diese wenigen Worte 
sind: macht euch los von der Liebe zu dieser ster- 
benden Welt und ihren eitelen Freuden: denkt we- 
niger an sie und mehr an euren Gott. Das thut! 
Bekehret euch, bekehret euch! Denn, seid versichert, 
dass ohne eine tiefe und wahre Bekehrung, ohne ein 
Umkehren zu eurem hinunlischen Vater, ihr nicht 
die geringste Hofinung haben könnt, jemals jene 
Gelilde der Säligkeit und jenes Landes des Friedens zu 
erreichen, welchem ich jetzt mit schnellen Schritten 
entgegenzugehen, die feste Zuversicht habe." (Nach 
den Times, vom 18. April iSSy.) — Noch merkwür- 
diger ist eine letzte Aeusserung des bekannten Mör- 
ders Greenacre, welcher am i. Mai 1887 in London 
hingerichtet wurde. Die englische Zeitung The Post 
berichtet darüber Folgendes, welches auch in Gali- 
gnani's Messenger vom 6. Mai 1837 abgedruckt ist: 
,,Am Morgen seiner Hinrichtung empfahl ihm ein 
Herr, er möge sein Vertrauen auf Gott stellen und 
um Vergebung durch die Vermittelung Jesu Christi 
beten. Greenacre erwiderte: um Vergebung durch 
die Vermittelung Christi bitten sei eine Sache der 
Meinung; er seines Theils {jjaube, dass, in den Augen 
des höclistcn W^escns, ein Mohammedaner einem 
Christen gleich gelte mid eben so viel Anspruch 
auf Säligkeit habe. Er habe, seit seiner Gefangen- 
schaft, seine Aufmerksamkeit auf theologische Gegen- 
stände gerichtet, und ihm sei die Ueberzeugung ge- 
812 
worden, dass der Galgen ein Pass (pass-port) zum 
Himmel ist." Gerade die hier an den Tag gelegte 
Gleichgültigkeit gegen positive Religionen giebt dieser 
Aeusserang grösseres Gewicht; indem sie beweist, 
dass derselben kein fanatischer Wahn, sondern eigene, 
unmittelbare Erkenntniss zimi Grunde liegt. — Noch 
folgender Zug sei erwähnt, welchen Galignani's Mes- 
senger vom i5. August 1887 aus der Limerick Chro- 
nicle giebt: ,, Letzten Montag wurde Maria Cooney 
wegen des empörenden Mordes der Frau Ander- 
son hingerichtet. So tief war diese Elende von der 
Grösse ihres Verbrechens durchdrungen, dass sie den 
Strick, der ihr an den Hals gelegt wurde, küsste, 
indem sie demüthig Gottes Gnade anrief." — End- 
lich noch dieses: die Times vom 29. April i84-^ geben 
mehrere Briefe, welche der als Mörder des Delarüe 
verurtheilte Hocker am Tage vor seiner Hinrichtung 
geschrieben hat. hi einem derselben sagt er: „Tch bin 
überzeugt, dass, wenn nicht das natürliche Herz ge- 
brochen (the natural heart be broken) und durch 
göttliche Gnade erneuert ist, so edel und liebenswür- 
dig dasselbe auch der Welt erscheinen mag, es doch 
nimmer der Ewigkeit gedenken kann, ohne inner- 
lichen Schauder." — Dies sind die oben erwähnten 
Aussichten in die Ewigkeit, die sich von jener Warte 
aus eröffnen, und ich habe um so weniger Anstand 
genommen, sie herzusetzen, als auch Shakespeare sagt: 
out of these convertites 
There is much matter to be heard and learn'd*). 
(As you like it, last scene.) 
Dass auch das Christenthum dem Leiden als sol- 
chem die hier dargestellte läuternde und heiligende 
Kraft beilegt und dagegen dem grossen Wohlseyn 
eine entgegengesetzte Wirkung zuschreibt, \\2it Strauss 
in seinem „Leben Jesu" nachgewiesen. (Bd. i, Abschn. 
2, Kap. 6, §. 72 und 74) Er sagt nämlich, dass die 
Makarismen in der Bergpredigt einen andern Sinn 
bei Lukas (6, 21), als bei Matthäus (5, 3) hätten: 
denn nur Dieser füge zu jjiaxapioi ot 'kxio'^oi hinzu 
*) Von diesen Bekehrten ist gar Vieles zu hören und zu leinen. 
.Si3 
T({> Trv£U|xaTi, und zu TreivcuvTe? den Zusatz xrjv Sixato- 
ouvTfjv: l)ei ihm allein also seien die FJnfälti{»en und 
Denuithigen u. s. w. gemeiiit, hin{je{jen bei Lukas die 
eigentlicli Annen; so dass hier der Gejjensatz der sei, 
zwischen jetzigem Leiden und kiinltigeni Wohl- 
er^jehn. Bei den Ebioniten sei ein Hauptsatz, dass 
wer in dieser Zeit sein Theil nehme, in der künftigen 
leer ausgehe, und umgekehrt. Auf die Makarismen 
folgen demgemäss bei Lukas eben so viele ouai, welche 
den TrXouotot?, eii.T:e7rX7]0[x£voi<; und -j-eXcooi zugerufen 
werden, im Ebionitischen Sinn. Im selben Sinn, sagt 
er S. 6o4, sei die Parabel (Luk. i6, 19) vom reichen 
Mann und dem Lazarus gegeben, als welche durch- 
aus kein Vergehen Jenes, noch Verdienst Dieses er- 
zählt, und zum Maassstab der künftigen Vergeltung 
nicht das in diesem Leben gethane Gute, oder verübte 
Böse, sondern das hier erlittene Uebel und genossene 
Gute nimmt, im Ebionitischen Sinne. ,,Eine ähnliche 
Werthschätzung der äussern Armuth", fährt Shaiiss 
fort, „schreiben auch die andern Synoptiker (Matth. 
19, 16; Mark. 10, 17; Luk. 18, 18) Jesu zu, in der 
Erzählung vom reichen Jüngling und der Gnome 
vom Kameel und Nadelöhr." 
Wenn man den Sachen auf den Grund geht, wird 
man erkennen, dass sogar die berühmtesten Stellen 
der Bergpredigt eine indirekte Anweisung zur frei- 
willigen Armuth, und dadurch zur Verneinung des 
Willens zum Leben, enthalten. Denn die Vorschrift 
(Matth. 5, i'^f'^Oi allen an uns gemachten Forderun- 
gen unbedingt Folge zu leisten. Dem, der um die 
Tunika mit uns rechten will, auch noch das Pallium 
dazu zu geben, u. s. w., imgleichen (ebendaselbst 6, 
25 — 34) die Vorschrift, uns aller Sorgen für die Zu- 
kunft, sogar für den morgenden Tag, zu entschlagen 
und so in den Tag hinein zu leben, sind Lebensregeln, 
deren Befolgung unfehlbar zur gänzlichen Arnuuh 
führt, und die demnach auf indirekte Weise eben Das 
besagen, was Buddha den Seinigen geradezu vor- 
schreibt und durch sein eigenes Beispiel bekräftigt 
hat: werfet Alles weg und werdet Bikscim, d. h. Bett- 
ler. Noch entschiedener tritt Dieses hervor in der Stelle 
8l4 
Matth. 10, 9 — 15, wo den Aposteln jedes Eigenthum, 
sogar Schuhe und Wanderstah, untersagt wird und 
sie auf das Bettehi angewiesen werden. Diese Vor- 
schriften sind nachmals die Grundlage der Beltel- 
orden des Heil. Franciscus geworden (ßonaventurae 
viia S. Francisci, c. 3). Darum also sage ich, dass der 
Geist der Christlichen Moral mit dem des Brahma- 
nismus und Buddhaismus identisch ist. — In Gemäss- 
heit der ganzen hier dargelegten Ansicht, sagt auch 
Meister Eckhard (Werke, 13d. I, S. 492): „Das schnell- 
ste Tliier, das euch trägt zur Vollkommenheit, das 
ist Leiden." 
KAPITEL 49. 
DIE HEILSORDNUNG. 
ES gieht nur einen angeborenen Irrthum, und es 
ist der, dass wir dasind, um glücklich zu seyn. 
Angeboren ist er uns, weil er mit unserm Daseyn 
selbst zusammenfällt, und unser ganzes Wesen eben 
nur eine Paraphrase, ja unser Leib sein Monogramm 
ist: sind wir doch eben nur Wille zum Leben; die 
successive Befriedigung alles unsers Wollens aber ist 
was man durch den Begriff des Glückes denkt. 
So lange wir in diesem angeborenen Irrthum ver- 
harren, auch wohl gar noch durch optimistische Dog- 
men in ihm bestärkt werden, erscheint uns die Welt 
voll Widersprüche. Denn bei jedem Schritt, im Gros- 
sen wie im Kleinen, müssen wir erfahren, dass die 
Welt und das Leben durchaus nicht darauf eingerich- 
tet sind, ein glückliches Daseyn zu enthalten. Während 
nun hiedurch der Gedankenlose sich eben bloss in 
der Wirklichkeit geplagt fühlt, kommt bei Dem, wel- 
cher denkt, zur Pein in der Realität noch die theore- 
tische Perplexität hinzu, warum eine Welt und ein 
Leben, welche doch ein Mal dazu dasind, dass man 
darin glücklich sei, ihrem Zwecke so schlecht ent- 
sprechen? Sie macht vor der Hand sich Luft in Stoss- 
seufzern, wie: „Ach, warum sind derThränen unterem 
8i5 
Mond so viel:'" ii. dei};l. in., in ihrem Gefolf^e aber 
kommen beunruhi^jende Skrupel {jejjen die Voraus- 
setzungen jener vor^jefassten optimistischen Do{^men. 
Innnerhin ma{; man dal)ei versuchen, die Schuld sei- 
ner individuellen Un{jlücksali{jkeit l)ald auf die Um- 
stände, bald auf andere Menschen, bald auf sein 
eigenes Missgeschick, oder auch Ungeschick, zu schie- 
ben, auch wohl erkennen, wie Diese sämmtlich dazu 
mitgewirkt haben; Dieses ändert doch nichts in dem 
Ergebniss, dass man den eigentlichen Zweck des Le- 
bens, der ja im Glücklichseyn bestehe, verfehlt habe; 
worüber dann die Betrachtung, zumal wann es mit 
dem Leben schon auf die Neige geht, oft sehr nieder- 
schlajjend ausfällt: daher tragen fast alle ältlichen 
Gesichter den Ausdruck Dessen, was man auf Eng- 
lisch disappointment nennt. Ueberdies aber hat uns 
bis dahin schon jeder Tag unsers Lebens gelehrt, dass 
die Freuden und Genüsse, auch wenn erlangt, an sich 
selbst trügerisch sind, nicht leisten, was sie verspre- 
chen, das Herz nicht zufrieden stellen und endlich 
ihr Besitz wenigstens durch die sie begleitenden, oder 
aus ihnen entspringenden Unannehmlichkeiten ver- 
gällt wird; während hingegen die Schmerzen und 
Leiden sich als sehr real erweisen und oft alle Er- 
wartung übertreffen. — So ist denn allerdings im 
Leben x\lles geeignet, uns von jenem ursprünglichen 
Irrthum zurückzubringen und uns zu überzeugen, 
dass der Zweck unsers Daseyns nicht der ist, glück- 
lich zu seyn. Ja, wenn näher und unbefangen betrach- 
tet, stellt das Leben sich vielmehr dar, wie ganz 
eigentlich darauf abgesehen, dass wir uns nicht glück- 
lich darin fühlen sollen, indem dasselbe, durch seine 
ganze Beschaffenheit, den Charakter trägt von etwas, 
daran uns der Geschmack benonnnen, das uns ver- 
leidet werden soll und davon wir, als von einem Irr- 
thum, zurückzukommen haben, damit unser Herz 
von der Sucht zu geniessen, ja, zu leben, geheilt und 
von der Welt abgewendet werde. In diesem Sinne 
wäre es demnach richtiger, den Zweck des Lebens in 
unser Wehe, als in unser Wohl zu setzen. Denn die 
Betrachtungen am Schlüsse des vorigen Kapitels ha- 
8iG 
ben {jezeigt, dass, je mehr man leidet, desto eher der 
wahre Zweck des Lebens erreicht, und je (ylückhcher 
man lebt, desto weiter er hinausgeschoben wird. Die- 
sem entspricht sogar der Schluss des letzten Briefes 
des Seneka: bonum tunc habebis tuum, quum intelli- 
ges infelicissimos esse felices; welcher allerdings auf 
einen Einfluss des Christenthums zu deuten scheint. 
— Auch die eigentümliche Wirkung des Trauerspiels 
beruht im Grunde darauf, dass es jenen angeborenen 
Irrthum erschüttert, indem es die Vereitehuig des 
menschlichen Strebens und die Nichtigkeit dieses gan- 
zen Daseyns an einem grossen und frappanten Beispiel 
lebhaft veranschaulicht und hiedurch den tiefsten 
Sinn des Lebens aufschliesst ; weshalb es als die erha- 
benste Dichtungsart anerkannt ist. — Wer nun, auf 
dem einen oder dem andern Wege, von jenem uns 
a priori einwohnenden Irrthum, jenem TiptuTov «|^£uoo? 
unsers Daseyns, zurückgekonmien ist, wird bald x\lles 
in einem andern Lichte sehen und jetzt die Welt, 
wenn auch nicht mit seinem Wunsche, doch mit sei- 
ner Einsicht im Einklang finden. Die Unfälle, jeder 
Art und Grösse, wenn sie ihn auch schmerzen, wer- 
den ihn nicht mehr wundern; da er eingesehen hat, 
dass gerade Schmerz und Trübsal auf den wahren 
Zweck des Lebens, die Abwendung des Willens von 
demselben, hinarbeiten. Dies wird ihm sogar, bei 
Allem was geschehen mag, eine wundersame Gelas- 
senheit geben, der ähnlich, mit welcher ein Kranker, 
der eine lange und peinliche Kur gebraucht, den 
Schmerz derselben als ein Anzeichen ihrer W^irksam- 
keit erträgt. — Deutlich genug spricht aus dem gan- 
zen menschlichen Daseyn das Leiden als die wahre 
Bestimmung desselben. Das Leben ist tief darin ein- 
gesenkt und kann ihm nicht entgehen: unser Eintritt 
in dasselbe geschieht unter Thränen, sein Verlauf ist 
im Grunde immer tragisch, und noch mehr sein Aus- 
gang. Ein Anstrich von Absichtlichkeit hierin ist nicht 
zu verkennen. In der Regel fährt das Schicksal dem 
Menschen im Hauptzielpunkt seiner Wünsche und 
Bestrebungen auf eine radikale Weise durch den Sinn; 
wodurch alsdann sein Leben eine tragische Tendenz 
52 Schopenhauer II o I "y 
erhält, vermö(je welcher es geeignet ist, ihn von der 
Sucht, deren Darstellung jede individuelle Existenz 
ist, zu befreien und ihn dahin zu führen, dass er vom 
Leben scheidet, ohne den Wunsch nach ihm und sei- 
nen Freuden zurückzubebalten. Das Leiden ist in der 
Tliat der Läuterungsprocess, durch welchen allein, 
in den meisten Fällen, der Mensch geheiligt, d. h. von 
dem Irrweg des Willens zum Leben zurückgeführt 
wird. Dem entsprechend wird in den Christlichen 
Erbauungsbüchern so oft die Heilsamkeit des Kreuzes 
und Leidens erörtert und ist überhaupt sehr passend, 
das Kreuz, ein W'erkzeug des Leidens, nicht des Thuns, 
das Symbol der Christlichen Religion. Ja, schon der 
noch jüdische, aber so philosophische Koheleth sagt 
mit Recht: ,,Es ist Trauern besser, denn Lachen: 
denn durch Trauern wird das Herz gebessert" (7, 4)- 
Unter der Bezeichnvmg des ösuTspo? ttXoui; habe ich 
das Leiden gewissermaassen als ein Surrogat der Tu- 
gend und Heiligkeit dargestellt: hier aber muss ich 
das kühne Wort aussprechen, dass wir. Alles wohl 
erwogen, für vinser Heil und Erlösung mehr zu hoffen 
haben von Dem, was wir leiden, als von Dem, was 
wir thun. Gerade in diesem Sinne sagt Lamartine^ in 
seiner Hymne ä la douleur, den Schmerz anredend, 
sehr schön: 
Tu me traites 8ans doiite en favoii des cieux. 
Gar tu n'epargnes pas Ics lainies ä «ncs yeux. 
Ell bien ! je les recois comme tu Ics envoics, 
Tes maux seront nies biens, et tcs soupirs mos joies, 
Je sens qu'il est en toi, sans avoir combattu, 
Unc vertu divine au Heu de ma i'ertu^ 
Que tu ncs pas la mort de l'äme, mais sa vie, 
(Jue ton blas, cn frappant, gucrit et vivifie. 
Hat also schon das Leiden eine solche heiligende 
Kraft, so wird diese in noch höherm Grade dem mehr 
als alles Leiden gefürchteten Tode zukommen. Dem 
entsprechend wird eine der Ehrfurcht, welche grosses 
Leiden uns abnöthigt, verwandte vor jedem Gestor- 
benen gefühlt, ja, jeder Todesfall stellt sich gewisser- 
maassen als eine Art Apotheose oder Heiligsprechung 
dar; daher wir den Leichnam auch des unbedeuten- 
desten Menschen nicht ohne Ehrfurcht betrachten, 
und sogar, so seksam an dieser Stelle die Bemerkung 
klingen mag, vor jeder Leiche die Wache ins Gewehr 
tritt. Das Sterben ist allerdings als der eigentliche 
Zweck des Lebens anzusehen: im Augenblick dessel- 
ben wird alles Das entschieden, was durch den ganzen 
Verlauf des Lebens nur vorbereitet und eingeleitet 
war. Der Tod ist das Ergebniss, das ßesumc des Le- 
bens, oder die zusammengezogene Summe, welche die 
gesammte Belehrung, die das Leben vereinzelt und 
stückweise gab, mit Einem Male ausspricht, nämlich 
diese, dass das ganze Streben, dessen Erscheinung das 
Leben ist, ein vergebliches, eitles, sich widersprechen- 
des war, von welchem zurückgekommen zu seyn eine 
Erlösung ist. Wie die gesammte, langsame Vegetation 
der Pflanze sich verhält zur Frucht, die mit Einem 
Schlage jetzt hundertfach leistet, was jene allmälig 
und stückweise; so verhält sich das Leben, mit seinen 
Hindernissen, getäuschten Hoffnungen, vereitelten Plä- 
nen und stetem Leiden, zum Tode, der Alles, Alles, 
was der Mensch gewollt hat, mit Einem Schlage zer- 
stört und so der Belehrung, die das Leben ihm gab, 
die Krone aufsetzt. — Der vollbrachte Lebenslauf, 
auf welchen man sterbend zurückblickt, hat auf den 
ganzen, in dieser untergehenden Individualität sich 
objektivirenden Willen eine Wirkung, welche der 
analog ist, die ein Motiv auf das Handeln des Men- 
schen ausübt: er giebt nämlich demselben eine neue 
Richtung, welche sonach das moralische und wesent- 
liche Resultat des Lebens ist. Eben weil ein plötzlicher 
Tod diesen Rückblick unmöglich macht, sieht die 
Kirche einen solchen als ein Unglück an, um dessen 
Abwendung gebetet wird. Weil sowohl dieser Rück- 
blick, wie auch die deutliche Vorhersicht des Todes, 
als durch Vernunft bedingt, nur im Menschen, nicht 
im Thiere, möglich ist, und deshalb auch nur er den 
Becher des Todes wirklich leert, ist die Menschheit 
die alleinige Stufe, auf welcher der Wille sich ver- 
neinen und vom Leben ganz abwenden kann. Dem 
Willen, der sich nicht verneint, verleiht jede Geburt 
52* 819 
einen neuen und verschiedenen [nlellekt, — bis er 
die wahre Beschaffenheit des Lebens erkannt hat und 
in Folge hievon es nicht mehr will. 
Bei dein naturgeniässen Verlauf kommt im Alter 
das Absterben des Leibes dem Absterben des Willens 
entgegen. Die Sucht nach Genüssen verschwindet 
leicht mit der Fähigkeit zu denselben. Der Anlass des 
heftigsten Wollens, der Brennpunkt des Willens, der 
Geschlechtstrieb, erlischt zuerst, wodurch der Mensch 
in einen Stand versetzt wird, der dem der Unschuld, 
die vor der Entwickelung des Genitalsystems da war, 
ähnlich ist. Die Illusionen, welche Chimären als höchst 
wünschenswertheGüter darstellten, verseil winden, und 
an ihre Stelle tritt die Erkenntniss der Nichtigkeit 
aller irdischen Güter. Die Selbstsucht wird durch die 
Liebe zu den Kindern verdrängt, wodurch der Mensch 
schon anfängt mehr im fremden Ich zu leben, als im 
eigenen, welches nun bald nicht mehr seyn wird. 
Dieser Verlauf ist wenigstens der wünschenswerthe: 
es ist die Euthanasie des Willens. In Hoffnung auf 
denselben ist dem Brahmanen verordnet, nach Zu- 
rücklegTmg der besten Lebensjahre, Eigenthum und 
Familie zu verlassen und ein Einsiedlerleben zu füh- 
ren. (Menü, B. 6.) Aber wenn, vimgekehrt, die Gier 
die Fähigkeit zum Geniessen überlebt, und man jetzt 
einzelne, im Leben verfehlte Genüsse bereuet, statt 
die Leerheit und Nichtigkeit aller einzusehen ; und 
wenn sodann an die Stelle der Gegenstände der Lüste, 
für welche der Sinn abgestorben ist, der abstrakte 
Repräsentant aller dieser Gegenstände, das Geld, tritt, 
welches nunmehr die selben heftigen Leidenschaften 
erregt, die ehemals von den Gegenständen wirklichen 
Genusses, verzeihlicher, erweckt wurden, und also 
jetzt, bei abgestorbenen Sinnen, ein lebloser aber un- 
zerstörbarer Gegenstand mit gleich unzerstörbarer 
Gier gewollt wird; oder auch wenn, auf gleiche Wei- 
se, das Daseyn in der fremden Meinung die Stelle des 
Daseyns und Wirkens in der wirklichen Welt vertre- 
ten soll und nun die gleichen Leidenschaften entzün- 
det; — dann hat sich, im Geiz, oder in der Ehrsucht, 
der Wille sublimirt und vergeistigt, dadurch aber sich 
820 
in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch 
der Tod ihn belagert. Der Zweck des Daseyns ist 
verfehlt. 
Alle diese Betrachtungen liefern eine nähere Er- 
klärung der im vorigen Kapitel durch den Ausdruck 
OEUiepoi; ttXou? bezeichneten Läuterung, Wendung des 
Willens und Erlösung, welche durch die Leiden des 
Lebens herbeigeführt wird und ohne Zweifel die häu- 
figste ist. Denn sie ist der Weg der Sünder, wie wir 
Alle sind. Der andere Weg, der, mittelst blosser Er- 
kenntniss und demnächst Aneignung der Leiden einer 
ganzen Welt, eben dahin führt, ist die schmale Strasse 
der Auserwählten, der Heiligen, mithin als eine sel- 
tene Ausnahme zu betrachten. Ohne jenen ersteren 
würde daher für die Meisten kein Heil zu hoffen seyn. 
Inzwischen sträuben wir uns, denselben zu betreten, 
und streben vielmehr, mit allen Kräften, uns ein si- 
cheres und angenehmes Daseyn zu beizeiten, wodurch 
wir unsern Willen immer fester an das Leben ketten, 
umgekehrt handeln die Asketen, welche ihr Leben 
absichtlich möglichst arm, hart und freudenleer ma- 
chen, weil sie ihr wahres und letztes Wohl im Auge 
haben. Aber für uns sorgt das Schicksal und der Lauf 
der Dinge besser, als wir selbst, indem es unsere An- 
stalten zu einem Schlaraffenleben, dessen Thörichtes 
schon an seiner Kürze, Bestandlosigkeit, Leerheit und 
Beschliessung durch den bittern Tod erkennbar ge- 
nug ist, allenthalben vereitelt, Dornen über Dornen 
auf unsern Pfad streuet und das heilsame Leiden, das 
Panakeion unsers Jammers, uns überall entgegen 
bringt. Wirklich ist, was unserin Leben seinen wun- 
derlichen und zweideutigen Charakter giebt Dieses, 
dass darin zwei einander diametral entgegengesetzte 
Grundzwecke sich beständig kreuzen: der des indivi- 
duellen Willens, gerichtet auf chimärisches Glück, in 
einem ephemeren, traumartigen, täuschenden Daseyn, 
wo hinsichtlich des Vergangenen Glück und Unglück 
gleichgültig sind, das Gegenwärtige aber jeden Augen- 
blick zum Vergangenen wird; und der des Schick- 
sals, sichtlich genug gerichtet auf Zerstörung unsers 
Glücks und dadurch auf Mortifikation unsers Willens 
821 
und Aufliebung des Wahnes, der uns in den Banden 
dieser Welt gefesselt hiilt. 
Die gangbare,besonders protestantische Ansicht, dass 
der Zweck desLebens ganz allein und unmittelbar in den 
moralischen Tugenden, also in der Ausübung der Ge- 
rechtigkeit und Menschenliebe liege, verräth ihre ünzu- 
länglichkeit schon dadurch, dass so erbärmlich wenig 
wirkliche und reine Moralitat unter den Menschen an- 
getroffen wird. Ich will gar nicht von hoher Tugend, 
Edelmuth, Grossmuth und Selbstaufopferung reden, als 
welchen man schwerlich anders, als in Schauspielen und 
Romanen begegnet seyn wird; sondern nur von jenen 
Tugenden, die Jedem zur Pflicht gemacht werden. Wer 
alt ist, denke zurück an alle Die, mit welchen er zu thun 
gehabt hat; wie viele auch nur wirklich und wahrhaft 
ehrliche Leute werden ihm wohl vorgekommen seyn ? 
Waren nicht bei Weitem die Meisten, trotz ihrem 
schaamlosen Auffahren beim leisesten Verdacht einer 
Unredlichkeit, oder nur Unwahrheit, gerade heraus ge- 
sagt das wirkliche Gegentheil? War nicht niederträch- 
tiger Eigennutz, gränzenlose Geldgier, w ohlversteckte 
Gaunerei, dazu giftiger Neid und teuflische Schaden- 
freude, so allgemein herrschend, dass die kleinste Aus- 
nahme davon mit Bewunderung aufgenommen wurde? 
Und die Menschenliebe, wie höchst selten erstreckt sie 
sich weiter, als bis zu einer Gabe des so sehr Entbehr- 
lichen, dass man es nie vermissen kann? Und in solchen, 
so überaus seltenen und schwachen Spuren von Morali- 
tat sollte der ganze Zweck des Daseyns liegen ? Setzt man 
ihn hingegen in die gänzliche Umkehrung dieses unsers 
Wesens (welches die eben besagten schlechten Früchte 
trägt),herbeigeführt durchdasLeiden; so gewinntdieSa- 
cheein Ansehen und tritt in Uebereinstimmung mitdem 
tbatsächlichVorliegenden. Das Leben stellt sich alsdann 
dar als ein Läuterungsprocess, dessen reinigende Lauge 
der Schmerz ist. Ist der Process vollbracht, so lässt er die 
ihm vorhergegangene Immoralität und Schlechtigkeit 
als Schlacke zurück, und es tritt ein, was der Veda sagt : 
finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes dubitationes, 
ejusque opera evanescunt. 
822 
KAPITEL 5o. 
EPIPHILOSOPHIE. 
AM Schlüsse meiner Darstellung mögen einige Be- 
trachtungen über meine Philosophie selbst ihre 
Stelle finden. — Dieselbe maasst sich, wie schon ge- 
sagt, nicht an, das Daseyn der Welt aus seinen letz- 
ten Gründen zu erklaren : vielmehr bleibt sie bei dem 
Thatsäclilichen der äussern und innern Erfahrung, 
wie sie Jedem zugänglich sind, stehen, und weist den 
wahren und tiefsten Zusammenhang derselben nach, 
ohne jedoch eigentlich darüber hinauszugehen zu ir- 
gend ausserweltlichen Dingen und deren Verhältnis- 
sen zur Welt. Sie macht demnach keine Schlüsse auf 
das jenseit aller möglichen Erfahrung Vorhandene, 
sondern liefert bloss die Auslegung des in der Aus- 
senwelt und dem Selbstbewusstseyn Gegebenen, be- 
gnügt sich also damit, das W^esen der Welt, seinem 
innern Zusammenhange mit sich selbst nach, zu be- 
greifen. Sie ist folglich immanent^ im Kantischen Sin- 
ne des Wortes. Eben deshalb aber lässt sie noch viele 
Fragen übrig, nämlich warum das thatsächlich Nach- 
gewiesene so nicht anders sei, u. s. w. Allein alle sol- 
che Fragen, oder vielmehr die Antworten darauf, sind 
eigentlich transscendent, d. h. sie lassen sich mittelst 
der Formen und Funktionen unsers Intellekts nicht 
denken, gehen in diese nicht ein; er verhält sich da- 
her zu ihnen wie unsere Sinnlichkeit zu etwanigen 
Eigenschaften der Körper, für die wir keine Sinne 
haben. Man kann z. B., nach allen meinen Auseinan- 
dersetzungen, noch fragen, woraus denn dieser Wille, 
welcher fi-ei ist sich zu bejahen, wovon die Erschei- 
nung die Welt, oder zu verneinen, wovon wir die Er- 
scheinung nicht kennen, entsprungen sei? welches die 
jenseit aller Erfahrung liegende Fatalität sei, welche 
ihn in die höchst missliche Alternative, als eine Welt, 
in der Leiden und Tod herrscht, zu erscheinen, oder 
aber sein eigenstes Wesen zu verneinen, versetzt ha- 
be? oder auch, was ihn vermocht haben möge, die 
823 
unendlich vorzuziehende Rulie des säH{>en Nichts zu 
verlassen? Ein individueller Wille, niay man hinzu- 
fügen, kann zu seinem eijjenen Verderben allein durch 
Irrlhum bei der Wahl, also durch Schuld der Erkennt- 
niss, sich hinlenken : aber der Wille an sich, vor al- 
ler Erscheinung, folglich noch ohne Erkenntniss, wie 
konnte er irre gehen und in das Verderben seines 
jetzigen Zustandes gerathen? woher überhaupt der 
grosse Misston, der diese Welt durchdringt? Ferner 
kann man fragen, wie tief, im Wesen an sich der 
Welt, die Wurzeln der Individualitat gehen? worauf 
sich allenfalls noch antworten liesse: sie gehen so tief, 
wie die Bejahung des Willens zum Leben; wo die 
Verneinung eintritt, hören sie auf: denn mit der Be- 
jahung sind sie entsprungen. Aber man könnte wohl 
j;ar die Frage aufwerfen: ,,Was wäre ich, wenn ich 
nicht Wille zum Leben wäre?" und mehr derglei- 
chen. — Auf alle solche Fragen wäre zunächst zu 
antworten, dass der Ausdruck der allgemeinsten und 
durchgängigsten Form unsers Intellekts der Sritz vom 
Grunde ist, dass aber dieser eben deshalb nur auf die 
Erscheinung, nicht auf das Wesen an sich der Dinge 
Anwendung findet: auf ilun allein aber beruht alles 
Woher und Warum. In Folge der Kantischen Philo- 
sophie ist er nicht mehr eine aeterna veritas, sondern 
bloss die Form, d. i. Funktion, unsers Dialekts, der 
wesentlich ein cerebraler und ursprünglich ein blosses 
Werkzeug zum Dienste unsers Willens ist, welchen, 
nebst allen seinen Objektivationen, er daher voraus- 
setzt. An seine Formen aber ist imser gesammtes Er- 
kennen und Begreifen gebunden: demzufolge müssen 
wir Alles in der Zeit, mithin als ein Vorher oder Nach- 
her, sodann als Ursach und Wirkung, wie auch als 
oben, unten, Ganzes und Theile u. s. w. auffassen und 
können aus dieser Sphäre, worin alle Mö{;lichkeit un- 
sers Erkennens liegt, gar nicht heraus. Diese Formen 
nun aber sind den hier aufgeworfenen Problemen 
durchaus nicht angemessen, noch deren Lösung, ge- 
setzt sie wäre gegeben, zu fassen irgend geeignet und 
fähig. Darum stossen wir mit unserm Intellekt, die- 
sem blossen Willens- Werkzeug, überall an unauflös- 
824 
liehe Probleme, wie an die Mauer unsers Kerkers. — 
Ueberdies aber lässt sich wenigstens als wahrschein- 
lich annehmen, dass von allem jenen Nachgefragten 
nicht bloss fih' uns keine Erkenntniss möglich sei, son- 
dern überhaupt keine, also nie und nirgends; dass 
nämlich jene Verhaltnisse nicht bloss relativ, sondern 
absolut unerforschlich seien; dass nicht nur niemand 
sie wisse, sondern dass sie an sich selbst nicht wissbar 
seien, indem sie in die Form der Erkenntniss über- 
haupt nicht eingehen. (Dies entspricht Dem, was Sko- 
tus Erigena sagt, de mirabili divina ignorantia, qua 
Deus non intelligit quid ipse sit. Lib. II.) Denn die 
Erkennbarkeit überhaupt, mit ihrer wesentlichsten, 
daher stets nothwendigen Form von Subjekt und Ob- 
jekt, gehört bloss der Erscheinung an, nicht dem We- 
sen an sich der Dinge. Wo Erkenntniss, mithin Vor- 
stellung ist, da ist auch nur Erscheinung, und wir 
stehen daselbst schon auf dem Gebiete der Erschei- 
nung: ja, die Erkenntniss überhaupt ist uns nur als 
ein Gehirnphänomen bekannt, und wir sind nicht nur 
unberechtigt, sondern auch unfähig, sie anderweitig 
zu denken. Was die Welt als Welt sei, lässt sich ver- 
stehen : sie ist Erscheinung, und wir können unmit- 
telbar aus uns selbst, vermöge des wohlzerlegten 
Selbstbewusstseyns, das darin Erscheinende erkennen: 
dann aber lässt sich, mittelst dieses Schlüssels zum 
Wesen der Welt, die ganze Erscheinung, ihrem Zu- 
sammenhange nach, entziffern; wie ich glaube dies 
geleistet zu haben. Aber verlassen wir die Welt, um 
die oben bezeichneten Fragen zu beantworten; so ha- 
ben wir auch den ganzen Boden verlassen, auf dem 
allein nicht nur Verknüpfung nach Grund und Fol- 
ge, sondern selbst Erkenntniss überhaupt möglich ist: 
dann ist Alles instabilis tellus, innabilis unda. Das 
Wesen der Dinge vor oder jenseit der Welt und folg- 
lich jenseit des Willens, steht keinem Forschen offen ; 
weil die Erkenntniss überhaupt selbst nur Phänomen 
ist, daher nur m der Welt Statt findet, wie die Welt 
nur in ihr. Das innere Wesen an sich der Dinge ist 
kein erkennendes, kein Intellekt, sondern ein erkennt- 
nissloses: die Erkenntniss kommt erst als ein Accidenz, 
825 
ein Hülfsmittel der Erscheinung jenes Wesens, hinzu, 
kann daher es seihst nur nach Maassgahe ihrer eige- 
nen, auf ganz andere Zwecke (die des individuellen 
Willens) herechneten Beschaffenheit, mithin sehr un- 
vollkommen, in sich aufnehmen. Hieran liegt es, dass 
vom Daseyn, Wesen und Ursprung der Welt ein voll- 
ständiges, bis auf den letzten Grund gehendes und 
jeder Anforderung genügendes Verständniss unmög- 
lich ist. So viel von den Grunzen meiner und aller 
Philosophie. — 
Das £v xai 7:av, d. h. dass das innere Wesen in allen 
Dingen schlechthin Eines und dasselbe sei, hatte, nach- 
dem die Eleaten, Skotus Erigena, Jordan Bruno und 
Spinoza es ausführlich gelehrt und Schelling diese 
Lehre aufgefrischt hatte, meine Zeit bereits begriffen 
und eingesehen. Aber was dieses Eine sei und wie es 
dazu komme sich als das Viele darzustellen, ist ein 
Problem, dessen Lösung man zuerst bei mir findet. — 
Ebenfalls hatte man, seit den ältesten Zeiten, den 
Menschen als Mikrokosmos angesprochen. Ich habe 
den Satz umgekehrt und die W^elt als Makranthropos 
nachgewiesen; sofern Wille und Vorstellung ihr wie 
sein Wesen erschöpft. Offenbar aber ist es richtiger, 
die Welt aus dem Menschen verstehen zu lehren, als 
den Menschen aus der Welt: denn aus dem unmittel- 
bar Gegebenen, also dem Selbstbewusstseyn, hat man 
das mittelbar Gegebene, also das der äussern An- 
schauung, zu erklären; nicht umgekehrt. 
Mit den Pantheisten habe ich nun zwar jenes ev xai, 
Ttav gemein, aber nicht das Tiav Oso?; weil ich über 
die (im weitesten Sinne genommene) Erfahrung nicht 
hinausgehe und noch weniger mich mit den vorlie- 
genden Datis in Widerspruch setze. Skotus Eiigena er- 
klärt, im Sinne des Pantheismus ganz konsequent, 
jede Erscheinung für eine Theophanie: dann muss 
aber dieser Begriff auch auf die schrecklichen und 
scheusslichen Erscheinungen übertragen werden: sau- 
bere Theophauien! Was mich ferner von den Pan- 
theisten unterscheidet, ist hauptsächlich Folgendes. 
i) Dass ihr t>so; ein x, eine unbekannte Grösse ist, 
der Wille hingegen unter allem Möglichen das uns 
826 
am genauesten Bekannte, das allein unmittelbar Ge- 
gebene, daber zur Erklärung des Uebrigen ausschliess- 
licli Geeignete. Denn überall muss das Unbekannte 
aus dem Bekannteren erklärt werden; nicbt umge- 
kehrt. — 2) Dass ibr Oso? sich manifestirt animi causa, 
um seine Herrlichkeit zu entfalten, oder gar sich be- 
Avundern zu lassen. Abgesehen von der ihm hiebei 
untergelegten Eitelkeit, sind sie dadurch in den Fall 
gesetzt, die kolossalen Uebel der Welt hinwegsophi- 
sticiren zu müssen : aber die Welt bleibt in schreien- 
dem und entsetzlichem Widerspruch mit jener phan- 
tasirten Vortiefflicbkeit stehen. Bei mir hingegen 
kommt der JVille durch seine Objektivation, wie sie 
auch immer ausfalle, zur Selbsterkenntniss, wodurch 
seine Aufhebung, Wendung, Erlösung möglich wird. 
Auch hat demgemäss bei mir allein die Ethik ein 
sicheres Fundament und wird vollständig durchge- 
führt, in Uebereinstiinmung mit den erhabenen und 
tiefgedachten Religionen, also dem Brahmanismus, 
Buddhaismus und Christenthum, nicht bloss mit dem 
Judenthum und Islam. Auch die Metaphysik des 
Schönen wird erst in Folge meiner Grundwahrheiten 
vollständig aufgeklärt, und braucht nicht mehr sich 
hinter leere Worte zu flüchten. Bei mir allein werden 
die Uebel der Welt in ihrer ganzen Grösse redlich 
eingestanden : sie können dies, weil die Antwort auf 
die Frage nach ihrem Ursprung zusammenfallt mit 
der auf die nach dem Ursprung der Welt. Hingegen 
ist in allen andern Systemen, weil sie sämmtlich op- 
timistisch sind, die Frage nach dem Ursprung des 
Uebels die stets wieder hervorbrechende unheilbare 
Krankheit, mit welcher behaftet sie sich, unter Palli- 
ativen und Quacksalbereien, dahinschleppen. — 3) Dass 
ich von der Erfahrung und dem natürhchen. Jedem 
gegebenen Selbstbewusstseyn ausgehe und auf den 
Willen als das einzige Metaphysische hinleite, also 
den aufsteigenden, analytischen Gang nehme. Die 
Pantheisten hingegen gehen, umgekehrt, den herab- 
steigenden, den synthetischen: von ihrem dsos den 
sie, wenn auch bisweilen unter dem Namen substantia 
oder Absolutum, erbitten oder ertrotzen, gehen sie aus, 
827 
und dieses völlig Unbekannte soll dann alles Bekanntere 
erklären. — 4) Dass bei mir die Welt nicht die ganze 
Möglichkeit alles Seyns ausfüllt, sondern in dieser 
noch viel Kaum bleibt für Das, was wir nur negativ 
bezeichnen als die Verneinung des Willens zum Leben. 
Pantheismus hingegen ist wesentlich Optimismus: ist 
aher die Welt das Beste, so hat es hei ihr sein Bewen- 
den. — 5) Dass den Pantheisten die anschauliche Welt, 
also die Welt als Vorstellung, eben eine absichtliche 
Manifestation des ihr inwohnenden Gottes ist, welches 
keine eigentliche Erklärung ihres Hervortretens ent- 
hält, vielmehr selbst einer bedarf: bei mir hingegen 
findet die Welt als Vorstellung sich hloss per accidens 
ein, indem der Intellekt, mit seiner äussern Anschau- 
ung, zunächst nur das medium der Motive für die 
vollkommeneren Willenserscheinungen ist, welches 
sich allmälig zu jener Objektivität der Anschaulichkeit 
steigert, in welcher die Welt dasteht. In diesem Sinne 
wird von ihrer Entstehung, als anschaulichen Objekts, 
wirklich Rechenschaft gegeben, und zwar nicht, wie 
bei jenen, mittelst unhaltbarer Fiktionen. 
Da, in Folge der Kantischen Kritik aller spekula- 
tiven Theologie, die Philosophirenden in Deutschland 
sich fast alle auf den Spinoza zurückwarfen, so dass 
die ganze unter dem Namen der Nachkantischen Phi- 
losophie bekannte Reihe verfehlter Versuche bloss ge- 
schmacklos aufgeputzter, in allerlei unverständliche 
Reden gehüllter und noch sonst verzerrter »S^^moriVm«.«? 
ist; will ich, nachdem ich das Verhältniss meiner Lehre 
zum Pantheismus überhaupt dargelegt habe, noch 
das, in welchem sie zum Spinozismiis insbesondere 
steht, bezeichnen. Zu diesem also verhält sie sich wie 
das Neue Testament zum alten. Was nämlich das Alte 
Testament mit dem neuen gemein hat ist der selbe 
Gott-Schöpfer. Dem analog, ist bei mir, wie bei Spi- 
noza, die Welt aus ihrer innern Kraft und durch sich 
selbst da. Allein beim Spinoza ist seine substantia 
aeterna, das innere Wesen der Welt, welches er selbst 
Deus betitelt, auch seinem moralischen Charakter 
imd seinem Werthe nach, der Jehova, der Gott-Schöp- 
fer, der seiner Schöpfung Beifall klatscht und findet, 
828 
dass Alles vortrefflich gerathen sei, t.om-o. y.aka Xiav, 
Spinoza hat ihm weiter nichts, als die Persönlichkeit 
entzogen. Auch bei ihm also ist die Welt und Alles 
in ihr ganz vortrefflich und wie es seyn soll: daher 
hat der Mensch weiter nichts zu thun, als vivere, 
agere, suum Esse conservare, ex fundamento proprium 
utile quaerendi (Eth. IV, pr. 67): er soll ehen sich 
seines Lebens freuen, so lange es wiihrt; ganz nach 
Koheleth, 9, 7 — 10. Kurz, es ist Optimismus: daher 
ist die ethische Seite schwach, wie im Alten Testa- 
ment, ja sie ist sogar falsch und zum Theil empö- 
rend*). — Bei mir hingegen ist der Wille, oder das 
innere Wesen der Welt, keineswegs der Jehova, viel- 
mehr ist es gleichsam der gekreuzigte Heiland, oder 
aber der gekreuzigte Schacher, je nachdem es sich 
entscheidet: demzufolge stimmt lueine Ethik auch 
zur Christlichen durchweg und bis zu den höchsten 
Tendenzen dieser, wie nicht minder zu der des Brah- 
manismus und Biiddhaismus. Spinoza hingegen konnte 
den Juden nicht los werden; quo semel est imbuta 
recens servabit odorem. Ganz Jüdisch, und im Verein 
mit dem Pantheismus obendrein absurd und abscheu- 
lich zugleich, ist seine Verachtung der Thiere, welche 
auch er, als blosse Sachen zu unserm Gebrauch, für 
rechtlos erklärt: Eth. IV. appendix, c. 27. — Bei dem 
Allen bleibt Spinoza ein sehr grosser Mann. Aber um 
seinen Werth richtig zu schätzen, muss man sein Ver- 
hältniss zum Cartesius im Auge behalten. Dieser hatte 
die Natur in Geist und Materie, d. i. denkende und 
ausgedehnte Substanz, scharf gespalten, und eben so 
Gott und Welt im völligen Gegensatz zu einander auf- 
gestellt: auch Spinoza, so lange er Kartesianer war, 
lehrte das Alles, in seinen Cogitatis metaphysicis, c. 
12, i. J. i665. Erst in seinen letzten Jahren sah er 
*) ünusquisque tantum juris habet, quantum potentiä valet. 
Tract. pol., c. 2,§. 8. — Fides alicui data tanidiu rata manet, 
quamdiu ejus, qui fidem dedit, non mutatur voluutas. Ibid. 
§. 12. — Uniuscujusque jus potentiä ejus definitur. Eth. IV, 
pr. 37 schol. I. — Besonders ist das 16. Kapitel des Tractatus 
theologico-politicus das rechte Kompendium der Immoralität 
Spinozischer Philosophie. 
829 
das Grundfalsche jenes zwiefachen Duahsmus ein : und 
demzufol{];e besteht seine eigene Philosophie haupt- 
sächlich in der indirekten Aufhebung jener zwei 
Gegensätze, welcher er jedoch, theils um seinen Lehrer 
nicht zu verletzen, theils um weniger anstössig zu 
seyn, mittelst einer streng dogmatischen Form, ein 
positives Ansehen gab, obgleich der Gehalt haupt- 
sächlich negativ ist. Diesen negativen Sinn allein hat 
auch seine Identifikation der Welt mit Gott. Denn 
die Welt Gott nennen heisst nicht sie erklären: sie 
bleibt ein Räthsel vmler diesem Namen, wie unter 
jenem. Aber jene beiden negativen Wahrheiten hatten 
Werth für ihre Zeit, wie für jede, in der es noch be- 
wusste, oder unbewusste Kartesianer giebt. Mit allen 
Philosophen vor Locke hat er den Fehler gemein, von 
Begriffen auszugehen, ohne vorher deren Ursprung 
untersucht zu haben, wie da sind Substanz, Ursach 
u. s. w., die dann bei solchem Verfahren eine viel zu 
weit ausgedehnte Geltung erhalten. — Die, welche, 
in neuester Zeit, sich zum aufgekommenen Neo-Spi- 
nozismus nicht bekennen wollten, wurden, wie z. B. 
Jacobi, hauptsächlich durch das Schreckbild des Fa- 
talismus davon zurückgescheucht. Unter diesem näm- 
lich ist jede Lehre zu verstehen, welche das Daseyn 
der Welt, nebst der kritischen Lage des Menschen- 
geschlechts in ihr, auf irgend eine absolute, d. h. nicht 
weiter erklärbare Nolhwendigkeit zurückführt. Jene 
hingegen glaubten, es sei Alles daran gelegen, die Welt 
aus dem freien Willensakt eines ausser ihr befindlichen 
Wesens abzuleiten; als ob zum voraus gewiss wäre, 
welches von Beiden richtiger, oder auch nur in Be- 
ziehung auf uns besser wäre. Besonders aber wird 
dabei das non datur tertium vorausgesetzt, und dem- 
gemäss hat jede bisherige Philosophie das Eine oder 
das Andere vertreten. Ich zuerst bin hievon abgegangen, 
indem ich das Tertium wirklich aufstellte: der Wil- 
lensakt, aus welchem die Welt entspringt, ist unser 
eigener. Er ist frei : denn der Satz vom Grunde, von 
dem allein alle Nothwendigkeit ihre Bedeutung hat, 
ist bloss die Form seiner Erscheinung. Eben darum 
ist diese, wenn ein Mal da, in ihrem Verlauf durchweg 
83o 
nothwendig: in Folge hievon allein können wir aus 
ihr dieBescliaffenheit jenes Willensaktes erkennen und 
demfemäss eventualiter anders wollen. 
83i 
Gedruckt für Georg Müller Verlag in München 
in Didot' selten Schriften von Mänicke und Jahn in 
Rudolstadt. Buchausstattung von Paul Renner. Ge- 
bunden von Ilübel und Denck in Leipzig. Zwei- 
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DATE DUE 
n>' ' 
GAYLORD 
PRINTED IN U S A 
WELLESLEY COLLEGE LIBRARY 
3 5002 03172 1124 
B 3138 1912 V.2 
Schopenhauer, Arthur 1788- 
1860. 
Die Welt als Wille und 
Vorstellung 

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